theaterTREFFENText MONTAG 2. Juni

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TREFFEN

Text

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theatertreffem deutschsprachiger schauspielstudierender

montag, 2. juni 2014

KEINE ZEIT ZUM JUBELN Über die erste schweißtreibende Dreiviertelstunde Der Eröffnungsabend mit Ministerin fiel erfreulich wenig staatstragend aus. Das lag nicht nur daran, dass Festivalleiterin Marina Busse in ihrer schwindenden Redezeit noch mahnende Worte zur Essensrationierung unterbrachte. Erst-

erlaubte sich Noch die Anekdote, wie der Regisseur Thomas Brasch einst öffentlich und im Beisein des bayerischen Ministerpräsidenten der DDR dankte, konnte damit aber niemanden so richtig provozieren. Kaum am Mikrophon kon-

Spielstätte für die kommende Woche: die Muffathalle.

mal hat nämlich alles ganz unpünktlich begonnen. Dann, 15 Minuten nach dem anberaumten Start, hatte Falckenbergschuldirektor Jochen Noch fix die ganzen Ausbildungsstätten und Ehrengäste namentlich begrüßt. Selbst die vielen Doktor-, Professoren- und anderen Titel konnte er unterbringen. Auf den Rängen wurde es schon langsam heiß. Sodann

Foto: Muffatwerk

terte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka einfach mit der in der CDU gebräuchlichen Formel von der „friedlichen Revolution“ 1989. So lange ist es auch her, dass das Theatertreffen zum ersten Mal stattgefunden hat: 25 Jahre, ein Jubiläum, aber Zeit zum Jubeln war keine. Stattdessen hielt Wanka einen Speedvortrag darüber, wie schlecht die

ökonomischen Chancen für Schauspieler stünden und dass es darob besonders löblich sei, wenn sich junge Menschen in diesen riskanten Beruf begäben. Denn Kultur – ein Begriff, der allerdings nur in Staatskreisen auf diese Weise verwendet wird –, Kultur sei bekanntlich wichtig, die Deutschen hätten eine Kulturtradition, die angeblich die Nazis habe irgendwie überdauern können, und deshalb, so die Ministerin, fördere der deutsche Staat gemeinsam mit dem Drogeriekonzern dm ganz emsig, damit das Theaterpublikum nicht irgendwann wegsterbe. Mit einem Aufruf zum Networking und einem schönen Kafka-Zitat übergab Frau Wanka das Wort an den Kulturreferenten der Stadt München, Hans-Georg Küppers. Der erwies sich als veritabler Entertainer und scherzte über das Redetempo der Bundesbildungsministerin, den sperrigen Namen der Veranstaltung (Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielstudierender) und die Theater-heute-Auszeichnung für die Kammerspiele. Küppers plädierte für mehr Vielfalt in der Theaterwelt und gab einige kluge Impulse. Als er forderte, dass akzentfreies Deutsch keine Zulassungsvoraussetzung für Schauspielschulen mehr sein dürfe und Unterricht auch auf Türkisch und Englisch stattfinden solle, bekam er spontanen Applaus. Schließlich berichtete Studentenvertreter Konstantin Bez kurz von seinen Erfahrungen beim letztjährigen Theatertreffen und schloss sich Wankas Vernetzungs-Appell an. Schweißtreibend war sie ja, die erste Dreiviertelstunde im Muffatwerk, aber allen Rednern ging es ums Wesentliche: die Zukunft des Schauspiels. Und das war wiederum erfrischend. Artur Senger


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vorbericht

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Talk to the hand.

Die Hochschule für Musik und Theater Hamburg adaptiert Michail Lermontows Ein Held unserer Zeit für die Bühne Was ist ein Held? Petschorin aus Michail Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit ist mit Sicherheit keiner. Er ist ein von unendlicher Langeweile geplagter junger Mann, für den diese Welt einfach nichts Passendes bereitzuhalten scheint. „Ich erhielt den Befehl, mich nach dem Kaukasus zu begeben. Ich hoffte, dass die Kugeln der Tscherkessen die Langeweile vertreiben würden”, berichtet er, doch selbst derart drastische Maßnahmen erweisen sich als Trugschluss: „Vier Wochen nach meiner Ankunft in diesem Land war ich so sehr an das Pfeifen der Kugeln und die Nähe des Todes gewöhnt, dass ich in der Tat weniger darauf achtete, als auf das Summen der Moskitos.“ Der Text ist autobiografisch geprägt. Auch Lermontow der Autor des Romans,

Foto: Christian Enger

VON DER LANGEWEILE UND DEM TOD wurde in den Kaukasus versetzt. Allerdings nicht, weil ihm so langweilig war. 1838 wurde der in Moskau geborene Offizier und Dichter wegen eines kritischen Gedichtes ausgerechnet auf den Tod Puschkins in diese entlegene und gefährliche Region entsandt. Das Hochgebirge zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer hatte sich Russland erst Ende des 18. Jahrhunderts einverleibt. Im 19. Jahrhundert herrscht in der Gegend praktisch unentwegt Krieg. Zwei Jahre später musste Lermontow dort schon wieder zum Dienst antreten: Diesmal wegen eines illegalen Duells, jenes gefährlichen Hobbies, das diesem Helden kurze Zeit später das Leben kosten wird. Ein Held unserer Zeit ist einer der wichtigsten und bekanntesten Texte der

russischen Romantik. Für die Bühne wurde er bisher aber nur selten adaptiert. Vor drei Jahren fanden Aufführungen einer englischen Bühnenfassung in Kingston upon Thames und Edinburgh statt. Der Text wird gerade als verlorener Klassiker wiederentdeckt. Der Abschlussjahrgang des Studienganges Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg wagt sich also – fast heldenhaft – an einen auf der Bühne wenig erprobten Stoff. Nach der Premiere am 26. März 2014 an der HfMT und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ist die Hochschule mit dieser Inszenierung beim Schauspielschultreffen vertreten. Ganz ungefährlich wird das nicht werden, aber sicher auch nicht langweilig. Nicolas Freund


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vorbericht

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KASPAR ODER DIE MACHT DER SPRACHE Ein früher und genialer Peter Handke Text wurde in Potsdam ausgegraben und reanimiert

Vor 47 Jahren feierte ein Stück von Peter Handke am selben Abend gleich zwei Mal Premiere. Uraufgeführt wurde Kaspar damals in Frankfurts Theater am Turm und auf Oberhausens Stadtbühne gleichzeitig. Glaubt man den Kritikern: mit unterschiedlichem Erfolg. Das Experiment wagte, ohne wahrhaftige Handlung auszukommen. Ein Kaspar, der sich zunächst kaum ausdrücken kann, und Stimmen aus der Dunkelheit, denen er nachspricht. Handke war damals erst 25 Jahre jung und erst seit kurzem bekannt. 1966 hatte seine Publikumsbeschimpfung im Rhythmus der Beatmusik und mit kritischer Haltung dem konventionellen Theater der Zeit ge-

Wasser und Brot gelebt. Dessen erster ganzer Satz waren die altbayerischen Worte: „A söchener Reiter möcht i wärn wie mei Voter aner gween is.“ Zusätzlich bediente sich Handke bei verlässlichen ParolenMeistern, denn Worte können Macht sein. Zitiert wurden im Originaltext Lenin und Mao, aber auch ein Haushaltsratgeber: Bodenkehren immer in Bretterrichtung! Es geht bei Handke nicht wirklich um Kaspar Hauser, es geht um Identität, um Anpassung und um etwas, das er „Sprachfolter“ nennt. Seine Kaspar-Figur beginnt auf der Bühne, ausgestattet mit nur dem einen Satz „Ich möchte ein solcher werden, wie…“ und danach machen sich „Ein-

Sprachfolter im Sitzen.

genüber die Zuschauer überrascht. Das „Sprechstück“ begann mit den Worten: „Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden“. Der Text von Kaspar beginnt mit einem Verweis auf die historische Vorlage: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.“ Damit zitiert Handke direkt Kaspar Hauser. Der 1828 in Nürnberg aufgetauchte Findling konnte nur wenig sprechen und hatte – laut eigener Erzählung – so lange er denken konnte alleine im dunkeln Verschlag bei

ist Macht, Wort ist Manipulation. Worte als Gewalt. Sprache als Folter. In Handkes Text bilden Worte Identität und Ordnung, verschlucken aber auch das Individuum im Kollektiv. Wer ist eigentlich Kaspar? Er wird sich in Worten verlieren. Helmut Karasek, der 1968 die Frankfurter Inszenierung von Claus Peymanns sah, schrieb damals, Handke sei ein Geschöpf geglückt, „das den Charme einer Figur von Robert Walser mit dem tristen Grinsen eines Beckett-Clowns vereint“. Jetzt sind wir gespannt, für welche Bezugspunkte Regisseur Fabian Gerhardt und die Schauspieler sich 45 Jahre später entschieden haben. Antonia Mahler

Foto: HL Böhme

sager“ daran, seine Äußerungen massiv auszustaffieren. Bei Handke gedacht als unsichtbare Souffleusen, sind sie in dieser neuen Aufführung Teil eines Chors. Denn Kaspar ist nicht alleine auf der Bühne, in Fabian Gerhardts Inszenierung mit acht Schauspielern der Konrad Wolf Hochschule Potsdam-Babelsberg kommen auch andere Rollen vor. Kaspar trifft auf Ehefrauen und ihre Männer, entführte Mädchen und vermeintliche Freundinnen. Kaspar lernt sprechen. Er wiederholt Sätze und ist so das Echo der Geschichten. Worte gegen die Angst, gegen Hilflosigkeit. Ein Wort als Rettungsboot im Ozean. Wort

Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei: Dr. Robin W. Bartels, Dr. Gerhard Beiten, Dr. Christoph Bulfon, Thomas Deininger, Achim Hartz, Carsten von der Heyden, Dr. Joachim Giehl, Prof. Dr.Dr. Joseph Kastenbauer, Dr. Georg Kellinghusen, Dr. Goswin von Mallinckrodt, Dr. Jörg Schweitzer, Hubert Stärker, Boltz Wachtel Dental und der v. Finck Stiftung


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Sie spielen nicht – sie leben! Mit Protection von Anja Hilling gibt das Mozarteum Salzburg den Ton an Was hier passiert, ist Leben: unschön, hart, wundervoll. Elisa Plüss steht einfach nur dort vor der weißen Wand, der Körper irgendwie steif, aber nicht verkrampft, die Haare strähnend fettig, dazu diese Mimik! Die Augen scheinen zu staunen, sind noch feucht von Tränen, über der Oberlippe glitzert es. Sie schaut ins Publikum, erst regungslos, dann verzerrt sich in Zeitlupe ihr Mund, die eine Seite zieht es nach unten, bis ihr Gesicht schief wirkt.

Meisterin des Ausdrucks: Elisa Plüss.

Die Augen starren die ganze Zeit weiter, so manisch, so fordernd. Sie spielt nicht, sie lebt: Lucy, die Kontrabass-spielende Obdachlose. In der ersten Episode von Protection treffen Elisa Plüss und Ludwig Hohl aufeinander: Lucy und Ross, der Penner mit dem Pferdegesicht. Die junge Dramatikerin Anja Hilling hat den Text geschrieben, der nun vom 4. Jahrgang der Universität Mozarteum Salzburg inszeniert wird.

Foto: Mozarteum Salzburg

Dabei werden die drei Geschichten nicht ausgespielt, sondern einfach erzählt – sich selbst und dem Publikum. Ludwig Hohl reckt sein Gesicht nach vorne, dreht es fast bis ins Profil, verlängert den Hals, während der Mund immer weiter aufgeht und übergroße Zähne enthüllt. Ross nennen sie ihn, der Lucy nachsteigt. Ein kleines Detail reicht, um die zärtlichhässliche Annäherung der beiden zu zeigen: Elisa Plüss zupft dunkel tönen-


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de Akkorde auf ihrem Kontrabass, dabei entkommen ihr glockenhelle Pieps-Laute, die vage an Gesang erinnern. Sie greift tiefer, ihr Träger rutscht von der Schulter, entblößt nackte Haut. Macht sie noch zerbrechlicher. Ganz vorsichtig schiebt Ludwig Hohl den Träger wieder nach oben, scheint ihre Haut nicht berühren zu wollen. Er spricht unentwegt weiter, erzählt von ihr, von sich, von ihnen beiden. Elisa Plüss’ Sing-Sang-Geräusche im Hintergrund: „I’ve never been sadder“, fiept sie. Gänsehaut. Anja Hilling fängt in ihrem Text drei schockierende Momentaufnahmen ein. Alle drei drehen sich um die Liebe, oder um das, was Liebe hätte werden können. Also um das Zwischenmenschliche. Dieses Knistern und die Spannung im Raum sind es, die Protection so einzigartig machen. Dabei wird immer der Augenblick erzählt, in dem Menschen sich zueinander hingezogen fühlen – unter absurden Umständen. Der Fokus liegt auf dem Nicht-Verständnis, dem Ungesagten, das wie ein Damokles-Schwert über den Figuren hängt.

Er zuckt und peitscht In der zweiten Episode lernt Marco Marc in einem Club kennen, sie flirten, es bitzelt, doch irgendwas ist komisch. Alexander Tröger scheint in der Mitte der Bühne festgewachsen zu sein, dreht sich höchstens nach links oder rechts, wenn Anton Andreew mal von hier oder dort zu ihm spricht. Sie reden aneinander vorbei, etwas passt nicht, etwas stört. Dann zieht Alexander Tröger sich bis auf die weißen Bildunterschrift xxxx xxxxxx Baumwoll-Boxershorts aus, hat plötzlich einen ockerfarbenen Gürtel in der Hand. Er bindet ihn so um sein linkes Bein, dass der Unterschenkel am Oberschenkel fixiert ist, er also zum Einbeinigen mutiert. Denn Marc hat eine Prothese. Dann fängt die Clubmusik wieder an und er tanzt. Erst zögerlich, nur mit dem Oberkörper, dann scheint er sich zu verlieren, zuckt, peitscht – und fällt zu Boden. „Als ob du deine Hand mit Joghurt füllst. So fließt mein Stumpf in deine Haut.“ Regisseur Kai Ohrem lässt seine Schauspieler blankziehen. Doch nicht pseudoprovokant oder manieriert. Alexander Tröger wirkt verletzlicher, wenn er fast nackt dort steht und sein Bein abbindet, die helle Haut scheint sich im roten Licht vom Körper abzulösen, seine Nacktheit ist schlicht Teil der Figur. Die dritte Episode

Mut zum Rock.

geht noch einen Schritt weiter: Vassilissa Reznikoff und Simon Rußig müssen am Ende komplett nackt sein. Nicht weil der Regisseur oder die Autorin das so bestimmen, sondern als logische Konsequenz aus ihren Figuren heraus. Nazife ist vergewaltigt worden, von zwei Kerlen. „Schon mal nen Dönerarsch gefickt?“, brüllt sie Leon an, den MottoParty-Gänger im rosa Rock, der von dem Übergriff nichts weiß. Die Situation eskaliert, Leon geht, Nazife bleibt zurück. Es ist plötzlich eiskalt im Raum, als Vassilissa Reznikoff sich langsam von der Wand löst und zum Publikum dreht. Ihrem Mund entkommen poetische Worte, ein „Riss in der Landschaft“ sei sie, morgen müsse sie einkaufen gehen. Morgen. Ihr

Foto: Mozarteum Salzburg

Höschen gleitet über ihre Haut, der BH folgt. Irgendwie sehen die Bewegungen so aus, als würden sie schmerzen, als würde ihr Körper den Stoff abstoßen, sich gegen jegliche Berührung wehren. Dann geht sie. Simon Rußig kommt schließlich noch einmal neben die Wand, auch er nackt, einen Strauß Tulpen in der Hand. Er ist immer noch dieser nette, verunsicherte Kerl im Rock, der den ganzen Abend an die Augen dieser Unbekannten mit dem klangvollen Namen denken musste. Er wirft die Blumen auf den Boden. Wie schafft er es, dabei tollpatschig und liebenswürdig, gar kindlich zu wirken? Eine Bewegung, die seine ganze Figur erzählt. Dann dreht er sich um. Es ist vorbei. Britta Schönhütl


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who the fuck is Lulu? Die Otto-Falckenberg-Schule eröffnet mit Frank Wedekinds Lulu. Eine Monstretragödie das 25. Theatertreffen

Ratlos unter der Dusche.

Völlig unerwartet richtet sich eine rothaarige junge Frau an das Publikum, während sie doch gerade noch ganz still am Bühnenrand saß. Neben dem Geschehen. Sie fragt: „Nennt mir einen Namen?“ Die Menge reagiert nicht, nur verwirrtes Schweigen. Es dauert, bis sich endlich jemand erbarmt, bei dieser Pseudo-ImproSzene mitzuspielen und einen Namen nach vorne ruft. Die Performance wird zögerlich Mitmach-Theater. Die junge Schauspielerin – Lena Eikenbusch – lässt sich jedoch nicht abbringen von ihrer theatralen Mission. Sie klettert über Stühle, über Menschen. Sie bahnt sich den Weg durch die ersten Reihen, steht nun mitten zwischen den Menschen und kritzelt sich

Foto: Franz Meiller

mögliche Namen auf den Körper. Doch am Ende gibt es für sie nur einen: Lulu – und das, obwohl der Name ja gar „so vorsintflutlich klingt“. Regisseurin Christiane Pohl entwirft eine Lulu-Collage mit dem 3. Jahrgang der Otto-Falckenberg-Schule, in der sie ihren Protagonisten viel kreativen Raum lässt.

Großes Durcheinander Sie orientiert sich dabei lose an Frank Wedekind, dessen Text im Hintergrund an eine Leinwand projiziert wird und teilweise von den Akteuren auf der Bühne aufgegriffen, kommentiert, abgelesen oder – ignoriert wird. Denn die Schau-

spieler sprechen ihre eigenen Gedanken, ihren eigenen Reflektionen über Lulu. Eigentlich ein sehr interessanter Ansatz, in Christiane Pohls Umsetzung jedoch eher problematisch. Schnell verschwindet der einzelne Bewusstseinsstrom, der einsame Monolog im Stimmen-Wirrwarr der anderen. Alle sprechen durcheinander, gleichzeitig, über verschiedene Dinge. Dabei toben und tollen sie auch noch von einer Seite zur anderen. Sie plärren, plumpsen, poppen. Ein einziges großes Durcheinander. Während zwei Herren am rechten Bühnenrand mit Gitarre und Bass vor sich hin klirren und schreien, springt der Rest der „Lulu“-Bande quer über das Spielfeld. Doch auch diese Choreografie ist nicht


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English sprach – schwere sprach. Foto: Franz Meiller

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stimmig. Am Ende bleiben nur EinzelPerformances. Ein großes Nebeneinander, das nicht einmal durch die wenigen direkten Dialoge gebrochen werden kann. Höchstens vielleicht für einen kurzen Augenblick während des karnickel-artigen Geschlechtsakts auf den Schaumstoffmatratzen. Und was macht eigentlich diese Projektion da im Hintergrund? Den Zuschauern als Hilfe Frank Wedekinds Text präsentieren? Zum Glück bahnt sich der Jogginghosen-tragende Beau immer Mal wieder den Weg ins Zentrum und zelebriert den düsteren Humor der Inszenierung wunderbar lakonisch. Da reicht es, wenn er sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht sprenkelt. Das Chaos auf der Bühne, diese Parallel-Choreografie, offenbart die Kernthese von Christiane Pohls Interpretation: Sind wir nicht alle Lulu? Auch Wedekind lässt Lulu in seinem Originaltext reflektieren: „Ich bin nicht wie die.

Karnickelartiges Gebumse

Bildunterschrift xxxx xxxxxx

Ich bin nicht...ich will nicht wie die sein. Ich will nicht Lulu sein. Trotzdem bin ich auch Schöning. Bin auch Schwarz. Bin auch Lulu. Alwa vielleicht nicht. Vielleicht auch Geschwitz.“ Genau diese verschiedenen Nuancen dieser Person interpretieren die verschiedenen Charaktere durchaus deutlich. Mal leise und nachdenklich, oft laut und exzessiv. Besonders jene Momente, in denen die Inszenierung ein wenig stiller und nachdenklich wird, stechen hervor. Als Jeff Wilbusch den Wahnsinn auf der Bühne musikalisch begleitet, oder Lukas Hupfeld einen Moment innehält und schweigend in den Zuschauerraum blickt. Von diesen Augenblickhätte man gern mehrere erlebt. Julia Weigl


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Willenlos verkümmernd Juli Zeh beschwört mit Corpus Delicti keine rosige Zukunft: die totale Überwachung Sterile Körper. Foto: Matthias Horn

„Unsere Gesellschaft ist am Ziel. Wir haben eine Methode entwickelt, die jedem Einzelnen ein exakt 80 Jahre langes, glückliches und gesundes Leben garantiert. Frei von Schmerz und Leid. Unser System ist perfekt, auf wundersame Weise lebensfähig und stark wie ein biologischer Körper...“ Ein totalitärer Staat, ein Überwachungsstaat ist es, den Juli Zeh in ihrem dystopischen Corpus Delicti beschreibt, 2009 erschienen. Ein Staat, der in der Zukunft liegt, genauer gesagt: im Jahr 2057. Menschen dürfen den Hygienebereich nicht verlassen, müssen sich ausreichend sportlich betätigen, werden beim Verstoß gegen die METHODE hart bestraft. Doch es gibt immer die unter uns, die Widerstand leisten, die irgendwo in ihrem Inneren in einer kleinen, fest verschlossenen Box ihren freien Willen verstecken. Juli Zeh, die studierte Juristin und IMPRESSUM theater treffen text ist ein Projekt des Studiengangs Kulturkritik der HFF/ Bayerischen Theaterakademie August Everding Herausgeber: Otto Falckenberg Schule

Schriftstellerin, deren Werke sich konkret oder peripher stets mit Gesellschaftsstrukturen und deren bewusstem Übertreten, mit Ordnung und Chaos, mit Überwachung und kontrollierter Zwischenmenschlichkeit beschäftigen, gesellt sich mit Corpus Delicti zu den ganz großen Autoren des 20. Jahrhunderts. Das Leben rebellischer Individuen in einer futuristischen Dystopie erzählen nicht nur George Orwell und Aldous Huxley, sondern auch Ray Bradbury – und schließlich Michel Houellebecq – in 1984, Brave New World, Fahrenheit 451 und La Possibilité d‘un île. Während in der Zukunftsvision von Houellebecq die Menschen nur noch als Wiedergeburten ihrer selbst existieren, völlig isoliert leben und allein über technische Geräte mit anderen Lebewesen kommunizieren können, ist bei Juli Zeh zumindest so etwas wie soziale Interaktion möglich. Aus einer Gruppe im-

V.i.s.d.P: Prof.Dr. C.Bernd Sucher Redaktion: Quirin Brunnmeier, Benedikt Frank, Nicolas Freund, Sebastian Lauterbach, Antonia Mahler, Britta Schönhütl, Artur Senger, Anna Steinbauer, Julia Weigl

munologisch passender Individuen kann ein Partner ausgewählt und ausprobiert werden: „Tausende lieben das falsche Immunsystem. Nach der METHODE ist unzulässige Liebe ein Kapitalverbrechen, auf gleicher Stufe wie vorsätzlicher Mord.“ Diese extremen Determinierungen funktionieren in allen Fällen jedoch nur so lange, wie der freie Wille der rebellischen Charaktere weggesperrt bleibt. Beginnen diese aber plötzlich, den Staat und dessen Regelungen zu hinterfragen und selbst zu denken, heißt es: Gut gegen Böse, Oben gegen Unten, Masse gegen Mensch. Wird der freie Wille siegen? Regisseurin Susanne Lietzow arbeitet diese und andere Fragen in Corpus Delicti nach Juli Zeh mit Schauspielern vom Schauspielstudio Dresden heraus. Auf der Suche nach dem Schlüssel für diese kleine, fest verschlossene Box in jedem von uns. Britta Schönhütl


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