Dossier - Die Zukunft des Gedenkens

Page 3

Die Zukunft des Gedenkens

lsraelaktuell  Dossier •

3

Blickpunkt Holocaust-Überlebende

E

s waren die Jahre nach der Jahrtausendwende. In der Israelbewegung schlug eine Nachricht ein wie ein Blitz: Zehntausende von Holocaust-Überlebenden in Israel lebten unterhalb der Armutsgrenze. Ein fataler Zustand – unmöglich, hier passiv zu bleiben! In Folge erwuchs eine beispiellose Bewegung der Solidarität. Viele Israelwerke legten Programme für Holocaust-Überlebende auf, so auch Christen an der Seite Israels. Das markanteste

Beispiel ist vielleicht das Handwerkerprogramm der Sächsischen Israelfreunde: Deutsche Handwerker, zumeist Christen, fahren für einige Wochen nach Israel und renovieren kostenlos die Wohnungen von verarmten Holocaust-Überlebenden. Bis heute. Was ist der geistliche Hintergrund dieser Dienste? Zwei Faktoren sind hervorzuheben: das Gedenken und die Bibel. Was das Gedenken anbelangt: Israelfreunde pflegen eine intensi-

ve Gedenkkultur. Der Holocaust ist für sie keine Sache von gestern, die man abhaken kann. Er steht ihnen vor Augen und wird als Auftrag im Hier und Heute begriffen: Mitgefühl zeigen – die Geschichte an sich heranlassen – die Herzen bewegen lassen – Juden lieben – HolocaustÜberlebenden dienen. Das ist die Gedankenkette, die von der Betroffenheit des Gedenkens zum praktischen Tun führt. Dazu kam ein Bibelwort, das in

Israelkreisen große Wirkung zeigte: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott!“ (Jesaja 40,1). Auf dem Hintergrund der Not der Überlebenden sprach dieses Wort Bände. Hier ist von einem Auftrag die Rede: „Tröstet!“ Wer soll getröstet werden? „Mein Volk“, also Israel. Und wer sagt das? „Euer Gott“. Wer ist hier eigentlich angesprochen? Sicher nicht die Juden, denn man kann sich nicht selbst trösten. Wer aber dann? Für viele war schnell klar: Hier sind wir

Unser Weg: Das Erbe der Schoah-Überlebenden Von Marina Müller Eine Begegnung, die alles veränderte

„Möchtest du, Marina, meine deutsche Tochter sein?“ Diese Frage stellte mir die Schoah-Überlebende Gita Koifman am Stelenfeld in Berlin, dem Denkmal an die ermordeten Juden in Europa. Darauf erwiderte ich: „Nur wenn du meine israelische Mama wirst.“ Berlin, 20. Januar 2012, anlässlich des 70. Jahrestages der WannseeKonferenz ist eine Delegation von Schoah-Überlebenden aus Israel angereist. Alle besuchen Deutschland zum ersten Mal. Wir, eine Gruppe von jungen Christen, begleiten in diesen Tagen die Gruppe von Überlebenden aus Israel zu unterschiedlichen Terminen. Wichtige Stationen sind das Wannsee-Haus, das Stelenfeld, ein Besuch im Bundestag und eine Sight-Seeing Tour durch Berlin. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich Schoah-Überlebende ausschließlich in Israel getroffen und in meiner Schulzeit Daten und Fakten über die Schoah gelernt. Ich hätte nie gedacht, dass mich die Schoah und deren Ausmaß hier in Deutschland noch einmal so stark berühren würden. Schon knapp zwei Jahre später stellten wir die ersten Interviews gemeinsam mit den Überlebenden zu der Gedenkveranstaltung der „Initiative 27. Januar e.V.“ anlässlich des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht in Berlin vor. Nachdem auf der Website von www.zeugen-der-zeitzeugen.de die Interviews hochgeladen waren, meldeten sich aus ganz Deutschland Lehrer/innen bei uns, die eine Zeitzeugen-Begegnung für ihre Schüler/innen wünschten. Daraus entwickelte sich unsere bundesweite Bildungsarbeit.

Nach den Begegnungen mit den Schoah-Überlebenden überreichen wir ihnen handgefertigte CHAI (Leben)-Zeichen. Dort, wo unsere Vorfahren Fluch gebracht haben, möchten wir ihnen Leben zusprechen.

Schüler/innen werden zu „Zeugen der Zeitzeugen“

Nun gehen wir seit mehr als fünf Jahren an Schulen. Hierbei ist es uns wichtig, gemeinsam mit den Lehrkräften die Zeitzeugen-Begegnung vorzubereiten, die Zeitzeugen oder deren Nachfahren bei der Reise zu begleiten und mit den Schüler/ innen nach der Begegnung über den steigenden Antisemitismus zu reden und was wir gemeinsam konkret tun können. Doch dies reicht nicht aus!

Als Zeuge in Verantwortung leben

Die Überlebenden geben, verbunden mit dem Wunsch, es solle NIE WIEDER geschehen, ein Erbe, ein Vermächtnis an uns weiter. Jeder, der einen Schoah-Überlebenden gehört hat, sollte sich die Fragen stellen: „Was bedeutet das Vermächtnis der

Überlebenden konkret für mein Leben, meine Überzeugungen, unser Land in Verbindung mit Israel? Und was kann ich aktiv tun?“ Uns als Team ist es wichtig, neben dem Gedenken, die Zeitzeugen und ihre Familien persönlich zu besuchen, Anteil an ihren Leben zu nehmen und ihnen zuhören, was sie beschäftigt. So finden an manchen Nachmittagen Treffen mit Überlebenden statt, wo Gesellschaftsspiele gespielt werden, gemeinsam eine Veranstaltung besucht wird oder man sich in einem Café trifft.

Gedenken verbunden mit dem Blick in die Gegenwart

Neben den Interviews und der Arbeit der Zeitzeugen-Begegnungen in Bildungseinrichtungen erweiterten wir unsere Arbeit mit der Durchführung von deutsch-israelischen Austauschprojekten und der Begleitung eines deutsch-israelischen Schüleraustausches. Im März 2020 fand unsere erste Bildungsreise nach Israel für Bildungsmultiplikatoren statt. Die Realität in einem heutigen, vielfältigen Israel zu vermitteln, ist uns genauso wichtig, wie Begegnungen mit lebenden Juden in der Gegenwart zu ermöglichen.

Zukunft gestalten:

Zeugen der Zeitzeugen (ZdZ) ist ein selbstständiger Arbeitsbereich der Initiative 27. Januar e.V. und schreibt für Christen an der Seite Israels regelmäßig Gastbeiträge. Unsere Ziele:

Wir freuen uns, dass wir mittlerweile generationsübergreifend unsere Arbeit an Schulen weiterführen können. So halten wir das Gedenken an die Schoah lebendig und vermitteln der jungen Generation, weshalb es in ihrer Verantwortung und in ihrem Interesse ist, sich der Vergangenheit

Christen gemeint. Wir haben diesen Trostauftrag! Wir sind aufgefordert, Gottes Volk zu trösten – mit Worten und Taten. Von dieser Erkenntnis wurden viele Christen erfasst. Neue Dienste an Holocaust-Überlebenden entstanden und wurden vielen zum Segen. Das ist ein Ausdruck von Buße. Von Umkehr im praktischen Sinn. Wir haben gelernt. Wir haben verstanden, was wir zu tun haben. Tobias Krämer in ihrer eigenen Familiengeschichten zu stellen. Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen sichtbar zu machen, darüber aufzuklären und präventive Angebote, gerade für junge Menschen und Bildungsmultiplikatoren zu schaffen, ist ein weiterer wichtiger Auftrag für uns. Dazu gehört jedoch auch die Perspektive, dass jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer werden muss als die weitverbreitete Ablehnung desselben. Dazu gehören auch Fakten, wie Juden Deutschlands Geschichte in Wissenschaft, Kunst und Industrie gewinnbringend prägten und Israel heute als führender High-Tech Standort wesentliche Beiträge für Europa und die westliche Welt einbringt. Hier gibt es gerade für die junge Generation viel zu entdecken und daraus können wir für die Zukunft lernen. Diesen Bildungsaspekt gehen wir gemeinsam mit ihren Kindern und Enkeln an und arbeiten hier gerne mit israelischen und jüdischen Partnern zusammen.

Unsere Mission

Verglichen mit einem Buch, befinden wir uns im letzten Kapitel mit den Überlebenden. Diesen Satz prägte bei uns Harald Eckert. Verbunden mit dem Auftrag und Wunsch, dass dieses letzte Kapitel zu einem Segenskapitel werden soll. Gerade hier können wir ein Zeichen der Liebe und des Trostes setzten. Mögen die kommenden Kapitel geprägt sein von echter Freundschaft und Kooperation im deutsch-israelischen und christlich-jüdischen Kontext. Dies ist meiner Meinung nach die beste Antwort und Tat als Deutsche/r nach dem Nationalsozialismus. Am Israel Chai! Es lebe das jüdische Volk! Zum Ende dieses Artikels möchte ich den Propheten Jesaja aus 62,10 + 11 zitieren: „Zieht hindurch, zieht hindurch durch die Tore! Bereitet den Weg des Volkes! Bahnt, bahnt die Straßen, reinigt sie von Steinen! Richtet ein Feldzeichen auf über den Völkern! Siehe, der Herr lässt es hören bis ans Ende der Erde hin. Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt.“

•       Begegnungen zwischen der letzten Generation der HolocaustÜberlebenden und der jungen Generation zu ermöglichen. •       Das Gedenken an den Holocaust lebendig zu halten und an die junge Generation weiterzugeben. •       Dem Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen entgegenzuwirken. •       Die deutsch-israelischen Beziehungen durch Austausch und Projekte zu stärken. Nach einer Zeitzeugen-Begegnung verteilt der Schoah-Überlebende Edelsteine an die Schüler. Foto: ZdZ

www.zeugen-der-zeitzeugen.de

Eine ZdZ-Ehrenamtliche im Austausch mit einer Auschwitz-Überlebenden bei einer Exkursion in Prag. Foto: ZdZ


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.