Dossier - Die Zukunft des Gedenkens

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Die Zukunft des Gedenkens

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Christen an der Seite Israels

Die Zukunft des Gedenkens 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des Holocaust EINFÜHRUNG

Jom HaSchoah / Holocaust-Gedenktag

Von Tobias Krämer

In Israel ist 1951 der „Jom HaSchoah“ als nationaler Gedenktag für die mehr als sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden eingeführt und auf den 27. Nissan des jüdischen Kalenders gelegt worden (2020: 21. April). Die zentrale staatliche Gedenkzeremonie findet in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem im Beisein der Staatsführung und von Überlebenden sowie Gästen statt.

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as Gedenken in der Zukunft. Die Zukunft des Gedenkens. Der Titel dieses Dossiers zeigt an, worum es uns geht: um unsere Kultur des Erinnerns. Wie muss das Gedenken heute und in Zukunft gestaltet werden, wenn doch die Ereignisse (Ende des Holocaust, Befreiung des KZ Auschwitz) so lange zurückliegen? Und sie liegen wirklich lange zurück! Wir leben nun in der dritten bzw. vierten Nachkriegsgeneration. Mein Großvater ist in der Mitte seines Lebens im Krieg gefallen. Er war Sanitäter in einem Berliner Krankenhaus, das Anfang 1945 von Bomben getroffen wurde. Mein Vater (geboren 1937) kann berichten, wie man sich in die Straßengräben geworfen hat, um nicht von Kugeln angreifender Flugzeuge getroffen zu werden. Ich selbst bin Jahrgang 1968 und alles, was ich weiß, habe ich von anderen erfahren: von Zeitzeugen, aus dem Geschichtsunterricht, durch die Medien. Für meine Söhne wiederum sind der Zweite Weltkrieg und seine Schrecknisse unendlich weit weg. All das hat mir ihrer Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun.

Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim im Großraum Krakau war das größte deutsche Lager dieser Art. Es wurde 1941 rund drei Kilometer vom Stammlager Auschwitz entfernt gebaut und am 27. Januar 1945 von russischen Soldaten befreit. In Auschwitz-Birkenau sind etwa 1,3 Millionen Menschen ermordet worden, unter ihnen rund 1,1 Millionen Juden. Das ehemalige Vernichtungslager ist jetzt eine Gedenkstätte, ein Museum sowie ein internationales Begegnungs- und Holocaust-Forschungszentrum. Foto: Yossi Zeliger/Flash 90

Wie kann das Gedenken gestaltet werden, so dass es nicht in Routine erstarrt, sondern lebendig und fruchtbar bleibt, ja zur Umkehr

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er Holocaust (griechisch für „vollständige Verbrennung“) oder die Schoah (hebräisch für „Katastrophe“) ist der nationalsozialistische Völkermord an mehr als sechs Millionen jüdischen Männern, Frauen und Kindern zwischen 1933 und 1945. Das rassistisch motivierte Morden begann 1933 im Deutschen Reich und wurden nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen im September 1939 durch Massenerschießungen in den besetzten Gebieten sowie nach dem Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 in Vernichtungslagern systematisch und industriell organisiert durchgeführt. Ziel war die Auslöschung des europäischen Judentums im Rahmen der von den Nazis geplanten „Endlösung“. Der Begriff „Konzentrationslager“ (KZ) wird für alle etwa 1.000 Nazi-Gefangenenlager verwendet: Arbeitslager, Kriegsgefangenenlager, Vernichtungslager und die ursprünglichen KZ, welche die Nazis 1933 nach der Machtübernahme für die Inhaftierung ihrer politischen Gegner einrichteten. Nachfolgend wurden dort auch andere Personengruppen wie Bettler, Schwerverbrecher („asoziale Elemente“) und auch Juden inhaftiert, misshandelt und ermordet. Unter den Gefangenen genossen die deutschen nichtjüdischen Häftlinge gewisse Privilegien, während Juden am schlechtesten behandelt wurden. Die Nazi-Vernichtungslager sind ab 1941 im besetzten Polen und in Weißrussland eingerichtet worden: in Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Belzec, Chelmno, Majdanek und anderen Orten. Für die Verwaltung und Aufsicht in den Lagern waren die berüchtigten SS-„Totenkopf-

führt und Kraft entfaltet? Das ist die Grundfrage, die die Beiträge dieses Dossiers vereint. Zu diesem Zweck stellen wir Ihnen Menschen vor und

schildern Situationen. Wir bringen Erlebnisse, Zeugnisse und Reflexionen. Wir sprechen von der Vergangenheit, schauen aber auf die Gegenwart. Es

Der Holocaust Einheiten“ zuständig. Die Häftlinge, die nicht sofort ermordet wurden, mussten Zwangsarbeit besonders für die Rüstungsindustrie leisten. Zu diesem Zweck wurden auch zahlreiche Außenlager in der Nähe von Industrie- und Rüstungsbetrieben errichtet. Auschwitz-Birkenau Auschwitz-Birkenau, 1941 rund drei Kilometer vom KZ Auschwitz in der Nähe der südpolnischen Stadt Oświęcim errichtet, war das größte

Nazi-Vernichtungslager. Die Opfer kamen aus Ghettos in polnischen Städten, aus Deutschland, den Niederlanden, Ungarn und anderen Ländern. Ein kleiner Teil von ihnen wurde für Zwangsarbeit ausgesondert, etwa 80 Prozent sind am Tag ihrer Ankunft im Lager ermordet worden. In vier Gaskammern konnten täglich mehrere Tausend Menschen getötet werden. Das hochgiftige Gas Zyklon B, ein Schädlingsbekämpfungsmittel, sorgte für den qualvol-

len Tod innerhalb von etwa 10 bis 20 Minuten. Viele Gefangene starben auch durch Exekutionen, an Hunger, Entfräftung, Kälte, Krankheiten oder infolge von grausamen medizinischen Versuchen. Insgesamt wurden in Auschwitz-Birkenau etwa 1,3 Millionen Menschen ermordet, unter ihnen 1,1 Millionen Juden. Die Getöteten wurden im mehreren Krematorien und Verbrennungsgruben vernichtet. Nachdem 1942 die systematische Auslöschung von Menschen in den

Seit 1988 findet am israelischen Holocaust-Gedenktag Jom HaSchoah alljährlich der „Marsch der Lebenden“ vom Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau statt, an dem jüdische Jugendgruppen, HolocaustÜberlebende, Vertreter aus Israel und Personen aus aller Welt teilnehmen. Auf dem Bild eine Gruppe aus Israel vor dem Torhaus des Todeslagers Auschwitz-Birkenau. Foto: Moshe Milner/GPO/FLASH90

Der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, ist in Deutschland 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt worden und wird jährlich mit einer Gedenkstunde im Bundestag begangen. Die Vereinten Nationen haben den 27. Januar im Jahre 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. geht dabei um nichts Geringeres, als eine Gedenkkultur zu entwickeln, die zukunftsfähig ist. Darin sehen wir als Christen an der Seite Israels eine Aufgabe unserer Tage. – Todeslagern bekannt wurde, sind die Alliierten gedrängt worden, dem Morden ein schnelles Ende zu bereiten. Jedoch dauerte es noch mehr als zwei Jahre, bis der brutale Vernichtungswahn der Nazis gestoppt werden konnte. Auflösung der Lager und Todesmärsche Als Auschwitz am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, befanden sich noch etwa 7.500 völlig entkräftete und kranke Gefangene im gesamten Lagerkomplex (mit Außenlagern). In den Tagen zuvor wurden etwa 60.000 Häftlinge auf Todesmärsche nach Westen getrieben, wobei viele Gefangene von den SS-Wachleuten unterwegs erschossen worden sind oder aufgrund von Erschöpfung, Hunger oder Kälte starben. Majdanek war bereits im Juli 1944 als erstes Lager von sowjetischen Truppen befreit worden. Die anderen Vernichtungslager wurden ab Ende 1942 bis 1944 von den Nazis stillgelegt, als die Rote Armee nach Westen vordrang und AuschwitzBirkenau als zentrales Lager für den Massenmord genutzt worden ist. Als Reaktion auf das Heranrücken der alliierten Truppen sind nach der Auflösung und Befreiung von Auschwitz auch weitere KZ stillgelegt und viele Gefangene auf unerträgliche, tage- und wochenlange Todesmärsche getrieben oder mit Eisenbahnwaggons abtransportiert worden. Dabei kamen nochmals Zehntausende Gefangene zu Tode, die entweder von den SS-Wachleuten erschossen wurden oder auf andere Weise starben, meist verhungert, erfroren oder total erschöpft. – Joachim Kudlek


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Die Zukunft des Gedenkens

Die Zukunft des Gedenkens Von Harald Eckert (MA) „Gedenken, Erinnerung spielt im Judentum eine zentrale Rolle. Erinnerung an die Verheißung von Haschem, an das Geschenk des Landes und an den Bund. 169-mal begegnet uns der Wortstamm zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Eine jüdische Weisheit lautet: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet Erinnerung«. Und Elie Wiesel hat einmal festgestellt: »To be a Jew is to remember.«“ Dieses Zitat von Charlotte Knobloch (Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, München; Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland) macht deutlich, wie sehr die Erinnerung und das Gedenken identitätsstiftender Teil des Judentums ist. Die Torah ermahnt die Kinder Israel unzählige Male, sich an Gottes große Taten und an seine Gebote zu erinnern. Die biblischen Feste und Feiertage sind primär dafür von Gott initiiert worden, dass die wichtigsten Heilstaten Gottes über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis des jüdischen Volkes unerschütterlich verankert werden. Wir Christen haben dieses Vorbild ein Stück weit übernommen. Gleichwohl können wir diesbezüglich noch viel vom jüdischen Volk lernen. Vor allem auf der familiären Ebene aber auch in unserem Gemeindeleben. Die Kultur des Gedenkens und des Erinnerns ist eine Kunst, die erlernt und eingeübt werden will. 2020 jährte sich das Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Auf den beiden Gedenkveranstaltungen der „Initiative 27. Januar“ in Berlin und München konnte ich folgende drei Gedanken zum Gedenken einbringen: 1)       Die Überlebenden und Zeitzeugen werden immer wichtiger Im Gedenken an den Holocaust spielen die Opfer und Zeitzeugen von damals eine immer wichtigere Rolle. Ihre Erzählungen tragen maßgeblich dazu bei, dass sich ein kraftvolles Miteinander ergibt zwischen der Ritualisierung des Gedenkens einerseits und der Authentizität des Gedenkens andererseits. Eine gewisse Ritualisierung hat seine Be-

75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz fand in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem am 23. Januar 2020 das fünfte Welt-Holocaust-Forum statt. Die Gedenkveranstaltung stand unter dem Titel „An den Holocaust erinnern, Antisemitismus bekämpfen.“ Anwesend waren hochrangige Repräsentanten aus fast 50 Nationen sowie zahlreiche Holocaust-Überlebende. Damit war es eine so hochkarätig besuchte Konferenz, wie Israel sie seit der Staatsgründung 1948 noch nie erlebt hat. Auf dem Foto der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu während seiner Rede bei dem Welt-Holocaust-Forum. Die Gedenkstätte Yad Vashem wurde 1953 als eine staatliche Behörde Israels gegründet und wird jährlich von mehr als zwei Millionen Menschen besucht. Foto: Yonatan Sindel/Flash90

richtigung und ist unvermeidlich, weil menschlich. Solange jedoch Zeitzeugen unter uns bereit sind, aus ihren Erinnerungen zu berichten, sollten wir ihnen sensibel und wertschätzend Raum machen, damit das Ritual durch Realität ergänzt, vertieft und verlebendigt wird. Wir haben diese kostbaren Menschen nur noch wenige Jahre unter uns. Nutzen wir diese Jahre mit größtmöglichem Engagement! Das dient uns in unserem Eintreten in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Antizionismus und Holocaust-Relativierung. Und es dient ihnen und gibt in der Regel ihrem Leben und ihrem Leid ein Stück weit einen positiven Sinn. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass wir dankenswerter Weise in der Regel die Erfahrung machen dürfen, dass je länger und besser wir uns gegenseitig kennen lernen das Vertrauen zueinander wächst. Was heute im Miteinander möglich ist, war so vor zehn oder gar zwanzig Jahren noch nicht möglich. Mögen die letzten Jahre der öffentlichen Zusammenarbeit die besten Jahre werden!

2)       Die junge Generation wird immer wichtiger! Eine besondere Rolle für die Zukunft des Gedenkens spielt naheliegender Weise die junge Generation. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Arbeit von „Zeugen der Zeitzeugen“ (Seite 3 in diesem Dossier). Junge Deutsche haben in den letzten Jahren Dutzende von Interviews mit HolocaustÜberlebenden getätigt. Teilweise sind dadurch langjährige Beziehungen entstanden. Aus einigen dieser Beziehungen heraus wiederum haben sich gemeinsame Einsätze in Schulen und Universitäten entwickelt. Zwischen den älteren Überlebenden und den jungen Erwachsenen entsteht oft eine besondere „Chemie“. In der Familie, wie auch im sonstigen Leben tun sich ja die Großeltern und die Enkelgeneration miteinander oft leichter als die direkt aufeinanderfolgenden Generationen. Etwas Vergleichbares erleben wir auch hier. Diese Chance gilt es zu nutzen! Diese Erfahrungen wiederum können helfen, im beruflichen, akademischen oder auch im einflussreichen ehrenamtlichen Umfeld der

jüngeren Generation das Gedenken lebendig zu halten. Das Gleiche gilt auch in Ergänzung dazu mit Blick auf Israel, wo sich Möglichkeiten eröffnen bzw. bewusst gesucht werden, Einfluss zu nehmen, um ein zugewandtes, lebensnahes Bild von Israel zu vermitteln. Gerade für junge Leute mit ihren Kommunikationsmöglichkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Authentizität eröffnen sich hier weitreichende Möglichkeiten, dem wachsenden Antisemitismus und Antizionismus in unserer Gesellschaft aktiv entgegenzutreten. 3)       Die wachsende Bedeutung der Einheit von Worten und Taten Die vielleicht entscheidende Herausforderung mit Blick auf dem Gedenken der Zukunft liegt in der Frage, inwieweit Worte und Taten eine Einheit bilden oder auseinanderklaffen. Aus meiner Sicht ist dies für uns Deutsche eine kollektive, nationale Herausforderung. Sie betrifft alle Generationen, alle gesellschaftliche Gruppierungen, alle Denominationen. An der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich die tatsächliche oder mangelnde Glaubwürdig-

keit unseres kollektiven Nachkriegsbekenntnisses: „Nie wieder!“ Es besteht nach wie vor ein großer gesellschaftlicher Konsens darin, dass der Holocaust ein historischer Fehler, eine historische Schuld, ein „Zivilisationsbruch“ war. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass man deshalb aktuelle Formen des Antisemitismus und des Antiisraelismus durchschauen und ihnen entgegentreten kann. In der Politik, in den Kirchen, an den Arbeitsplätzen und Stammtischen, in den Familien passiert das leider viel zu wenig. Man bedauert den Holocaust, aber gleichzeitig empfindet oder beurteilt man Israel als die neuen Nazis. Man tut sich leicht, die historischen Formen des Antisemitismus zu verurteilen, sieht aber nicht, wie groß die Gefahr ist, dem Antisemitismus im aktuellen zeitgeistigen Gewand auf den Leim zu gehen. Nur so ist es zu erklären, dass die hohe Politik im Januar 2015 um den 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz herum in ernsten Worten die Schuld Nazi-Deutschlands öffentlich bedauerte, die gleichen Politiker im Mai 2015 mit ihren israelischen Partnern 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel würdigten und feierten und wiederum die gleichen Politiker im Juni 2015 den halbseidenen Atomdeal mit dem Iran einfädeln und unterzeichnen konnten – mit der Macht, welche die Auslöschung Israels, einen neuen Holocaust, als Teil ihrer Staatsräson betrachtet. Wie passt das mit unserer deutschen Staatsräson – den Schutz Israels (Merkel 2008 in der Knesset) – zusammen? Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Zukunft des Gedenkens eine Frage von außerordentlich hoher gesellschaftlicher und auch geistlicher Bedeutung ist. Die Gesellschaft braucht Vorbilder, braucht Inspiration, braucht Orientierung. Können wir Christen – wo es passt gemeinsam mit unseren jüdischen Freunden – einen Weg gehen, der über unsere Reihen hinaus Strahlkraft und Einfluss gewinnt? Können wir mit anderen geeigneten gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, die einen ähnlichen Weg suchen und gehen? Das könnte unser christlicher Beitrag zur Zukunft des Gedenkens sein. •

Gedenken und gesellschaftspolitisches Engagement: Die Initiative 27. Januar Von Josias Terschüren Es gibt viele jährlich wiederkehrende Tage, die wir feiern und fröhlich begehen, sowohl im persönlichen als auch im öffentlichen Raum: Geburts- und Hochzeitstage fallen mir hier ein oder Feiertage, die oft an geschichtliche Momente von herausragender Bedeutung erinnern. Der alljährlich am 27. Januar stattfindende Holocaust-Gedenktag hingegen geht tiefer, viel tiefer unter die Haut – er will das Herz des Menschen berühren, nicht nur sein Gemüt.

Gedenken bessert das Herz

Dazu erfordert er ein Innehalten, einen Ausstieg aus der rastlosen Hetze unseres Alltags, denn er erschließt

sich dem flüchtigen Betrachter nicht, erfordert seelische Arbeit, Aufarbeitung. Leistet man diese, bessert uns dieses echte Gedenken im Innern. Schon der biblische König Salomo schrieb: „Trauern ist besser als Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert.“ (Prediger 7,3) Angesichts der schier unfassbaren Zahl von 6 Millionen ermordeten Juden, die das Herz des Menschen nicht fühlen kann, weil es so abstrakte Größen nicht zu fassen vermag, ist es notwendig, sich das Schicksal Einzelner vor Augen zu führen, zu hören, nachzuvollziehen, mitzufühlen. So wird das Unbegreifliche ein stückweit greifbar. Das enorme Ausmaß deutscher Schuld verjährt nicht. Die Schoah

bedeutet 6 Millionen ausgelöschte, ewig unvollendete menschliche Schicksale. Es ist nicht unsere Schuld, nicht die Schuld der heute lebenden Deutschen, aber unser Erbe. Es ist unsere Verantwortung, mit dieser Vergangenheit umzugehen und aus dem Gedenken ein besseres Heute und Morgen zu gestalten. Deshalb errichteten wir Deutschen ein Mahnmal im Herzen unserer wiedervereinigten Hauptstadt. Deshalb wurde der Holocaust-Gedenktag etabliert und jährlich begangen.

Persönliche Erfahrungen

Echtes und von Herzen kommendes Gedenken versöhnt. Das durfte ich 2019 auf ganz besondere Weise erleben, und zwar in der Jerusalemer Residenz des israelischen Präsiden-

ten. Als einfacher Konferenzteilnehmer erhielt ich dort das Privileg, vor etwa 100 Gästen über die Motivation für mein Engagement sprechen zu dürfen. Ich zitierte aus dem Buch des Propheten Jesaja Kap. 60,14: „Und tief gebückt werden die Söhne deiner Unterdrücker zu dir kommen, und alle, die dich geschmäht haben, werden sich zu deinen Fußsohlen niederwerfen und dich »Stadt des HERRN« nennen, »Zion des Heiligen Israels«.“ Daraufhin tat ich intuitiv genau das, wovon Jesaja geredet hatte, kniete mich nieder und bekannte die Schuld meiner Vorväter und Nation und bat um Vergebung. Einige Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen waren anwesend und kamen danach weinend zu mir und wir umarmten uns. Wie heilsam!

Gedenken und handeln

Echtes Gedenken muss ein fundamentaler Baustein der deutsch-jüdischen und der deutsch-israelischen Beziehungen sein. Aber dabei darf es nicht bleiben. Wir müssen dann auch darauf aufbauen. Deshalb wurde 2005 die Initiative 27. Januar ins Leben gerufen, eine NGO in der deutschen Hauptstadt Berlin. Sie hat eine dreifache Zielsetzung: 1. das Gedenken an den Holocaust lebendig zu halten, 2. jeglichen Ausdrucksformen von Antisemitismus und Antiisraelismus entgegenzutreten, 3. die Beziehung zwischen Deutschland und Israel zu stärken. www.initiative27januar.org


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Blickpunkt Holocaust-Überlebende

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s waren die Jahre nach der Jahrtausendwende. In der Israelbewegung schlug eine Nachricht ein wie ein Blitz: Zehntausende von Holocaust-Überlebenden in Israel lebten unterhalb der Armutsgrenze. Ein fataler Zustand – unmöglich, hier passiv zu bleiben! In Folge erwuchs eine beispiellose Bewegung der Solidarität. Viele Israelwerke legten Programme für Holocaust-Überlebende auf, so auch Christen an der Seite Israels. Das markanteste

Beispiel ist vielleicht das Handwerkerprogramm der Sächsischen Israelfreunde: Deutsche Handwerker, zumeist Christen, fahren für einige Wochen nach Israel und renovieren kostenlos die Wohnungen von verarmten Holocaust-Überlebenden. Bis heute. Was ist der geistliche Hintergrund dieser Dienste? Zwei Faktoren sind hervorzuheben: das Gedenken und die Bibel. Was das Gedenken anbelangt: Israelfreunde pflegen eine intensi-

ve Gedenkkultur. Der Holocaust ist für sie keine Sache von gestern, die man abhaken kann. Er steht ihnen vor Augen und wird als Auftrag im Hier und Heute begriffen: Mitgefühl zeigen – die Geschichte an sich heranlassen – die Herzen bewegen lassen – Juden lieben – HolocaustÜberlebenden dienen. Das ist die Gedankenkette, die von der Betroffenheit des Gedenkens zum praktischen Tun führt. Dazu kam ein Bibelwort, das in

Israelkreisen große Wirkung zeigte: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott!“ (Jesaja 40,1). Auf dem Hintergrund der Not der Überlebenden sprach dieses Wort Bände. Hier ist von einem Auftrag die Rede: „Tröstet!“ Wer soll getröstet werden? „Mein Volk“, also Israel. Und wer sagt das? „Euer Gott“. Wer ist hier eigentlich angesprochen? Sicher nicht die Juden, denn man kann sich nicht selbst trösten. Wer aber dann? Für viele war schnell klar: Hier sind wir

Unser Weg: Das Erbe der Schoah-Überlebenden Von Marina Müller Eine Begegnung, die alles veränderte

„Möchtest du, Marina, meine deutsche Tochter sein?“ Diese Frage stellte mir die Schoah-Überlebende Gita Koifman am Stelenfeld in Berlin, dem Denkmal an die ermordeten Juden in Europa. Darauf erwiderte ich: „Nur wenn du meine israelische Mama wirst.“ Berlin, 20. Januar 2012, anlässlich des 70. Jahrestages der WannseeKonferenz ist eine Delegation von Schoah-Überlebenden aus Israel angereist. Alle besuchen Deutschland zum ersten Mal. Wir, eine Gruppe von jungen Christen, begleiten in diesen Tagen die Gruppe von Überlebenden aus Israel zu unterschiedlichen Terminen. Wichtige Stationen sind das Wannsee-Haus, das Stelenfeld, ein Besuch im Bundestag und eine Sight-Seeing Tour durch Berlin. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich Schoah-Überlebende ausschließlich in Israel getroffen und in meiner Schulzeit Daten und Fakten über die Schoah gelernt. Ich hätte nie gedacht, dass mich die Schoah und deren Ausmaß hier in Deutschland noch einmal so stark berühren würden. Schon knapp zwei Jahre später stellten wir die ersten Interviews gemeinsam mit den Überlebenden zu der Gedenkveranstaltung der „Initiative 27. Januar e.V.“ anlässlich des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht in Berlin vor. Nachdem auf der Website von www.zeugen-der-zeitzeugen.de die Interviews hochgeladen waren, meldeten sich aus ganz Deutschland Lehrer/innen bei uns, die eine Zeitzeugen-Begegnung für ihre Schüler/innen wünschten. Daraus entwickelte sich unsere bundesweite Bildungsarbeit.

Nach den Begegnungen mit den Schoah-Überlebenden überreichen wir ihnen handgefertigte CHAI (Leben)-Zeichen. Dort, wo unsere Vorfahren Fluch gebracht haben, möchten wir ihnen Leben zusprechen.

Schüler/innen werden zu „Zeugen der Zeitzeugen“

Nun gehen wir seit mehr als fünf Jahren an Schulen. Hierbei ist es uns wichtig, gemeinsam mit den Lehrkräften die Zeitzeugen-Begegnung vorzubereiten, die Zeitzeugen oder deren Nachfahren bei der Reise zu begleiten und mit den Schüler/ innen nach der Begegnung über den steigenden Antisemitismus zu reden und was wir gemeinsam konkret tun können. Doch dies reicht nicht aus!

Als Zeuge in Verantwortung leben

Die Überlebenden geben, verbunden mit dem Wunsch, es solle NIE WIEDER geschehen, ein Erbe, ein Vermächtnis an uns weiter. Jeder, der einen Schoah-Überlebenden gehört hat, sollte sich die Fragen stellen: „Was bedeutet das Vermächtnis der

Überlebenden konkret für mein Leben, meine Überzeugungen, unser Land in Verbindung mit Israel? Und was kann ich aktiv tun?“ Uns als Team ist es wichtig, neben dem Gedenken, die Zeitzeugen und ihre Familien persönlich zu besuchen, Anteil an ihren Leben zu nehmen und ihnen zuhören, was sie beschäftigt. So finden an manchen Nachmittagen Treffen mit Überlebenden statt, wo Gesellschaftsspiele gespielt werden, gemeinsam eine Veranstaltung besucht wird oder man sich in einem Café trifft.

Gedenken verbunden mit dem Blick in die Gegenwart

Neben den Interviews und der Arbeit der Zeitzeugen-Begegnungen in Bildungseinrichtungen erweiterten wir unsere Arbeit mit der Durchführung von deutsch-israelischen Austauschprojekten und der Begleitung eines deutsch-israelischen Schüleraustausches. Im März 2020 fand unsere erste Bildungsreise nach Israel für Bildungsmultiplikatoren statt. Die Realität in einem heutigen, vielfältigen Israel zu vermitteln, ist uns genauso wichtig, wie Begegnungen mit lebenden Juden in der Gegenwart zu ermöglichen.

Zukunft gestalten:

Zeugen der Zeitzeugen (ZdZ) ist ein selbstständiger Arbeitsbereich der Initiative 27. Januar e.V. und schreibt für Christen an der Seite Israels regelmäßig Gastbeiträge. Unsere Ziele:

Wir freuen uns, dass wir mittlerweile generationsübergreifend unsere Arbeit an Schulen weiterführen können. So halten wir das Gedenken an die Schoah lebendig und vermitteln der jungen Generation, weshalb es in ihrer Verantwortung und in ihrem Interesse ist, sich der Vergangenheit

Christen gemeint. Wir haben diesen Trostauftrag! Wir sind aufgefordert, Gottes Volk zu trösten – mit Worten und Taten. Von dieser Erkenntnis wurden viele Christen erfasst. Neue Dienste an Holocaust-Überlebenden entstanden und wurden vielen zum Segen. Das ist ein Ausdruck von Buße. Von Umkehr im praktischen Sinn. Wir haben gelernt. Wir haben verstanden, was wir zu tun haben. Tobias Krämer in ihrer eigenen Familiengeschichten zu stellen. Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen sichtbar zu machen, darüber aufzuklären und präventive Angebote, gerade für junge Menschen und Bildungsmultiplikatoren zu schaffen, ist ein weiterer wichtiger Auftrag für uns. Dazu gehört jedoch auch die Perspektive, dass jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer werden muss als die weitverbreitete Ablehnung desselben. Dazu gehören auch Fakten, wie Juden Deutschlands Geschichte in Wissenschaft, Kunst und Industrie gewinnbringend prägten und Israel heute als führender High-Tech Standort wesentliche Beiträge für Europa und die westliche Welt einbringt. Hier gibt es gerade für die junge Generation viel zu entdecken und daraus können wir für die Zukunft lernen. Diesen Bildungsaspekt gehen wir gemeinsam mit ihren Kindern und Enkeln an und arbeiten hier gerne mit israelischen und jüdischen Partnern zusammen.

Unsere Mission

Verglichen mit einem Buch, befinden wir uns im letzten Kapitel mit den Überlebenden. Diesen Satz prägte bei uns Harald Eckert. Verbunden mit dem Auftrag und Wunsch, dass dieses letzte Kapitel zu einem Segenskapitel werden soll. Gerade hier können wir ein Zeichen der Liebe und des Trostes setzten. Mögen die kommenden Kapitel geprägt sein von echter Freundschaft und Kooperation im deutsch-israelischen und christlich-jüdischen Kontext. Dies ist meiner Meinung nach die beste Antwort und Tat als Deutsche/r nach dem Nationalsozialismus. Am Israel Chai! Es lebe das jüdische Volk! Zum Ende dieses Artikels möchte ich den Propheten Jesaja aus 62,10 + 11 zitieren: „Zieht hindurch, zieht hindurch durch die Tore! Bereitet den Weg des Volkes! Bahnt, bahnt die Straßen, reinigt sie von Steinen! Richtet ein Feldzeichen auf über den Völkern! Siehe, der Herr lässt es hören bis ans Ende der Erde hin. Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt.“

•       Begegnungen zwischen der letzten Generation der HolocaustÜberlebenden und der jungen Generation zu ermöglichen. •       Das Gedenken an den Holocaust lebendig zu halten und an die junge Generation weiterzugeben. •       Dem Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen entgegenzuwirken. •       Die deutsch-israelischen Beziehungen durch Austausch und Projekte zu stärken. Nach einer Zeitzeugen-Begegnung verteilt der Schoah-Überlebende Edelsteine an die Schüler. Foto: ZdZ

www.zeugen-der-zeitzeugen.de

Eine ZdZ-Ehrenamtliche im Austausch mit einer Auschwitz-Überlebenden bei einer Exkursion in Prag. Foto: ZdZ


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Gedenken, das zu Herzen geht Seelsorgerliche Überlegungen zu einem sensiblen Thema Von Tobias Krämer Jahrzehnte nach dem Ende des Holocaust stellt sich die Frage, wie Erinnern und Gedenken heute aussehen soll. Die bisherigen Formen scheinen nicht mehr recht zu passen. Neue Generationen wachsen heran und suchen ihre eigenen Wege. Eines aber dürfte unbestritten sein: Das Gedenken sollte nicht in Routine erstarren, sondern die Herzen der Menschen erreichen. Dazu nenne ich fünf Stichworte und gehe kurz auf sie ein. 1. Betroffenheit. Betroffenheit entsteht oft nicht durch eine drastische Darstellung der Judenvernichtung. Die volle Wucht des Grauens kann man gar nicht fassen. Betroffenheit entsteht eher durch das Nachempfinden von Schicksalen, durch Texte von KZ-Insassen, durch das Zeugnis von Betroffenen und durch die Begegnung mit

Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen. Es ist das Leiden der Menschen, das zu Herzen geht. 2. Gewissen. Gedenken soll das Herz erreichen, nicht das Gewissen. An dieser Stelle ist ein Schritt der Distanzierung nötig: Die Schuld der Väter ist deren Schuld, nicht unsere. Deshalb sollten wir Heutigen uns auch nicht schuldig fühlen. Gutes Gedenken sollte die Schuld bei den Vätern lassen, die Kinder aber aktuell in die Verantwortung nehmen. Nur wenn wir die historische Schuld den Vätern geben, können wir unsere heutige Verantwortung erkennen. 3. Verantwortung. Entscheidend ist zu sehen, wie unsere heutige Verantwortung konkret aussieht. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker definiert sie in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 so: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das,

was in der Geschichte daraus wird.“ Was „machen“ wir mit unserer Geschichte, wie gehen wir mit ihr um? Das ist die entscheidende Frage. 4. Auftrag. Aus der Geschichte erwächst uns ein dreifacher Auftrag: (1.) Aufarbeitung der Vergangenheit, (2.) Wachhalten der Erinnerung und (3.) Herstellen eines Gegenwartsbezugs. Gerade Letzteres – der Sprung in die Gegenwart – wird oft versäumt. Dann aber bleibt das Gedenken theoretisch. Was ist angesichts des Holocaust heute zu tun? Was sind wir den Opfern und ihren Nachkommen schuldig? Das sind tiefgehende und weitreichende Fragen.1 5. Gebet. Es gibt keine menschliche Methode, das Herz der Menschen zu erreichen. Wir können Angebote machen, Wege eröffnen, Optionen aufzeigen – mehr ist nicht möglich. Von daher ist es gut, alles Gedenken mit Gebet zu begleiten. Auch das eigene. Denn Gott ist der

Wenn ich doch etwas tun könnte! Von Anemone Rüger

Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, mich vor wenigen Jahren wieder in das Land zu bringen. Alijah und Ukraine waren für mich längst abgehakt, nachdem die Auswanderungszahlen Ende der 1990er stark zurückgegangen waren. Doch etwas war jetzt anders. In mühsamer, jüngst erst möglich gewordener Archivarbeit, in fast ausschließlich privater Initiative, hatten die jüdischen Gemeinden, die Überlebenden selbst, begonnen, dem unfassbaren Leid, der Katastrophe des 20. Jahrhunderts auf ukrainischem

Zwischen dem heutigen Deutschland und dem Deutschland der Nazizeit liegen zweifellos Welten. Schaut man aber genauer hin, so findet man auf der Ebene der Herzen noch immer (und wieder erneut) viel Feindschaft: Antisemitismus, Antijudaismus und Antiisraelismus. Oftmals versteckt, weil man es nicht zeigen will oder an sich selbst gar nicht wahrnimmt.2 Hier hat das Gedenken nicht gegriffen. Es fehlt an Buße, an Herzenserneuerung, an Demut. Dies führt heute zu einer weiteren Grundeinstellung, die verbreitet ist: Gleichgültigkeit. Elie Wiesel, selbst Holocaust-Überlebender, sagte dazu einmal: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ Das heißt: Wer gleichgültig

ist, der ist noch nicht bei der Liebe gelandet. Das aber wäre angesichts unserer Vergangenheit das Richtige: den Juden mit Liebe, Wertschätzung, Freundschaft, Partnerschaft, Herzensverbundenheit und Verlässlichkeit zu begegnen. Dies wäre ein sichtbarer Ausdruck von Buße, von Umkehr und innerem Zerbruch. Zerbruch ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil, er steht unter Verheißung: „Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten“ (Psalm 51,19) – ein solches Herz findet Wohlgefallen bei Gott. Anmerkungen 1 Hilfreich dazu sind die CSI-Faltblätter „Perspektivwechsel!“ und „Müssen wir denn ewig Buße tun?“ (Reihe Kompakt verpackt Nr. 5 + 6). 2 Vgl. M. Gerstenfeld: Anti-Israelismus und Anti-Semitismus (2018). Was das Verhältnis beider Staaten anbelangt vgl. A. Oz Deutschland und Israel (2005).

„Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“ Richard von Weizsäcker

„Kinder, lernt Russisch!“, mahnte mein Vater, als Ende 1989 die sowjetische Satellitendiktatur in der DDR zerbrach und die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge die Reste des alten Systems nicht schnell genug loswerden konnten. „Gott wird sich etwas dabei gedacht haben, dass er uns in diesem Land hat aufwachsen lassen.“ Sieben Jahre später verbrachte ich ein Studienjahr in der russischsprachigen Ukraine und war gleichzeitig Teil eines Teams, das es Juden nach 2000 Jahren Diaspora und 70 Jahren hermetischer Abriegelung ermöglichte, nach Israel zu gehen. Alles war frisch, vieles improvisiert. Historische Momente – der vorausgesagte zweite Exodus, diesmal aus dem Land des Nordens, erfüllte sich vor unseren Augen.

Herzenskenner. Er kann Menschen in ihrem Innersten erreichen. Er kann die Herzen anrühren und weich machen – und darum dürfen wir ihn bitten.

Buchempfehlung Anemone Rüger: „Da gibt es NICHTS zu erzählen!“ – Opas Vermächtnis

Anemone Rüger (rechts), Mitarbeiterin von Christen an der Seite Israels im Patenschaftsprogramm für Holocaust-Überlebende in der Ukraine, mit dem jüdischen Ehepaar Rima und Semjon Arantschuk, das den Holocaust überlebt hat.

Boden, einen Namen zu gegeben. 1,7 Millionen. Mehr als jeder vierte im Holocaust ermordete Jude wurde in der Ukraine umgebracht. Die bewusst von der Sowjetführung identitätslos gehaltenen Mahnmale für die „Opfer des Faschismus“ begannen knarrend, ihre furchtbaren Geheimnisse preiszugeben. Nicht im Gas waren sie gestorben – in Gruben, in Panzergräben, in Phosphatschächten. An den Kindern wurden die Kugeln gespart; sie erstickten. 2000 Massengräber. Ich hatte keine Ahnung gehabt – wie wohl die meisten Landsleute, die meisten En-

Dossier: Die Zukunft des Gedenkens (April 2020)

Christen an der Seite Israels

Herausgeber: Christen an der Seite Israels e. V. Friedberger Str. 101, 61350, Bad Homburg v. d. Höhe (D) Tel.: (0  61 72) 9 18 27 40 • info@israelaktuell.de • www.israelaktuell.de Redaktion/Satz/Layout: Harald Eckert (verantwortlich i. S. d. P.), Tobias Krämer, Joachim Kudlek • Druck: Druckzentrum Braunschweig, Auflage: 23. 000 Bankverbindung: Christen an der Seite Israels e. V. Konto-Nr. 140 000 216, Kasseler Sparkasse (BLZ 520 503 53) IBAN: DE28 5205 0353 0140 000216, BIC: HELADEF1KAS Dieses Dossier findet sich auch auf der Homepage www.israelaktuell.de und kann dort heruntergeladen werden.

kel der Wehrmachtsoldaten, die einst über diese Erde marschiert waren. Zerrissen stand ich an einem deutlich erkennbaren jüdischen Massengrab in Chmelnitzki mit einer Gruppe, die gekommen war, an Ort und Stelle Buße zu tun. Wenn ich doch noch etwas tun könnte. Ein paar der weggeworfenen Kinder aus der Grube zurückholen. „Gott vertraut uns sein Volk an“, schoss es mir durch den Kopf. „Aber sie sind alle tot!“, dachte ich verzweifelt. Doch dann war mir klar: Wenn wir hier an den Gräbern treu sind, wird Gott uns auch die Lebenden anvertrauen. So fing alles an.

Opa Meieranz baut in seinem Schrebergarten an der Karl-MarxStraße leuchtende Gladiolen, Duftwicken und zuckersüße Himbeeren an. Seine Enkel lieben ihn für seine Großzügigkeit, besonders wenn er die große weiße Emailleschüssel voll Zuckerbrezeln bäckt. Wenn im Schwarz-Weiß-Fernseher etwas über Israel kommt, weint Opa. Er war im Krieg gewesen, wie so viele. Deutscher Wehrmachtsoldat an der langen, wandernden Ostfront. Über die Herkunft seines seltenen Namens, so beharrt Opa, gebe es „nichts zu erzählen“. Indes wachsen die Enkel im beengten ostdeutschen Alltag auf und versuchen, sich die Bilder von Papas Jerusalem-Lesezeichen vorzustellen, die aus DDR-Perspektive Lichtjahre entfernt scheinen.

tern der „dritten Generation“ machen sich auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise auf der Suche nach Opas Vermächtnis, das sich auf Tausenden von Kilometern zwischen Deutschland, Polen und Israel langsam entfaltet. www.opas-vermaechtnis.de

Dann fällt die Mauer, die Enkel entdecken die Welt. Das Leben ist mäßig aufregend, bis eines Tages, sechs Jahre nach Opas Tod, ein Anruf alles verändert. Zwei Schwes-

412 Seiten, Taschenbuch, mit zahlreichen Abbildungen. ISBN: 978-3-86460-810-0 19,90 Euro, auch im Webshop von www. israelaktuell.de erhältlich

Es ist noch nicht zu spät!

Immer mehr mutige Deutsche kamen, um das lähmende Schweigen zu brechen, sich dem von Deutschen verursachten Grauen zu stellen und Gott und die Überlebenden um Vergebung zu bitten. Und – immer mehr Überlebende tauchten auf. Ich begann, mit ihnen zu sprechen – Olga und Moische, Igor und Arkadi – während sie sich um ein Lebensmittelpaket anstellten, finanziert von deutschen Christen. Sie hatten über-

lebt – in Kellern und Bodenkammern, Weizenfeldern und Fluchtwaggons. Sie standen vor mir – die altgewordenen Kinder, die aus der Grube des Todes gerettet worden waren! Es war noch nicht zu spät! Sie haben schmerzvolle Geschichten, die noch niemand kennt - und leben in Armut.

Wir haben von unserem Wohlstand abzugeben - und brauchen ihre offenen, vergebenden Herzen. Beide brauchen Heilung. Hunderte persönlicher Brücken der Versöhnung sind entstanden, oft im letzten Moment. Tausende warten noch. Besonders auf uns Deutsche. Es ist noch nicht zu spät. –


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