chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 2/23 13. JAHRGANG KULTUR BAUSTART AM NS-DOKU-ZENTRUM MUSIK „79 CONNECTED“ PUSHT HIPHOP-COMMUNITY LEINWAND SEX ODER LIEBE? TAGEBUCH EINER PARISER AFFÄRE HE RK UN FT LESE REIHE ZU FEINEN UNTER SCHIEDEN ZU GAST IN 09.3. SABRINA JANESCH MEDIOTHEK RIESELFELD 25.3. PAUL BRODOWSKY ADOLF-REICHWEINBILDUNGSHAUS WEINGARTEN 30.3. BEHZAD KARIM KHANI SÜDUFER HASLACH 31.3. CHRISTIAN DUDA STADTTEILBIBLIOTHEK HASLACH 04.4. DINÇER GÜÇYETER SCHOPF 2 KREATIVPIONIERE HASLACH 17.4. OLIVIA WENZEL HAUS DER JUGEND WIEHRE 24.4. MARLEN HOBRACK DRUCKEREI SCHWARZ AUF WEISS IN DER FABRIK HERDERN 27.4. LUNA AL-MOUSLI HAUS DER BEGEGNUNG FREIBURG LANDWASSER MEHR: LITERATURHAUS-FREIBURG.DE MÄRZ UND APRIL 2023 Lesereihe „HERKUNFT“ 9. MÄRZ BIS 27. APRIL, FREIBURG

Ein Kompromiss mit Konsequenzen

Ludwig Ammann ist eben von der Berlinale zurück. Zehn Tage und Nächte lang ist er im Kino-Marathon mitgerannt – auf der Suche nach Filmen, die sich für die Kinos Friedrichsbau, Harmonie und Kandelhof eignen. Zusammen mit Michael Isele ist er Geschäftsführer dieses Programmkino-Verbunds, der elf Säle und das Sommernachtskino bespielt. Nun steckt er mitten in der Jahresplanung – und freut sich sehr, dass es mit dem Friedrichsbau jetzt doch weitergehen kann.

Die gute Nachricht, dass dieses 1911 eröffnete Kino, eines der ältesten Lichtspielhäuser Deutschlands, vorerst vor der An-

fang Januar angekündigten Schließung bewahrt wurde, kam schon vor seiner Abreise nach Berlin: Am 10. Februar einigten sich die Stiftungsverwaltung als Vermieterin mit den Kinobetreibern unter der Vermittlung von Oberbürgermeister Martin Horn auf einen mittelfristigen, gestaffelten Mietvertrag von zehn Jahren mit zwei Ausstiegsoptionen – Ende 2023 und 2028. Ein Kompromiss. Die Geschichte des drohenden Untergangs und der wundersamen Rettung ist nicht nur kinobegeisterten Freiburger·innen bekannt. Der mehr als 110 Jahre alte Friedrichsbau wird nun ab 2033 grundsaniert; zuvor wollte die Franz-Xaver- und

NOCH SIND FREIBURGS ARTHAUS-KINOS NICHT GERETTET
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Sanierungsfall: Das Kino im Friedrichsbau, das seit 111 Jahren als Lichtspieltheater betrieben wird, ist vorerst gerettet. Aber nur, wenn die Besucher·innen so zahlreich strömen wie in den Jahren vor den Corona-bedingten Schließungen.

Emma-Seiler-Stiftung als Eigentümerin die Räume nur noch mit kurzfristigen Verträgen weitervermieten. Davon war auch das Betreiber-Duo des Kinos im Friedrichsbau betroffen, das seit 2019 mit Ein- oder Zwei-Jahres-Verträgen beschieden wurde – viel zu kurz, um die großen Investitionen zu tätigen, die für den Weiterbetrieb des Kinos erforderlich waren und sind: Die 42 Jahre alte Lüftung, nach Ammanns Worten ein „energiefressender Dinosaurier“, für den es nicht einmal mehr eine Ersatzschraube gibt, muss ersetzt werden. Dabei fallen mindestens 450.000 Euro an. Und auch die Projektoren werden im Lauf der nächsten zwei Jahre den Geist aufgeben. Sie müssen ausgetauscht werden; dabei ist laut Ammann mit mindestens 280.000 Euro zu rechnen.

Eine knappe Dreiviertelmillion also – zu stemmen und zu investieren ab 2024. Kein Unternehmer, sagt der Geschäftsführer, werde seinen Betrieb „mit Apparaturen für weit mehr als eine halbe Million ausstatten“, wenn er keine Planungssicherheit habe. Wenn ungewiss sei, ob die Investition zurückverdient werden kann: Mit Arthaus-Kinos sei ein solcher Betrag – zusätzlich zu den weiterlaufenden Ausgaben und mit geringeren Besucherzahlen als in den Vor-Corona-Jahren – in einem Jahr nicht zu erwirtschaften, auch nicht in sieben Jahren. Mit Glück in zehn.

Doch er ist optimistisch, dass außer den jüngeren auch die älteren Besucher:innen das „Gemeinschaftserlebnis Kino“ wieder suchen werden und dass die Finanzierung der anstehen-

den Ausgaben möglich ist: mit dem selbst erzielten Einkommen aus den Kinos, mit Fördermitteln und mit dem Geld, das aus dem unlängst gestarteten Crowd-Funding hereinkommt. „Fantastische 30.000 Euro haben die Freiburger·innen schon beigesteuert, das Ziel sind jetzt 50.000 Euro.“

Auf diesem Niveau sei dauerhaft kein rentables Wirtschaften möglich, zumal es seit Beginn des Jahres keine Überbrückungsgelder oder andere finanzielle Hilfen mehr gibt: „Ab sofort ist jeder Verlust zu 100 Prozent unser eigener.“

Wenn es bis zum Jahresende nicht gelinge, die Lücke von fast 40 auf mindestens 20 Prozent zu verringern, die Besucherzahlen gegenüber 2019 also auf 80 bis 85 Prozent zu steigern, könne man die anstehenden Investitionen nicht angehen, zumindest nicht guten Unternehmergewissens. Das ist die Konsequenz des Kompromisses. Zumal der Friedrichsbau während der im Frühjahr 2024 beginnenden Umbauzeit für etwa drei Monate geschlossen werden müsste. Wie vor vier Jahren, als dort der Brandschutz erneuert wurde. Und ob es hinterher einen Kassenschlager wie damals den „Systemsprenger“ gebe, der die Verluste wieder einspiele, sei ungewiss. Zum Jahresende, sagt Ammann, „wissen wir, wo wir stehen“.

Wenn die Besucherzahlen auf dem hohen Niveau bleiben, das besonders im Januar durch die von der Freiburger Bürgerstiftung initiierte Kampagne zur Rettung der Friedrichsbau-Kinos erreicht wurde, kann das klappen: da waren die Zahlen höher als vor Corona. Im Jahr 2022 lagen sie bei nur 63 Prozent gegenüber dem Referenzjahr 2019. Da waren 356.000 Kinogänger zu verzeichnen, 2022 lediglich 225.000.

Bei den beiden anderen Häusern rechnet Ludwig Ammann nicht mit einem solchen Paukenschlag: Ohne sich über Details zu äußern, gibt er an, dass es hier langfristige Mietverträge gebe, über die erst in geraumer Zeit verhandelt werden müsse. Die Miete der Harmoniekinos sei zwar „sehr hoch“, doch übernehme die Eigentümerin, die Kinowerbefirma Weischer, anfallende Sanierungskosten. Und beim Kandelhof habe man sich mit den Vermietern, einer Familie, die das Kino früher selbst betrieben habe, „immer einigen können“.

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Zuversichtlich: Ludwig Ammann hält es für möglich, dass den Freiburgern auch die typischen Friedrichsbau-Filme erhalten bleiben. Fotos: © Kino Friedrichsbau
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Foto: © privat

Bedrückende Kammer

HABEN DIE BAUARBEITEN BEGONNEN – EIN RUNDGANG

Baustelle: Im Innenhof des früheren Verkehrsamts und künftigen Dokumentationszentrums Nationalsozialismus Freiburg wird schichtweise die Erde abgetragen. Hier soll ein separater Gedenkraum eingerichtet werden.

Von dem am Rotteckring gelegenen ehemaligen städtischen Verkehrsamt ist derzeit nicht viel zu sehen. Die für seinen Architekten, den von 1925 bis 1952 amtierenden Freiburger Stadtbaumeister Joseph Schlippe, typischen, in der ganzen Altstadt anzutreffenden Arkaden verschwinden hinter einem hohen gelben Bauzaun, ein Kran ragt empor. Unsichtbar sind dadurch derzeit auch die massiven Eisengitter der Firma Mannesmann, die über den Kellerluken in den Boden eingelassen sind, auf denen „Luftschutz“ zu lesen ist. Und die Jahreszahl 1936.

Diese Zahl prangt auch auf dem eher luftig anmutenden gusseisernen Gitterwerk, das über der eher unscheinbaren Tür angebracht ist, durch die man von der Turmstraße aus Zugang zu dem zweigeschossigen Haus hat – wenn man das Glück hat, mit einer befugten Person hinter den Bauzaun zu gelangen. Zu diesen Menschen gehört zweifellos Julia Wolrab, die seit etwa zwei Jahren das

hier entstehende Dokumentationszentrum Nationalsozialismus leitet. Gleich am Eingang erläutert sie, was es mit den olympischen Ringen auf sich hat, die, umrankt von repräsentativen Ornamenten, unter der Jahreszahl in die Vergitterung eingearbeitet sind: Mit diesem Emblem, sagt die Historikerin, sollte das 1936 eröffnete Verkehrsamt, in dem verschiedene Reise-, Freizeit- Wander- und andere Mobilitätsvereine untergebracht wurden, die Weltoffenheit der Stadt Freiburg signalisieren und Winter- wie Sommerfrischler für den Schwarzwald begeistern.

Obwohl an den Luftschutzgittern wie auch an den in Hüfthöhe mit phosphoreszierender Farbe aufgemalten Pfeilen zu erkennen ist, dass Nazideutschland damals schon den Krieg vorbereitete: Sie weisen in den von Anfang an geplanten und eingerichteten Luftschutzkeller in dem Haus, das Schlippe 1934 im Auftrag der damaligen Nazi-Stadtverwaltung entwarf. Nach außen angeblich weltoffen, im Innern aus-

IM KÜNFTIGEN DOKUMENTATIONSZENTRUM NATIONALSOZIALISMUS FREIBURG
Fotos: © Erika Weisser
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von Erika Weisser

grenzend, mörderisch und kriegstreibend, sagt Wolrab dazu. Kurz darauf wird deutlich, was sie meint: Zwischen dem beinahe im Original erhaltenen, bombensicher wirkenden Keller, von dessen Decke derzeit alle möglichen Kabel und Rohre von der Decke hängen, und dem Ausgang ins benachbarte Treppenhaus, ist eine Gas-Schleuse mit zwei Türen eingerichtet, die bei Giftgasalarm geschlossen wurden, um die dorthin Geflüchteten zu schützen.

Diese enge, bedrückende Kammer ist im Originalzustand – und soll auch so bleiben. Auch die beiden Kellerräume mit den diversen Nebenräumen mit den oben erwähnten Luken werden lediglich gereinigt und eventuell gestrichen. Nicht nur wegen des Denkmalschutzes: Hier wird der Teil der Dauerausstellung untergebracht, der die ersten Jahre der Diktatur zum Thema hat. Und diese Räume eignen sich laut Wolrab besonders gut, um die beengende Atmosphäre jener Zeit zu spiegeln.

Vom Keller aus wird man künftig in den Gedenkraum gelangen, der im derzeitigen Innenhof ganz neu eingerichtet wird. Hier wird ein Teil der bei den Bauarbeiten am Platz der Alten Synagoge gefundenen Fundamentsteine eingearbeitet. Hier werden außerdem die Namen aller von den Nazis ermordeten Freiburger·innen zu lesen sein, deren Lebens- und Leidensgeschichten über QR-Codes zu erfahren sind.

Zurzeit ist davon aber noch keine Spur zu sehen; die Bauarbeiter haben eben erst angefangen, die Erde auszubaggern. Schicht für Schicht, sagt Julia Wolrab, und mit großer Vorsicht: Es kann vermutet werden, dass der Boden noch Gefahrenstoffe aus der Kriegszeit birgt: „Überraschungen kann es bei einem alten Gemäuer immer geben.“ Welche Überraschungen im Hausinnern noch lauern, ist gleichfalls ungewiss. Wolrab hofft aber, dass, falls vorhanden, sie den Baubetrieb nicht aufhalten und das Dokuzentrum Mitte 2024 eröffnet werden kann.

KULTURNOTIZEN

Koberstein-Preisträger gekürt

Der Berndt-Koberstein-Preis für Zusammenleben und Solidarität geht in diesem Jahr zu gleichen Teilen an die Vereine Delphi Space und Solidarische Stadtteilgesundheit. Der Preis wird von der Guzzoni-Federer-Stiftung jährlich vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert. Die Jury würdigte Delphi Space als Kulturverein, der für „innovative und spartenübergreifende kulturelle Arbeit mit vielfältigen und spannenden Ausstellungsangeboten“ stehe. Der Verein Solidarische Stadtteilgesundheit überzeugte durch vielfältige Angebote der Gesundheits-Prävention auch für Menschen in prekären Lebenslagen. Der Preis wird am 3. Mai im „Weinschlösschen“ vergeben

Ebenerdig: Das Modell zeigt den Grundriss des Ergeschosses, das Raum für Sonderausstellungen und Veranstaltungen bietet. Dahinter liegt der vom Keller aus zugängliche Gedenkraum.

Seit Februar 2023 leiten Lea Altner und Eveline Weber das PEAC Museum in Freiburg. Altner ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als freie Kuratorin besonders an Ausstellungs- und Vermittlungsprojekten mit interdisziplinären und transkulturellen Ansätzen. Die Kunsthistorikerin Weber ist bereits seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am PEAC Museum und ist mit den Beständen der Paul Ege Art Collection sowie der Institution ebenso vertraut wie mit den Leitungsaufgaben, da sie bereits 2014 als stellvertretende Leiterin der Kunsthalle Messmer tätig war.

Zimt & Zorn gewinnen „Rampe“

Die Deutschrockband Zimt & Zorn hat den Bandwettbewerb Freiburger Rampe gewonnen. Jury und Publikum waren sich nach dem Finale im Jazzhaus einig, dass das Sextett das beste Gesamtpaket aus selbst geschriebenen Songs, Bühnenpräsenz und Spielfreude bot. Die Silbermedaille gewannen die Paraducks, Bronze ging an Montau, das neue Projekt der Forchheimerin Judith Heusch, mit dem sie den melancholischen TripPop ihrer vormaligen Band Patty Moon weiterentwickelt. Alle Finalisten erhielten Geldpreise, die drei Medaillengewinner einen Konzerttermin in Freiburg. bar

Neue Doppelspitze fürs PEAC Foto: © BernhardStrauss Visualisierungen: © mArtin Architekten, gewerk design Neues Duo: Eveline Weber (l.) und Lea Altner

Tagebuch einer Pariser Affäre

Frankreich 2022

Scalliet,

Verleih:

Laufzeit: 100 Minuten

Start: 23. März 2023

Keine Luftschlösser

AMÜSANTER FILM ÜBER DIE KUNST DES SEITENSPRUNGS

UND DAS ANGEBLICHE ENDE DER LEIDENSCHAFT

Als Charlotte und Simon sich auf einer Party zum ersten Mal begegnen, finden sie sich sympathisch und machen ein erstes Date nur zu zweit aus. Und dort, im Gedränge einer vollbesetzten Bar, fällt Simon dann aus allen Wolken: Ohne Umschweife eröffnet Charlotte dem verheirateten Familienvater, dass sie unbedingt mit ihm schlafen will. Und dass sie großen Wert darauf legt, dass Liebe und Leidenschaft keine Rolle spielen sollten, falls es zu weiteren Treffen kommen sollte.

Der schüchterne Ehemann, der seit 20 Jahren von einer längeren, unverbindlichen Affäre träumt, die sein Familienleben nicht durcheinanderbringt, ist von dem sehr direkten Angebot der alleinerziehenden Mutter um die 50 erst einmal perplex. Doch er landet natürlich noch am selben Abend in ihrem Schlafzimmer. Nach der Feststellung, dass sie im Bett auf einer Wellenlänge sind und dass es für guten Sex keine altmodischen Gefühle braucht, schließen sie einen Pakt: Vergnügen sehr erwünscht, der Bau von Luftschlössern völlig verboten. Und nur, solange es allen Beteiligten dabei gutgeht und keine falschen Versprechungen kursieren.

Beide können ihr Glück kaum fassen.

und -überdrüssige Charlotte, die sich schon lange risikofreien Sex mit einem festen Partner wünscht, aber keine Lust auf klammernde oder eifersüchtige Liebhaber hat, glaubt, den perfekten Mann für ihre Pläne gefunden zu haben –schließlich ist er ja gebunden. Und Simon muss keine Schuldgefühle gegenüber seiner Frau hegen. Schließlich ist von der Frau, die so selbstbewusst und souverän darauf besteht, dass Legenden der Leidenschaft im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr haben, kein Scheidungsdruck oder andere Ansprüche zu befürchten. Sie versichern sich gegenseitig, dass sie sich immer an die Vereinbarungen halten wollen – und verabreden sich für ein nächstes Date in 14 Tagen. Dort kommen sie sich dann doch näher als geplant und erwünscht; sie sprechen offen und ausführlich über die jeweiligen Lebenssituationen und spüren auch hier eine ähnliche Wellenlänge. Die Abstände zwischen ihren heimlichen Rendezvous – in Hotelzimmern oder vorübergehend unbewohnten Wohnungen – werden kürzer, die gemeinsamen Stunden länger, die Gespräche vertrauter. Der Sommer kommt und geht, die beiden werden mutiger, treffen sich nicht mehr nur zum Sex, sondern auch zu gemeinsamen Unternehmungen. Irgendwann wird ihnen klar, dass alles einmal ein Ende haben wird. Die

Regie: Emmanuel Mouret Mit: Sandrine Kiberlain, Vincent Macaigne, Georgia Maxence Tual u. a. Neue Visionen von Erika Weisser
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Fotos: © Neue Visionen

DIE FABELMANS

DAS BLAU DES KAFTANS

DER VERMESSENE MENSCH

USA 2022

Regie: Steven Spielberg

Mit: Michelle Williams, Gabriel LaBelle, Judd Hirsch u.a.

Verleih: Universal Pictures

Laufzeit: 151 Minuten

Start: 9. März 2023

Kino als Zufluchtsort

(ewei). Seit der junge Sam Fabelman mit seinen Eltern im Kino war, entwickelt er ein großes Interesse nicht nur am Filmen, sondern auch an den Stoffen, aus denen die Träume sind. Seine wachsende Leidenschaft stößt bei seiner kunstaffinen Mutter Mitzi auf Begeisterung – sie schätzt und fördert Sams Talent sehr. Sein Vater Burt hingegen, ein erfolgreicher Ingenieur, hat zwar nichts gegen Sams Kreativität, hält seine filmischen Versuche aber für nicht mehr als ein nettes Hobby.

Doch die Faszination für bewegte Bilder und bewegende Geschichten lässt Sam nicht mehr los. In immer aufwendigeren Filmproduktionen setzt er seine Schwestern und Freunde in Szene. Und sieht sich schon als erfolgreichen Nachwuchsregisseur. Doch als die Fabelmans umziehen und es schließlich zur Trennung der Eltern kommt, wird das Kino zu einem seiner Zufluchtsorte, die ihm helfen, sich und seine Träume nicht zu verlieren.

Ein sehr persönliches Porträt einer Kindheit in einer zerfallenden Familie – von Steven Spielberg.

Frankreich/Marokko 2022

Regie: Maryam Touzani

Mit: Lubna Aznabal, Saleh Bakri u.a.

Verleih: Arsenal

Laufzeit: 124 Minuten

Start: 16 März 2023

Die Wege der Liebe

(ewei). Mina und Halim sind schon lange ein Paar. Seit 25 Jahren sind sie verheiratet und führen in der Medina einer marokkanischen Stadt gemeinsam ein gut gehendes Atelier für in feinster Handarbeit genähte traditionelle Gewänder. Die Nachfrage nach den besonderen Kaftanen ist groß, denn Halim ist einer der letzten Maßschneider, der dieses Kunsthandwerk beherrscht – und mit Hingabe ausübt.

Mina ist für die Bestellung der Stoffe und der Goldfäden für die Stickereien zuständig, sie betreut die Kundinnen, macht die Arbeitspläne – und hütet ein Geheimnis: Halim fühlt sich zu Männern hingezogen. Er lebt diese Neigung bei Besuchen im Hamam mit anonymen Partnern aus; sein Schwulsein ist kein Thema in der Beziehung der beiden. Bis Youssef in ihr Leben tritt. Denn dieser lange gesuchte, talentierte und zuverlässige Lehrling bringt seinem Meister die gleichen Gefühle entgegen, die dieser auch für ihn entwickelt. Ein atmosphärischer, wunderbarer Film über Liebe und Tabus.

Deutschland/Namibia 2022

Regie: Lars Kraume

Mit: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama u.a.

Verleih: Studiocanal

Laufzeit: 110 Minuten

Start: 23. März 2023

Fragwürdige Forschung

(ewei). Berlin, 1896: Der ehrgeizige Ethnologiestudent Alexander Hoffmann kommt mit einer Delegation von Herero und Nama aus „Deutsch-Südwestafrika“ zusammen, die im Zuge der „Deutschen Kolonial-Ausstellung” nach Berlin gereist ist. Er lernt dabei die Dolmetscherin Kezia Kambazembi kennen. Bald entwickelt er ein Interesse an ihr und den Menschen aus Namibia – und widerspricht fortan der Rassentheorie von der Überlegenheit der Weißen.

Acht Jahre später reist Hoffmann im Schutz der kaiserlichen Armee in die Kolonie. Dort hatten sich 1904 die beiden Volksgruppen gegen die koloniale Herrschaft und Ausbeutung erhoben und waren dafür von den Deutschen in einem blutigen Vernichtungskrieg beinahe ausgelöscht worden. Hoffmann hat den Auftrag, für das Berliner Völkerkundemuseum zurückgelassene Artefakte und Kunstgegenstände zu sammeln. Doch er sucht auch nach Kezia. Und lässt sich darauf ein, Schädel und Skelette getöteter Herero nach Berlin zu schicken – zu „Forschungszwecken“.

Foto: © Universal Pictures Foto: © Arsenal Filmverleih
KINO
Foto: © Studiocanal

„Etwas Großes aufbauen“

PRODUZENT WILL MIT „79 CONNECTED“ DIE RAPSZENE PUSHEN

Musiker vernetzen, Freiburgs HipHopCommunity auf die Karte bringen. Das möchte Benjamin Kempter alias Franklin Moonway mit dem Projekt „79 Connected“ schaffen. Seit etwa einem Jahr baut der 34-Jährige die Plattform auf – mit viel Tatendrang. In der Rapszene kommt das an. Es gibt aber auch Zweifel.

Urbane Acts vernetzen: Das versucht 79 Connected auch bei Events wie hier im Kulturaggregat Freiburg im Oktober.

Foto: © 79 Connected

„Welcome to the Moon“, sagt Benjamin Kempter und öffnet die Tür zu seinem Moonway Studio. Es liegt im Untergeschoss eines Multifunktionsgebäudes im Industriegebiet Nord. Das Licht schimmert bläulich, Kempter trägt weiße Sneakers und einen knallgrünen Hoodie. Sein Ziel: „Ich will im Süden etwas Großes aufbauen, damit Leute nicht mehr abhauen.“

Dass Künstler nach Berlin ziehen, weil Freiburg zu wenig bietet, soll Geschichte sein. Kempter ist überzeugt: Das Potenzial ist da. Mit der Plattform spricht er alle aus dem Postleitzahlgebiet 79 an.

Rund 200 Künstler·innen im Bereich Urban Music hat er auf dem Zettel. Ihnen bietet er rund 30 WhatsApp-Gruppen. 26 davon sind da, um Kontakte zu vermitteln: für Tonstudios, Pressearbeit oder auch Musikvideos. Zudem gibt es drei weitere WhatsApp-Gruppen: einen kleinen und einen großen Showroom, um Releases vorzustellen, und „Deine Statements“ für Umfragen oder Diskussionen zu Themen wie Marketing oder Authentizität. Die Gruppen sind jede Woche von Freitagabend bis Samstagabend 24 Stunden offen. „Damit es keinen Overload gibt“, erklärt Kempter.

Der Familienvater aus Gundelfingen betreibt zudem einen Instagram-Account, einen YouTube-Kanal und die Spotify-Playlist „79Released“. Letztere hält er für das wichtigste Tool: „Wir aktualisieren drei bis acht Tracks pro Woche.“ Alles, was an Urban Music im 79-Bereich erscheint, finde dort seinen Platz. „Wenn Veranstal-

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ter anfragen, sehen sie in der Playlist: Welche Leute sind wirklich aktiv?“, so Kempter. 371 Songs sind dort Mitte Februar zu finden. 196 Konten haben die Liste abonniert. Für Spotify-Verhältnisse ist das eine überschaubare Dimension. Die hauseigene Spotify-Playlist „RapCaviar“ hat 15 Millionen Abos – und nur 50 Songs. Der HipHop-Produzent sieht das Projekt in mehreren Phasen. Aktuell ginge es um das Bekanntmachen der Szene. Langfristig möchte er sich und den Musikern Möglichkeiten schaffen, von ihrer Kunst zu leben. An der Menge der Supporter soll das nicht scheitern: „Statistisch gesehen müsste es in Freiburg 65.000 HipHop-Hörer geben“, sagt Kempter. „Wenn all diese Leute wissen würden, was abgeht, wären die Konzerte ausverkauft.“

Bisher habe er mit einem kleinen Team mit Zeit, Geduld und Liebe das hier geschafft. Sponsoren oder Spenden könnten neue Möglichkeiten eröffnen: „Was könnten wir schaffen, wenn wir auch noch Geld hätten? Es würde komplett eskalieren.“

Einer, der von der Plattform profitiert, ist der Rapper Ruca. „Über 79 Connected habe ich im Laufe des vergangenen Jahres einige Kontakte knüpfen können“, erzählt der 20-jährige Freiburger. Er habe jetzt wesentlich mehr Künstler und Musiker aus dem Raum Freiburg auf dem Schirm. Ruca informiert sich über den Instagram-Account und promotet seine Releases in den WhatsApp-Gruppen. Er ist überzeugt: „79 Connected erfüllt alle brauchbaren Zwecke einer Musikszene.“ Sein Ziel ist auch das von Kempter: „Ich freue mich, gemeinsam mit dem 79 Connected Freiburg musiktechnisch auf die Karte zu bringen.“

Auch Rapper Steamboat (Joshua Büchler) von der Freiburger Crew Endlessstory schätzt die Plattform. „Den Grundgedanken, dass die Szene sich connecten sollte, finde ich super.“ Die Plattform gebe einem das Gefühl, dass man mehr an einem Strang zieht. Der konkrete Nutzen ist für ihn aber überschaubar: „Es gibt da

inzwischen so viele Mitglieder, dass man ein Stück weit den Überblick verliert – und damit verbunden vielleicht auch das Interesse.“

Der 27-Jährige war beim 79Connected-Abend im Kulturaggregat dabei. „Das war ein kleines Highlight“, sagt Büchler. Dass sein Musikeinkommen durch die Plattform um Prozentsatz XY gestiegen sei, könne man so aber nicht sagen. Begrüßen würde er, wenn es in den WhatsApp-Gruppen mehr Infos und Fotos zu den einzelnen Personen gäbe. „Dann könnte man sich noch mehr ein Bild machen, mit wem man da überhaupt spricht.“ Bisher sei das im Vergleich zu Instagram sehr abstrakt.

Ausbaufähig findet auch ein weiterer Freiburger Rapper die Plattform: „Das ist gutes Engagement und ein guter Gedanke“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte. Bei einem Event, bei dem er dabei war, ist ihm aufgefallen: „Old School und New

School zusammenzubringen, hat sich dann doch als ein bisschen schwierig herausgestellt.“ Sein Eindruck war, „dass es da doch mehr um Selbstdarstellung ging“. Statt zu connecten, habe eher sehen und gesehen werden im Vordergrund gestanden.

Benjamin Kempter findet genau das wichtig: „Die Szene wächst zusammen – das ist sehr sehr cool.“ An Ideen mangelt es nicht: Sein Team arbeitet an Podcasts, Videos und bietet nächtliche Songwritingsessions zu ausgewählten Themen an. Auch eine wöchentliche Cypher und ein Festival könnte er sich vorstellen.

Der Tatendrang ist groß – genau wie der Glaube an sich selbst: „Die Freiburger HipHop-Szene zu bündeln, haben schon viele versucht –aber sie hatten nicht die Ausdauer.“

Aktuell fehlt ihm aber die Zeit, um alle Ideen umzusetzen. Und das Geld. Seine vier Helfer engagieren sich ehrenamtlich, der tatkräftigste bekommt Studiosessions als Gegenleistung. Finanzkräftige Förderer sind daher dringend gesucht.

MUSIK
„Die Szene wächst zusammen –das ist sehr cool“
Connected
Leitet das Projekt: Benjamin Kempter
Foto: © 79
Nutzt die Plattform: Rapper Ruca
Foto: © Tilo Fierravanti
Connected
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Live dabei: Milxn (links) und LA20HO
Foto: © 79 Connected Session: Rapper
im Moonway Studio
Screenshot: © 79
YouTibe

„Mit einem Lächeln“

ZWEIERPASCH 22 (ALBUM)

3 FRAGEN AN BEN THIKÖTTER

Das KHG-Orchester ist ein Sammelbecken für Musikbegeisterte der Freiburger Hochschulen. Gerade hat das Ensemble im Konzerthaus mit Bruckners 8. Symphonie begeistert. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann berichtet Orchestersprecher Ben Thiekötter von Konzentration, einem bunten Mix und dem Neueinstieg.

Herr Thiekötter, warum war der Abend im Konzerthaus außergewöhnlich?

Der schönste Moment ist der, in dem es gelingt, im Konzert die beste Version eines Programms zu spielen. Am Sonntag standen wir konzentriert, aber mit einem großen Lächeln hinter der Bühne. Wir haben es geschafft, diese Spannung durchs Konzert zu tragen. Das hat sicher auch viel mit Eric Staigers hochkonzentriertem Dirigat und dem wahnsinnig kontaktfreudigen Spiel unserer Konzertmeisterin Felicitas zu tun.

Sie nennen sich ein ambitioniertes Studentenorchester: Wer spielt alles mit?

Wir sind bunt gemischt. Es sind immer einige Studierende der Musikhochschule dabei. Der größte Teil sind aber Studierende anderer Fächer. Von Physik über Philosophie zu sozialer Arbeit ist die ganze Bandbreite vertreten.

Wenn man einsteigen möchte: Wie geht das?

Zum Semesterbeginn darf man fünf bis zehn Minuten vorspielen. Wie schwer es ist, einen Platz zu bekommen? Das hängt davon ab, wie viele Stellen frei sind und wie viele Leute mitspielen wollen. Grundsätzlich ist es einfacher, als man denkt. Wer sich die Stücke anhört und glaubt, dass das Niveau passen könnte, sollte vorbeikommen.

Heißer Hiphop-Hybrid

(pt). Nach zwei Corona-Jahren auf Sparflamme gibt Zweierpasch wieder Zunder: Die HipHop-Band um Till und Felix Neumann (Ersterer schreibt auch als Redakteur für das chilli-Magazin) hat Album Nummer fünf aufgelegt. Und „22“ brennt schnell, aber hell.

Die erste Single Le Feu bringt mit drückend-pfeifenden Beats direkt Druck auf den Kessel. „Lass es brennen, wenn dein Feuer entfacht ist, 100 Grad Flammenschlag und es packt dich, Sound ziemlich laut Vibes in der Crowd, Zu dem Beat wird gebounced Nazis fliegen raus“, feuern sich die Zwillinge gegenseitig an. Typischerweise legen diese anschließend noch ein paar Bars auf Französisch nach. Neu ist der elektronische Einschlag. Gitarre, Drums, Bass und Trompete treffen auf Synthies. Mit zwölf eingängigen Tracks um die Drei-MinutenMarke ist die Scheibe außerdem streambarer als ihre Vorgänger.

Das explosive Gemisch aus Genres und Sprachen brodelt dabei nur selten

über: Die feurige Liebeserklärung an die Liebe, „Solange“, ist ein echter Kopfnicker. Der Antikriegssong „Sirenen“ ist nach Autotune-Einlage stilsicher. Die auf „Benzin“ folgende Einlage aus dem Kalenderspruch-Generator („Wenn du könntest, würdest du Krieg verbieten“) von Feature Niklas Bastian ist allerdings ein Fall von musikalischer Kernschmelze.

Magisches Piano

(tln). Ralf Schmid ist ein Klangtüftler par excellence. Der Freiburger Pianoprofessor bearbeitet mit seinen Datenhandschuhen Töne in Echtzeit. Futuristisch kommt das daher – optisch und akutisch.

Sein Händchen für Experimentelles beweist er auch auf Zas. Benannt nach dem höchsten Berg der Insel Naxos, entführt der Sound in eine Welt, die Freiheit spüren lässt. Im Zentrum das Piano, drumherum schwirren perkussive Elemente wie Glühwürmchen.

Der Opener „Digital Dervish“ fesselt mit Leichtigkeit. Jazz ist das, aber auch Pop und Elektro. Der Sound hat Sogwirkung. Nach oben. Schließlich ist der Gipfel noch weit. Das spürt man im düsteren „Soil Music“. Synthies walzen da übers Piano.

Pyanook ist ein Soloprojekt, das Farben sucht – auch mit Gästen. Schmid hat die Norweger Hakon Stene (Perkussion) und Morten Qvenild (Piano) an Bord. Genau wie den Chor Trondheim Voices, den ehemaligen Tab Twound DePhazz-Trompeter Joo Kraus und den Geiger Etienne Abelin.

Der Pfad ist steil. In „Neptune Blue“ schwingt Verzweiflung mit. Die Schritte bei „Still and Still Not“ sind atemlos. Doch am Ende steht die Reflexion im schleppend schönen „In Search of Humanity“. Schmid ist hier Großes gelungen. Zeitlose Musik, die sich in keine Schublade zwingen lässt.

MUSIK Platte desMon a st
PYANOOK ZAS (LP) Future Jazz
Foto: © privat
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Reggae

Selbstverortung als Ohrwurm

(pl). Gute Zeiten für Fans der Deadnotes. Zwei Monate nach „Downward Spiral“ hat die aus Freiburg stammende Indie-Kombo schon die nächste Single veröffentlicht. „Forever Outsider“ ist ungewohnt poppig –und ein echter Ohrwurm. Inhaltlich geht’s um persönliche Erfahrungen und die Selbstverortung als Band.

Sänger und Gitarrist Darius Lohmüller bezeichnet „Forever Outsider“ als den bis jetzt am aufwendigsten produzierten Deadnotes-Song. Da ist was dran, sogar ein Kinderchor, Streicher und Bratsche sind zu hören. Mit Zeilen wie „Never really fitted in, never played with the cool Kids“ oder „We are the loneliest Gang in Town“ geht es inhaltlich um Erfahrungen als Außenseiter –persönlich wie im Band-Kontext. „Wir haben uns immer ein bisschen unwohl mit der Frage gefühlt, welchen Platz wir genremäßig einnehmen und in welchem Umfeld wir stattfinden wollen“, sagt Lohmüller. Das scheint der Vergangenheit anzugehören: „Es fühlt sich gerade so gut an wie noch nie, wir haben uns absolut gefunden.“

Für Fans der ersten Stunde mag „Forever Outsider“ etwas gewöhnungsbedürftig sein. Dennoch dürfte die Band kaum Hörer·innen verlieren. Die Gitarre ist zwar weniger dominant als auf vielen älteren Songs. Doch die Emotionalität, die ist geblieben. So kann es weitergehen.

Seelenfutter

(jp). The Rehats melden sich mit ihrem zweiten Album „Heart & Mind“ zurück. Zwölf Lieder haben sie im Gepäck – und sich für einen Song mit einem kanadischen Songwriter zusammengetan. Der Opener „Heat“ beginnt instrumental. Gitarre, Bass und Schlagzeug ergänzen sich gut, der Auftakt gelingt. Auch „Satelite“ lässt noch ruhige Klänge sprechen. Die Melodie ist einprägsam, der Text bleibt sofort im Kopf hängen.

Gute 30 Minuten bietet das Album der Freiburger um Sänger Johannes Stang. Darunter jedoch nicht nur langsame Folk-Songs, sondern auch poppigeres Material. Nach drei ruhigen Stücken setzt „Anyway“ auf mehr Tempo. Der Refrain erinnert zwar an eingängigen Pop, das Lied überzeugt dennoch. Das Highlight der Platte ist sicherlich „Run Now“. Der Track ist in Zusammenarbeit mit Simon Ward, dem ehemaligen Leadsänger der kanadischen Folkpopband „The Strumbellas“ entstanden. Gefühlvoll werden die Nervenenden getroffen – und das ist mit fast vier Minuten eins der längeren Stücke auf der Platte.

Mit „Mind“ steigt die Band wieder instrumental aus und schlägt so eine Brücke zum Anfang. Und auch wenn die poppigen Lieder ab und an klingen, als hätte man sie schon mal gehört, hat die Band insgesamt ein rundum gelungenes Album für die kommenden Sommertage vorgelegt.

... über den Tod

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Über Tote nichts Schlechtes, an diesen Grundsatz sollte man sich in der Regel halten, die alten Römer haben das auch schon so gehandhabt: De mortuis nil nisi bene. Obwohl die ein oder andere Ausnahme durchaus erlaubt ist, wir denken da an Hitler, Stalin oder auch Dieter Bohlen. Ach so, der lebt ja noch, aber egal in diesem Fall. Nicht so bei dem erst neulich verschiedenen Schlagerkönig Tony Marshall, über den nun wirklich nichts Schlechtes zu sagen ist.

Seine Lieder sind deutsches Kulturgut, seine Perücke wird demnächst in Bonn im Haus der Geschichte ausgestellt werden, für die schöne Maid ist die Strafverfolgung ausgesetzt.

Ein Gutes an Musikern, die permanent gegen die Geschmackssicherheit verstoßen haben, liegt in ihrem Ableben begründet. Unsere Arbeit ist damit eigentlich getan. Wir haben keinerlei Befugnisse, um in welchem Jenseits auch immer zu ermitteln, aber das Werk, das lebt im Diesseits munter weiter. Die Liste der Namen ist lang, aber wir wollen ja, wie bereits erwähnt, nicht pietätlos sein und legen deshalb den Mantel des Schweigens darüber.

Die Toten Hosen hingegen weilen glücklicherweise fast alle noch unter uns.

So ist ihre Musik zwar über die Jahre nicht besser geworden, aber zu beanstanden haben wir nur wenig. Totgesagte leben übrigens länger. In diesem Sinne, es grüßen die Untoten der Geschmackspolizei Ralf

KOLUMNE
FOREVER
DEADNOTES
OUTSIDER (SINGLE) Indie-Rock THE REHATS HEART & MIND (ALBUM) Folk-Pop
Welteroth

Die feinen Unterschiede

DAS LITERATURHAUS FREIBURG BEGIBT SICH AUF WANDERSCHAFT IN DIE STADTTEILE

HE RK UN FT

Herkunft

Spannende Autor·innen, neue Bücher, Fragen nach Klasse, Migration und Zugehörigkeit

Verschiedene Orte, Freiburg

9. März bis 27. April

Abschlussfestival:

10. bis 13.Mai, Literaturhaus

www.literaturhaus-freiburg.de

piegeln, wie eine Gesellschaft konstituiert ist und was sie ausmacht. Dabei gleichermaßen auf neue wie alte literarische Stimmen hören. Und auch die Stimmen jener nicht überhören, die zu einer vielgestaltigen gesellschaftlichen Klasse gehören, in der lesen oder schreiben eher nicht zur klassischen Freizeitbeschäftigung zählen. Das ist das aktuelle Anliegen des Literaturhauses Freiburg, das nun eine Lese-„Reihe zu feinen Unterschieden“ startet.

„Herkunft“ lautet der Überbegriff der Reihe, bei der es nicht vorwiegend um Migration geht. Thema ist vielmehr die Zugehörigkeit zu und der Aufbruch aus jenen in vieler Hinsicht prekären sozialen Milieus, die gern als bildungsfern bezeichnet werden. Ein Milieu, das von mehr als nur einer Handvoll Autor·innen repräsentiert wird, wie Maria Barankows Anthologie „Klasse und Kampf“ zeigt.

Den Auftakt gab im Februar der Journalist Christian Baron, der als einer der Klassiker dieser neuen Klassenliteratur gilt.

Doch nun geht es hinaus aus der altehrwürdigen Alten Universität im Altstadtzentrum. Im März und April tourt das Literaturhaus durch die Freiburger Stadtteile Haslach, Herdern, Landwasser, Rieselfeld, Waldsee, Weingarten und Wiehre. Mit

spannenden Autor·innen, die sich in Cafés, Druckereien, Mediatheken, Quartiersräumen und Jugendzentren den Fragen des Publikums stellen.

Fragen nach den Kriterien, die den oftmals nur feinen Unterschied ausmachen von Menschen, die sich Bildung erkämpfen müssen und denen, für die sie selbstverständlich ist. Oder danach, wie die strikte Heimatliebe der einen mit der vergeblichen Heimatsuche der anderen zusammenhängt. Oder auch danach, wie biografische Zufälle, etwa ob ein Mensch in einem armen oder reichen Land, in einer armen oder reichen Familie zur Welt kommt, Zugehörigkeiten und Lebenswege prägen.

Mit von der Partie sind Sabrina Janesch mit unerzählten Kapiteln deutsch-russischer Geschichte, und Paul Brodowsy, der die Prägung heutiger Generationen durch NS-beeinflusste Großväter aufdeckt. Dabei sind auch Behzad Karim Khani, der über Kleinkriminelle in Berlin schreibt, und Christian Duda, der einen Jungen porträtiert, der durch alle sozialen Netze fällt. Dinçer Güçyeter thematisiert das Leben von Gastarbeiterfamilien in Deutschland, und Olivia Wenzel kurvt mit einer in der DDR geborenen schwarzen Frau durch „1000 Serpentinen Angst“. Marlen Hobrack erzählt von den Verstrickungen einer Hartz-IV-Empfängerin in Dresden und Luna Al-Mousli hat Geschichten vom Ankommen im Wandergepäck.

Fotos:

Auf Tour: (v.l.n.r) Paul Brodowsky, Behzad Karim Kani, Olivia Wenzel, Luna Al-Mousli, Sabrina Janesch, Marlen Hobrack und andere.
LESE REIHE ZU FEINEN UNTER SCHIEDEN ZU GAST IN
25.3.
30.3.
31.3.
04.4.
17.4.
24.4.
27.4.
MÄRZ UND APRIL 2023
09.3. SABRINA JANESCH MEDIOTHEK RIESELFELD PAUL BRODOWSKY ADOLF-REICHWEINBILDUNGSHAUS WEINGARTEN BEHZAD KARIM KHANI SÜDUFER HASLACH CHRISTIAN DUDA STADTTEILBIBLIOTHEK HASLACH DINÇER GÜÇYETER SCHOPF 2 KREATIVPIONIERE HASLACH OLIVIA WENZEL HAUS DER JUGEND WIEHRE MARLEN HOBRACK DRUCKEREI SCHWARZ AUF WEISS IN DER FABRIK HERDERN LUNA AL-MOUSLI HAUS DER BEGEGNUNG FREIBURG LANDWASSER MEHR: LITERATURHAUS-FREIBURG.DE von Erika Weisser
© Literaturhaus
48 CHILLI CULTUR.ZEIT MÄRZ 2023
Freiburg S
LITERATUR

DAS GLÜCKLICHE GEHEIMNIS

HEINRICH OBEN ERDE, UNTEN HIMMEL

von Milena Michiko

von Arno Geiger

Verlag:

Hanser, 2023

240 Seiten, gebunden

Preis: 25 Euro

Phönix aus Altpapier

(ewei). Regelmäßig durchstreift ein Mann spätnachts die Straßen Wiens, wühlt in Altpapier-Containern, findet zwischen verschmutzten Tüten und Zeitungen säuberlich gebündelte und geschnürte Briefe, Postkarten und Tagebücher, entdeckt großartige Bücher in abgestellten Bananenkisten. Dankbar für die Fundstücke, mit denen auf Flohmärkten richtig Geld zu machen ist, wird er zum Sammler.

Jahrelang macht er das und oft kehrt er verdreckt und verschrammt von seinen Touren zurück. Irgendwann gesellt sich zur Freude über die Schnäppchen aber auch Empörung. Darüber, dass die Nachkommen der Verfasser dieser Briefe nicht einmal den Versuch machten, diesen Nachlass zu entziffern.

Er selbst liest alles mit großem Interesse, wühlt sich durch die Leben Unbekannter, lernt sogar die aus Gebrauch und Mode gekommene Schrift.

Denn er will unbedingt Schriftsteller werden. Und hat längst erkannt, dass sich aus erlebten Geschichten anderer Menschen ganz neue Geschichten entwickeln lassen. Als er endlich seinen preisgekrönten literarischen Durchbruch hat, fürchtet er, beim Containern erkannt zu werden. Doch für die anderen Nachtschwärmer bleibt Arno Geiger, der nun sein geheimes Doppelleben offenbart, „ein Vagabund, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts“.

Flašar

Verlag: Wagenbach, 2023

304 Seiten, gebunden

Preis: 26 Euro

Kein Hamstergerippe

(ewei). Suzu ist 25 und lebt allein. In einer spärlich möblierten Kleinstwohnung in einer anonymen Großwohnanlage in einer japanischen Großstadt. Das einzige Wesen, das ihr beziehungsloses Leben teilt, ist ein Hamster. Die Nachbarn, ein offenbar an einem Miteinander statt am zeitgemäßen Nebeneinander orientiertes altes Paar, hält sie von sich fern, tut sie als neugierig ab.

Als sie wegen mangelnden Charmes ihren Job als Aushilfskellnerin verliert, will sie eigentlich verhungern. Doch sie scheut sich davor, vielleicht im Sommer, wenn die Temperaturen steigen, tot und mit dem Hamstergerippe neben sich in der Wohnung aufgefunden zu werden. Also sucht sie lieber einen Job – und bekommt es in Mr. Sakais Leichenfundort-Reinigungssystem mit genau diesen Menschen zu tun, die „irgendwo in den Häuserreihen, die den Horizont verschwinden lassen“, einsam sterben. Ohne dass es jemand bemerken würde.

Die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flašar hätte aus diesem düsteren, keineswegs nur japanischen Phänomen einen düsteren Roman machen können. Doch das Gegenteil ist der Fall. Hell, heiter, voller Menschenliebe und Humor lässt sie Suzu ins Leben zurückfinden: zum Respekt gegenüber den Toten gesellt sich Mitgefühl für die Lebenden.

von Susanne Fritz

Verlag: Wallstein, 2023

211 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Spielraum für Fantasie

(ewei). Der kleine Heinrich steht vor einem Spiegel, als sein halb erblindeter Großvater ihn mit Stockschlägen für eine nicht genannte Missetat bestrafen will. Er weicht aus, der Stock trifft das Spiegelbild; der Spiegel geht zu Bruch. Ob die Splitter symbolisch für seine Zukunft sind? Ob sie sich wieder zusammenfügen lassen?

Kurz darauf stirbt der Großvater, der Junge bleibt mit seiner alleinerziehenden Mutter zurück, wächst als Angehöriger der deutschen Minderheit im Armenviertel einer polnischen Kleinstadt auf. Sein Unbehagen gegenüber Spiegeln wird er nicht mehr los. Auch dann nicht, als Heinrich die Stätten seiner Kindheit und Jugend längst verlassen hat und als erfolgreicher Architekt und Unternehmer im Schwarzwald lebt.

Seine eigene Lebenszeitrechnung beginnt mit 24, die vorherigen verlorenen Jahre blendet er aus. Denn die Kindheit war schwer; die Hoffnung auf Aufstiegschancen, die er mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen verband, endete in Kriegseinsatz und Gefangenschaft.

Susanne Fritz, die Tochter, sucht nach Spuren seines ersten Lebens, um das zweite zu begreifen. Dabei fügt die Freiburger Autorin Traum-szenen und Erinnerungssplitter, Zeitgeschichte und Fiktion zu einer Chronik, die viel Raum für Fantasie lässt.

REZI
FREZI REZI
MÄRZ 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49
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