chilli – das Freiburger Stadtmagazin

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GESUNDHEIT TINNITUS

»KEIN ARZT HAT MIR GEHOLFEN« WIE EINE JUNGE FRAU MIT TINNITUS LEBT

Foto: © freepik

beiten, dass er egal wird. Und das kann man lernen.“ Der Mediziner setzt bei seinen Therapien auch auf Hypnose. Vreni hat Hilfe erst bei einer Osteopa­ thin gefunden: „Das war der Schlüs­ sel zur Besserung.“ Im Rückblick sagt sie: „Kein Arzt hat mir gehol­ fen.“ Ihr Eindruck ist: „Die Schulme­ dizin kann mit Tinnitus überhaupt nix anfangen.“ YouTube-Kanäle wie „Zwangs­Neurotiker“ oder „Tinnitus­Sprechstunde“ seien hilfreicher gewe­ sen. Iva Speck empfiehlt zudem die Website der Deutschen Tinnitus­-Liga. Anfangs war der Tinnitus für Vreni eine Qual, nahm ihr die Lebensfreude. Heute kann sie mit ihm umgehen: „Ich höre ihn nur noch abends, wenn ich ruhig sitze.“ Yoga und Spaziergänge helfen. Mittlerweile weiß sie: Wenn es lauter wird, wird es auch wieder leiser. Till Neumann *Name von der Redaktion gekürzt Foto: © Uniklinik Freiburg

Es traf sie beim Filmschauen auf der Couch. „Aus dem Nichts kam ein lauter Piepton“, erzählt Vreni. Die 32-Jährige ist im März 2020 heftig erschrocken. Total beängstigend und schmerzhaft sei das gewesen. Ihr Freund saß mit auf dem Sofa, er hat ihn nicht gehört. Warum es sie erwischt hat, weiß die Stu­ dentin bis heute nicht. Sie kann nur mut­ maßen: Schon vor dem Tinnitus litt sie an Neuralgie. Nervenschmerzen, die sich anfühlten wie Nadelstiche. Und: Rund zwei Wochen vor dem Schockerlebnis schmerzten ihre Ohren, als ihr Zumba­ lehrer die Musikanlage zu laut drehte. Was danach passierte, ließ Vreni verzwei­ feln: Als sie zum Hausarzt geht, interes­ siert sich der vor allem für ihre Neuralgie. „Ich habe mich allein gelassen gefühlt, es kann nicht sein, dass das alles ist“, berich­ tet sie. Also ging sie zum Neurologen und zum HNO-Arzt. Auch dort fühlte sie sich nicht ernst genommen. „Sie haben be­ stimmt Stress“, hätten die Ärzte gesagt und ihr Psychopharmaka verschrieben.

Tinnitus ist behandelbar, ­verschwindet aber nicht immer vollständig, bestä­ tigt Iva Speck, HNO-Assistenzärztin an der Uniklinik Freiburg. „Wir würden uns auch wünschen, sagen zu können: Hier ist das Medikament, dann ist ihr Ohrgeräusch weg”, sagt die 31-Jährige. Wichtig sei, den Patienten die Angst zu nehmen und Mythen zu entlarven. „Wenn man googelt, kommt man häu­ fig zu falschen Ergebnissen.” Speck ist überzeugt: Ärzte können viel tun. Unter anderem behandelbare Ursachen abklären, zum Beispiel, ob ein gutartiger Tumor am Hörnerv vorliegt. Als erfolg­ versprechenden Ansatz zur Linderung empfiehlt die Uniklinik eine kognitive Ver­ haltenstherapie:„Die Patienten lernen, mit dem Tinnitus umzugehen”, erklärt Speck. „Dekatastrophisieren” nennt sie das. Die Expertin bestätigt, dass junge Menschen immer häufiger an Hörmin­ derung und Tinnitus leiden. Das liege auch an zu lauter Musik aus Kopfhö­ rern. Sie empfiehlt daher die 60-60-Re­ gel: Höchstens 60 Prozent Lautstärke am Smartphone für 60 Minuten. An­ sonsten gelte: Stress rausnehmen. Den Ansatz verfolgt auch Uwe H. Ross mit seiner Praxis in Freiburg. „Wich­ tig ist, gelassen zu bleiben“, sagt der 59-jährige Arzt. Habe man eher Gelas­ senheit statt Ärger oder Angst mit dem Syndrom, steige die Wahrscheinlich­ keit, es loszuwerden. Dass der Tinnitus verschwinde, sei jedoch selten. Daher gilt für Ross: „Man muss darauf hinar­

Foto: © privat

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ting, Phil Collins, Keanu Reeves. Sie alle litten oder leiden an Tinnitus. Doch das schmerzhafte Geräusch im Ohr trifft nicht nur Stars: 1,5 Millionen Menschen in Deutschland ­haben laut der Berliner Charité chronische Ohrgeräusche. Gerade die Zahl junger Patienten steigt deutlich an. Zu ihnen zählt auch Vreni*. Die Freiburgerin hat das Syndrom seit fast einem Jahr und sagt: Mir hat kein Arzt geholfen.

Leben mit Ohrensausen: Vreni (links) hat seit einem Jahr Tinnitus. Expertin Iva Speck von der Uniklinik Freiburg hilft Betroffenen.

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