Peter Eötvös
Harakiri Szene mit Musik für japanische Schauspielerin, einen Sprecher in Landessprache ad lib., zwei Shakuhachi (oder andere Holzblasinstrumente) und Holzhacker (Schauspieler oder Musiker) Text: István Bálint (1973/2002)
Partitur Sy. 3225/01 ISMN 979-0-2042-3225-3
RICORDI
Besetzung 1 japanische Sprecherin 2 Shakuhachi (evtl. 2 Altflöten oder 2 Sopransaxophone) 1 Holzhacker eventuell ein Sprecher in Landessprache Das Stück ist szenisch oder konzertant aufzuführen. Bei einer Aufführung mit anderen Holzblasinstrumenten braucht keine Transposition der Shakuhachi-Stimme vorgenommen zu werden. Der Komponist bevorzugt in diesem Fall eine Version mit Bassklarinetten, weil bei dieser das hohe Register für die Sprechstimme vollkommen freigelassen wird. Dauer: 20-25'
Dem TOKK-Ensemble gewidmet Der Holzhacker braucht: 1 Holzklotz 1 Beil 1 sorgfältig ausgewähltes Holzscheit Mit der hierfür notwendigen Erfahrung und Übung sollte ein Holzscheit für die Aufführung ausgewählt werden, das beim Zerhacken gut klingt, gut reißt und mit Sicherheit leicht zu halbieren ist. (Man bedenke: bei jeder Halbierung klingt das Holz sozusagen „ein Oktave höher“ als vorher; am Anfang des Stückes voll und wuchtig, am Ende dünn und hell.) Angaben für die Altflöten: -
ein Legato-Zeichen ist grundsätzlich eine weiche, portamento-artige Bindung
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mit tiefer, relativ leise gesungener Stimme die geblasenen Töne modulieren
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starkes Luftgeräusch
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normaler Ton
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½ Ton, ½ Luft
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nur Luft
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Übergang von Ton bis Luft Angaben für den Holzhacker:
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das Beil kräftig in das Scheit hacken
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das Beil mit dem Scheit zusammen auf den Klotz schlagen, ohne dass das Scheit zerfällt (Ziffer 14.1 / 20.1)
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das Scheit mit einem Schlag zerhacken
Uraufführung: Bonn, 22.9.1973 TOKK – Ensemble Tokyo, Kaoru Ishii, Katsushi Izumi, Shizuo Aoki, Katsuya Yokoyama, Yasunori Amaguchi Ein Auftragswerk des WDR, Köln
PROLOG Guten Abend, solange die Manege fertiggestellt wird, möchte ich mich mit Ihnen über den Tod und das Leben unterhalten. Über den genauen Zeitpunkt, in dem das Leben beginnt und über den Todesmoment der Menschen kursieren sehr verschiedene Auffassungen. Die Chinesen zum Beispiel halten die Empfängnis für den Beginn des Lebens, wir rechnen eher vom Moment des ersten Luftschnappens an. Ähnlich verschieden sind die Meinungen über den Moment des Todes. Es wäre wahrscheinlich richtiger, Geburt und Tod nicht als Moment, sondern als einen Prozess zu sehen. Unser selbstreflektierendes Leben beginnt mit dem Verantwortungsbewusstsein. Für seine eigene Geburt ist niemand verantwortlich, für seinen eigenen Tod jeder – abgesehen von Katastrophen. Manche Menschen schlafen nur ein, andere krepieren einfach, legen sich auf den Rücken und strecken die Beine gen Himmel. Wieder andere gehen langsam aus wie eine Kerze. Es gibt aber auch Leute, die sich selbst den Punkt auf das Ende des Lebens setzten: sie töten sich selbst. Im Allgemeinen betrachtet man Harakiri auch als Selbstmord. Das ist ein Irrtum. Harakiri ist ein Teil des Lebens, ein Ritual, in dem der Opfernde und das Opfer identisch sind. Das berühmteste Harakiri der letzten Zeit verbindet sich mit dem Namen des ausgezeichneten japanischen Schriftstellers, Künstlers, Schauspielers und Regisseurs Yukio Mishima. Er lebte nach alter Samurai – Tradition, war extrem nationalistisch, finanzierte eine eigene kleine Armee. Mishima war ein beherrschender Typ, der auch über sein eigenes Leben und Bewusstsein herrschte. Er sagte: „Harakiri ist die schönste und stolzeste Form des Todes und hat mit Selbstmord gar nichts zu tun“. Jahrelang bereitete er sich auf die schwerste und wichtigste Aufgabe seines Lebens vor: auf diese Zeremonie, welche die höchste physische und geistige Konzentration verlangt. Da sein ganzes Leben in der Öffentlichkeit stattgefunden hatte, inszenierte er auch sein Harakiri für die Öffentlichkeit. Die Zeremonie wird wie folgt vollzogen: Der Delinquent stößt mit einem Bambusschwert in seinen Bauch, verharrt in höchster Konzentration so lange wie möglich bei Bewusstsein in diesem Zustand, schlitzt dann mit dem Schwert seinen Leib einmal nach oben und einmal quer auf und wird schließlich von einem Sekundanten geköpft, um dem Tod als Folge des Harakiri zuvor zu kommen. Harakiri ist wie ein Kunstwerk: es verlangt eine lange Vorbereitung und erst wenn es fertig ist, stellt sich heraus, dass es nicht jedem gelingen kann. Jemand, der sich nur oberflächlich vorbereitet, verendet schon am Anfang der Zeremonie – welch eine Schande! Nach dem am 25. November 1970 von Mishima meisterhaft vorgeführten Harakiri schrieb der ungarische Dichter István Bálint eine Clownsszene, zu einer Zeit, in der er kurz vor seiner Ausweisung aus Ungarn stand. Für ihn war das Leben die berühmte kleine Erbse unter den sieben Matratzen – nur, dass ihm nicht einmal die Matratzen gehörten. Wie jeder anständige Mensch wollte er vor der endgültigen Abrechnung die Matratzen zurückgeben. Wir begegnen einer merkwürdigen Figur, dem Holzhacker. Der Holzhacker, der die Zeit und den vor ihm stehenden Holzklotz zerhackt – mit jedem Schlag seiner Axt halbiert er den gleichen Holzscheit immer weiter. Am Anfang gibt es einen durchaus imposanten tiefen Grundton. Während der weiteren Halbierungen erhöht sich der Ton je um eine Oktav, bis die Szene mit zahnstocherdünnen Obertönen abschließt. Ich muss jetzt gehen – vergessen Sie bitte nicht: Harakiri ist ein Teil des Lebens. Jemand, der nicht weiß, was Leben ist, muss sterben. Peter Eötvös Nov. 1988
Sy. 3225
Harakiri Szene mit Musik Peter Eötvös (* 1944)
© 1997 by G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH, Berlin ISMN 979-0-2042-3225-3
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