TIE ME KNOT

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Am Rande einer Sumpflandschaft richten sich ein paar Menschen ein. Das Gebiet, dass vor ihnen liegt, ist ein selten gewordener Flecken Erde; eine dieser Biosphären, die Aufgrund ihrer besonderen Geologie und Artenvielfalt zum Reservat erklärt werden und damit eine besondere Anziehungskraft ausstrahlen. Doch wer soll eigentlich vor wem geschützt werden, wenn Landschaften wie der Sumpf – vielleicht gar euphemistisch – zu Schutzgebieten erklärt werden? Denn sind es nicht die unwegbaren Böden und das monströse Geflecht, das mit ihnen zusammenhängt, dass uns Menschen diese Refugien lieber von außen betrachten lässt? So birgt das »Reservat« jene Reste eines kolonialen Blicks, in dem wir fürchten, dass das Lebendige darin ausbrechen könnte, und uns überwältigt, wenn wir uns zu lange in seinen Zonen aufhalten. Sie wird konkret im rassistischen Phantasma des Kannibalismus, dessen Bilder von zerstückelten und verknoteten Körpern geprägt ist. Dabei ist das Zerstückeln, Einverleiben und Verdauen des Anderen nicht nur eine irrationale Angst, sondern gleichermaßen ein rationalisierter, moderner Vorgang der Eroberung, der dazu geführt hat, dass wir Menschen Böden, Flora und Fauna überhaupt kartographieren, aufteilen, eingrenzen und nutzbar machen. Zugleich wird das Unberührbare zum Sehnsuchtsort vermeintlich authentischer Natur und der unbetretbare Ort zum Refugium für neue Geheimnisse und Erzählungen, von denen Gesellschaften zehren und an denen sie sich verändern können. Der Titel der Performance TIE ME KNOT ist dahingehend ein Wortspiel um über die Ambivalenz dieser Art von Abhängigkeit nachzudenken. In der Aufforderung sich zu verbinden, steht gleichermaßen das Nein gegenüber die Vereinnahmung. Neben der Angst vor dem Überwältigt- und Verschlungenwerden steht nicht nur das Begehren, das bisher Ungesehene zu entbergen, sondern auch die Reste einer rätselhaften Realität neben unserer durchrationalisierten Lebenswelt zu erhalten. Und so werden diese Rückzugsräume Refugien der Fantasie. Die Musik, die sich an jedem Abend immer wieder neu komponiert, greift dabei auf erstaunlich anschauliche Weise den Vorgang des Zerstückelns und Verdauens, im Sinne von Veränderung, auf um dadurch einen Sound zu schaffen,


der immer wieder neue Assoziationsräume weckt. Über die Mikrofone wird das live aufgenommene Audiomaterial aufgenommen, und mithilfe einer virtuellen Klangverarbeitung in immer kleinere Abschnitte, so genannte Grains, zerschnitten. Durch einen programmierten Algorithmus werden daraus KlangKetten gebildet und über die Lautsprecher wieder ausgespuckt. Alltägliche Klangobjekte wir Windspiele, Dosen, Schalen und Fliesen, sowie u. a. Schmatzund Schnatzgeräusche der Performer*innen werden somit lebendig, transformiert und entwickeln sich unter anderem zu authentisch anmutenden Sumpfgeräuschen. Und je nach Anordnung der Mikrofone und Lautsprecher zueinander werden diese Prozesse immer wieder neu überlagert, und die Töne zu immer kleinerer Form verschlungen und zersetzt. Zu einem großen Teil spielt die Arbeit mit der Vorstellungskraft über das Rätselhafte, das konkret in einem „Dahinter“ durchblitzt. Die Vorstellung von Natur und Authentizität – die heutzutage oft zum letzten Träger von Geheimnissen erklärt wird, die uns als Gesellschaft noch ernsthaft interessieren könnten – kreuzt sich mit deren bewussten Inszenierung, die ihre Mechanismen offenlegen kann, ohne etwas von ihrer Wirkung einzubüßen, die sich dadurch erfüllt, dass wir uns als Zusehende bewusst der Unvorhersehbarkeit aussetzen. Und so entwickelt sich der Abend schließlich zur Einladung, gemeinsam den Sumpf zu betreten, neu zu entdecken und seine Ausbreitung zuzulassen. Caroline Rohmer


TIE ME KNOT Eine Produktion von Dorfproduct Idee, Konzept: Simon Möllendorf, Caroline Rohmer Regie: Simon Möllendorf Musik: Tobias Hagedorn Raum: Simon Möllendorf, Nils Wildegans Performer*innen: Tom Diener, Gal Fefferman, Raimonda Gudaviciute, Annekatrin Kiesel, Evie Poaros Outside Eye: Caroline Rohmer Regieassistenz: Miguel Graetzer Produktionsleitung: Dörthe Krohn Produktionsassistenz: Alina Gorol

TIE ME KNOT wurde gefördert durch:

Die Arbeit entstand in Kooperation mit:


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