Robin hat's gepackt

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Robin hat’s gepackt


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Robins Rezept: Fleiss und Wille Am Anfang war die Lernschwäche. Sie begleitete Robin Morf von Kindheit an und beschäftigte Ärzte und Lehrer und besonders die Familie. Die Lernschwäche ist auch heute da, wenn man sie sehen will. Aber eine Behinderung ist sie nicht. Schon gar nicht, wenn man die Dinge so betrachtet wie Robin Morf. Sein Leitspruch: Geht nicht gibt’s nicht. Und so arbeitet Robin Morf an mannshohen Vakuum-Druckfässern, richtet Bauteile und montiert diese unter Anleitung eines Mechanikers. Auch für Ladewagen führt er bereits

Robins Leitspruch: Geht nicht gibt’s nicht.

verschiedene Vormontagen selbständig aus, presst Lagerbüchsen ein und schraubt Federzinken zusammen. Landmaschinen sind seine Leidenschaft. Die Ausbildung zum Praktiker PrA Mechanik ist genau das Richtige für ihn. Robin Morf hat Eltern, die ihm Flügel geben. Er hat einen Ausbildner, der an ihn glaubt. Und er hat die Begleitung von Brüggli. Aber vor allem hat er sich selbst und das Feuer, das in ihm brennt. Lernschwäche hin oder her: Seine Geschichte zeigt, was mit Fleiss und gutem Willen möglich ist.


Robins Kindheit: Gegen die Prognosen Die Diagnose «Lernschwäche» wurde Robin Morf in die Wiege gelegt. Schon als Säugling kam er oft in die Röhre, damit die Spezialisten anhand von Magnetresonanz-Aufnahmen mehr über seine Hirnentwicklung sagen konnten. Rita Morf, seine Mama, erinnert sich nur zu gut: Es könne sein, so die Prognosen, dass Robin nicht sprechen lernen würde. Auch von einer geistigen Behinderung war die Rede – «ziemlich erschütternd». Konnte er hören? Es war lange ungewiss. Als Vierjähriger lernte Robin reden. Auch zu laufen begann er spät. Seine Entwicklung war verzögert. In der Spielgruppe und im Kindergarten waren die Unterschiede zu anderen Kindern allgegenwärtig. Die Kindergartenkommission wollte ihn nicht in die reguläre Kindergartengruppe aufnehmen. Es brauchte die Überzeugungskraft von Robins Eltern und die Worte einer offenen Kindergärtnerin, damit es doch noch klappte.

Frühförderung, Ergotherapie, Logopädie: Robins Schulweg führte durch Kleinklassen in Gachnang und Frauenfeld mit heilpädagogischer Unterstützung. Robin und seine Eltern investierten viel Zeit und Geduld in verschiedene Therapien, um vor allem mit der Dyskalkulie und Legasthenie besser umgehen zu können. «Robin hat einen starken Willen», sagt Rita Morf – und erinnert sich an den Arzt, der ihr prophezeit hatte, Robin werde wohl nie Velo fahren. Robin bewies allen das Gegenteil und liess nichts aus, um ein ganz gewöhnlicher Junge zu sein.

Robin liess nichts aus, um ein ganz gewöhnlicher Junge zu sein.


Lernschwäche

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Eine Lernstörung ist eine Entwicklungsstörung. Im Volksmund ist auch von einer Lernschwäche die Rede. Sie äussert sich vor allem in Defiziten beim Schreiben, Lesen oder Rechnen. Einige Fachbegriffe: Dyslexie

Legasthenie

Unter Dyslexie (sinngemäss für «Missverstehen») versteht man Probleme mit dem Lesen und Verstehen von Wörtern oder Texten bei normalem Seh- und Hörvermögen der betroffenen Person.

Legastheniker haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen Sprache in die geschriebene Sprache und umgekehrt. Man spricht von einer Lese- und Rechtschreibstörung.

Dyskalkulie

Dyspraxie

Eine Dyskalkulie ist eine Beeinträchtigung des arithmetischen Denkens. Zusammenzählen, Dividieren, Multiplizieren: Betroffene tun sich damit schwer. Schätzung zufolge haben 5 bis 7 % der Weltbevölkerung eine Dyskalkulie.

Dyspraxie ist eine lebenslange Koordinations- und Entwicklungsstörung. Sie geht mit grob- und feinmotorischen Schwierigkeiten einher. Betroffenen kann es schwerfallen, ihre Gliedmassen so zu bewegen wie sie wollen.


Robin Morf montiert Radmuttern mit dem Schlagschrauber.

Konzentrierte Arbeit an einem Kugelhahn.


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Robins Beruf: Ausrüsten, Montieren, Staunen Robin stemmt ein Ventilteil in die Höhe und schraubt es an einen Schleppschlauchverteiler, der etwa sieben Meter lang und drei Meter hoch ist. Er greift zum Schraubenschlüssel, grösser als sein Unterarm, und zieht die Muttern an – ruhig, konzentriert, eins nach dem andern und alles am richtigen Ort. Das ist der junge Mann, dem ein Leben mit offensichtlichen Einschränkungen vorausgesagt wurde. Alles eine Frage der Sichtweise: Will man sehen, dass sich Robin mit Masseinheiten oder Reifenbeschriftungen schwertut? Oder hat man eher den Blick dafür, wie exakt er die Deckeldichtung am Güllenfass zusammenbaut und wie engagiert er sich auch um weniger Attraktives wie etwa den Putzlappen-Vorrat kümmert? Robin Morf hat eine Familie, die an ihn glaubt. Und er hat am Arbeitsplatz Menschen, die seine Talente sehen und fördern. Bei der Agrar Landtechnik AG in Balterswil, wo er die zweijährige Ausbildung zum Praktiker PrA Mechanik macht, ist er gut aufgehoben. Hier zählt nicht, was er nicht kann; hier zählt, was er kann – und das ist viel.

Von seinem Ausbildner Adrian Ackermann erfährt Robin Morf viel Vertrauen – zum Beispiel beim Einstellen eines Schleppschlauchverteilers.


Robin ist stolz auf seine Arbeit. Als Lernender ist er ein Vorbild.


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Robins Lehrbetrieb: Alles ist möglich Adrian Ackermann leitet eine Produktionsabteilung bei der Agrar Landtechnik AG und ist der Ausbildner von Robin Morf. Zusammen stehen sie an der Werkbank und besprechen die jüngsten Lernziele, akribisch notiert in einem Ordner, der jederzeit in Griffnähe ist. Ein aktuelles Lernziel: Robin ist mit den verschiedenen Montagetechniken im Maschinenbau vertraut und kennt die unterschiedlichen Schraubverbindungen. Er kennt auch die Gewindegrössen und weiss, in welchen Tabellen die Kernbohrungen zu finden sind. Die Dokumentation erklärt methodisch, wie der Lernende vorgehen soll, um den Lernstoff zu verinnerlichen.

Robin braucht sich nicht zu verstecken im Vergleich mit anderen Jugendlichen.

Mit diesen Unterlagen orientiert sich Adrian Ackermann nicht nur am Bildungsplan, sondern hat ergänzend dazu einen eigenen Leitfaden erarbeitet. Das ist exemplarisch für seine Schaffensweise: Ihm liegt an eigenen Wegen, wissend, dass es verschiedene gibt. Sein Sinn für das Individuelle geht mit einer ressourcenorientierten Sichtweise und einem gesunden Optimismus einher: Er sieht die Chance und nicht die Bürde. Und so kann sich Robin Morf in einem wohlwollenden, von Anspruch und Fleiss geprägten Umfeld entfalten. Die Lernschwäche wird erst zum Thema, wenn man sie anspricht. «Mit seinem grossen Interesse und seinem Lernwillen hat Robin vieles kompensiert», sagt Adrian Ackermann. Erst anhand des Schulischen sei klar geworden, dass Robin da und dort besondere Unterstützung


Gemeinsam können auch schwere Ersatzteile bewegt werden.

nötig hat. Der Lehrmeister erinnert sich an die Schnupperwoche: Da brauchte sich Robin nicht zu verstecken im Vergleich mit anderen Jugendlichen. Im Gegenteil: Robin Morf zeigte überdurchschnittliche Motivation und Einsatzbereitschaft. Und das war dann auch ausschlaggebend dafür, dass man ihm eine Lehrstelle bei der Agrar Landtechnik AG anbot. Es ging fast zu schnell. Denn das Thema Lernschwäche war damals noch nicht einmal angesprochen gewesen. Der Lehrbetrieb hatte Robin die Schnupperlehre angeboten, ohne von seiner Situation zu wissen. War alles zu schön, um wahr zu sein? Familie Morf wandte sich an Adrian Ackermann, um darüber zu reden. Den Eltern war von Anfang an wichtig gewesen, dass Robin eine Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt macht. Rita Morf hatte mit der


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IV auch über eine Lehre im geschützten Rahmen gesprochen, aber das wollten weder Robin noch Mama und Papa. Und so kam es, dass er sich direkt im ersten Arbeitsmarkt um einen Ausbildungsplatz bemühte. Am guten Einvernehmen mit dem Lehrbetrieb änderte sich nichts, nachdem das Thema Lernschwäche auf den Tisch gekommen war. «Natürlich haben wir uns Gedanken dazu gemacht, ob wir der nötigen Betreuung gerecht werden können»,

Robin Morf bearbeitet ein Werkstück.

sagt Adrian Ackermann, «aber nach interner Besprechung haben wir uns bewusst dazu entschieden. So änderte sich an der Zusage nichts. Wir sagten uns: Wir geben Robin diese Chance.» Man hat den Eindruck, Robin belohne das Vertrauen mit besonderem Einsatz. Er sei sehr dankbar und stolz, sagt der junge Mann, dass er hier, bei der Agrar Landtechnik AG, seine


Ausbildung machen könne. «Ein absoluter Glücksfall», sagt Rita Morf. Auch Adrian Ackermann ist stolz: «Es läuft super. Robin ist gut integriert. Man merkt, dass er sich wohlfühlt.» Und so traut ihm der Lehrmeister schon einiges zu: Robin soll laufend dazulernen und einfachere Montagen selber ausführen können. «Das kriegen wir hin.»

Robin spürt viel Vertrauen. Er dankt es mit grossem Einsatz.

Berufsbeschrieb Praktiker PrA Mechanik Praktikerinnen und Praktiker PrA Mechanik arbeiten in der Metallbearbeitung und im Anlagen- und Apparatebau. Sie führen einfachere Arbeiten in der Fertigung aus und können mit Handwerkzeugen, technischen Einrichtungen sowie Mess- und Prüfmitteln umgehen. Ausserdem wirken sie in der Montage, bei der Instandhaltung oder der Wartung von Maschinen und Anlagen mit. Praktiker PrA Mechanik realisieren ihre Aufträge unter

Anleitung systematisch, effizient und weitgehend selbständig. Zudem sind sie es gewohnt, im Team zu arbeiten. Bei ihrer Arbeit beachten sie Grundsätze der Arbeitssicherheit, des Gesundheits- sowie des Umweltschutzes. Anforderungen: gutes Auffassungsvermögen, praktisches Verständnis, handwerkliches Geschick. Mehr Infos: www.berufe.brueggli.ch


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Brügglis Rolle: Vermitteln und Unterstützen Junge Berufsleute wie Robin Morf, die einen Direkteinstieg in eine Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt machen, erhalten von der BrüggliArbeitsassistenz Unterstützung in administrativen und organisatorischen Fragen wie auch in persönlichen Themen. Ebenso ist Brüggli für den Arbeitgeber da, um ihn besonders auch in versicherungsrelevanten und rechtlichen Aspekten zu beraten. Das Ziel: Es blicken alle in dieselbe Richtung. Der Arbeitgeber kann sich auf seine Rolle als Ausbildner und Integ-

rationspartner konzentrieren, und der Lernende kann direkt im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen. Wenn es rund läuft, ist dies ein Akt frühzeitiger Eingliederung, der sich auch volkswirtschaftlich betrachtet lohnt. «Die Zusammenarbeit mit Brüggli ist gut», sagt Adrian Ackermann. Wenn man nichts voneinander höre, sei allen Beteiligten klar: Es läuft. Und wenn etwas zu besprechen sei, dann werde dies unbürokratisch in die Wege

Agrar Landtechnik AG Die Agrar Landtechnik AG in Balterswil baut Landmaschinen vorwiegend für den Schweizer Markt sowie für angrenzende Länder: Auf bereiter, Ladewagen, Ballengeräte, Miststreuer, Tankwagen mit Zubehör wie auch Schleppschlauchverteiler. Ausserdem werden

in Balterswil Erntemaschinen und Radlader ausgerüstet und repariert. Wann immer ein Landwirtschaftsgerät irgendwo im Einsatz steht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass das Gerät von der Firma Agrar stammt. Das Unternehmen gehört zum Landwirtschafli-


Von der guten Begleitung profitieren Lernender wie Ausbildner. Es lohnt sich für alle. Bei der Agrar Landtechnik AG ist Robin Morf mittendrin und nicht nur dabei.

chen Genossenschaftsverbund Schaff hausen GVS. In Balterswil hat das Unternehmen 2015 eine neue Produktionsstätte eingerichtet, was mit der Gründung der Agrar Landtechnik AG einherging.

Agrar-Landmaschinen werden seit über 75 Jahren in der Schweiz hergestellt. In Balterswil befinden sich neben der Konstruktion und Entwicklung auch die Produktion und Montage der Landwirtschaftsmaschinen.


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Blick in die weitläufigen Produktionshallen.

Robins Weg ist ein Beispiel für eine gelungene, frühzeitige Eingliederung.

geleitet – so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Auch der Kontakt mit den Eltern sei sehr wichtig, sagt Adrian Ackermann. Er merke, wie sehr sie hinter ihrem Jungen stünden. Und so profitieren alle von einem Verbund, in dem sie nie alleine sind. Nicht immer läuft es so rund wie bei Robin Morf. Dann ist besondere Beratung nötig.


Brügglis Berufsschule: Punktuell nachhelfen Immer am Dienstag besucht Robin Morf die Berufsschule bei Brüggli in Romanshorn. Hier kann er besonders den Umgang mit Zahlen trainieren. Auch Geografie und Deutsch sowie der Sportunterricht gehören ins Programm. Zur Allgemeinbildung kommen lebenspraktische Themen und die Auseinandersetzung mit Beruf, Lehrbetrieb und der eigenen Person. Erich Heule, Leiter der internen Berufsschule, erlebt Robin Morf als aufgestellten, engagierten und zuverlässigen Schüler. Anfänglich sei Robin sehr zurückhaltend gewesen, aber nach und nach sei er mutiger geworden. «Er traut sich mehr und holt Hilfe, wenn er sie braucht.» Man merke, er habe einen starken Willen.

Robin ist mutiger geworden. Er weiss, was er will.


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Robins Trumpf: Es kommt von Herzen Bei Robin Morf kommt die Leidenschaft für Landwirtschaftsgeräte nicht von ungefähr. Er hat einen eigenen Traktor, einen Fendt 108, an dem schon sein Vater gearbeitet hat. Zusammen halten sie den Viertakter in Schuss. Auch mit seinem Cousin, der zwei Oldtimer besitzt, verbringt Robin viel Freizeit. Er lacht: «Andere gehen mit dem Roller fort, ich mit dem Traktor.» So kann es vorkommen, dass man den jungen Mann auf einer Runde durch Gachnang trifft, begleitet von seinem Papa oder einer Kollegin aus dem Turnverein. «Ich habe die Traktorprüfung absolviert. Viele staunen, dass ich das geschafft habe.» Es kommt Robin zugute, dass er schon als Kind mit Landwirtschaftsmaschinen zu tun hatte. Das handwerkliche Geschick und die Erfahrung helfen ihm zum Beispiel, um Rechtschreibschwierigkeiten zu kompensieren. So habe er auch schon einem Oberstift zeigen können, wie man einen Reifen richtig montiere. Robin hatte dies bei seinem Vater gelernt. Auch der Modellbau hat es Robin angetan. Die Schraubarbeit mit winzig kleinen Werkzeugen an einem Modellflug-Helikopter hilft ihm, das Feinmotorische zu trainieren.

Robin Morf beim Ablängen eines Hydraulikschlauches.


«Andere gehen mit dem Roller fort, ich mit dem Traktor.»


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Robins Rezept: Dran bleiben, nie aufgeben Lernschwierigkeiten? Robin Morf ist sich seiner Situation bewusst. «Klar habe ich ein paar Einschränkungen», sagt er, «aber daran will ich nicht lange rumstudieren». Sein Traum: einmal selber eine Werktstatt leiten. Kaum gesagt, greift er zu einer Dichtung und fügt sie in den dazugehörenden Deckel ein. Schon 31 Stück hat er heute montiert, und es werden noch einige mehr werden. Es gibt viel zu tun – und

Einschränkungen? «Daran will ich nicht lange rumstudieren.»

Robin packt’s an. Er hat alles, was es braucht, um als junger Berufsmann vorwärtszukommen: viel Fleiss und Freude, einen engagierten Ausbildungsbetrieb und eine Familie, die ihm Wurzeln und Flügel gibt. Was ist dagegen eine Lernschwäche? Alles Gute, Robin, Du packst es, weil es Dich schon lange gepackt hat.


Montage der Güllenzufuhr: Hier muss alles ganz genau stimmen.


Kst. 2020 // 3500 Ex. // 06.16

Herausgeber Brüggli Hofstrasse 5 8590 Romanshorn www.brueggli.ch

Konzept / Text Michael Haller

Gestaltung Regina Furger

Bilder Roger Nigg Yannick Müller

Druck Brüggli Medien


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