Brixner 291 - April 2014

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Wirtschaft & Umwelt

Ist Südtirol in wenigen Jahren von einem Zuwanderungs- zu einem Abwanderungsland mutiert? Wobei Brixen im Vergleich zu anderen Bezirken überraschenderweise noch gut dasteht. Stephan Luther ist Amtsdirektor im Amt für Arbeitsmarktbeobachtung in Bozen, und die Zahlen, die er liefert, sprechen im Grunde für eine gewisse Krisensicherheit des Standortes Brixen, auch wenn in den vergangenen Jahren einige Betriebe in Schwierigkeiten geraten sind, was sich natürlich auch auf die Arbeitslosenzahlen ausgewirkt hat. Einen Fall Hoppe aber, bei dem auf einen Schlag hunderte Jobs verloren gehen, gab es in Brixen nicht. Auf der anderen Seite gibt es ein Industriegebiet mit einigen Vorzeigeunternehmen, die in Zeiten wie diesen sogar zusätzliche Mitarbeiter brauchen. Es gibt einen ziemlich stabilen Bereich Handel – und es gibt natürlich auch viele öffentlich Bedienstete, die gerade in Krisenzeiten als Stabilitätsfaktor dienen: Fast ein Drittel der Arbeitnehmer im Großraum Brixen sind Lehrer, Beamte, Krankenhausangestellte.

Verschiedene Messmethoden der Arbeitslosigkeit. Wir lernen

vom Amtsdirektor, dass es allerdings extrem schwierig und komplex sei, die Arbeitsmarktsituation wissenschaftlich zu analysieren. So gibt es verschiedene Messmethoden; die amtliche Arbeitslosenquote wird in Italien zum Beispiel nicht über die effektiv eingetragenen Arbeitslosen definiert, sondern über statistische Hochrechnungen von Stichproben-Umfragen. Das ist auch der Grund, warum es für den Bezirk Brixen keine „offizielle“ Arbeitslosenquote gibt – die Menge der befragten Personen wäre zu klein, um die Fehlerquote in einem ak-

zeptablen Rahmen zu halten. Sehr wohl aber verfügt Luther über die Zahl der effektiv eingetragenen Personen mit Arbeitslosenstatus, die aber auch wieder etwas verfälscht ist, denn: Als arbeitslos melden sich im Normalfall nur jene Leute, die Anrecht auf Arbeitslosengeld haben. Damit jemand Arbeitslosengeld bekommt, muss er aber in den vorausgegangenen 24 Monaten mindestens 12 Monate in einem „ordentlichen“ Arbeitsverhältnis gewesen sein – damit fallen die meisten jugendlichen Arbeitseinsteiger und Schul-Absolventen durch den Rost. Im Bezirk Brixen spielt zudem das saisonale Gastgewerbe nur eine untergeordnete Rolle – zum Unterschied von typischen Tourismuszonen wie Gröden oder das Ahrntal. Diese Tatsache ist deshalb von Bedeutung, weil Mitarbeiter in Saisonbetrieben de facto jedes Jahr für mindestens fünf Monate als arbeitslos aufscheinen. Das ist der Grund, warum im Bezirk Bruneck im April und Mai sowie von Oktober bis Anfang Dezember die Arbeitslosenquote auf bis zu 12 Prozent klettert – das sind zu einem Großteil Mitarbeiter von saisonal betriebenen Hotels, die einen befristeten Vertrag bekommen, nach dessen Ablauf sie sich für drei Monate arbeitslos melden, um dann bei Beginn der nächsten Saison wieder mit dem Job zu beginnen. Paradoxerweise bleiben dem Land (und der zahlenden NISF) diese „Arbeitslosen“ langfristig erhalten: Sie sind de facto in den drei Monaten zwischen den Saisonen nicht vermittelbar, weil sie danach wieder ihre Stelle antreten können. Fakt ist allerdings auch, dass diese Arbeitslosengelder die Kassen der NISF erheblich belasten. Trotzdem ist das Gastgewerbe natürlich der wich-

Beatrix Angerer, ASGB: „Die Lage ist relativ dramatisch“

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tigste Wirtschaftsfaktor im Land: Funktioniert der Tourismus, dann geht es auch dem Handwerk, dem Handel und letztendlich auch dem Dienstleistungssektor gut – alle leben von der Wertschöpfung des Gastgewerbes mit.

Anzahl der Beschäftigten ständig gestiegen. Im Großraum

Brixen, genauer gesagt in der „funktionalen Kleinregion Eisacktal / Unterpustertal“, wohnten im Jahr 2013 19.808 Arbeitnehmer, von denen 764 eingetragene Arbeitslose sind; die effektive (gezählte) Arbeitslosenquote im Raum Brixen beträgt also 3,9 Prozent. Von den restlichen 19.044 arbeiten 4.674 außerhalb des Großraums, 14.370 haben einen Job „vor der Haustür“. Außerdem kommen 3.312 „Einpendler“ in den Großraum; das heißt also, dass es zwischen Brixen, Waidbruck und Vintl 17.682 Arbeitsplätze gibt. Die selbstständigen Unternehmer sind da natürlich nicht mitgezählt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen von 2006 bis heute: Im Februar 2006 hatte der Großraum Brixen noch 15.307 Arbeitsplätze; die Zahl ist trotz Krise bis auf eine kurzzeitige Unterbrechung im Jahr 2010 ständig gestiegen. Auch in den vergangenen vier Jahren war die „Bilanz“ positiv: Es gab jedes Jahr geringfügig mehr Arbeitsplätze. „Das muss auch so sein“, sagt Stephan Luther, „denn die arbeitsfähige Bevölkerung wächst jedes Jahr um etwa 1 Prozent, sodass eine Veränderung der Anzahl der Arbeitsplätze im Bereich von nur +0,5 Prozent de facto ein Rückschritt wäre“.

Auch Arbeitslosenzahl im Steigen. Aber: Auch die Anzahl der

Arbeitslosen ist gestiegen, von 506 im Jahr 2006 bis auf 877 im März 2014. „Dabei muss man 50

Margarethe Profunser, Coach: „Meist werden die Soft Skills den Jobsuchenden zum Verhängnis“

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bedenken“, sagt Luther, „dass die neue Regelung der Saisonarbeiter im Gastgewerbe einen Teil der Steigerung ausmacht“; die saisonalen Arbeitslosen wurden bis 2012 nämlich nicht erfasst. Aber auch ohne Gastgewerbe ist die Steigerung der effektiv Arbeitslosen beträchtlich: Von 341 im Jahr 2008 sind wir inzwischen auf 607 Jobsuchende angelangt, von denen 142 seit mehr als zwölf Monaten auf Jobsuche sind und deshalb als „Langzeitarbeitslose“ gelten. Fast wäre man versucht, diese Zahlen zu bagatellisieren; wenn man sich aber vorstellt, dass sich hinter jedem einzelnen Jobsuchenden eine Familie befindet, die verzweifelt versucht, ihr Leben zu gestalten und zu verwalten, so wird das Drama eher sichtbar. Für ganz Südtirol lesen sich die Zahlen allerdings weitaus kritischer: „Wir haben derzeit in Südtirol 2.600 Langzeitarbeitslose; dabei waren wir über viele Jahre gewohnt, unter 1.000 Langzeitarbeitslose zu haben“, sagt Luther, „damit waren wir in der europäischen Rangliste der Regionen immer unter den besten Drei. Jetzt liegen wir von 300 Regionen an etwa 20. Stelle. Das Problem ist also ziemlich relativ, global gesehen“. Und Brixen steht im Vergleich zu den anderen „funktionalen Kleinregionen“ der Provinz wiederum ebenso ausgezeichnet da: Bozen hatte vor fünf Jahren noch 3,6 Prozent effektive Arbeitslosigkeit, heute gibt es dort mit 7,2 Prozent genau doppelt so viele. Meran und Bruneck zählen heute 6,5 Prozent Arbeitslose, Schlanders 4,5 und Neumarkt 5,8 Prozent, Sterzing liegt bei 4,8 Prozent. Auch im Vergleich zum gesamten Provinzdurchschnitt scheint Brixens Wirtschaft extrem stabil zu sein: In Südtirol gibt es 6,3 Prozent Arbeitslose, in Brixen 3,9. „Brixen hebt sich in der Tat positiv ab“, sagt Stephan Luther.


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