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Einleitung Enthielten die Bände 6, 7 und 8 unserer Neuausgabe Orgelchoräle, deren Authentizität und Textgestalt entweder durch zeitgenössische Drucke oder durch Eigenschriften Johann Sebastian Bachs gesichert sind, so weisen die Stücke der hier vorgelegten Bände 9 und 10 eine äußerst heterogene Überlieferung mit oft nicht eindeutigen Notentexten auf . Zudem wurden und werden Authentizitätsfragen häufig unterschiedlich beantwortet, was natürlich bereits unmittelbar die Auswahl derjenigen Werke berührt, die in diesen Bänden präsentiert werden . Insofern handelt es sich hier um eine Momentaufnahme . Um dieser Problematik mit der nötigen Sorgfalt zu begegnen, haben die Herausgeber Pieter Dirksen, Reinmar Emans, Matthias Schneider und Jean-Claude Zehnder gemeinsam über jede Choralbearbeitung eingehend beraten . Christine Blanken und Peter Wollny vom Bach-Archiv Leipzig stellten hierfür Unterlagen der in Vorbereitung befindlichen Neufassung des Bach-Werke-Verzeichnisses zur Verfügung, so dass ihre Überlegungen zur Authentizität der Stücke in den Entscheidungsprozess mit einfließen konnten . Dafür gilt ihnen unser besonderer Dank . In den letzten Jahrzehnten wurde die Diskussion um bislang noch unbekannte oder zumindest wenig beachtete Bach-Werke erneut intensiv geführt . Ein Auslöser war die um 1985 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordene Neumeister-Sammlung . Bezeichnenderweise handelt es sich um eine Handschrift, die erst etwa 30 bis 40 Jahre nach Bachs Tod geschrieben wurde . Ihre Zuweisungen einzelner Stücke an Bach waren vor 1985 als so fraglich erschienen, dass sie gar nicht erst eingehender in Betracht gezogen wurden . Ohne Informationen zu seiner Quelle zu geben, hatte der Organist Wilhelm Krumbach die Stücke bereits für etliche Radio-Stationen eingespielt . Als Christoph Wolff dann seinerseits auf die Quelle aufmerksam wurde und sie in einer Edition vorlegte, entstand eine Auseinandersetzung um die Frage, wer die Stücke als erster entdeckt hat1 . Dies zeigt, wie turbulent gelegentlich solche Entdeckungen und im Weiteren auch die Fragen nach Echtheit und Unechtheit verlaufen können . Wilhelm Krumbach glaubte im Taumel der Entdeckerfreude in weiteren Handschriften Stücke gefunden zu haben, die er als „potenziell von Bach“ bezeichnete – Einschätzungen, denen wir heute zum Teil nicht mehr folgen mögen . Weitere Stücke wurden in der Neuen Bach-Ausgabe sehr bewusst zur Diskussion gestellt .2 Von dem hier vorgelegten Bestand werden etwa 50 Choräle bereits seit langem als sicher oder zumindest mit größter Wahrscheinlichkeit authentisch eingeschätzt . Dazu gehören die vier Choralpartiten ebenso wie die im Autograph vorliegenden Choralsätze „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ BWV 739, „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 691 und „Jesus, meine Zuversicht“ BWV 728 sowie einige Werke, die sich
1 Wilhelm Krumbach, Sechzig unbekannte Orgelstücke von Johann Sebastian Bach? – ein vorläufiger Fundbericht, in: Neue Zeitschrift für Musik 146 (1985), Heft 3, S . 4–12, und Heft 5, S . 6–18; Christoph Wolff (Hrsg .), Orgelchoräle der Neumeister-Sammlung (Yale University, Manuscript LM 4708), Erstausgabe: Urtext der Neuen Bach-Ausgabe, New Haven 1985 . 2 Neue Ausgabe sämtlicher Werke Johann Sebastian Bachs (NBA), Bd . IV/10, Orgelchoräle aus unterschiedlicher Überlieferung, Notenband und Kritischer Bericht, hrsg . von Reinmar Emans, Kassel usw . 2007 bzw . 2008, und Bd . IV/11, Freie Orgelwerke und Choralpartiten aus unterschiedlicher Überlieferung, Notenband und Kritischer Bericht, hrsg . von Ulrich Bartels und Peter Wollny, Kassel usw . 2003 bzw . 2004 .
in ihrem Format an die „18 Choräle“ beziehungsweise an das Orgelbüchlein anschließen – darüber hinaus eine größere Zahl von Manualiter-Bearbeitungen, deren kontrapunktische Meisterschaft deutlich auf Bach als Autor weist . Über die Frage von Bachs Autorschaft bei zahlreichen anderen Stücken kann im Rahmen dieser Ausgabe nur summarisch Auskunft gegeben werden .3 In den beiden gedruckten Notenbänden erscheinen Werke, für die Bach als Komponist entweder gesichert oder aufgrund der Quellensituation und/oder stilistischen Einschätzung wahrscheinlich ist . Letztere sind mit dem Hinweis „Bachs Autorschaft fraglich“ versehen . Bei den Stücken im Anhang bestehen in quellenkritischer oder stilistischer Hinsicht Bedenken, sie sollen aber mit dieser Ausgabe einem größeren Kreis von Interessierten präsentiert werden . Lediglich online dargestellt werden diejenigen Werke, die weiterer Forschung bedürfen, da ihr Profil weniger Hinweise auf den wahren Autor freilegt . Neben der Quellenforschung wird künftig die Stilforschung weiter zu intensivieren sein . Die Orgelchoräle werden in den vorliegenden Bänden alphabetisch angeordnet, wobei die Choräle der Neumeister-Sammlung integriert, aber durch den Zusatz „NeumeisterSammlung“ gekennzeichnet werden . Wie vielfältig die Gestalt der Choräle ist, möge die folgende Zusammenfassung nach unterschiedlichen Gruppen aufzeigen . Autographe Allgemein gilt das Doppelblatt Mus. ms. P 488 mit „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ BWV 739 als Bachs frühestes Autograph . Zusammen mit dem Autograph der Frühfassung zu Präludium und Fuge g-moll BWV 535a (enthalten in der Möllerschen Handschrift Mus. ms. 40466) scheinen dies die einzigen Bachschen Niederschriften eigener Werke aus der Zeit vor den Mühlhauser Kantaten (1707/08) zu sein, die bis heute erhalten sind . Die Fantasia-artige Darstellung des Liedes „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ repräsentiert in der Tat eine für den jungen Komponisten charakteristische Varietät der Stile und Gedanken, die sich auch in vielen Neumeister-Chorälen wiederfindet . Leider ist die zweite Bearbeitung des Liedes BWV 764 in derselben Handschrift nur als Fragment erhalten und wird daher im Anhang präsentiert . Die einzigen weiteren autograph überlieferten – und dadurch in ihrer Authentizität gesicherten – Choralvorspiele in den vorliegenden Bänden „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 691 und „Jesus, meine Zuversicht“ BWV 728 stammen aus den Clavier-Büchlein für Wilhelm Friedemann und Anna Magdalena Bach und waren wohl zur häuslichen Andacht bestimmt .
3 Ausführlicher behandelt wird diese Problematik von Reinmar Emans, Einzeln überlieferte Choralvorspiele – ein Werkausschnitt voller Probleme, in: Bachs Klavier- und Orgelwerke . Das Handbuch, Bd . 4, Teilband 2, hrsg . von Siegbert Rampe (= Das Bach-Handbuch, hrsg . von Reinmar Emans, Sven Hiemke und Klaus Hofmann), Laaber 2007, S . 547–600, dort auch weitere Literaturhinweise zu den Echtheitsfragen sowie zum gesamten Komplex der einzeln überlieferten Orgelchoräle .