Leseprobe | Wie überlebe ich als Künstler*in

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Aus:

Ina Roß

Wie überlebe ich als Künstler*in?

Eine Werkzeugkiste für alle, die sich selbst vermarkten wollen

August 2022, 240 S., kart., 90 SW-Abb. 24,00 € (DE), 978-3-8376-5993-1

E-Book:

PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5993-5

Wie können Künstler*innen ihre Kreativität einsetzen, um für sich selbst zu werben? In aktualisierter und stark erweiterter Neuausgabe bietet Ina Roß konkrete Hilfe bei den vielgestaltigen Herausforderungen von Marketing, Finanzierung und Selbstorganisation: mit Guerilla-Marketing statt Hochglanzästhetik und Crowdfunding statt Großsponsoren. Dabei erklärt sie das klassische Handwerkszeug ebenso wie den Einsatz von Social Media. Interviews mit Journalist*innen, Internet-Meinungsmacher*innen und Künstler*innen, die im Netz ihren Markt finden, geben darüber hinaus Inspiration und praktische Anregungen. »Do it yourself!« ist die zentrale Botschaft dieser Werkzeugkiste.

Ina Roß, geb. 1970, lehrt Kulturmanagement und Künstler*innenmarketing an der Universität des Saarlandes und an der Hochschule der Künste Saar. Sie war fünf Jahre lang in Neu-Delhi Dozentin für Arts Management an der National School of Drama (NSD) und an der Jamia Millia Islamia University. Sie forscht zum Kulturpublikum in der nicht-westlichen Welt, zur Marketingpraxis von Museen und Theatern in Indien und zu kreativem Künstler*innenmarketing. In ihren Veröffentlichungen zeigt sie besonders, wie das Publikum sich kulturelle Räume aneignet und den eigenen Bedürfnissen anpasst.

Weiteren Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5993-1

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld

Von

Segensreiche

Wie

Die

Geheimwaffe Solidarität

WIE

Last minute panic:

Die Calvin-und-Hobbes-Regel

Wie plane ich ein Projekt?.........................................................

Die Planungswüste lebt!

Vorbemerkung zur aktualisierten ........................................... und erweiterten Ausgabe STARTVORTEIL KREATIVITÄT ......................................................... Wie ihr lernt, das Marketing zu lieben WIE MACHE ICH MICH BEKANNT?
der Kunst, einzigartig
.......................................... Wie ihr in die Zeitung kommt .................................................. Friends, Followers, Fans – ...................................................... Werbung in der Netzgemeinde Guerilla-Marketing: Straßenkampf um Aufmerksamkeit WIE FINANZIERE ICH MICH? .......................................................... Wo das Geld herkommt … ........................................................ Mäzen*innen, Sponsor*innen – und der Staat
zu sein
Förderung: Kunst
Kirche Geld, das
zusteht:
Verwertungsgesellschaften ..........
und
euch
Die
finanziere
mich digital? .............................................. Crowdfunding: Sammeln für das Projekt ................................ Crowdfunding: Subventionen für das Lebenswerk WIE ÜBERLEBE ICH ALS KÜNSTLERIN? ........................................... Frauen im Kunstbetrieb ...........................................................
ich
Trostpreis-Bewerbung ........................................................
ORGANISIERE
MICH?
ICH
...................................................................
ZUM SCHLUSS: WAS MARKETING (NICHT) KANN DANK / NACHWEISE .................................................................... 7 9 10 17 18 28 49 78 105 106 112 157 160 165 165 184 195 196 196 197 213 214 217 227 229 234 Inhalt

Vorbemerkung zur aktualisierten und erweiterten Ausgabe

Die erste Auflage dieses Buches ist 2013 erschienen. „Ein Standardwerk in der Künstlervermarktung“ hat eine Journalistin in der taz es freundlich genannt. Doch auch Standards müssen von Zeit zu Zeit überarbeitet werden, und das ist jetzt hier geschehen. Meine damaligen Studierenden der Schauspielhochschule „Ernst Busch“ in Berlin, deren Ängste und Herausforderungen manche Textpassagen der ersten beiden Auflagen inspiriert haben, sind längst erfolgreich im Beruf angekommen. In dieser Neuausgabe werdet ihr manche von ihnen, z.B. den Puppenspieler und Bühnenkünstler Jarnoth, (wieder) treffen. Da ich in der Zwischenzeit fünf Jahre Kulturmanagement an der National School of Drama in NeuDelhi unterrichtet habe, lernt ihr auch einige meiner indischen Studierenden kennen, genauso wie Bildende Künstler*innen, die ich in den vergangenen Jahren gecoacht habe.

Also, vieles ist neu, es sind Themen dazugekommen, aber einiges ist auch geblieben. Z.B. der Ton des Buches, der mündlich und direkt und manchmal ein bisschen schnoddrig ist. Und die Strichmännchen (auch wenn sie jetzt Strichmenschen genannt werden), die euch bei euren Abenteuern auf dem Überlebensweg zur Seite stehen sollen.

Viel Spaß beim Lesen, Umsetzen und Ideenkriegen!

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START— VORTEIL KREATIVI — TÄT

Wie ihr lernt, das Marketing zu lieben

Ort der Handlung: Mein Dozent*innenzimmer in der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin. Es ist Sprechstunde, und ausnahmsweise sind ein paar ehemalige Studierende gekommen. Gleich nach ihren Abschlussprüfungen haben sie eine kleine freie Theatergruppe gegründet. Endlich, nach Jahren des Trainings in einem geschützten und von wachsamen Lehrer*innen kontrollierten Raum, soll ihr Künstler*innenleben in freier Wildbahn beginnen. Sie alle sind bereits selbstbewusste Darsteller*innen im Fach Puppenspielkunst und waren schon in einigen Rollen auf der Bühne zu sehen. Nun wollen sie mit der gerade neu angestellten Dozentin für Kulturmanagement besprechen, wie sie ihr Debütstück promoten können – und was überhaupt zu tun ist, wenn man eine Künstler*innengruppe ins Leben ruft und damit Erfolg haben will. Und da wird es still, sehr still im Raum. Begabte und engagierte Jungkünstler*innen, die nicht nur etwas können, sondern auch auf der Bühne alles andere als schüchtern sind, die ohne Probleme einen Cyber-Bären, den Titanen Prometheus oder als Mann eine Krankenschwester mimen – sie werden ängstlich und hilflos, wenn es um die Vermarktung ihrer Kunst geht. Das haben sie nicht gelernt, das ist ihnen fremd und unheimlich. Dieses Spiel beherrschen sie nicht, und sie haben auch wenig Lust darauf. „Du musst uns dazu triezen“, erklärt eine Studentin schließlich.

Genau das funktioniert aber nicht. Triezen, sich mühsam überwinden, sich zwingen – damit haltet ihr den Versuch, Marketing und Management zu lernen, zwei Wochen lang durch (mit einem personal trainer vielleicht drei). Aber um längerfristig – euer ganzes berufliches Leben hindurch – am Markterfolg eurer Kunst zu arbeiten, dürft ihr nicht bloß widerwillig einer Notwendigkeit gehorchen. Ihr müsst den Sinn der Sache verstehen und Spaß daran entwickeln. Dazu will ich euch mit diesem Buch verhelfen, das werden wir zusammen angehen und schaffen.

Marketing ist das Werkzeug, um die Freude, die man an seiner eigenen Arbeit hat, mit anderen zu teilen. Mit viel Quälerei, Disziplin

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und den richtigen Informationen kann man vielleicht eine Steuererklärung korrekt abfassen. Beim Marketing geht es darum, Begeisterung zu wecken, Fans und Unterstützer*innen zu gewinnen; dazu muss man auch die eigenen Emotionen und die eigene Persönlichkeit „hineinwerfen“. Es braucht nicht nur Glaubwürdigkeit auf der Bühne, auf der Leinwand oder beim Auftritt, sondern auch eine authentische Art, darüber zu sprechen. Etwas verkaufen – das klingt immer gefährlich nach Entfremdung, vielleicht sogar nach Verrat; aber wunderbarerweise ist nichts so überzeugend wie das Echte. Und wenn man es richtig anstellt, kommt beim Marketing mitnichten das Genormte und Stromlinienförmige heraus. Im Gegenteil: Es wird zum Mittel, mit dem ihr eure künstlerische Individualität überlebensfähig macht, behauptet und durchsetzt.

Ich selbst habe fast mein ganzes berufliches Leben mit Marketing verbracht, und ich hätte das bestimmt nicht getan, wenn es nicht wirklich interessant und spannend wäre. Nach meiner Zeit als Dozentin an der Schauspielschule „Ernst Busch“, von der gerade die Rede war, habe ich fünf Jahre mit Studierenden der National School of Drama in Neu-Delhi die Vermarktung ihrer Stücke geübt. Meine jungen indischen Theaterproduzent*innen waren ideenreich und hochkreativ beim Thema Werbung, denn sie müssen sich auf einem hart umkämpften, ressourcenarmen Markt behaupten. Da habe ich selbst noch einmal viel über kreative Improvisation (in Indien gibt es dafür sogar einen eigenen Begriff: „Jugaad“) und Flexibilität gelernt – und darüber, wie man die eigene Spielfreude für das Marketing nutzbar machen kann. Alles Qualitäten, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen werden; hier und da lasse ich auch ein paar Beispiele aus meinen indischen Erlebnissen einfließen.

Seit meiner Rückkehr lehre ich nun auch viel an Kunsthochschulen und begleite Bildende Künstler*innen auf ihrem Weg in den Beruf. „Das schaffst du“ ist dabei genauso ein Schlüsselsatz wie: „Das wird dir Spaß machen“. Aber ihr werdet in diesem Buch auch eine Menge nüchterner, sachlicher Tipps dazu bekommen, wie man effektiv vorgeht, welche Techniken nützlich sind – oder was eher Unsinn ist. Auch gibt es, in diesen herausfordernden Zeiten besonders wichtig, ein ausführliches Kapitel über Finanzierung mit vielen konkreten, praktischen Hinweisen. Doch wie gut alle diese Techniken und Kniffe auch immer sind und wie sicher man sie auch

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beherrscht, Motivation und Freude bleiben wesentliche Bestandteile des Erfolgs.

Eins solltet ihr euch vorab klarmachen: Ihr habt als Künstler*innen einen riesigen Vorteil auf diesem euch scheinbar komplett unvertrauten Terrain. Ihr seid nämlich von Hause aus gewohnt, kreativ zu sein. Gerade diese Qualität wird von vielen Agenturen händeringend gesucht. Marketing hat strategische und handwerkliche Seiten, aber richtig gut wird es nur durch die Originalität, das Außergewöhnliche, die Fähigkeit, außerhalb von Schubladenkategorien zu denken. Und genau dafür seid ihr als Künstler*innen Spezialist*innen.

In vielen Fachbüchern werden ausgefeilte Marketingstrategien oder Kommunikationskampagnen empfohlen – langfristige, detailliert geplante, systematisch aufgebaute Maßnahmenkataloge. Das ist sicher etwas Tolles und für Profis empfehlenswert. Aber, glaubt mir: In meiner ganzen Karriere habe ich nur sehr wenige Künstler*innen getroffen, die gleich am Anfang eine Marketingstrategie hatten. Wer sich als Kreative*r damit unter Druck setzt, wird bald aufgeben und lieber nichts machen. Also vergesst die Marketingstrategien. Aber nicht das Marketing.

Für Künstler*innen sind heute gute Zeiten, um Marketing selbst erfolgreich in die Hand zu nehmen. In der Gesellschaft ändert sich gerade viel, und zwar so, dass ihr davon stark profitieren könnt: Das Expertentum, das Monopol von Meinungsmachern, die Exklusivität von Mäzenen und Förder*innen, überhaupt das übermäßig Formalisierte – das alles bricht auf. Zugunsten pluralistischer, barrierefreier Zugänge, zugunsten von Vielfalt. Das birgt ungeheure Chancen für Kreative. Durch die heutigen direkten Kommunikationskanäle der Social Media ist es leichter als früher, ein Thema zu setzen und sich bekannt zu machen. Man muss nicht mehr warten, bis Journalist*innen einen entdeckt haben und es angebracht finden, die Leser*innen darüber zu informieren. Man kann das heute selbst. Es gibt nicht mehr den Weg, es gibt euren Weg.

Doch das bringt auch so seine Schwierigkeiten mit sich. Überall werden hilfreiche Tools, digitale Plattformen, interaktive Features fürs eigene Marketing angeboten. Überall schreit es: „Das ist der Schlüssel zum Erfolg“. Ein regelrechter Terror der Hilfsangebote. Terror, weil damit die Erwartung bei euch entsteht, ihr müsstet das 12

WIE ÜBERLEBE ICH ALS KÜNSTLER*IN?

ICH BIN EIN KÜNSTLER

DAS BEDEUTET NICHT, DASS ICH UMSONST

ARBEITE

Meine Rechnungen muss ich bezahlen wie Sie auch

VIELEN DANK

FÜR IHR VERSTÄNDNIS

alles nutzen. Wie viel Stress daraus entstehen kann, habe ich vor einiger Zeit beim Coaching einer Bildenden Künstlerin aus Wien erlebt. Ihre Arbeiten finde ich großartig, und als Persönlichkeit ist sie aktiv und sympathisch in der Vermittlung ihrer künstlerischen Ideen. Alles gute Voraussetzungen, um im Beruf voranzukommen. Aber als sie mir am Bildschirm gegenübersaß, wirkte sie erschöpft und überfordert. Das Gefühl, immer zu wenig oder nicht das Richtige zu tun, nicht professionell genug zu sein, hatte sie fast depressiv gemacht. Sie war dabei, im Labyrinth der Möglichkeiten verlorenzugehen. Das ist kein Einzelfall, ich erlebe sehr viele begabte Künstler*innen, die ähnlich ausbrennen und manchmal sogar den Beruf aufgeben. Prioritäten zu setzen, sich zu fokussieren, von Erfahrungen anderer lernen und auch zu wissen, ihr seid mit diesen Herausforderungen nicht allein, – dabei wird dieses Buch euch helfen.

Es soll euch informieren, ermutigen und stärken. Viele Leser*innen der ersten Auflage haben die Ideen, die sie dort gefunden haben, an ihre eigenen Bedürfnisse angepasst und weiterentwickelt. Manche haben mir Fotos und Dokumente dazu geschickt, so dass diese Neuausgabe auch Beispiele aus der Nutzer*innen-Praxis und -Perspektive enthält. Was ich vorschlage, könnt ihr individuell abwandeln, es muss auch nicht perfekt sein. Ihr werdet sehen, es kann

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trotzdem funktionieren. Traut euch, eure eigenen Vorstellungen umzusetzen, ohne euch von falscher Hochglanzprofessionalität oder dem Druck zum Hyperaktivismus einschüchtern zu lassen.

Zugleich werden wir in diesem Buch die klassischen Kommunikationskanäle wie z.B. Pressearbeit oder Sponsoring nicht vergessen. Werden über Sprödes reden: über Presseverteiler, Verwertungsgesellschaften, Projektanträge und dazugehörige Recherche-Wege. Aber wir werden uns auch viel Raum für das Neue nehmen: Crowdfunding im Abo-Modell, Social Media und Guerilla-Marketing. Mut zum Unperfekten, Mut zum Machen, Mut zur eigenen Sache und zum eigenen Weg sind die wichtigsten Motti dieses Buches.

Ich habe dem Buch den Untertitel „Werkzeugkiste“ gegeben. Denn das hier ist nicht die Bibel, und ich will euch auf nichts einschwören. Ich zeige nicht den einen „Weg zum Erfolg“, sondern beschreibe verschiedene Pfade und Möglichkeiten, wie ihr vorgehen und wie ihr gemäß euren persönlichen Stärken agieren könnt. Das Buch ist tatsächlich eine Art Werkzeugkiste, aus der ihr euch etwas herausnehmen, in die ihr aber auch jederzeit etwas hineinlegen könnt: eure eigenen Erfahrungen, die ihr nach und nach sammeln werdet.

So wird jeder am Ende seine individuelle Werkzeugkiste besitzen.

15 WIE IHR LERNT, DAS MARKETING ZU LIEBEN

WIE MACHE ICH MICH BE KANNT?

Von der Kunst, einzigartig zu sein

Um überhaupt mit Marketing und Management anfangen zu können, müsst ihr lernen, die eigene Kunst gewissermaßen von außen zu betrachten, über sie zu reden und auszudrücken, was da eigentlich entsteht. Das ist die erste Übung, bevor es mit dem Werben, Geldeinsammeln oder Planen losgeht: eine Außenperspektive auf euch und eure Arbeit einzunehmen. Außenperspektive meint auch: mit dem Kopf des Anderen, eures Publikums, potentieller Käufer*innen oder Geldgeber*innen, zu denken. Fragen zu stellen wie: Kann mein Gegenüber das verstehen? Welche Informationen, manchmal auch: Welche Emotionen braucht es, um Aufmerksamkeit und Unterstützung zu mobilisieren? Sich solche Dinge klarzumachen, hat nichts mit Opportunismus zu tun. Marketing, das euer Überleben im Beruf zu sichern hilft, braucht einerseits diese Multiperspektivität und insofern Anpassungsfähigkeit – zugleich aber auch einen erkennbaren eigenen Standort. Ihr müsst die Fähigkeit entwickeln, eure künstlerische Identität nicht bloß zu formulieren, sondern gerade das Unverwechselbare daran herauszuarbeiten.

Eine bloße Beschreibung, mit welchem Material oder mit welchen Techniken ihr arbeitet, reicht nicht aus, wenn ihr für eure Arbeit werben wollt. Ihr müsst zeigen, dass euer Werk Beachtung verdient hat. Die sprachliche Gestalt, die Textsorte, mit der ihr das macht, bezeichnet man als „Artist Statement“; man spricht auch von der Formulierung der „k ünstlerischen Position“. Sie in Worte fassen zu können, damit (nicht mit irgendwelchen Werbetricks) fängt jede Vermarktung an.

Wir lernen in diesem Buch viele Anlässe konkret kennen, bei denen ihr über euch selbst reden und schreiben müsst. In Pressemitteilungen, Sponsoring-Anträgen, Interviews, wenn ihr euch einer Jury vorstellt, wenn es Atelier- oder Probenbesuche gibt – jedes Mal wird von euch erwartet, eure Kunst zu charakterisieren, ihr Wesen und ihre Eigenart zu beschreiben. Trainiert also das Reden über eure Sachen. Denn: Fast allen Künstler*innen, mit denen ich zu tun hatte, fiel es ausgesprochen schwer, einen kurzen, aber aussagekräftigen, neugierig machenden, werbenden Text über die eigene

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Arbeit zu verfassen. Ein solcher Text sollte nicht länger als ein Absatz sein und, vorgelesen, nicht mehr als eine Minute dauern. Für verträumtes oder selbstverliebtes Rumeiern habt ihr keinen Platz. Wie geht ihr vor? Zum leichteren Reinkommen ins Schreiben habe ich die Arbeit am Text in zwei Schritte gegliedert. Das ist nicht zwingend, ihr könnt das auch anders machen. Aber für diejenigen, die etwas unsicher sind, hat sich das als gute Strukturierung bewährt, bevor ihr dann vielleicht selbstbewusster freestylt.

Im ersten Schritt konzentriert euch vor allem auf das Eigentümliche und Unverwechselbare eurer Kunst. In der Marketingsprache wird das als „Alleinstellungsmerkmal“ oder englisch: unique selling point (USP) bezeichnet. Wichtig dabei ist, dass ihr euer gesamtes Werk über die Jahre eures Schaffens hinweg in den Blick nehmt und berücksichtigt , nicht nur eine einzelne Arbeit. Auch nicht die Arbeit, die gerade fertig geworden ist und die ihr daher noch besonders gut im Gedächtnis habt. Das ist ein verbreiteter Fehler. Es geht hier um das Charakteristische eures gesamten künstlerischen Tuns. Also „besichtigt“ eure Arbeiten als Vorbereitung noch einmal.

Bei den Darstellenden Künsten kann das Besondere eine bestimmte Aufführungspraxis sein; aus anderen Kunst- oder Lebensbereichen inspirierte Dramaturgien; Themen, die vor euch noch keiner auf die Bühne gebracht hat; ungewöhnliche Aufführungsorte. In der Bildenden Kunst ist es vielleicht ein Material, das nur ihr verwendet, oder es sind besondere Techniken, Formate. So sind z.B. die Wachs-Skulpturen des Schweizer Künstlers Urs Fischer temporär und vergehen vor den Augen der Betrachter*innen; der Amerika -

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ner Ron Gorchow malte nur auf sattelartigen Leinwänden; Rimini Protokoll nutzt als „Expert*innen des Alltags“ reale Personen und ihr praktisches Wissen in ihren Stücken. Vielleicht arbeitet ihr in eurer Kunst mit Techniken aus anderen Bereichen wie z.B. Naturwissenschaft oder Ethnologie oder, wie die Guerilla Girls, mit Elementen des politischen Aktivismus. Manchmal kann übrigens auch Retro wieder das Neue sein. Eine alte Fototechnik etwa oder der Fokus auf handwerkliche Meisterschaft wie beim norwegischen Maler Odd Nerdrum. All das kann ein Alleinstellungsmerkmal sein. Nehmt es nicht zu wörtlich, natürlich seid ihr nicht die EinzigAlleinigen in der Kunstwelt, die so etwas machen. Aber denkt zum Vergleich an Kolleg*innen und versucht, die Unterschiede zu erfassen und das Eigentümliche ins Zentrum zu rücken.

Kommen wir zum zweiten Schritt. Hilfreich kann es sein, dass ihr die eigene Kunst geschichtlich einordnet, dass ihr sie zu künstlerischen Strömungen und Schulen der Vergangenheit in Beziehung setzt –oder zu prominenten Künstler*innen der Gegenwart. Dass ihr also euer Verhältnis zur Tradition der Disziplin oder zu bekannten künstlerischen Gegenwartsphänomenen beschreibt. Das klingt ein bisschen bombastisch, aber es geht dabei überhaupt nicht um Hybris, nicht um durchgeknallte Selbstanpreisungen, mit denen man sich als den neuen Picasso oder Piscator ausruft. Sondern im Gegenteil um eine Art Service für euer Publikum und für mögliche Förderer: Ihr selbst seid noch unbekannt, aber durch den Hinweis auf Bekanntes (oder auch in Abgrenzung davon) gebt ihr den anderen einen Orientierungspunkt, eine Möglichkeit, euch einzuschätzen. Ein vernünftiger, realistischer Bezug auf die Geschichte eurer Disziplin schafft Vertrauen, dass ihr ernst zu nehmen seid, dass eure Arbeit durchdacht ist und dass ihr seriöse Qualitätsmaßstäbe anerkennt.

So verwendet z.B. der internationale Starkünstler Subodh Gupta Küchenutensilien aus dem indischen Haushalt als Material für seine Installationen. Gupta habe ich in Patna, der Hauptstadt seines Heimat-Bundesstaats Bihar, zum ersten Mal getroffen und mich auch später immer wieder mit ihm über seine Kunst austauschen

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können. Küchenbehälter oder „tiffin boxes“ (vielleicht am besten mit dem altmodischen Begriff „Henkelmann“ zu übersetzen ; „tiffin“ bedeutet „Mittagessen“) repräsentieren für ihn seine Heimat. Gleichzeitig arbeitet er für ein internationales westliches Publikum. Mit seinem Artist Statement muss er diese Leute über seine künstlerische Position informieren – und zwar so, dass es auch verstanden wird. Die wenigsten außerhalb Indiens wissen, was „tiffin“ bedeutet. Aber alle in der internationalen Kunstszene kennen Marcel Duchamps „Readymades“ und ihre Bedeutung für die moderne Kunst. Und das nutzt Subodh Gupta für sein Statement.

Er übersetzt die „tiffin box“ und die anderen stählernen Küchenbehälter in den für sein Publikum verständlichen Begriff des „Readymades“ und verweist damit auf die bekannte, eingeführte Technik von Duchamp, Alltagsgegenstände in Kunstobjekte zu verwandeln. Bei Gupta sind das überlebensgroße metallene Installationen z.B. in Form eines Totenkopfs. Selbst wenn ihr nicht wie Gupta aus einer anderen kulturellen Region kommt als eure Rezipient*innen, so müsst ihr doch in ganz ähnlicher Weise eure Ideen übersetzen und aufbereiten, damit sie für euer Publikum begreiflich werden und es sich anschaulich etwas darunter vorstellen kann.

Und so liest sich dann Subodh Guptas komplette künstlerische Positionierung (Artist Statement): „Gupta is an Indian contemporary artist based in New Delhi. He chooses signature objects of the Indian sub-continent and relocates them as art objects in monumental installations of stainless steel and tiffin-tins. Subodh Gupta employs many of the original techniques of French conceptualist Marcel Duchamp by elevating the ready-made into an art object.“

Kurz – aber mit genug Informationen über das, was zu sehen ist, über sein typisches Material, seinen Zugang und seine Bezüge auf die europäische Kunstgeschichte. Genug, um die Leser*innen zugleich neugierig zu machen und ihnen eine Ahnung von dem zu vermitteln, was sie erwartet.

Ihr könnt das „Artist Statement“ übrigens in der ersten ebenso wie in der dritten Person abfassen. Die dritte Person macht es euch leichter, die nötige Distanz zur eigenen Arbeit zu schaffen, das

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„Ich“ wirkt persönlicher und unmittelbarer. Anfänger*innen würde ich zunächst zur dritten Person raten. Wenn dieser Text erstmal steht, könnt ihr ihn immer noch ins „Ich“ übersetzen und durch Vergleich feststellen, was besser zu euch passt. Das Statement muss übrigens, das ist auch noch wichtig, mündlich wie schriftlich funktionieren. Lest es euch daher selbst vor, und gern mehr als einmal!

Ich habe noch zwei weitere Beispiele herausgesucht, die euch die Bandbreite der sprachlichen Möglichkeiten und ihren Zusammenhang mit der Zielgruppe zeigen:

„ machina eX ist eine Gruppe junger Theater-, Computerspiel- und Medienmacher*innen, die Technologie & Kultur zusammenbringen. Mit Hilfe von Mikrokontrollern, Lust an spannenden Geschichten, einem Haufen Theatererfahrung, den Computerprogrammen Max/MSP, Arduino, Ableton Live und Processing und einer Menge Kabel und Stiften bauen wir theatrale Rauminstallationen, die alle Komponenten eines Computerspiels mit denen eines Theaterabends zusammenbringen.“

Das Zielpublikum von „machina eX“ ist so jung wie die Protagonist*innen selbst und kommt überwiegend aus der ComputerspielWelt. Es wäre seltsam, wenn diese Leute plötzlich in einer streng förmlichen Sprache daherkämen. Deshalb ist es kein Problem, Ausdrücke wie „einen Haufen Theatererfahrung“ zu benutzen.

Anders beim Ensemble Modern :

„Die Gründung des basisdemokratisch organisierten Ensemble Modern (EM) war eine Initiative von Student*innen der Jungen Deutschen Philharmonie im Jahr 1980 mit dem Ziel, Neue Musik zu fördern und angemessen aufzuführen. Seit 1985 ist das EM in Frankfurt am Main beheimatet. Es zählt zu den weltweit führenden Ensembles für Neue Musik. Seit 1987 ist das EM eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) mit den Musikern als Gesellschaftern. Zurzeit vereint das EM 19 Solist*innen verschiedener Nationalitäten: Argentinien, Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Indien, Japan, Polen und die Schweiz bilden den kulturellen Hintergrund dieser Formation.“

Ensemble Modern beschränkt sich auf die Fakten, und zwar in einer zu seinem Publikum passenden, betont sachlichen, kühl kor-

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rekten Sprache. Trotzdem wird betont, was das Hauptanliegen der Gruppe ist, die Förderung von Neuer Musik, und was sie als besonders geltend machen kann, nämlich ihr internationaler Charakter. Die Aussage, man zähle „zu den weltweit führenden Ensembles für Neue Musik “, ist erst einmal eine Behauptung. Sie lässt sich jedoch durch Auftritte und Auszeichnungen belegen. Ich kann euch nur raten: Versprecht nichts, was ihr nicht einlösen könnt. Aber wenn ihr z.B. schon Preise, Stipendien oder Fellowships gewonnen habt, dann könnt ihr das durchaus am Ende dieses Textes erwähnen. Das Artist Statement ist neben der künstlerischen Positionierung auch und vor allem ein Werbetext.

Eure Aussagen sind nicht in Stein gehauen und nicht für alle Ewigkeit gültig. Von Zeit zu Zeit solltet ihr prüfen, ob eure künstlerische Positionierung dem aktuellen Stand eurer Arbeit noch entspricht. Denn ihr entwickelt euch weiter (hoffentlich!), und damit muss sich auch die Art, wie ihr euch darstellt, weiterentwickeln.

VON DER KUNST, FÜR SICH SELBST ZU WERBEN

Es ist noch nicht lange her, da war das Format der „Home-Story“ oder, seriöser, das Künstler *innenporträt nur den großen Stars vorbehalten. Künstler*innen, die mit ihrem Werk die Öffentlichkeit erobert hatten, deren Œuvre in den großen Institutionen präsentiert wurde und Allgemeingut war, rückten schließlich auch als Personen ins allgemeine Interesse. Jetzt erst wurde danach gefragt, was ein/e Maler*in oder Schriftsteller*in über Politik dachte oder welches sein/ihr Lieblingscafé war. Heute startet das Bekanntmachen eurer künstlerischen Arbeit und das Interesse für euch als Macher*innen gleichzeitig. Schon zu Beginn eurer Karriere wird es Thema sein, wie ihr als Künstler*innen lebt, welche Orte euch gefallen und inspirieren, welche Meinungen ihr habt und wie ihr selbst eure Kunst interpretiert.

Ihr sollt deswegen nicht eitel und selbstgefällig werden oder wie eine Website auf zwei Beinen umherlaufen, jederzeit über eure eigenen Projekte plappernd. Aber die Peinlichkeit, die ihr beim Gedanken an Selbstdarstellung vielleicht empfindet, müsst ihr in der Tat überwinden. Es gibt genug Ar-

24 WIE ÜBERLEBE ICH ALS KÜNSTLER*IN?

ten, das Eigene und sich selbst humorvoll oder spielerisch zu präsentieren. Wir werden gerade im Kapitel zu den Social Media ein paar kreative Beispiele dafür kennenlernen.

Dann aber, schwieriger noch, die eigentliche Werbung! Viele Künstler*innen schrecken davor zurück. Ein Kollege von mir hatte mit seinen Puppenspiel-Studierenden ein Stück erarbeitet – ein wirklich interessantes, originelles, auch etwas gewagtes Projekt, das vom Einsatz einer militärischen Drohne handelte. Am Wochenende sollte es im Studiotheater unserer Hochschule öffentlich aufgeführt werden. Der Dozent hatte einige Zeit in den Vereinigten Staaten gearbeitet, wo die Vermarktung ein ganz natürlicher Teil des Selbstverständnisses von Künstler*innen ist. So war es für ihn auch klar, dass seine Studenten nun kurz vor der Aufführung für ihr Stück Werbung machen sollten. Er schickte die Spieler*innen los, um die Drohne auf der Straße und in der Hochschulkantine fliegen zu lassen und so auf die Vorstellung aufmerksam zu machen. Aber den Studierenden war es unangenehm, wie sie es ausdrückten, „Leute zu belästigen“. Sie erklärten: „Wir wollen niemanden stören.“ Schließlich, fast vorwurfsvoll: „In welcher Rolle sollen wir denn da auftreten?“

Das ist ein gutes Stichwort. Die Rollen, in der Darstellende Künstler*innen auftreten, geben ihnen Sicherheit; es sind eigentlich nicht sie selbst, die sich da vor dem Publikum zeigen, sondern die Figuren, die sie repräsentieren. Diese Sicherheit droht bei der Selbstvermarktung in die Brüche zu gehen. Der Rollen-Schutz scheint weg zu sein, wenn es darum geht, die eigene Person und Arbeit bekannt zu machen und für sie zu werben.

Aber vielleicht hilft es, sich die Eigenvermarktung auch wieder nach Art einer Rolle vorzustellen. Es geht ja in Wahrheit nicht um Exhibitionismus, nicht um euch als Privatleute, sondern um eine ganz gezielte und sehr kontrollierte Präsentation eurer Individualität. Ihr müsst nicht euer Innerstes nach außen kehren, ihr erfüllt einfach einen notwendigen Teil eures Berufs als Künstler*in – und setzt dabei selbst nach Möglichkeit künstlerische Mittel ein.

Als ich damals für meine Diplomarbeit Interviews mit Bildenden Künstler*innen führte, stellte ich fest, dass sie meist genau die -

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sen Ansatz bei der Schaffung und Bewirtschaftung ihrer öffentlichen Person verfolgten. Sie nahmen das alles nicht komplett ernst und waren durchaus bereit, ihrem Publikum ein einprägsames Künstler*innen-Image anzubieten. Halb spielerisch, halb pragmatisch – das finde ich die beste Einstellung zum Thema Selbstvermarktung. In diesem Sinne wollen wir uns jetzt genauer ansehen, wie ihr euch bekannt machen könnt.

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