Leseprobe | Resilienz

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Urheberrechtlich geschütztes Material

Inhalt

AUSZUG AUS DEM BUCH Urheberrechtlich geschütztes

VORWORT Eigentlich hasse ich Ratgeber 6

KAPITEL 1 Was wir wollen, wenn wir Resilienz wollen 10

Großmutter und die Resilienz 10

Vom Gummiball zur psychologischen Resilienz 14

Resilienz ist immer relativ zur Belastung 17

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit 19

Ist Resilienz immer etwas Gutes? 22

KAPITEL 2 Echt verrückt, oder? 26

Ist Krankheit unvermeidlich? 26

Ansichten zu psychischen Erkrankungen 30

Psychische Erkrankungen: Da müssen Sie jetzt mal durch. 32

Was ist eigentlich eine psychische Störung? 32

Modelle psychischer Störungen 35

Wie werden psychische Störungen diagnostiziert? 37

Wie werden psychische Störungen klassifiziert? 38

Welche psychischen Störungen gibt es? 39

Wann treten psychische Störungen auf und wie schwer sind sie? 72

Unter der Schwelle: Schattensyndrome und Co. 75

KAPITEL 3 Psychische Gesundheit und das gute Leben 77

Glück als subjektives Wohlbefinden 78

Psychisches Wohlbefinden als positive Funktionsfähigkeit 82

Diagnose: psychisch gesund 84

Psychische Krankheit und Gesundheit: ein duales Kontinuum 86

Die Geburt der positiven Psychologie aus dem Geist des Pessimismus 91

Positive psychologische Interventionen (PPIs) oder Psychotherapie? 95

Funktionieren Glücksrezepte etwa doch? 99

Charakterstärken: die Wiederentdeckung der Tugenden 102

Signaturstärken: wie wir uns selbst entdecken können 106

Vom Glück zum Sinn 109

Lebenssinn und Lebensbedeutungen 113

Erkenntnisse der empirischen Sinnforschung 115

Über Glück und Sinn hinaus: psychologische Reichhaltigkeit 118

Das gute Leben: die Essentials 121

Gute Gründe für schlechte Gefühle 122

KAPITEL 4 Die Psychologie der Resilienz 133

Das DynaMoRe-Projekt 134

Stress, Stress und noch mal Stress 135

Soziale Genomik und das Immunsystem 140

Eine kleine Geschichte der Resilienzforschung 143

Resilienz nach Trauma, Katastrophen und Pandemien 148

Gesicherte psychosoziale Resilienzfaktoren 151

Das Resilienzparadoxon 154

Emotionsregulation und Resilienz 158

Yoga des Geistes: flexible Emotionsregulation 161

Milder Optimismus: positiver Bewertungsstil 165

Fazit: zur Rolle der Emotionsregulation für Resilienz 168

AUSZUG AUS DEM BUCH

KAPITEL 5 Geist, Gehirn und Welt 170

Das Leib-Seele-Problem 170

Warum die Annahme einer übernatürlichen geistigen Welt so natürlich erscheint 172

Der Mythos von der Psyche als Superkraft 175

Über das Gehirn hinaus: Otto und das Museum of Modern Art 180

Das Gehirn als Vorhersagemaschine: eine allgemeinen Hirntheorie? 183

KAPITEL 6 Neurobiologie der Resilienz 190

Von Mäusen und Menschen: ideale Resilienzforschung 190

Das Gehirn für Eilige: ein ultrakurzer Primer 192

Genetik: Suchen Sie sich Ihre Eltern sorgfältig aus! 198

Des einen Freud, des anderen Leid: differenzielle Suszeptibilität 201

Zwillingsstudien und genomweite Untersuchungen zur Resilienz 202

Epigenetik: Freiheit von den Genen oder Mahnung an die Umwelt? 204

Moleküle der Gefühle 207

Neuronale Netzwerke – im Internet des Gehirns 214

Ein neurobiologisches Arbeitsmodell für Resilienz 219

Darm mit Charme: Das Mikrobiom und die Darm-Hirn-Achse XX

Die entzündete Seele: Sind Sie noch ganz dicht? 227

KAPITEL 7 Was können wir tun? 229

Langlebigkeit 229

Vier Strategien 235

Psychische Störungen verhindern und lindern 235

Psychische Gesundheit stärken 236

Stressoren bändigen 237

Den Geist wie den Körper pflegen 244

KAPITEL 3 Psychische Gesundheit und das gute Leben 77

Glück als subjektives Wohlbefinden 78

Psychisches Wohlbefinden als positive Funktionsfähigkeit 82

Diagnose: psychisch gesund 84

Psychische Krankheit und Gesundheit: ein duales Kontinuum 86

Die Geburt der positiven Psychologie aus dem Geist des Pessimismus 91

Positive psychologische Interventionen (PPIs) oder Psychotherapie? 95

Funktionieren Glücksrezepte etwa doch? 99

Charakterstärken: die Wiederentdeckung der Tugenden 102

Signaturstärken: wie wir uns selbst entdecken können 106

Vom Glück zum Sinn 109

Lebenssinn und Lebensbedeutungen 113

Erkenntnisse der empirischen Sinnforschung 115

Über Glück und Sinn hinaus: psychologische Reichhaltigkeit 118

Das gute Leben: die Essentials 121

Gute Gründe für schlechte Gefühle 122

KAPITEL 4 Die Psychologie der Resilienz 133

Das DynaMoRe-Projekt 134

Stress, Stress und noch mal Stress 135

Soziale Genomik und das Immunsystem 140

Eine kleine Geschichte der Resilienzforschung 143

Resilienz nach Trauma, Katastrophen und Pandemien 148

Gesicherte psychosoziale Resilienzfaktoren 151

Das Resilienzparadoxon 154

Emotionsregulation und Resilienz 158

Yoga des Geistes: flexible Emotionsregulation 161

Milder Optimismus: positiver Bewertungsstil 165

Fazit: zur Rolle der Emotionsregulation für Resilienz 168

Eigentlich hasse ich

Ratgeber

Die ewige Wiederkehr des Gleichen. Essen Sie gesund und machen Sie regelmäßig Sport. Alkohol nur gelegentlich und KEINESFALLS rauchen. Reduzieren Sie Stress, schlafen Sie ausreichend und haben Sie viele Freunde. Seien Sie optimistisch. Üben Sie sich in Achtsamkeit und Meditation. Und Yoga. Am besten Yoga! Yoga ist Achtsamkeit, Sport und Meditation im Dreierpack. Ratgeber machen mir ein schlechtes Gewissen. Warum schaffe ich das alles nicht? Zeitratgeber etwa. Einfach ein bisschen besser organisieren – und dann ist die Zeitnot vorbei. Im Ernst jetzt? Mag sein, aber irgendwie habe ich gar nicht die Zeit für die Zeitsparübungen. Geht das nicht einfacher? Simplify your Life. Genial! Simplify your Love. Und your Finanzen. Genau so sollte man es machen. Warum aber gelingt mir das nicht? Und warum stehen überhaupt so viele Ratgeber in meiner Bibliothek? Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum ich gerne rauchte, Fast Food mochte und Eis und Schokolade liebe. Man konsumiert einen Ratgeber nach dem anderen, weil es einem gute Gefühle macht. In diesem Fall die Hoffnung auf ein gesünderes oder besseres Leben. Junkfood für die Seele. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Offenbar mag ich Ratgeber doch. Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum ich Filme über Serienkiller, Drogenbarone und Superstars schaue: Es ist eine fremde, faszinierende Welt, wenn auch nicht meine.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt wirklich einige verdammt gute Ratgeber. Es ist die Flut an Ratgebern, die mich, nun, ratlos macht. Schlimmer als Ratgeber fand ich eigentlich nur die Idee, selbst mal einen zu schreiben. In dem dann genau das Gleiche stehen

würde. Falls Sie es noch nicht wissen sollten: sich gesund ernähren, regelmäßig Sport treiben, ausreichend schlafen, keine Drogen, viele Freunde und Achtsamkeit. Yoga. Und immer optimistisch sein. Ach ja: und Atmen. Also: richtig atmen. Durch die Nase, nicht durch den Mund. Und Waldbaden. Als Coverbild des Buches eine junge, hübsche, schlanke Frau, völlig entspannt in einer Pose, die mein Rücken niemals erlauben würde, in einem schicken Wellness-Resort unter Palmen mit einem fantastischen Blick auf türkisblaues Meer. Wer sich das leisten kann, braucht keinen Ratgeber. Warum also dieses Buch?

Von Haus aus bin ich Psychiater. Das heißt, ich habe täglich mit Menschen zu tun, die wahnsinnig oder schwermütig sind, von Krisen gebeutelt, von Drogen gezeichnet, lebensmüde. Menschen, die arbeitslos sind oder zu viel schuften, einsam sind oder in konfliktreichen Beziehungen, Kinder erziehen oder sich nach welchen sehnen, die Eltern versorgen oder unter diesen leiden. Wenn wir diese Menschen erfolgreich behandeln können, sind wir zufrieden.

Runter von der Couch, zurück zu den „normalen“ Lebensproblemen. Hier ist unsere Arbeit in der Regel zu Ende. Doch ist das nachhaltig?

Meine Partnerin ist Life-Coach. Sie beschäftigt sich mit normalen Lebensproblemen. Sie kann pragmatischer, schneller und, ja, auch oft effektiver helfen und reagieren als Therapeuten. Die Therapie psychischer Störungen überlässt sie – zu Recht – den Fachleuten. Doch viele Menschen sitzen zwischen den Stühlen: psychisch zu krank für den Coach, aber zu gesund für eine Therapie. Zwischen Coach und Couch.

Ich selbst habe mich schon seit Jahren mit der Glücksforschung beschäftigt. Zunächst indem ich Studierende unterrichtet habe. In typisch deutscher Art waren sie dem Konzept „Glück“ gegenüber sehr skeptisch. Genau wie ich. Ich halte nichts von Glücksrezepten. Was mir aber auffiel: Allein die Vorbereitung auf die Lehre, die geistige Beschäftigung mit dem Thema hat mir eine bessere Stimmung Urheberrechtlich geschütztes

AUSZUG AUS

beschert. Die Glücksforschung kann sogar erklären, warum. Die weltweit bekannte Übung „drei gute Dinge“ etwa besteht darin, abends drei Dinge aufzuschreiben, die gut waren, und dafür dankbar zu sein. Diese Übung macht bessere Laune. Warum? Nun, aus dem einfachen und sehr unspektakulären Grund, dass man mehr Zeit mit positiven Gedanken verbringt und sie dann auch besser erinnert. Zudem bleibt weniger Zeit für das, was wir alle so gut können: sich abends daran zu erinnern, was heute alles schieflief. Aber nicht jede Übung der positiven Psychologie ist für jeden zu jedem Zeitpunkt geeignet. Jeden Abend die gleiche Dankesübung wird zumindest mir auf die Dauer einfach zu langweilig. Als asiatisch-stämmige Studierende eine andere wissenschaftlich belegte Übung durchführen sollten – einen Dankbarkeitsbrief an die Eltern schreiben und diesen feierlich überreichen –, waren deren Eltern nicht etwa entzückt, sondern empört. Die Tatsache, dass ihr Kind so etwas für nötig hielt, bedeutete für sie, dass es in Wirklichkeit ein undankbares Balg ist, dass seine Eltern nicht achtet und ehrt, wie es sich gehört.

In den vergangenen Jahren habe ich mich neben der psychiatrischen Forschung mit dem Studium von Resilienz, Stärken, Genussfähigkeit, positiven Einstellungen und Lebenssinn beschäftigt. Praktisch begann ich damit, Konzepte aus diesen Bereichen in die Behandlung meiner Patienten einzubauen, wenn das Schlimmste überstanden war. Und stellte zu meiner Freude fest, dass selbst Patienten mit schweren Störungen davon profitieren, wenn ich das behutsam tue. Ich entdeckte neue, mir unbekannte Seiten meiner Patienten. Ich startete eine Gruppe zur positiven Psychiatrie, in der wir gemeinsam mit Patienten an ihren Stärken arbeiteten, was nicht nur den Patienten guttat.

Doch Vorsicht. Schlichtes positives Denken predigen, funktioniert nicht. Genauso wie ein Coach erkennen muss, wann sein Klient eine Therapie benötigt, müssen wir Therapeuten erkennen, wann es für Patienten hilfreich ist, sich neben der Therapie mit Wohlbefinden, Glück und Sinn zu befassen und wann (noch) nicht.

VORWORT

Als der Becker Joest Volk Verlag an mich herantrat und fragte, ob ich zu diesem Thema nicht einen Ratgeber scheiben wolle, war die Antwort: Auf keinen Fall! Einerseits. Andererseits wollte ich schon lange mal wieder ein Buch schreiben. Ich dachte allerdings eher an ein Sachbuch. Nachdem sich dann ein Verlag fand, in dem allerdings vorwiegend, nun ja, Ratgeber veröffentlicht werden, fanden wir einen Kompromiss. Ich würde einen Wegweiser zur Resilienz schreiben. Er würde kein Ratgeber mit einer Vielzahl von Übungen sein, die man sowieso nicht schafft. Er würde auch keine Glücksrezepte enthalten à la „drei Dinge, die Sie tun müssen, um garantiert glücklich zu werden“. Er würde vielmehr aus einer Einführung in die Themen „Resilienz“, „Glück“ und „positive Psychologie“ bestehen. Er würde aber auch – aus meiner Sicht unvermeidlich – einen Einblick in die Vielfalt des psychischen Leids enthalten. Ja, er würde sogar damit beginnen. Denn so wie wir die Funktion oft erst durch die Dysfunktion verstehen, so erschließt sich Glück oft erst aus seiner Kehrseite. Zudem würde er skizzieren, was der menschliche Geist nach heutiger Ansicht ist. Das ist nicht nur meiner Leidenschaft für die Philosophie des Geistes zuzuschreiben. Ich bin auch überzeugt, dass man nur vor diesem Hintergrund richtig verstehen kann, wie man psychisch robust werden und bleiben kann. Psychische Störungen sind häufiger und normaler, als wir glauben – und Glück und Wohlbefinden sind auch für psychisch Kranke möglich. Aus Therapien kann man etwas für den Alltag lernen und aus Lebensproblemen etwas für die Behandlung psychischer Störungen. Wir können gar nicht anders, als den Blick immer auf beides zu richten: psychische Erkrankungen und psychische Gesundheit.

Das Resultat dieser Bemühungen halten Sie nun in Ihren Händen. Geschrieben ist es für jene, die auf der Suche sind, dafür Informationen brauchen und verstehen wollen, was der menschliche Geist ist. Ein Spaziergang zwischen Coach und Couch. Viel Spaß dabei.

AUSZUG AUS DEM BUCH

Was wir wollen, wenn wir

Resilienz

wollen

Großmutter und die Resilienz

Meine Großmutter Melita wurde 1906 in St. Petersburg als Tochter eines deutschen Privatbankiers geboren. Sie lebte in einer geräumigen Wohnung im vierten Stock eines großen Hauses an der Newa, direkt gegenüber dem Winterpalais des Zaren. Sie hatte eine glückliche Kindheit. In ihren Erinnerungen schildert sie, wie ihre Geschwister und sie den Zaren mit vier Prinzessinnen und dem Thronfolger Alexej ausfuhren sahen und fasziniert von der königlichen Familie waren. Wie die Kinder im Winter, dick eingehüllt in Pelze und Filzstiefel, mit dem Kutscher Kusma zu einer Schlittenfahrt aufbrachen und den Newski-Prospekt, den Prachtboulevard St. Petersburgs, entlangfuhren. Wie sie im Sommer für drei Monate auf eine Datscha ins gegenüberliegende Finnland umsiedelten, um der feuchtheißen Atmosphäre der auf einem Sumpf errichteten Metropole zu entkommen. Und wie sie während des russischen Osterfestes, wenn alle Kirchen und Kathedralen um Mitternacht ihre Glocken läuteten, in Ehrfurcht erschauernd das Lichtermeer der Kerzen bestaunte, mit denen die Menschen in Massen gen Nachtgottesdienst zogen.

„1914 starb mein Vater“, schrieb sie später lakonisch in ihren Erinnerungen, ohne weitere Erläuterungen. Wie ich später erfuhr: indem er sich eine Kugel durch den Kopf jagte. Es hatte Unregelmäßigkeiten mit den Finanzen der Bank gegeben. Sie waren wohl nicht durch meinen Großvater selbst verursacht, hatten aber den Bankrott der Bank zur Folge. Für die damit einhergehende Schande war ein „Ehrentod“ für meinen Urgroßvater offenbar die einzige tragbare Lösung.

Meine Großmutter zog mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter nach Odessa, wo sie Verwandte hatten. Doch dann kam der Erste Weltkrieg und schon im Juli 1914 ging es erneut gen Norden, diesmal nach Dorpat, Estland, wo meine Urgroßmutter herstammte. Es muss eine krasse Umstellung gewesen sein. Es gab kein Geld, der Krieg tobte, meine Urgroßmutter musste in einer Schule putzen, in der sie auch schlief, indem nachts das Bett in den Schulräumen aufgestellt wurde. Das Leben war hart und es wurde hart gearbeitet. 1928, im Alter von 22 Jahren, heiratete Melita meinen Großvater Herbert, einen Bankangestellten, und brachte 1932 ihr erstes Kind zur Welt, meinen Vater Sven. Es sollten noch viele Schwangerschaften folgen, die, neben einer Reihe von Aborten und Totgeburten, zu insgesamt fünf Kindern führten. Man baute sich ein neues Leben auf und lebte erneut in einem großen Haus. Dieses endete dann 1939 erneut abrupt, als infolge des Hitler-Stalin-Paktes alle Deutschen Estland innerhalb von 14 Tagen verlassen mussten. Mein Vater durfte auf der Flucht mit einem Dampfer nur einen Koffer mitnehmen. Die Familie wurde ins Deutsche Reich umgesiedelt, und zwar in das gerade eroberte Polen, in die Nähe von Posen. Dabei konnten sie erneut in einem großen Haus wohnen – vermutlich, nachdem die polnischen Besitzer dort vertrieben worden waren. Mein Großvater wurde 1941 eingezogen und kämpfte in Russland. 1944 wurde er vermisst gemeldet. Seine jüngste Tochter, meine Tante, sollte er nicht mehr zu Gesicht bekommen. Im Januar 1945 floh die Familie erneut gen Westen, diesmal meine Großmutter allein mit fünf Kindern von der Neugeborenen bis zum Zwölfjährigen. Die erste Fluchtmöglichkeit wurde verpasst, glücklicherweise, da der angepeilte Pferdetreck von Widerstandskämpfern überfallen und alle Deutschen ermordet wurden. Sie kam mit den Kindern nach Norddeutschland in die Nähe von Celle, wo die sechsköpfige Familie zunächst in einem Försterhaus im Wald untergebracht wurde, unwillkommen und geduldet, wie die meisten Flüchtlinge aus dem Osten. Meinen Großvater sah meine Großmutter nie wieder. Einmal wurde fälschlicherweise seine Entdeckung gemeldet, doch der Mann, der dann in Norddeutschland auftauchte, war

AUSZUG AUS DEM BUCH

ein anderer. Sie sollte niemals mehr heiraten. Ab jetzt kümmerte sie sich um ihre Kinder, von denen vier studierten, alle Familien gründeten und ihr insgesamt 14 Enkel bescherten.

Meine Großmutter war die Clan-Chefin. Immer gut gepflegt, eine Grand Dame mit sorgfältig toupiertem Haar. Stets zur Stelle, wenn es darum ging, die Kinder zu hüten. Wir Enkel hatten alle ein gutes Verhältnis zu ihr. Mit ihr machte sogar das Lateinlernen Spaß, sie kochte für uns, versorgte uns mit köstlichen Süßspeisen und verstand unsere persönlichen Probleme oft besser als unsere Eltern. Sie war eine vertrauenswürdige Person – für alle. Am Ende ihres Lebens hatte sie das Glück, dass ihre jüngste Tochter sie zu Hause pflegte, nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Trotz aller großen und kleineren Familientragödien, die meine Großmutter miterleben musste, war sie immer optimistisch, zeigte Humor, genoss die kleinen Dinge des Lebens wie ihren Tee mit viel Zucker und Sahne und jeden Sonnenstrahl, dessen sie habhaft werden konnte.

Die Geschichte meiner Großmutter mag heute angesichts der vielen Flüchtlingsgeschichten und der schrecklichen Erlebnisse, die andere Menschen durchmachen müssen, nicht sonderlich erschütternd sein. Doch was ich zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass meine Großmutter trotz aller schlimmen Erlebnisse, von denen ich einige vermutlich gar nicht kenne – wie viele Kriegsüberlebende sprach sie darüber praktisch nie –, ein erfülltes, ja, glückliches Leben hatte. Trotz aller Widrigkeiten – das Wort klingt verharmlosend, aber meint schwierige Bedingungen, Belastungen, Erlebnisse, Krieg, Krisen und Katastrophen – war sie ein positiv gestimmter Mensch. Sie war nicht psychisch krank, klagte nie über körperliche Beschwerden, war immer für andere da, half, wo es ging, und konnte ihr Leben, dass sie entweder als Gast, oft nur auf einer Couch, bei einem ihrer Kinder und sonst in einer kleinen Einzimmerwohnung in Celle verbrachte, genießen. Sie war resilient.

Geschichten über Menschen, die trotz schwierigster Lebensbedingungen ihr Leben meistern, hören wir gern. Sie geben Trost und Zuversicht, vor allem in düsteren Zeiten. Und unsere Zeiten sind

KAPITEL 1

wahrhaftig nicht arm an Düsterkeit. Verglichen mit der Menschheitsgeschichte geht es uns heute zwar besser als je zuvor, was die Bedrohung durch Gewalt angeht, wie der amerikanische Psychologe Steven Pinker mit vielen Zahlen überzeugend belegt hat. Doch auch wenn die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg in der westlichen Welt eine relativ friedliche und prosperierende Zeit war, hat das 21. Jahrhundert weniger gut begonnen: weltweite Terroranschläge, Naturkatastrophen, Konflikte und Kriege auch in Europa, Bankenkrise und Inflation, Flucht und Migration, Corona-Pandemie, Umweltverschmutzung und Klimawandel. Armut, Hunger und Einsamkeit, Vernachlässigung und Entwurzelung sind erneut Treiber von Krankheit und Not und zunehmend auch von mehr Gewalt.

Zu diesen globalen Krisen mit einer weltweit spürbaren Verunsicherung kommen die unvermeidlichen persönlichen Schicksalsschläge hinzu: Trennungen, berufliche Misserfolge, finanzielle Probleme, hohe Mieten, Krankheiten. Wie gern wären wir psychisch robust und gefeit gegen die Unbill des Lebens. Wir sehr wünschen wir uns psychische Stärke und Widerstandskraft, die Fähigkeit, uns nicht so leicht erschüttern zu lassen, nicht zusammenzubrechen, nicht zu verzweifeln und in Ängsten und Depression zu versinken und handlungsunfähig zu werden. Noch mehr wünschen wir uns das für unsere Nächsten, unsere Eltern, Partner, Freunde und ganz besonders für unsere Kinder. „Hauptsache, sie sind glücklich“, pflegen wir zu sagen. Doch ist das mehr als ein frommer Wunsch? Was macht uns zu resilienten Menschen? Zu gern würden wir das das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft lüften, die uns stark gegen Stress, Depressionen und Burnout macht. Würden fest auf den sieben Säulen der Resilienz ruhen. Vulnerabel, aber unbesiegbar sein. Zu gern hätten wir dafür ein Rezept, eine Anleitung, einen geraden Weg, um die Wunderkraft der Resilienz zu erwerben.

Doch eine solche Wunderkraft gibt es nicht. Aber wir brauchen sie auch nicht. Denn Resilienz ist „ordinary magic“, ein ganz gewöhnliches Wunder, wie es die bekannte Resilienzforscherin Ann Masten ausdrückt. Resilienz entspringt gewöhnlichen Ressourcen und

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Prozessen. Das ist einmal eine gute Nachricht aus der Wissenschaft. Geschichten liefern zwar Ideen und Inspirationen, erzeugen Mut und Zuversicht, spornen an and motivieren uns. Verlässliches Wissen über die Ursachen und Mechanismen der Resilienz erzeugen sie jedoch nicht. Es ist ein bisschen so wie mit Interviews von Hundertjährigen, die wir nach ihrem persönlichen Rezept für ihre Langlebigkeit fragen. Jeden Tag einen Spaziergang machen? 50 Kniebeugen am offenen Fenster? Gutes Olivenöl und ein Glas Wein am Tag? Oder bis zum Ende qualmen wie Exbundeskanzler Helmut Schmidt? Könnte ich heute meine Großmutter befragen, wie sie die Brüche in ihrem Leben bewältigt hat, würde ich Antworten erhalten, die ihre Resilienz erklären? Und selbst wenn: Könnte sie mir ein guter Ratgeber sein, einem Menschen aus einer anderen Generation, einer anderen Epoche, mit einer anderen Lebensgeschichte? Vielleicht. Doch wenn wir verlässliche und verallgemeinerbare Antworten suchen, finden wir sie am ehesten in der Wissenschaft. Im Folgenden wollen wir einen ersten Blick darauf werfen, was Resilienz in der Wissenschaft ist.

Vom Gummiball zur psychologischen Resilienz

Das Wort „Resilienz“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich „zurückspringen“, „abprallen“ oder „nicht anhaften“. In der Materialkunde bezeichnet der Begriff Stoffe, die durch Einwirkung äußerer Kräfte verformt werden und dann wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren. Ein Beispiel wäre ein Gummiball, den man zusammenpresst und der, wenn man ihn loslässt, wieder seine ursprüngliche Form annimmt.

Ein anderes Bild aus dem Bereich der Biologie ist das von einem Baum im Sturm. Es erlaubt uns, drei verschiedene Arten der Resilienz zu unterscheiden, die praktischerweise alle mit einem R beginnen. Wenn sich ein Baum einem Sturm beugt und sich biegt, nach dem Sturm aber seine ursprüngliche Form direkt wieder einnimmt, ist er resistent gegen den Sturm. Nimmt der Baum seine ursprüngliche

KAPITEL 1

Form erst nach einer gewissen Erholungszeit ein, sprechen wir von Regeneration. Wachsen abgebrochene Äste nach oder richtet sich der Baum bei wiederholten Stürmen anders aus – sie kennen das von Baumalleen auf dem flachen Land –, sprechen wir von Rekonfiguration. So wird der Baum durch den Sturm sogar resilienter, denn er bietet damit weniger Angriffsfläche und somit weniger Möglichkeiten, verformt zu werden. Brechen tut ein Baum nur dann, wenn er morsch oder der Sturm zu stark ist. Kommt beides zusammen, dann geht das sehr rasch. Resistenz, Regeneration und Rekonfiguration: Alles das sind verschiedene Arten der Resilienz in einem biologischen System.

Doch ein Baum kommt selten allein. Der kanadische Ökologe Crawford Holling führte den Begriff der Resilienz in die Ökologie ein, indem er ihn als „Widerstandskraft eines komplexen Systems gegen Umwelteinflüsse“ definierte. Ihn interessierten Ökosysteme, zum Beispiel Wälder, die über lange Zeiten selbst widrigsten Umweltbedingungen trotzen, etwa Waldbränden oder Insekteninvasionen. Wir wissen inzwischen, wie wenig resilient Monokulturen sind, ob es sich dabei um unsere Nadelholzwälder, Maisfelder oder Kokosplantagen handelt. Das 2007 gegründete Stockholmer Institut für Resilienz untersucht die Resilienz verschiedener sozioökologischer Systeme: Landschaften, Wälder, Ozeane, Städte oder Gesellschaften. Bei diesen komplexen Systemen wird Resilienz als die Kapazität oder Fähigkeit eines Systems verstanden, sich an den stetigen Wandel von Bedingungen und Störungen anzupassen, sich dabei weiterzuentwickeln und ein neues Gleichgewicht zu erreichen. Die amerikanische Wirtschaft etwa gilt als extrem resilient. Egal, wie schwierig die Situation, scheinen die Amerikaner mit großer Innovationskraft und Anpassung ihrer Wirtschaft immer Schwung geben zu können, sie dabei umzugestalten und zu einer neuen Balance zu bringen. Auch die russische Wirtschaft hat sich trotz der massiven Sanktionen seit dem Krieg gegen die Ukraine als überraschend resilient gezeigt, auch wenn sie ihre Struktur drastisch ändern musste, mit der Umstellung auf China als wichtigem Handelspartner und auf eine Kriegswirtschaft. Das

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Leseprobe | Resilienz by boesner - Issuu