DAS RICHTIGE MINDSET ZUR GRÜNDUNG WOHLFÜHLEN IM UNWOHL FÜHLEN
WAS INVESTOREN START-UPS RATEN DON’T BE A DEALBREAKER
Das Life Science Start-up-Magazin No. 3/2025
Liebe Leserinnen und liebe Leser, liebe Start-up-Enthusiasten,
„Ich bin bereit für diesen Schritt. Wie soll der Weg aussehen?“ In den Lebenswissenschaften bedeutet die Gründung eines eigenen Unternehmens nicht nur den Übergang von der reinen Forschung in einem vertrauten wissenschaftlichen Umfeld zu einer neuen Arbeitsumgebung: Es ist vor allem der Sprung in echte Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.
Dieser Schritt erfordert eine bewusste Entscheidung. Gründerinnen und Gründer tragen die volle Verantwortung, müssen sich kontinuierlich engagieren, haben aber auch die Möglichkeit, ihre Visionen und Ideen in die Realität umzusetzen. Daher ist es entscheidend, sich regelmäßig die Frage zu stellen, wie der Weg aussehen soll, den man gehen möchte.
Diese Überlegungen, zusammen mit der Frage „und was dann?“, bilden das Leitmotiv dieses Catalyser-Magazins. Unsere dritte Ausgabe soll Forschenden, die darüber nachdenken, mit ihren Ideen den Schritt ins Unternehmertum zu wagen, Unterstützung bieten und allen Interessierten Inspiration und echten Mehrwert liefern.
Das Magazin bietet konkrete Antworten auf die Fragen, welche Faktoren für TopInvestoren entscheidend sind, wenn es darum geht, junge Unternehmen mit frischem Kapital zu unterstützen, und welche Meilensteine für Gründungsteams von der Idee bis zur ersten Finanzierungsrunde wichtig sind.
Da die Unternehmenskultur bekanntermaßen die beste Strategie zum Frühstück verspeist, beschäftigen wir uns auch mit der Frage, wie ein erfolgreiches Team aufgebaut sein sollte und welche Firmenkultur die besten Erfolgs- und Wachstumschancen bietet.
Darüber hinaus widmen wir uns dem Einsatz von KI in Life Science-Start-ups und der noch immer existierenden Gender Gap in der Forschungs- und Wissenschaftswelt, deren Überwindung nicht nur die Chancengleichheit fördern, sondern auch das volle Potenzial für Innovationen und Fortschritt freisetzen kann.
Natürlich haben wir uns vor dem Produktionsbeginn dieser dritten Ausgabe auch die eingangs erwähnte Frage gestellt. Die Antwort war eindeutig: Ja, wir sind bereit, und das Heft sollte genauso aussehen, wie Sie es jetzt in den Händen halten. Viel Vergnügen beim Lesen und einen hohen Erkenntnisgewinn wünschen
Irina Reimer und Svenja Hodel
INHALTSVERZEICHNIS
3 EDITORIAL
4 IM TREND: ALLES GEHT
Was die Life-Science-Szene gerade bewegt
6 WOHLFÜHLEN IM UNWOHL FÜHLEN
Das richtige Mindset zur Gründung
8 SECHS SCHRITTE ZUM START-UP
Auf diese Wegmarken kommt es an
10 FORSCHEND GEGEN
DIE GENDER GAP
Die Zukunft der Gesundheitsversorgung
1 3 DON’T BE A DEALBREAKER
Was Investoren Start-ups raten
1 5 WANN HILFT KI WIRKLICH WEITER?
Wie KI-Tools Forschungsteams unterstützen können
1 7 KULTUR WIRD ZUM KOMPASS
Warum Werte, Vision und Teamgeist entscheidend sind
Adresse: Life Science Factory Management GmbH, Annastr. 27, 37075 Göttingen; E-Mail: info@lifescience-factory.de; Website: catalyser.de; Herausgeber: Svenja Hodel, Irina Reimer; Redaktion: Frau Wenk GmbH, BIOCOM Interrelations GmbH; Idee und Konzept: Life Science Factory Management GmbH, Frau Wenk GmbH; Gestaltung: Michaela Reblin; Druck: Königsdruck, Berlin; Titelbild: Siemens, modifiziert durch KI
IM TREND: ALLES GEHT
ADLERBLICK. Einmal durch die Welt der Möglichkeiten fliegen und anreißen, was die Szene gerade bewegt? Neben Klassikern wie Antikörpern gibt es eine Fülle neuer Stars auf der Bühne –statt Krebstherapien stehen Mittel gegen Übergewicht im Fokus.
Die globale Pharma- und Life-SciencesIndustrie ist derzeit von mehreren wichtigen Trends geprägt, und manche davon hätte man vor wenigen Jahren noch nicht unbedingt erwartet. Denn an allererster Stelle stehen im Augenblick Medikamente gegen Fettleibigkeit (Obesitas). Medikamente wie Ozempic von Novo Nordisk und Zepbound von Eli Lilly sind Verkaufsschlager geworden und haben die Rangfolge der wertvollsten globalen Pharmaunternehmen durcheinandergewirbelt. Deswegen nimmt der Wettbewerb um weitere wirksame Therapien gegen Fettleibigkeit stetig zu und nahezu jede größere Pharmafirma ist ebenfalls auf diesen Zug aufgesprungen. Dabei gab es teure Zukäufe oder mit hohen Vorabzahlungen versehene Kooperationsvereinbarungen zu bestaunen. Ein Grund für diesen Wettlauf und eine Art Lemmingverhalten in der Pharmawelt ist auch, dass diese GLP-1-basierten Therapien nicht nur zur Gewichtsreduktion, sondern auch für andere Indikationen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Sucht und Alzheimer erforscht werden. Ein großes Interesse der Pharmaindustrie besteht daran, zu einer oral verfügbaren Arzneimittelabgabe zu kommen und die derzeit notwendigen Spritzen baldmöglichst durch eine einfachere Handhabung ersetzen zu können. Dann, so das Kalkül, könnte sich der Markt der Anwendungen sogar noch deutlich vergrößern.
Antikörper: kein altes Eisen Fast schon klassisch muten dabei andere Trends bei den innovativen Wirkstoffen und Hauptindikationen an: Im Fokus stehen dort noch immer sehr stark Immuntherapien
und die Onkologie. Die Entwicklung von immunonkologischen (IO) Arzneimitteln bleibt ein zentraler Schwerpunkt. Personalisierte und präzisionsmedizinische Ansätze gewinnen an Bedeutung, um individuell zugeschnittene Behandlungen zu ermöglichen. Je größer die Firma und damit deren finanzielle Ausstattung, desto breiter ist die technologische Herangehensweise in diesem Bereich angelegt.
Vielfalt der Formate
Neben dem klassischen Antikörperformat haben sich diverse Ergänzungen zu diesem Molekül bereits in der Klinik bewährt und lösen eine Welle weiterer Nachahmerentwicklungen aus. Man könnte auch von einer „nächsten Generation“ sprechen. Das gilt für die Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADCs), die den Antikörper mit zusätzlich zytotoxisch wirksamen Stoffen versehen, um eine größere tödliche Attacke auf eine Krebszelle fahren zu können. Sowohl bei der Technologie der Verknüpfung solcher
Zellgifte mit dem Antikörper-Eiweißmolekül wie auch bei den verwendeten Zellgiften selbst gibt es bereits eine große Vielfalt, die derzeit meist in jüngeren Start-ups entwickelt und ausprobiert wird, aber auch schon zur Übernahme durch Big Pharma geführt hat.
Eine besondere Untergruppe des Anhängsels an einen Antikörper sind Radioliganden, strahlende Isotope, die den Antikörper je nach Strahlungsart entweder zur Bildgebung in der Diagnostik nutzbar machen oder aber auch wie ein hochspezifisches Laserschwert direkt auf die Krebszelle niedersausen lassen.
Auch der Antikörper selbst wird munter verändert und dabei entweder zu einem polyvalenten Molekül aufgerüstet, das mehrere und verschiedene Bindungsstellen erkennen kann. Oder er wird auch zu einem kleineren Fragment verkürzt, bei dem nur mehr die Erkennungsstelle als Überbleibsel den Linker zu einem anderen molekularen oder auch zellulären Bekämpfungsmechanismus
Menschen und Maschinen in den Laborwelten der Life Science Factory
der Tumore bildet. Dazu gibt es eine Fülle weiterer modifizierter Proteine und Eiweißkombinationen, die über eine spezifiische Zielerkennung eine bestimmte Funktion an der kranken Zelle ausüben sollen, um sie aus dem Organismus zu entfernen.
Zelltherapie und Gen-Editierung
Dies leitet über zum anderen großen Schwerpunktthema: den Zell- und Gentherapien. Sie gelten als besonders zukunftsträchtig und stehen im Mittelpunkt vieler Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.
Am mittlerweile bekanntesten ist die CAR-TZelltherapie, die mit einer abgewandelten TZelle beeindruckende Erfolge in der Therapie vieler Blutkrebsformen gezeigt hat. Neben modifizierten T-Zellen spielen therapeutische Ansätze mit speziell ausgewählten T-Zell-Rezeptoren eine zunehmende Rolle in diesem Bereich, aber auch das Heranlocken weiterer Zellen des angeborenen oder adaptiven Immunsystems an den Tumorort durch die Verwendung von Linkern mit einer TumorAntigenerkennung und einer Verbindung zu derartigen Immunzellen wie Natürliche Killerzellen.
Der große Bereich der gentherapeutischen Modifikation hat durch die CRISPRCas-Technologie neuen Schwung erhalten, die genomische Editierung einzelner DNABasen oder -Genabschnitte ist aber noch in einer frühen Phase der klinischen Erprobung. Viele Abwandlungen der CRISPRTechnologie sind entstanden, die schon eine Verbesserung des ursprünglichen Prinzips postulieren, aber auch erst noch beweisen müssen.
mRNA: nicht nur Impfstoff – Wirkstoff! Irgendwo zwischen Zelltherapie und genomverändernden Modifikationen steht die mRNA-Technologie, die den Zellen versucht, ein neues, transient abzulesendes Programm unterzujubeln. Auf der einen Seite wird damit angestrebt, die Krebszelle mit ihren spezifischen Antigenen – den sogenannten Neoantigenen – für das körpereigene Immunsystem wieder sichtbar zu machen. Oder aber die mRNA transportiert ihrerseits eine tödliche Botschaft für die „infizierte“ Krebszelle wie ein trojanisches Pferd über die Zellmembran ins Innere des Tumors, damit sich dieser selbst eliminiert.
MyriaMeat nutzt eine eigene patentierte Technologie auf Basis von Stammzellen zur Herstellung von echtem Fleisch aus tierischen Zellen.
Immer an der Seite dieser neuesten Entwicklungen und Entdeckungen sind die künstliche Intelligenz (KI) und das maschinelle Lernen (ML): Die Technologien revolutionieren die Arzneimittelforschung, indem sie große Datenmengen analysieren, potentielle Wirkstoffkandidaten identifizieren, aber auch klinische Studien optimieren und an vielen weiteren Stellen der PharmaEntwicklungs- und -wertschöpfungskette zum Einsatz kommen. Die große Welle der KI-Entwicklungen lässt keinen Bereich der traditionellen Wirkstoffforschung und -entwicklung unberührt. Vieles davon ist noch im Bereich einer reinen Beschleunigung und verbesserten Auswahl der Kandidaten, die man dann in den Experimenten des realen Labors weiter überprüfen und austesten muss. Doch spannende Weiterentwicklungen versuchen, der KI die gesamte Sprache und Grammatik von Proteinen und Molekülen beizubringen, so dass auch das vollständige Neudesign eines Wirkstoffes mit einer Vielzahl von gewünschten Eigenschaften nur am Computer in Zukunft möglich erscheint.
Organoide statt Tierversuche Wenn es um das Testen der Arzneimittelkandidaten geht, steht immer seltener ein Tierversuch auf dem Programm. Die FDA will diese sogar möglichst bald aus ihren Zulassungsbedingungen verbannen. Selbst die neuesten Veränderungen der FDA-Verwaltung haben dieses Vorhaben eher noch verstärkt statt wieder zurückgedreht. Daher entwickeln sich die früher in einer Nische des Sektors für eine „nette Spielerei“ angesehenen Organ-on-Chips-Modellsysteme von
einzelnen menschlichen Organen oder einer Kombination davon zu einer händeringend nachgefragten Technologie.
Nun wird sogar an einem Chip gearbeitet, der alle wesentlichen Organe des Menschen und ihr Zusammenspiel auf einmal simulieren kann – ein Mensch-on-Chip sozusagen.
Produktion sucht neue Ideen Auf der Produktionsseite der vielen Biologika und neuer Therapieformate tut sich ebenfalls einiges. Die Geräte werden flexibler einsetzbar, die Prozesse automatisierbarer und leichter zu kontrollieren. Der Herstellungsprozess muss agiler und anpassungsfähiger auf die Nachfrage oder auch Anforderungen an möglichst effiziente, nachhaltige und hohe Ausbeuten reagieren können. Da die Situation für die Materialienbeschaffung und Lieferwege immer unsicherer und unübersichtlicher wird, erfährt auch die Rückbesinnung auf regionale Zulieferer und lokale Produkte etwa auf biobasierter Basis eine Renaissance und schafft neue Nachfrage. Das kleine, nachhaltige Fermentationslabor für die Fleischalternative, die auf dem Grill so schmeckt wie das Original – plötzlich werden auch solche Träume aus dem früheren Biologiestudentenleben Realität, weil die molekularen Bestandteile analysiert wurden und man sich das Essen nicht nur vom Acker, sondern auch nachhaltig, regional und biobasiert aus dem Fermenter im Keller holen kann. Möglich ist nicht mehr nur vieles, sondern wirklich alles, was man in der Biologie finden oder sich mit einer Neukomposition der natürlichen Materialien nur vorstellen kann. Georg Kääb
Nikolay Dobrev (rechts) während seiner Labortätigkeit bei dem Start-up Epsilico
WOHLFÜHLEN IM UNWOHL FÜHLEN
HERO STORY. Wie fühlt es sich an, wenn man die Forschung oder einen sicheren Arbeitsplatz in der Wirtschaft verlässt, um sein eigenes Start-up zu gründen? Nikolay Dobrev weiß das. Ein Gespräch über das richtige Mindset und die persönliche Geschichte eines der spannendsten jungen Start-up-Gründer in der deutschen Life-Science-Branche.
CATALYSER Sie sind Olympia-Teilnehmer. Wie kommt ein Forscher und Unternehmer zu den Olympischen Spielen?
Nikolay Dobrev. In dem er an der BiologieOlympiade teilnimmt.
CATALYSER. Spaß beiseite. Sie haben als Schüler tatsächlich teilgenommen. Wie kam es dazu und wie hat es Sie geprägt?
Dobrev. Meine Liebe zur Wissenschaft entstand schon in der Schule. Damals behandelten wir zum ersten Mal Genetik im Unterricht. Ich weiß noch genau, dass ich damals überrascht war, wie viel dieser Bereich mit Mathematik zu tun hat. Ich mag es einfach, wenn Sachen logisch herleitbar sind. Ich vertiefte mich so sehr in die Genetik, dass ich die Möglichkeit erhielt, an der 'Biologie-Olympiade' in meinem Heimatland Bulgarien teilzunehmen. Hier war es nun vollends um mich geschehen, denn hier war weniger stumpfes Lernen, sondern kreatives Denken gefragt.
CATALYSER Und, wie ist das olympische Abenteuer ausgegangen?
Dobrev Auch wenn ich nicht besonders weit kam, war mir klar, ich will wieder antreten. Genau das tat ich im Jahr 2006 und diesmal wurde ich Dritter der Gesamtwertung und qualifizierte mich damit für das internationale Event in Argentinien. Rückblickend war das vielleicht einer der wichtigsten Momente meines Lebens. Durch ein paar vermeidbare Formalfehler verpasste ich die wirklich hohen Platzierungen, die hier neben einer Medaille auch Plätze in den Top-Eliteuniversitäten der Welt wie Harvard bedeutet hätten. Auch das war ein wichtigster Moment in meinem Leben: Die Tatsache, dass ich diesen frühen Erfolg nicht bekam, brachte mich dazu, härter zu arbeiten denn je.
CATALYSER. Was folgte, waren lange Jahre als Forscher, bevor Sie Unternehmer wurden.
Dobrev Ich beschritt den harten Weg durch die gesamte akademische Laufbahn, der mich dorthin brachte, wo ich jetzt bin. So startete ich zum Beispiel eine Dissertation in Molekularmedizin, merkte aber nach einiger Zeit, dass das nicht ist, was ich machen möchte. Das war nicht einfach, denn eine Promotion bricht man nicht einfach ab. Ich fand dann einige Zeit später eine Doktorandenstelle in der strukturellen Biologie, ein Thema, von dem ich damals so gut wie keine Ahnung hatte. Dies erwies sich für mich aber als einer der größten Vorteile: Niemand hatte Erwartungen an mich. Ich konnte wirklich frei arbeiten, alles fragen und jegliches Wissen aufsaugen, an das ich kommen konnte. Ich merkte dann, dass mich vor allem die Themen Biochemie rund um Proteine und die damit verbundenen biophysikalischen Aspekte interessierten.
CATALYSER. Beendeten Sie diesmal ihre Doktorarbeit?
Dobrev Ja. Dafür ging ich nach Heidelberg. Dort beendete ich meine Dissertation und arbeitete danach beim EMBL in einem sehr kollaborativen Umfeld. Eine Sache, die mir hier klar wurde: Der Wert von Wissen wird von dem Kontext definiert, in dem es angewendet wird. Mir wurde also erst bewusst, wie wichtig meine Doktorarbeit war, als ich anfing, mit Forschenden aus anderen Themenfeldern zu kollaborieren.
CATALYSER. Wie kam es dann zum Entschluss, Unternehmer zu werden?
Dobrev. Wenn man lange im akademischen Umfeld arbeitet, weiß man, dass sich alles um das Veröffentlichen wissenschaftlicher Arbeiten dreht. Sind diese erfolgreich und spannend, erhält man Fördergelder, die wiederum für die nächsten Forschungsprojekte eingesetzt werden können. Dies hat allerdings den Nachteil, dass sich eine gewisse 'PlaySafe-Mentalität' bewährt hat, in der unorthodoxe Forschungsfelder oder Methoden seltener bedient werden. Ich denke aber, dass gerade Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die neugierigsten Menschen von allen sind und ohne Limitierungen sein sollten. Ich hatte schon damals den Wunsch zu gründen und arbeitete bereits mit Startups, lernte also neben den wissenschaftlichen Aspekten schon einiges über den Aufbau eines Unternehmens. Ich arbeitete dann einige Zeit bei Epsilico. Wenn die Zeit in meiner Doktorandenstelle die wichtigste für meinen akademischen Werdegang war, dann war diese Zeit die wichtigste für meinen unternehmerischen. Mir gefiel vor allem die deutlich bessere Balance zwischen der aufgebrachten Arbeit und dem Ergebnis. In der Wissenschaft forscht man manchmal jahrelang, nur damit jemand anderes eine Woche vor dir seine Arbeit zum gleichen Thema veröffentlicht. In der Wirtschaft muss man dagegen nicht der Erste, sondern der Beste sein. Was die beiden vereint: Gute Ergebnisse brauchen Zeit, es gibt keine Abkürzung.
CATALYSER Sie sind in dem Unternehmen aber nicht geblieben?
Dobrev. Nein, im vergangenen Jahr musste das Unternehmen leider schließen. Doch ich hatte so viel gelernt über Organisa-
tionsstrukturen, Personalführung, interne Kommunikation und Coding – meiner Meinung nach eine der wichtigsten Fähigkeiten. Nach der Schließung des Unternehmens schaute ich also zurück und fragte mich: Welche Teile meiner Arbeit in einem Unternehmen haben mir Spaß gemacht, welche nicht? Die Antwort war schlicht: Ich mochte alles davon. Auch als ich noch angestellt war, sagte ich zu meinen Freunden: Das hier ist mein letzter Job, entweder das Unternehmen wächst oder ich gründe selbst. Dafür war jetzt also der perfekte Zeitpunkt.
CATALYSER. Sie sind ein entscheidungsfreudiger Mensch, der gerne Dinge anpackt. Das passt nicht immer mit der akademischen oder gar deutschen Mentalität zusammen.
Dobrev Menschen haben generell ein Problem, aus ihrer Komfortzone zu gehen, nicht nur die Deutschen. Dazu kommt, dass gerade in der Forschung ein negatives Ergebnis als Fehlschlag gesehen wird, zum Beispiel wenn eine These nicht bestätigt werden kann. Ich glaube, hier waren meine Anfänge in Bulgarien eine wichtige Lektion für mich, in der mich weder meine Eltern noch der Staat groß unterstützen konnten. Diese Erfahrung gab mir die Resilienz, die mir bis heute bei schwereren Herausforderungen hilft. Auch weil ich immer die Vorteile des harten Wegs gesehen habe. Wohlfühlen im unwohl Fühlen. Denn ich
glaube, dass in der Komfortzone nichts wirklich Gutes passiert.
CATALYSER . Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Ratgeber für junge Wissenschaftler, die überlegen zu gründen. Was wären Ihre wichtigsten Tipps für sie?
Dobrev. Zuerst einmal ganz einfach, aber wichtig: Ihr müsst an das glauben, was ihr macht. Zweitens: Nutzt euer Netzwerk, um Meinungen und Erfahrungen einzuholen, vor allem von Menschen, die bereits einen Schritt weiter sind. Es gibt im Leben keine größere Lernkurve als die, wenn man ein eigenes Unternehmen gründet. Fundraising, Accounting, Einkauf, HR, Unternehmensstruktur – niemand fordert von euch, dass ihr das alles allein schafft. Es ist vollkommen ok zu sagen, dass man in dem einen oder anderen Bereich nicht gut ist oder keinen Spaß daran hat. Es gibt so viele Möglichkeiten mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, alles, was es dafür braucht, ist Kommunikation. Mit Menschen zu reden, sich zu vernetzen, schafft Kontakte, nimmt Ängste und bringt Wissen. Ein Gespräch von fünf Minuten kann potenziell einen neuen Job bringen, eine Angst nehmen oder den Tipp bringen, der hilft, ein Problem zu lösen. Mein letzter Rat: Einfach machen. Ich stand in meinem Leben ungefähr viermal kurz davor, mein Unternehmen zu gründen. Im Nachhinein hätte ich es am liebsten noch früher gemacht. Den einen idealen Zeitpunkt gibt es nicht. ·
ÜBER NIKOLAY DOBREV
HINTERGRUND
Nikolay Dobrev (37) ist ein unermüdlicher Innovator an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Unternehmertum. Mit mehr als zwölf Jahren praktischer Erfahrung in den Bereichen Molekularbiologie, Proteinbiochemie und Strukturbiologie hat er seine Karriere darauf ausgerichtet, die Grenzen der Laborautomatisierung und der biophysikalischen Hochdurchsatzdatenerzeugung zu erweitern. Nikolays Arbeit basiert auf wissenschaftlicher Strenge, aber seine wahre Leidenschaft gilt der Umsetzung bahnbrechender Forschungsergebnisse in praxistaugliche Lösungen. Ob er intelligente Experimente entwirft oder die Infrastruktur für die Entdeckung von Medikamenten der nächsten Generation aufbaut – er ist auf der Mission, die Umsetzung der Wissenschaft in die Praxis zu beschleunigen. Derzeit arbeitet er an seinem Startup, das noch im Stealth-Modus agiert. Den aktuellen Stand gibt's auf Linkedin.
SECHS SCHRITTE ZUM START-UP
MEILENSTEINE. Jede Firmengründung ist eine Reise ins Ungewisse und doch sind viele Wegmarken bei allen jungen Unternehmen zunächst gleich. Über die ersten, planvollen Schritte, die ein Gründungsteam meistern muss. und zu prüfen, ob es zur Vorbereitung öffentliche Forschungsgelder oder andere Förder-Budgets gibt.
Will man diesen Text didaktisch korrekt aufbauen, dann gelten eindeutige kommunikationswissenschaftliche Regeln: Die Grausamkeiten – also die schlechten Nachrichten – zuerst, dann kommt die Hoffnung, sprich die guten News. Also, hier die harten Fakten: Fachleute gehen davon aus, dass nur eines von zehn jungen Unternehmen richtig erfolgreich wird. Laut Start-up-Monitor scheitern rund 80 Prozent aller Gründungen innerhalb der ersten drei Jahre. Die häufigsten Ursachen für das Scheitern: Fehlende Nachfrage, Probleme im Team und zu wenig Kapital. Hört sich grausam an. Warum sollte man dann also überhaupt ein Unternehmen starten? Gleich mehrere Gründe sprechen sehr dafür: 1. Im Life-Science-Sektor stellt sich die Situation anders dar, weil die Grundlage für den Start eine völlig andere ist. Am Anfang stehen eine Forschung und ein wissenschaftliches Fundament. Heißt: Unternehmen starten nicht mit heißer Luft und teilweise überdrehten Produkten, sondern auf einer fundierten Faktenbasis.
2. Investoren und Investorinnen prüfen ihr Engagement in diesem Bereich gründlicher und verlieren nicht so schnell die Geduld.
3. Auf den Plan kommt es an. Wer planvoll und strukturiert vorgeht, hat gute Chancen, mögliche Stolpersteine bereits im Vorfeld aus dem Weg zu räumen.
Wie genau ein solches planvolles Vorgehen aussieht, verrät Dr. Martin Strehle, Venture & Community-Manager bei der Life Science Factory. Er skizziert die wichtigsten Meilensteine, die ein Gründungsteam meistern muss, damit ihm nicht schon zum Start die Puste – oder
das Geld – ausgeht. Auf folgende sechs Wegmarken kommt es wirklich an:
1. Meilenstein: Die Idee Anders als in vielen anderen Start-upÖkosystemen reicht es in den Lebenswissenschaften nicht, wenn Gründerinnen und Gründer nur eine gute Idee haben – es braucht immer auch ein wissenschaftliches Fundament. Schließlich ist die Rede von Science. Gibt es einen Proof of Concept, könnte der richtige Zeitpunkt zum Gründen schon erreicht sein.
Zudem empfiehlt sich vor der Gründung immer auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob bereits der richtige Zeitpunkt zum Einsammeln von Investmentgeld (Private Equity) gekommen ist. Manchmal ist es sinnvoll, noch zu warten
2. Meilenstein: Das Team Aus diversen Studien und aus der Erfahrung ist bekannt: Der Erfolg eines Start-ups hängt entscheidend auch von der richtigen Team-Zusammensetzung ab. Dabei gibt es zwei Dinge zu beachten. Erstens kommt es darauf an, dass die richtigen Skills in der jeweils richtigen Entwicklungsphase vorhanden sind. Zum Start geht es viel um wissenschaftliches Know-how. Später kommen dann Vertriebs-, Kommunikations- und Finanzfähigkeiten dazu. Zweitens ist es wichtig, gleich auf eine passende Diversität zu achten. Männer mit einem ähnlichen Background denken und forschen im Zweifel eher ähnlich. Man sollte nicht unterschätzen, wie hilfreich und inspirierend unterschiedliche Perspektiven in einem Team sein können.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Struktur. Wer ist Gründer und wer ist operativ tätig? Gerade im Life-Science-Sektor gehören Professoren noch zu den Gründern, sind aber oft nicht mehr im Leitungsteam eines Start-ups. Für Investoren ist es wichtig, die Führungsstruktur zu verstehen und das Gefühl zu haben, dass diese voll funktionsfähig und nicht dysfunktional ist.
3. Meilenstein: Der Businessplan Ohne Businessplan keine Geldgeber. Punkt. Diese Roadmap muss klar aufzeigen, wie aus der Idee ein Produkt werden wird. Wie lange es dauert, wie hoch der Forschungs- und Entwicklungsaufwand ist,
Martin Strehle während einer Lab Tour in der Life Science Factory München
was die wichtigsten Meilensteine sind und wie viel – zumindest die ersten Stationen der Start-up-Journey – es kosten wird. Nur wenn diese Planung logisch ist, überzeugt sie auch Investoren und Investorinnen. Im Grunde ist sie der Bauplan, nach dem aus der Idee ein erfolgreiches Unternehmen wird, und welche Exit-Vorstellungen ein Start-up hat.
4. Meilenstein: Die Firmengründung Gründen ohne Geldgeber? Das ist die Realität. Eine erste große Kapital-Runde ist erst möglich, wenn ein eingetragenes Unternehmen existiert. Oftmals ist dies der Punkt, an dem erste Angel-Investoren und -Investorinnen Anteile gegen eine Anschubfinanzierung erhalten, um die GmbH erst möglich zu machen.
5. Meilenstein: Die InvestorenGespräche
Mit dem Businessplan und der Firmengründung in der Tasche ist es jetzt an der Zeit, erste Gespräche mit den Geldgebern zu führen. Ein wichtiger Tipp: Nicht erst mit potenziellen Investoren reden, wenn das Geld dringend gebraucht wird. Besser ist es, vorher schon in einem stetigen Austausch mit ihnen zu stehen. Das stärkt die Position der jungen Unternehmen und schafft zusätzliches Vertrauen. Es ist wichtig, von Anfang an belastbare Beziehungen aufzubauen. Auch deshalb empfiehlt sich der Besuch von entsprechenden Start-upEvents und Community-Veranstaltungen. So haben Investoren und Investorinnen
6 MEILENSTEINE
Die Kommunikation 1 2 3 4 5 6
Die Idee
Team
Durch den Besuch von Start-up-Events und Community-Veranstaltungen können erste Investoren-Kontakte geknüpft werden.
potenzielle junge Unternehmen bereits frühzeitig auf ihrem Radar.
Ein wichtiger Meilenstein ist es, über seine Ideen zu sprechen, zum Beispiel bei Pitch-Events.
6. Meilenstein: Die Kommunikation Gerade in jungen Märkten und Branchen gilt die Regel: Der Share-of-Voice lässt sich schnell in wachsende Marktanteile umwandeln. Das heißt aber auch: Vom Moment einer Start-up-Gründung an müssen die Beteiligten auch darüber reden. Die Köpfe einer Idee sollten Branchen-Events besuchen, auf Messen gehen und auf Kongressen sprechen. Dort trifft man Menschen, die einen weiterbringen, Zugänge zu wichtigen Netzwerken bieten und Medien, die über ein junges Start-up berichten und ihm so einen gewissen Rückenwind verschaffen. Gründerinnen und Gründer, die sich ausschließlich als forschende Person verstehen und denen es sehr schwer fällt, darüber zu reden, sollten sich von Anfang an jemanden suchen, der diesen Job im Team übernimmt.
Abschließend lässt sich festhalten: Innerhalb der ersten sechs Meilensteine entwickeln sich die meisten Start-ups fast immer gleich. Danach allerdings geht es zu wie im echten Leben: Alle müssen ihren Weg finden und sich immer neuen Herausforderungen stellen. Doch stimmt die Basis, lässt sich das, was auch immer kommen mag, besser und erfolgreicher meistern.
FORSCHEND GEGEN DIE GENDER GAP
GESUNDHEITSVERSORGUNG. Die Wissenschaft hat ein Frauenproblem. Bislang konzentrierte sich die Life Science zu sehr auf Männer. Immer mehr Forscherinnen und Start-ups schicken sich aber längst an, das zu ändern. Endlich.
It's a man’s world, zumindest in der Forschung und Innovation – noch: Die Sicherheitsgurte in Autos wurden von Männern entwickelt und sind auf den durchschnittlichen männlichen Körper ausgelegt. Medikamente werden überwiegend an Männern getestet, obwohl Frauenkörper anders reagieren. Und viele Krankheiten werden bei Frauen schlicht später erkannt, weil sich ihre Symptome von denen der Männer unterscheiden. Sogar Crash-TestDummies spiegeln noch immer vor allem männliche Körper wider. Diese Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Dabei zeigen diese Beispiele vor allem eines: Die Forschung ist nicht neutral. Sie folgt einer Norm, die Männer als Ausgangspunkt nimmt – mit gravierenden Folgen für Frauen. Die sogenannte Gender Gap, also eine systematische Verzerrung zwischen Frauen und Männern, ist in den patriarchalen Strukturen vergangener Jahrzehnte
entstanden. Genau wie beim Gehalt gibt es auch in der Wissenschaft eine Lücke zwischen den Geschlechtern. Doch das ändert sich langsam. Immer mehr Unternehmen leisten gezielte Aufklärungs- und Forschungsarbeit für die Bedürfnisse von
Das erste IUD (Intrauterin Device), das lokal gegen Periodenschmerzen wirkt.
Frauen. Dabei stoßen sie häufig auf Widerstände, die männlich geprägte Branchen so nicht erleben.
„Das Gesundheitssystem besteht zu einem Großteil aus Frauen – in den Arztpraxen, bei den Krankenkassen, in der Pflege. Aber in den Entscheidungspositionen sitzen fast ausschließlich Männer. Solange das so bleibt, werden viele Themen einfach nicht sichtbar und besprechbar gemacht“, sagt Lisa Feiler. Sie ist Referentin des Vorstandes bei der AOK und setzt sich für die Etablierung von strategischen und innovativen Partnerschaften für die Gesundheitskasse ein. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich intensiv mit der Frage, wie eine individualisierte Gesundheitsversorgung aussehen kann – und warum die Gender Gap dabei ein zentrales Hindernis darstellt.
Denn die Probleme beginnen bereits an der Basis. Wo es sonst auf dem freien Markt kaum noch unbesetzte Nischen gibt, fehlt es in der medizinischen Forschung
Simone Sabbione, Gründerin von Meliodays, will Periodenschmerzen vorbeugen.
für Frauen oft an den Grundlagen. „Periodenschmerzen wurden beispielsweise einfach nie richtig erforscht – sie betreffen nur Frauen. Und die Entscheidungsträger sind Männer“, erklärt Simone Sabbione, Gründerin von Meliodays.
In ihrer vorherigen Position bei Sonor Motors als Chief Human Resources Manager bemerkte Sabbione erst, wie viele Frauen trotz starker Periodenschmerzen Monat für Monat normal zur Arbeit gehen. „Sie haben einfach gelernt, diese Schmerzen zu ertragen, zu verstecken oder zu kompensieren.“
Aus dieser Gemengelage heraus entwickelte Sabbione die Idee für ein lokal wirksames entzündungshemmendes Medikament, das Frauen ganz konkret bei Periodenschmerzen hilft. Es trägt den Arbeitstitel MelioOne und soll spätestens 2029 auf den Markt kommen.
Als Simone Sabbione die Idee für ihr Produkt hatte, war einer ihrer ersten Gedanken: „Das wurde bestimmt schon zigmal erforscht.“ Die anschließende Patentrecherche zeigte das Gegenteil. Periodenschmerzen, ein medizinisches Alltagsproblem, das Millionen von Frauen betrifft, war noch nie im Fokus der Forschung. Sabbione: „Da hat sich meine Neugier in Wut verwandelt.“
Die Gründerin beweist damit, dass die Gender Gap nicht nur eine Gap in der Science-Welt ist, sondern auch eine Lücke darstellt, die eine große Chance für innovative Start-ups bietet.
Ein weiteres Beispiel dafür ist Sabine Richter. Derzeit forscht sie mit ihrem Un-
Lisa Feiler, Referentin des AOK-Vorstandes
Mit dem Home Test-Kit können Frauen bald ihr Periodenblut auf Nährstoffmängel und Krankheiten testen.
ternehmen MyPeriodTest an einem Test-Kit, mit dem Frauen über ihr Periodenblut Nährstoffmängel oder Erkrankungen erkennen können. Eine geniale Idee, denn Periodenblut ist monatlich verfügbar, muss nicht invasiv entnommen werden und enthält neben Blut auch Gewebe und damit wertvolle Gesundheitsinformationen, beispielsweise über Nährstoffe, Entzündungen und Hormone. Trotzdem waren viele Investoren skeptisch: Das Produkt sei zu nischig. Zu speziell. Zu weiblich. Für Richter schwer nachvollziehbar: „Wenn wir Menstruationsgesundheit als Nischenthema abtun, ignorieren wir die Lebensrealität von der Hälfte der Weltbevölkerung. Wie kann das kein relevantes Gesundheitsthema sein?“
Ein Forschungsfeld am Anfang Nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, auch die medizinische Forschung hat den weiblichen Körper jahrzehntelang übersehen. Die meisten Studien wurden am männlichen Normkörper durchgeführt –selbst bei Krankheiten, die überwiegend Frauen betreffen.
„Frauen waren selbst bei Erkrankungen unterrepräsentiert, die hauptsächlich sie betreffen“, sagt Sabine Richter. „Es gibt zu wenig Daten über den weiblichen Zyklus, über Menstruation, über die Wirkung von Medikamenten auf den weiblichen Körper.
Und das beginnt schon auf Zellebene –selbst bei Tierversuchen wird häufig mit männlichen Tieren gearbeitet.“
Erst seit 2005 gibt es in Europa gesetzliche Vorgaben, Frauen verpflichtend in klinische Studien einzubeziehen – ein absurder Rückstand, der teilweise bis heute nicht ausgeglichen wurde.
Lisa Feiler beschreibt das Missverhältnis aus der Perspektive der Krankenkassen: „Wir haben viele Daten im Gesundheitssystem –, aber sie werden nicht zielgerichtet zusammengeführt. Dabei könnten gerade die Kostenperspektive und Versorgungsdaten Hinweise darauf geben, wo konkrete Bedarfe liegen.“ In einem ihrer Projekte beschäftigte sie sich mit Depressionen bei Frauen über 50 – eine Zielgruppe, für die es kaum spezialisierte digitale Gesundheitsangebote gibt. „Was da alles zusammenkommt – hormonelle Umstellungen in der Menopause, leere Wohnungen nach dem Auszug der Kinder, Pflegefälle, gesundheitliche Belastungen – das ist eine gewaltige Herausforderung. Und trotzdem fehlt es an konkreten Unterstützungsangeboten.“
Wo Männer über Geld entscheiden So jung viele der sogenannten FemTechUnternehmen auch sind – auf dem Weg zur Finanzierung treffen sie auf veraltete Strukturen. Denn wer Geld vergibt, trifft
Entscheidungen. Und noch immer sitzen in den dafür wichtigen Gremien, Fonds und Juryrunden oft ausschließlich Männer.
„Ich war auf einem Pitch-Event – nur Männer im Raum“, erzählt Sabbione. Zwar bewegte sie sich bislang in einer vergleichsweise diversen Finanzierungslandschaft – doch sie weiß, dass das nicht so bleiben wird: „Wir werden hohe Kapitalbedarfe haben – und ich werde nicht in dieser Bubble bleiben können. Laut einer McKinsey-Studie von 2020 fließen nur 1 % aller weltweiten Investitionen in Biopharma spezifisch in nicht onkologische Frauengesundheit. Das bedeutet: 99 % der Gelder
gehen an andere Themen. Diese Zahlen sprechen gegen Meliodays.“
In einigen Fällen ist allein die Einordnung der Thematik bereits problematisch. Sabbione: „Frauengesundheit wird unter dem Sammelbegriff Impact gehandelt. Wir sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung – aber unsere Gesundheit zählt als ‘Impact-Thema’.“ Sie ist damit keine medizinische Notwendigkeit, sondern ein ethisches Zusatzthema. Als Anliegen – aber nicht als Markt.
Auch Sabine Richter hat diese Abwertung erlebt. Bei einem Messebesuch wurde sie gefragt, warum sie ein Produkt entwickle, das Männer nicht benutzen kön-
1 % FÜR DIE FRAUENGESUNDHEIT
HINTERGRUND
nen. „Man steht dann da und denkt: Wo soll ich da anfangen?“, sagt sie. Für sie ist klar: Der Gender Bias zeigt sich nicht nur in Forschung und Versorgung, sondern auch im Zugang zu Kapital.
Investoren sehen Themen wie Menopause oder Gendermedizin oft als weiche, teure Zusatzleistungen – obwohl sie immense gesamtwirtschaftliche Auswirkungen haben. Dazu Feiler: „Jede vierte Frau denkt darüber nach, wegen Problemen in der Menopause früher in Rente zu gehen. Das ist nicht nur ein Gesundheitsthema –das ist ein wirtschaftliches Problem.“
Innovation braucht Parität
Ob Simone Sabbione, Sabine Richter oder Lisa Feiler – alle drei kämpfen für dasselbe Ziel: eine bessere und gerechtere Gesundheitsversorgung für Frauen.
Laut einer McKinsey-Analyse aus dem Jahr 2020 fließt nur rund 1 % aller weltweiten Investitionen in der Biopharma-Forschung in sogenannte female-specific health conditions – also in Krankheiten, die ausschließlich Frauen betreffen. Weitere 4 % entfallen auf frauenspezifische Krebserkrankungen. Zusammengenommen werden also lediglich 5 % der globalen Mittel für Innovationen im Biopharmabereich in Frauengesundheit investiert.
Der Rest der Mittel geht an gemischtgeschlechtliche oder männerdominierte Indikationen – mit Auswirkungen auf Forschung, Therapien, Diagnostik und Versorgung. Für Gründerinnen wie Simone Sabbione bedeutet das: Selbst wenn ein medizinisches Problem Millionen von Frauen betrifft, gilt es nicht automatisch als relevanter Markt.
Quelle: McKinsey & Company – „Closing the Women’s Health Gap”
Eine zentrale Forderung bringt Sabbione auf den Punkt: „Wenn ich eines ändern könnte, dann wäre das Parität in jeglichen Entscheidungsgremien. Nicht zwei Frauen für die Quote, sondern 50:50.“ Nur so können Innovationen entstehen, die Frauen für Frauen entwickeln – sei es ein Medikament gegen Periodenschmerzen oder eine Vorsorgelösung auf Basis von Periodenblut.
Es ist also an der Zeit, Frauen in Forschung, Wirtschaft und Gesundheitsversorgung den Raum, die Zeit und die Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um Lösungen zu entwickeln, die längst überfällig sind.
Sabine Richter im Labor, zusammen mit Dr. Sebastian Kersting vom Fraunhofer IZI-BB
DON’T BE A DEAL BREAKER
INVESTOREN. Eine erfolgreiche Start-up-Finanzierung ist keine Raketenwissenschaft, sondern das Resultat eines planvollen Vorgehens. Was Investoren Start-ups raten.
Am Anfang steht die Idee. Doch schon sehr schnell braucht es genügend Geld, um sie auch in die Tat umzusetzen. Forschung kostet und braucht Zeit. Alle Gründenden wissen: Ohne Investoren ist es schwer, wenn nicht gänzlich unmöglich, die eigene Vision in die Realität zu bringen. Ein erster Kontakt mit potenziellen Geldgebern ist in der Regel dabei schnell gemacht. „Eine gute Idee höre ich mir immer sehr gerne an“, sagt beispielsweise Akos Farkas von Bioventure. Bis es dann aber wirklich zu einem Deal kommt, kann es schon einige Zeit dauern – und in dieser Phase noch viel passieren.
So gerne sich Kapitalgeber von einer guten Vision begeistern lassen, so achten sie auch auf jedes Detail. Auf dem Weg zu einer überzeugenden Investitionsrunde gibt es einige Stolpersteine und echte Deal Breaker, die einen Abschluss verhindern können. Welche das sind und wie man diese vermeiden kann, erklären mit Julia Schomburg von Arkadien Finanz und Akos Farkas von Bioventure zwei InvestmentSpezialisten.
Die Idee
Nur eine gute Idee reicht noch nicht, um mögliche Geldgeber zu überzeugen. Es braucht zusätzlich einen ersten Proof of Concept, also einen Beleg, dass die grundsätzlichen Überlegungen auch praktisch funktionieren. „Uns ist immer wichtig, dass wir bei Life Science Start-ups bereits erste In-vitro-Ergebnisse haben“, erklärt Akos Farkas. „Funktioniert eine Idee in Tieren oder bei anderen Organoiden, wird sie für uns interessant.“ Zudem prüft der Profi sofort die Frage: „Können wir die Idee schützen?“. Lautet die Antwort nein, wird
„ Funktioniert eine Idee in Tieren oder bei anderen Organoiden, wird sie für uns interessant.“
es schwer. „Leider vergessen viele Wissenschaftler viel zu häufig, sich ernsthaft mit Lizenz- und Patentfragen auseinanderzusetzen.”
Die Patente
Hier zeigen sich die Unterschiede, mit denen Investoren Start-ups auch bewerten.
Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder Kapitalgeber mit anderen Grundsätzen und Regeln junge Unternehmen und ihre Strategien bewertet. So sagt Julia Schomburg: „Liegen die nötigen Patente in Institutsbesitz mit sehr strikten Vorgaben, kann es schon sein, dass ich die Finger von einem Start-up lasse.“ Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass ein solcher Fall die Entwicklung junger Firmen erheblich hemmen kann. So strickt sieht es ihr Kollege Akos Farkas nicht. Er setzt in solchen Fällen auf eine Verhandlungslösung mit den Instituten.
Das Marktpotenzial Investitionen sind immer auch eine Wette auf die Zukunft. Wenig überraschend, dass Geldgeber trotzdem das Risiko minimieren wollen. Dazu gehört auch die Überlegung, wie hoch das Marktpotenzial einer Idee überhaupt ist. „Gibt es ähnliche Produkte bereits im Markt, gibt es trotzdem ein überzeugendes Alleinstellungsmerkmal?“, fragt Julia Schomburg.
Julia Schomburg (Arkadien Finanz) und Akos Farkas (Bioventure) sind Mitglieder in der Jury des Entrepreneurial Life Science Accelerators (ELSA).
„Ist dem nicht so, dann verzichten wir auf den Einstieg in ein Start-up“.
Das Gründungsteam
Die Fachkundigen sind sich einig. Erfolg und Misserfolg eines Start-ups hängen stark am Gründungsteam beziehungsweise dessen Zusammenstellung. „Hier schaue ich immer auf zwei Faktoren“, verrät Julia Schomburg. „Oftmals ist es so: Da sind fünf hervorragende Wissenschaftler, aber keiner hat Ahnung von Vertrieb oder Personal.“ Ihrer Einschätzung nach braucht man allerdings auch diese Kenntnisse, um ein erfolgreiches Produkt zu machen. „Wenn ich sehe, das fehlt, oder feststelle, dass die Gründer auch nicht auf der Suche nach diesen Skills sind, dann nehmen wir Abstand von einem Deal.“ Für besonders wichtig hält sie den Willen zum Vertrieb. Schließlich braucht es eine Person, die wirklich Lust und Energie hat, ein Produkt auch publik zu machen. Dem nicht genug, muss sich auch eine entscheidungsbefugte Person ernsthaft um die Finanzen kümmern. Akos Farkas sieht es ähnlich: „Für uns ist wichtig, dass einer im Team immer Erfahrung mitbringt.“ Ist dem nicht so, „kann man das lösen, indem man passende Skills dazu holt.“ Der Deal Breaker ist für ihn, wenn „das Team keine weiteren Mitglieder aufnehmen will“. Zudem hat der Profi von Bioventure eine weitere wichtige Erfahrung gemacht: „Das Gründungsteam muss bereit sein, sich von der Uni zu trennen. Wir gehen mit unserem Geld full in und erwarten auch, dass die Gründer full in gehen.“
Der Plan B
Wer weiß schon, wie sich der Markt oder die Forschungsarbeit an einem Produkt im Laufe der Jahre verändert. Deshalb wirft Julia Schomburg bevor sie investiert stets einen Blick auf den Punkt, ob eine Idee auch das Zeug für einen Plan B hat. Was lässt sich noch aus dem zu erarbeitenden Wissen machen? Wie kompliziert ist es, die Entwicklung irgendwann in eine andere Richtung zu lenken? „Solche Fragen stellen sich Gründer meistens nicht. Investoren aber schon“, weiß sie aus eigener Erfahrung.
Die Gesellschafter-Struktur
Eine der ersten Fragen, die sich neue Kapitalgeber stellen, ist die nach den
„WILL ICH DAS WIRKLICH?“
DIESE FRAGEN SOLLTEN GRÜNDENDE SICH STELLEN
Investierende und ihre Wünsche sind eine Seite. Auf der anderen steht allerdings das Gründungsteam. Und auch die Köpfe hinter jeder guten Geschäftsidee haben eigene Wünsche, Ziele und Ambitionen. Bei aller Konzentration auf die Frage, was ein junges Unternehmen tun muss, um besonders attraktiv für externe Geldgebende zu sein, sollte ein Gründungsteam sich nicht zu weit verbiegen. Jeder oder jede sollte sich deshalb nach seinen/ihren persönlichen Deal Breakern fragen, bevor ein Deal eingegangen wird, hinter dem man eigentlich nicht wirklich steht. Gründende sollten sich mindestens diese Fragen stellen – und zwar jeder und jede für sich:
• Passt dieser Deal zu unserer langfristigen Vision und unseren Unternehmenswerten?
• Welche Auswirkungen hat dieser Deal auf die Kontrolle und Entscheidungsfreiheit unseres Unternehmens?
• Sind wir bereit, die notwendigen Anpassungen vorzunehmen, um die Erwartungen der Investierenden zu erfüllen?
• Welche finanziellen und operativen Verpflichtungen gehen wir mit diesem Deal ein?
• Wie beeinflusst dieser Deal unsere Beziehung zu bestehenden Kunden und Partnern?
Jede kapitalgebende Person würde von einem Deal Abstand nehmen, wenn die Rahmenbedingungen gegen die eigene Investitionsprinzipien verstoßen. Dasselbe gilt auch für die Gründerinnen und Gründer auf der anderen Seite des Tisches.
„ Man muss die Uni im Kopf verlassen und unternehmerisch denken.“
dass er niemals sein Unternehmen verkaufen will, dann ist das für mich ein Deal Breaker. Unser Ziel ist immer der Exit.“ Das sieht Akos Farkas ähnlich. Eine Exitstrategie im LifeScience-Sektor bedeutet für ihn immer, dass ein Start-up entweder verkauft oder das Produkt lizenzieren wird. „Wir müssen realistisch bleiben. Man kann ein Produkt normalerweise nicht bis zur Marktreife entwickeln.“
Das Fazit
bisherigen Shareholdern. Hier lauert ein schneller und harter Deal Breaker: „Wenn ein Start-up bereits 50 Gesellschafter hat, dann würde ich die Hand davon lassen“, sagt Julia Schomburg. „Für uns wie auch für das Unternehmen ist eine solche Struktur so anstrengend, dass das ein echter Hemmschuh sein kann.“
Die Exit-Perspektive
Eine ähnliche Ansicht vertritt Julia Schomburg, wenn es darum geht, dass Gründerinnen und Gründer für immer die Besitzer ihrer Firma bleiben wollen: „Wenn mir jemand sagt,
Vor einer möglichen Finanzierung gibt es einige Stolpersteine, mit denen junge Gründerinnen und Gründer rechnen und auf die sie reagieren müssen. Grundsätzlich hat Akos Farkas jedoch einen wichtigen Tipp an alle, die den Sprung ins wissenschaftliche Unternehmertum wagen wollen: „Die akademische Denkweise darf nicht bleiben. Man muss die Uni im Kopf verlassen und unternehmerisch denken.“ Das zeigt: Für den Erfolg einer Idee, wie auch bei der Suche nach Investoren, kommt es neben wissenschaftlichen Skills und Kreativität vor allem noch auf eines an: das richtige Mindset.
WANN HILFT KI WIRKLICH WEITER?
UNTERSTÜTZUNG . Von automatisierten Analysen bis zu präziseren
Diagnosen: Künstliche Intelligenz hält zunehmend Einzug in Forschung und Wissenschaft. Dr. Jiayi Yang, Head of Data Platforms and Analytics bei Sartorius, erklärt, wie KI-Tools Forschungsteams unterstützen können.
Künstliche Intelligenz (KI) gilt als das Innovationsversprechen unserer Zeit. In kaum einem anderen Bereich sind entsprechende Erwartungen so hoch wie in der Forschung: Daten analysieren, Zusammenhänge erkennen, Literatur auswerten, neue Hypothesen generieren – theoretisch kann KI all das. Doch wo endet der Hype und wo beginnt der konkrete Mehrwert? Jiayi Yang, Head of Data Platforms and Analytics bei Sartorius, weiß aus eigener Erfahrung, wann KI wirklich hilft – und wann kritische Distanz angebracht ist.
„Bevor ich zu Sartorius gekommen bin, habe ich acht Jahre lang KI in der Automobilindustrie eingesetzt. Dabei ging es oft um Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Was ich aus dieser Zeit mitgenommen habe: Ohne die richtige Datengrundlage funktioniert keine KI“, sagt Jiayi Yang. „Das muss wirklich allen, die mit KI arbeiten möchten, bewusst sein.“
In der Produktion setzte sie etwa auf Deep-Learning-Modelle, die mit den Kameras in der Produktionslinie verbunden sind und Fehler frühzeitig erkennen. Das spart Ressourcen, verbessert die Qualität und erhöht die Kundenzufriedenheit. „Wir haben in der Membran- und Filterproduktion zusammen mit den Produktionsteams Embedded-KI-Lösungen implementiert, die den Produktionsprozess intelligent überwachen und frühzeitig eingreifen.“
Ein Start-up, das schon ähnlich datengetrieben arbeitet, ist Scailyte aus der Schweiz. Das Unternehmen analysiert mit Deep-Learning-Methoden Einzelzellen aus menschlichem Gewebe, um Krankheitsanzeichen frühzeitig zu erkennen. Die Kombination aus
„Ohne die richtige Datengrundlage funktioniert keine KI. Das muss wirklich allen, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, bewusst sein ."
hochauflösenden Daten und intelligenter Mustererkennung soll helfen, etwa Krebs oder Entzündungen bereits im Frühstadium zu identifizieren. So wird die Zellforschung durch KI nicht nur beschleunigt, sondern qualitativ auf ein neues Niveau gehoben.
Intelligente KI-Agenten
Besonders spannend findet Yang die Entwicklungen im Bereich Agentic AI. Dabei handelt es sich um intelligente KI-Agenten, die Aufgaben eigenständig ausführen und miteinander interagieren. „In unserer Supply Chain setzen wir Multi-Agent-Systeme ein, um Kundenaufträge zu priorisieren, Lagerbestände zu optimieren und Backlogs zu reduzieren. Diese Agenten orchestrieren die Prozesse und steigern deren Effizienz.“ Solche Systeme sind auch in der deutschen Forschungslandschaft auf dem Vormarsch. Ein Beispiel hierfür ist das Startup Deep LS. Das Unternehmen entwickelt KI-gestützte Lösungen für die präklinische Medikamentenentwicklung und kombiniert hierbei chemische und biologische Datenbanken, um die Relevanz im medizinischen Kontext zu bewerten – etwa durch Analyse von Zielprotein-Bindungen oder Toxizitätsprofilen. So können neue Molekülstrukturen für Medikamente entworfen und deren Eigenschaften vorab simuliert werden. Anschließend werden die vielversprechendsten Kandidaten für Labortests ausgewählt.
„Gerade in der Analyse großer, unstrukturierter Datenmengen spielt KI ihre Stärken aus“, sagt Jiayi Yang. „Aber: Ohne menschliche Validierung geht es nicht.“ Ein Beispiel: Lieferantinnen und Lieferanten schicken Be-
Dr. Jiayi Yang, Head of Data Platforms and Analytics bei Sartorius
stellbestätigungsdaten in PDF-Formaten, die sich stark unterscheiden. „Die mehr als Tausend verschiedenen Formate sind selbst für Menschen schwer zu interpretieren. Wir setzen KI ein, um relevante Informationen automatisiert zu extrahieren. Zusätzlich zur automatischen Evaluierung durch spezielle Agenten ist auch eine Validierung durch Fachexperten erforderlich, um die Qualität der Extraktion sicherzustellen.“
Ein ähnlicher Use Case ist in der klinischen Forschung denkbar, etwa bei der Zusammenführung unterschiedlicher Daten von Patientinnen und Patienten aus verschiedenen Kliniken und Studien. Hier kann KI helfen, Muster zu erkennen – vorausgesetzt, die Daten sind standardisiert, qualitätsgesichert und werden verantwortungsvoll verarbeitet.
Risiken und ethische Grauzonen Die größten Fallstricke? „Erwartungen zu managen, ist zentral. KI ist kein Allheilmittel“, betont Yang. Hinzu kommen technische Herausforderungen wie schlechte Datenqualität und Datenverzerrung, fehlende Konsistenz in der Datenerhebung oder sogenannte Halluzinationen – also erfundene Fakten, die generative Modelle wie ChatGPT produzieren können.
Ein weiteres Problem: Overfitting. „Wenn Trainings- und Testdaten nicht sauber getrennt sind, lernt das Modell nur auswendig, statt zu generalisieren“, erklärt Yang. Besonders kritisch wird es, wenn daraus Entscheidungen mit echtem Impact abgeleitet werden. Deshalb setzt Yang auf interdisziplinäre Teams, die Ergebnisse validieren und durch „Explainable AI“-Methoden wie SHAP visuell nachvollziehbar machen.
Transparenz ist auch für deutsche Unternehmen im Bereich der medizinischen KI von zentraler Bedeutung. Ein Beispiel hierfür ist das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB), das an erklärbaren, transparenten und rechtskonformen KI-Verfahren (XAI) arbeitet. Ziel ist es, die von KI-Anwendungen gelieferten Ergebnisse nachvollziehbar zu machen, insbesondere in sensiblen Bereichen wie der Medizin. Durch erklärbare KI können medizinische Fachkräfte die Entscheidungen von KI-Systemen besser verstehen und vertrauenswürdige Diagnosen stellen.
Das IOSB setzt XAI bereits in Projekten zur Qualitätssicherung und zu patientenspezifischen Therapieempfehlungen ein – dabei beteiligt es sich an Richtlinien wie der FUTURE-AI-Initiative, die ethische, technische und klinische Anforderungen für vertrauenswürdige Medizin-KI definiert.
Die nächste Stufe: Robotik trifft KI Jiayi Yang sieht neben Agentic AI noch einen zweiten Trend: Die Verschmelzung von Robotik und KI. „Wenn Deutschland seine Stärke im Maschinenbau mit KI kombiniert, entsteht echtes Innovationspotenzial.“ Gerade in der medizinischen Forschung oder Pflege könnten lernende Roboter Routineaufgaben übernehmen und Fachpersonal zumindest entlasten. Auch im Laborumfeld seien autonome Assistenzsysteme denkbar, die Proben analysieren oder Geräte bedienen.
Ein Beispiel für die Kombination verschiedener Hochtechnologien liefert XtalPi aus China. Das von MIT-Postdocs gegründete Unternehmen kombiniert KI mit Quantenphysik und Automatisierung, um Wirkstoffkandidaten schneller zu entdecken und deren Eigenschaften präzise vorherzusagen. Der Clou: KI-Modelle simulieren chemische Reaktionen und helfen, Moleküle aus Millionen möglicher Kombinationen zu filtern. Was früher Jahre gedauert hätte, gelingt nun in Wochen.
Auch das junge deutsche Unternehmen Genevention aus Göttingen verfolgt innovative Ansätze in der Wirkstoffentwicklung. Das Start-up entwickelt Datenintegrationsplattformen und maschinelle Lernwerkzeuge, um beispielsweise die Unterernährung bei älteren Menschen vorherzusagen und Behandlungsergebnisse zu bewerten. Durch die Kombination von KI mit biomedizinischen Daten trägt Genevention dazu bei, die Forschung in diesem Bereich zu beschleunigen und qualitativ zu verbessern.
„ Entscheidungen mit moralischem Gewicht sollten immer beim Menschen bleiben –etwa
in der Justiz oder bei
medizinischen Diagnosen.“
Mensch und KI: Ein Team, kein Ersatz Bleibt die Frage, ob KI den Menschen in der Forschung eines Tages vollständig ersetzen kann. Jiayi Yang winkt ab: „Ich glaube, Entscheidungen mit moralischem Gewicht sollten immer beim Menschen bleiben –etwa in der Justiz oder bei medizinischen Diagnosen.“
Aktuell gibt es allerdings noch keine marktreifen Systeme, die lernende Roboter aktiv in der Pflege einsetzen – diese benötigen vor allem Kostensenkungen. Der Fokus liegt hier insbesondere auf Assistenzfunktionen wie Transport oder Monitoring, während direkte Interaktion mit zu Behandelnden weitestgehend weiter von menschlichem Personal übernommen werden soll.
Yang erinnert sich an die Hannover Messe 2025: „Der Smart Robotic Arm ist bereits weit verbreitet im Einsatz – von kleinen Varianten für Labore bis hin zu größeren Modellen für Lagerhäuser. Humanoide Roboter befinden sich hingegen noch in der Forschungsphase und haben derzeit noch keine große Anwendung.“
Zugleich ist sie sicher: KI wird den Forschungsalltag massiv verändern. „Jede industrielle Revolution hat Arbeitsmärkte verändert – auch die vierte, die KI-Revolution.“
Künstliche Intelligenz ist laut Yang ein mächtiges Werkzeug, aber sie ersetzt nicht vollständig die menschliche Neugier, Kreativität und ethische Verantwortung in der Forschung. „Wir sollten uns auf eine Zusammenarbeit konzentrieren, in der wir die Stärken beider Seiten optimal nutzen.“
Für die Forschung bedeutet das: KI wird zur Assistentin, zur Impulsgeberin, zur Automatisiererin von Routinen, aber nicht zur alleinigen Entscheiderin. Der Mensch bleibt das Maß. Und genau das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Künstliche Intelligenz kann nur dann wirklich helfen, wenn sie mit menschlicher Intelligenz klug kombiniert wird.
KULTUR WIRD ZUM KOMPASS
UNTERNEHMENSKULTUR . Werte, Vision und Teamgeist –oft stehen diese Themen erst später auf der To-do-Liste von Start-ups. Dabei sind sie entscheidend für nachhaltigen Unternehmenserfolg, sagt Benjamin Keller. Seit 2017 begleitet er Unternehmen.
CATALYSER Sie haben sich lange als Feel Good Manager bezeichnet – heute gehen Sie mit dem Begriff zurückhaltender um. Warum?
Benjamin Keller Weil der Begriff leider oft missverstanden wird. Wenn Menschen 'Feel Good Manager' hören, denken viele an Massagen, Obstkörbe oder jemanden, der gute Laune per Feenstaub verteilt. Das ist nicht meine Rolle. Ich verstehe mich als Unternehmenskulturgestalter – jemand, der hilft, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, in der Menschen sich gesehen fühlen, gerne arbeiten und ihre Potenziale entfalten können. Es geht darum, eine positive, wertschätzende Kultur aufzubauen – mit Strukturen, die ermöglichen, dass alle ihr Bestes geben können. Und ja, dazu gehört auch, dass man Lust hat, gemeinsam 'die Bude zu rocken', wie ich gern sage – aber eben auf einer durchdachten, systemischen Basis, nicht durch symbolische Feel-Good-Maßnahmen.
CATALYSER . Warum ist es gerade für Start-ups wichtig, früh eine solche Teamkultur zu etablieren?
Keller Weil Start-ups per Definition in einem dynamischen, oft unsicheren Umfeld operieren. Es gibt viele Veränderungen, neue Teammitglieder, wechselnde Anforderungen. In dieser Situation ist eine starke Kultur wie ein Anker: Sie gibt Orientierung, Halt und ein Gefühl von Zugehörigkeit. Kultur entsteht sowieso – die Frage ist nur, ob bewusst oder zufällig. Und wenn ich sie dem Zufall überlasse, kann sie sich auch in eine Richtung entwickeln, die weder produktiv noch gesund ist.
Ein Unternehmen besteht im Kern aus Beziehungen – und Beziehungen funktionieren nur, wenn Vertrauen da ist. Wenn dieses Vertrauen fehlt, bleibt die Zusammenarbeit an der Oberfläche. Deshalb plädiere ich dafür, früh in die Beziehungsarbeit zu investieren – und das ist letztlich der Kern von Unternehmenskultur.
CATALYSER Ein zentraler Bestandteil von Kultur sind die Teamwerte. Was ist wichtig bei ihrer Definition?
Keller. Der größte Fehler ist es, Werte topdown zu verordnen – etwa, wenn die Geschäftsführung in einem Kämmerlein fünf Buzzwords auswählt und diese dann an die Wand hängt. Authentizität, Vertrauen, Innovation – das klingt alles gut, aber was bedeutet es konkret? Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass diese Begriffe mit ihrer Realität nichts zu tun haben, entstehen Zynismus und Distanz.
Deshalb: Werte müssen gemeinsam entwickelt werden. In kleinen Teams geht
das oft direkt im Austausch, in größeren helfen Workshops, Arbeitsgruppen oder moderierte Prozesse. Wichtig ist, nicht nur die Begriffe festzulegen, sondern sie auch mit konkreten Bedeutungen und Verhaltensbeispielen zu hinterlegen. Was heißt Ehrlichkeit bei uns im Alltag? Welche Handlungen passen dazu – und welche sind ein klares No-Go?
Erst wenn Werte ins Handeln übersetzt werden, entsteht etwas Tragfähiges. Dann können neue Mitarbeitende sich daran orientieren, Partner und Kunden erkennen, wofür man steht – und intern wird Kultur zu einem echten Kompass.
CATALYSER Wie wirken sich gut definierte Werte auf die Teamdynamik aus?
Keller Sie helfen, schneller Entscheidungen zu treffen, Konflikte zu klären und neue Mitarbeitende gezielter auszuwählen. Wenn ein Team weiß, wofür es steht, entstehen nicht nur bessere Ergebnisse, sondern auch eine stärkere Bindung untereinander.
Ich beobachte oft: Start-ups, die in der frühen Phase in ihre Kultur investieren, sind resilienter, gerade wenn sie wachsen. Denn dann kommen neue Menschen mit anderen Prägungen ins Team, und plötzlich verändert sich die Dynamik. Wer keine klare kulturelle Basis hat, läuft Gefahr, den gemeinsamen Rahmen zu verlieren. Wer aber früh eine gemeinsame Sprache entwickelt hat, kann gezielt steuern und bleibt handlungsfähig.
CATALYSER. Oft wird über „Generation Z“ gesprochen. Beobachten Sie Unterschiede in den Erwartungen an Arbeit und Führung?
Keller. Tendenzen ja, aber keine pauschalen Regeln. Viele Jüngere fordern mehr Sinn, Flexibilität und Mitsprache – gleichzeitig gibt es Ältere, die sich für neue Führungsformen begeistern, und Jüngere, die sehr konservativ denken. Wichtiger als das Alter ist die Haltung. Jeder bringt ein eigenes Set an Erfahrungen, Prägungen und Bedürfnissen mit. Mein Führungsprinzip lautet deshalb: Know your Team. Lerne die Menschen kennen. Frag sie, was sie brauchen. Frag, wie sie geführt werden wollen. Und entwickle gemeinsam eine Kultur, die zu allen passt.
CATALYSER. Ein weiteres zentrales Thema: Motivation. Wie balanciert man intrinsische und extrinsische Anreize richtig?
Keller Die Basis muss intrinsisch sein. Menschen wollen Sinn erleben, Teil von etwas Größerem sein. Das gilt besonders für Startups, wo man oft für eine Idee brennt und
Benjamin Keller begleitet Unternehmen als Berater für Kulturentwicklung und NewWork-Themen.
gemeinsam etwas aufbauen will. Wenn die Motivation nur von außen kommt – etwa durch Gehalt, Boni oder Titel –, entsteht ein System, das immer neue Anreize braucht. Das ist auf Dauer nicht tragfähig.
Natürlich spielen extrinsische Faktoren eine Rolle: faire Bezahlung, Entwicklungsmöglichkeiten, Sichtbarkeit im Team. Aber sie sollten die intrinsische Motivation nicht ersetzen, sondern ergänzen. Wer nur mit Karotten arbeitet, muss irgendwann immer größere Karotten liefern
CATALYSER. Lässt sich eine intrinsische Motivation denn von außen beeinflussen?
Keller Ein Stück weit ja. Menschen haben den Wunsch, etwas Sinnvolles beizutragen – das ist tief in uns angelegt. Die Aufgabe von Unternehmen ist es, diesen Wunsch
ÜBER BENJAMIN KELLER
HINTERGRUND
nicht zu blockieren. Wenn Führungskräfte Misstrauen säen, wenn Kommunikation unklar oder respektlos ist, dann wird diese Motivation untergraben. Und natürlich spielen auch Rahmenbedingungen eine Rolle – etwa die Grundbedürfnisse. Wer ständig finanziellen Druck verspürt oder keine Perspektive sieht, verliert irgendwann die Lust, sich einzubringen. Deshalb: Gute Kultur ist auch eine Frage der Verantwortung. Sie muss Sinn stiften, Beteiligung ermöglichen – und zugleich wirtschaftlich fair sein.
CATALYSER. Was sollten Gründende unbedingt beachten, wenn sie Unternehmenskultur aktiv gestalten wollen?
Keller. Drei Dinge: Erstens braucht es ein klares Konzept. Kulturarbeit ist kein Bauchgefühl, sondern ein systemischer Prozess. Zweitens: Partizipation. Kultur kann nicht verordnet werden, sie entsteht im Dialog. Und drittens: eine gewisse Experimentierfreude. Es darf Dinge geben, die man ausprobiert – und wieder verwirft. 'Fail fast' gilt auch hier. Wichtig ist nur, regelmäßig innezuhalten, Feedback einzuholen und zu schauen: Was funktioniert? Was nicht? Und was braucht es jetzt? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dabei die besten Consultants. Wer sie einbezieht, erzeugt mehr Identifikation – und eine ganz andere Dynamik im Team.
CATALYSER Wie können Start-ups mit schnellem Wachstum umgehen, ohne ihre Kultur zu verlieren?
Benjamin Keller ist Kulturgestalter, Business Coach, Trainer und Co-Founder von weconome. Nach seinem Abschluss als Diplom-Kaufmann arbeitete er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung der Universität Bayreuth, bevor er sich anschließend als Berater mit Leidenschaft für Unternehmenskultur selbstständig machte. Dabei begleitet er Branchen und Unternehmen unterschiedlicher Größe bei ihrer kulturellen Weiterentwicklung und der Umsetzung von New-Work-Themen.
Keller. Unternehmenswachstum ist ein kritischer Moment. Die Struktur verändert sich – und die Kultur muss mitwachsen. Das passiert nicht von allein. Wenn man sich nicht aktiv darum kümmert, verliert man den kulturellen Kern, den man zu Beginn hatte. Und dann wird es mühsam, wieder dorthin zurückzufinden. Deshalb mein Tipp: Kultur regelmäßig 'mitwachsen lassen' Das bedeutet: neue Teammitglieder onboarden, nicht nur fachlich, sondern auch kulturell. Werte und Vision regelmäßig reflektieren, Kulturprozesse so gestalten, dass sie skalierbar sind. Nur dann bleibt Kultur eine Kraftquelle – und wird nicht zur Stolperfalle.
E-HEALTH PIONEERS
Der Business Podcast für den digitalen Gesundheitsmarkt
Andrea Buzzis Interview-Gäste sind Gründer, Innovatoren und Akteure aus E-Health und Zukunftsmedizin. Der Podcast verschafft digitalen und wissenschaflichen Innovationen Gehör und regt den Dialog zwischen Unternehmen, Healthcare Professionals und Entscheidern im Gesundheitswesen an. Jeden zweiten Donnerstag erscheint eine neue Folge für alle Menschen, die jetzt und in Zukunft von digitaler und innovativer Gesundheit profitieren wollen.