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Debüts und Uraufführungen

Buntund neu

Debüts und Uraufführungen

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Die Debüts und Uraufführungen der Saison stehen nicht nur für die Innovationskraft der klassischen Musik, sondern auch für deren Buntheit und Vielfalt. Da gibt es Künstlerinnen und Künstler, die sich mit produktiver Neugier und weitem Blick unzähligen Stilen und Genres widmen, hinzu kommen neue Werke aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Klangwelten.

Debüts

In der Musik ist Neugier ein Wert an sich. Will man sich als Geigerin oder Sänger, als Komponistin oder Dirigent diesen gewaltigen Kosmos erschließen, dann ist es meist eine gute Idee, dabei mehr als nur einen Weg zu gehen, andere stilistische Welten oder musikalische Disziplinen auszuprobieren. Der so geweitete Horizont wird immer auch dem künstlerischen Hauptbetätigungsfeld zugutekommen. Das kann man bei den Debüts dieser Saison erleben: mit spannenden neuen Gästen der Berliner Philharmoniker, die sich durch Vielseitigkeit und nicht selten multiple Begabung auszeichnen.

Viele der neuen Gäste zeichnen sich durch multiple Begabung aus.

Ein prägnantes Beispiel ist Thomas Adès (S. 105), einer der berühmtesten Komponisten unserer Zeit. Seit vielen Jahren führen die Berliner Philharmoniker seine Musik auf, so vor zwanzig Jahren zum Amtsantritt von Sir Simon Rattle. Aber auch als Dirigent hat Thomas Adès mit Orchestern und Opernhäusern in aller Welt zusammengearbeitet – eine Funktion, in der wir ihn zum Saisonbeginn in der Philharmonie kennenlernen werden. Im selben Konzert debütiert Pekka Kuusisto, ein finnischer Geiger von enormer künstlerischer Bandbreite. Neben klassischer Musik spielt er Folk, Jazz und elektronische Musik, er komponiert selbst und improvisiert leidenschaftlich gern, was man seinem lebendigen, wie aus dem Augenblick geborenen Spiel sofort anhört.

Stilistisch flexibel ist auch der Pianist Víkingur Ólafsson (S. 112). Bekannt wurde er durch sein transparentes Bach-Spiel, das er bereits in einem Soloabend in der Philharmonie zeigte und das ihm in der New York Times den Ehrentitel eines »isländischen Glenn Gould« einbrachte. Seine zweite Leidenschaft gilt der zeitgenössischen Musik, wie man nun in einem Werk von John Adams mit dem aparten Titel Must the devil have all the good tunes? erleben kann – ein »funkiger Totentanz« nach Auskunft des Komponisten. Dass man auch mit Werken des 18. Jahrhunderts die Luft zum Brennen bringen kann, beweist in einem Mozart-Programm Maxim Emelyanychev (S. 108), Chefdirigent des Alte-Musik Ensembles Il pomo d’oro und des Scottish Chamber Orchestra und zudem ein herausragender Pianist. Als Dirigent wie am Klavier macht Emelyanychev erfahrbar, wie aufregend dramatisch diese Musik klingen kann, ohne sie mit Effekten aufladen zu müssen. Die Solistin seines Konzerts gibt mit Mozart-Arien ebenfalls ihr Debüt: Sabine Devieilhe, die Cello und Musikwissenschaft studierte, ehe sie zu einer führenden Sopranistin der jungen Generation wurde. Gerade bei Mozart, so Die Zeit, könne man ihre herausragenden Qualitäten bewundern: »Wärme im Timbre, kristalline Leichtigkeit, hintergründigen Witz«.

Debüts und Uraufführungen

Dirigenten, die in der modernen wie in der klassischen Musik die Luft zum Brennen bringen

Ein weiteres Multitalent unter den Newcomern in der Philharmonie ist der aus Finnland stammende Klaus Mäkelä (S. 120): ursprünglich Cellist, nun Dirigent auf dem Weg zu einer Traumkarriere. Mit gerade 26 Jahren ist Mäkelä Chefdirigent der Osloer Philharmoniker und des Orchestre de Paris, zudem hat er große internationale Orchester von Chicago bis Amsterdam dirigiert. Spontaneität und Präzision kennzeichnen seinen Stil, mit dem er sich in einem russischen Programm bei den Berliner Philharmonikern vorstellt. Das letzte Debüt dieser Saison bestreitet im Mai 2023 der aus Venezuela stammende Pianist Sergio Tiempo (S. 121), ein Wanderer zwischen den Welten – in geografischer wie künstlerischer Hinsicht. So beeindruckt er in Werken von Bach und Chopin durch seinen sensibel modulierten Ton; in unserem Konzert mit Gustavo Dudamel hingegen zeigt er sich als Anwalt südamerikanischer Musik der Moderne, wenn er Alberto Ginasteras überwältigend-perkussives Klavierkonzert Nr. 1 interpretiert.

Keine Neubegegnung, sondern ein schönes Wiedersehen gibt es mit Esa-Pekka Salonen und Simone Young, die beide nach längerer Pause zu den Berliner Philharmonikern zurückkehren. Esa-Pekka Salonen ist dabei als Dirigent und als Composer in Residence dieser Saison zu erleben (siehe Seite 23). Simone Young wiederum (S. 122), Chefdirigentin des Sydney Symphony Orchestra und regelmäßiger Gast an den großen Opernhäusern der Welt, wird Olivier Messiaens TurangalîlaSymphonie präsentieren – ein Werk, das ihr besonders am Herzen liegt und mit dem sie schon oft ein »Feuerwerk an Farben und Leidenschaft« (Neue Zürcher Zeitung) entzündet hat. »Kinder, schafft Neues!«, ermunterte Richard Wagner seine jüngeren Kollegen. Wir unterstützen diesen Aufruf in der Saison 2022/23 mit vier Uraufführungen und einer deutschen Erstaufführung. Unter den Komponistinnen und Komponisten dieser Neuheiten ist der 1955 in Hiroshima geborene Toshio Hosokawa der langjährigste Partner der Berliner Philharmoniker – schon 1982 spielte das Orchester eines seiner Werke bei einem Kompositionswettbewerb. Der bekannteste Komponist Japans schöpft seine Musiksprache aus dem Spannungsverhältnis zwischen westlicher Avantgarde und der traditionellen Kultur seiner Heimat. Schönheit erwächst bei ihm stets aus der Vergänglichkeit: »Wir hören einzelne Töne und nehmen zugleich den Prozess wahr, wie sie geboren werden und vergehen, sozusagen eine tönend in sich belebte Landschaft des Werdens.« Hosokawa schreibt häufig Werke, die sich mit der Natur beschäftigen, so etwa 2011 das Hornkonzert »Moment of Blossoming« für die Berliner Philharmoniker und deren Solohornisten Stefan Dohr, in dem er das Aufblühen einer Lotusblume schildert. Nun folgt ein Violinkonzert, geschrieben für den 1. Konzertmeister Daishin Kashimoto (S. 117).

Uraufführungen

Schönheit erwächst bei Toshio Hosokawa aus der Vergänglichkeit.

Miroslav Srnka wiederum hat bereits mit Kirill Petrenko an einer spektakulär erfolgreichen Uraufführung zusammengearbeitet: der Oper South Pole, die 2016 an der Bayerischen Staatsoper vorgestellt wurde. Nun folgt, erneut unter Kirill Petrenkos Leitung, ein Instrumentalwerk (S. 115). Der 1975 in Prag geborene Srnka beschreibt seinen kompositorischen Ansatz so: »Es geht mir darum, Strukturen zu generieren, die aus ihrer eigenen abgeschlossenen Welt ausbrechen, die sich in extremen Situationen bewegen

und den Menschen ähneln – Strukturen, die sich selbst überwinden und in Klang und Bewegung sinnfällig aufgehen.« Das klangliche Ergebnis dieser Überlegungen sind stark polyphone Verflechtungen: in sich changierende Klangbänder, immer wieder neu aufgefächert, aus denen heraus sich einzelne Linien oder Klangbildungen entwickeln.

Gegen Ende der Saison wird Kirill Petrenko gleich zwei Komponistinnen mit neuen Werken dem Publikum der Berliner Philharmoniker vorstellen (S. 123). Da ist zum einen die US-Amerikanerin Julia Wolfe. 1987 war sie eine der Gründerinnen der spektakulären New Yorker Projektgruppe Bang on a Can, die das Musikleben der Metropole nachhaltig veränderte. Dieses Forum ermöglichte es jungen Komponistinnen und Komponisten, abseits des etablierten Musikbetriebs neue Ausdrucksformen zu entwickeln und mit ungewöhnlichen Techniken zu experimentieren. Julia Wolfe kennt keine Dogmen in ihrer Musik. Klassische Werke dienen ihr ebenso als Inspirationsquelle wie Rock, Minimalmusik oder Folklore, und sie liebt es, die Grenzen zwischen diesen Genres einzureißen. Den Ausführenden verlangt ihre Musik technisch und expressiv oft das Äußerste ab, sodass jede Uraufführung eines ihrer Stücke zu einer Herausforderung für die Interpreten wird.

Musik, die zugleich ernst und verspielt, grausam und zart ist

Neben Julia Wolfe ist Lisa Streich im selben Konzert mit einem neuen Werk vertreten. Die 1985 im schwedischen Norra Råta geborene Komponistin und Organistin verzichtet auf programmatische Titel, Texte und Kommentare zu ihren Werken. Deren spiritueller Hintergrund ist dennoch klar erkennbar; man hört, dass es immer um Wesentliches geht, existenzielle Erfahrungen thematisiert werden. Dabei verdankt sich die Intensität ihrer Musiksprache komplex ausdifferenzierten Strukturen. Beispielsweise schreibt sie oft mehrere Geschwindigkeitsstufen vor, mit denen Streicher ihre Bogenführung gestalten, Harfenist*innen über die Saiten fahren und Posaunen mit ihren Zügen glissandieren. Lisa Streichs Musik ist zugleich ernst und verspielt, kraft- und bedeutungsvoll, körperlich, grausam und zart – immer jedoch neuartig und originell.

Ein weiteres brandneues Werk in unseren Programmen ist ein Orgelkonzert von EsaPekka-Salonen, geschrieben sowohl für die lettische Organistin Iveta Apkalna als auch für Olivier Latry, Organist von Notre-Dame de Paris. Nach der Uraufführung am 9. Januar 2023 in Kattowitz mit Iveta Apkalna wird Esa-Pekka Salonen am 19. Januar in der Philharmonie Berlin mit Olivier Latry an der Orgel die deutsche Erstaufführung dirigieren (S. 114). Salonen, weltweit gefeierter Dirigent und Komponist, ist in dieser Saison Composer in Residence der Berliner Philharmoniker (siehe Seite 23). Der 1958 geborene Finne versteht es wie wenige, wirkungsvoll und ausdrucksstark für Orchester zu schreiben. Wenn dann noch eine Orgel hinzukommt, kann man sich auf unerhörte, hochexpressive Klangwelten freuen.

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