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Der Orient – sowohl als politische Konstellation wie auch als imaginäres Konstrukt – war ein wesentlicher Pol in der Lebens- und Gedankenwelt des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau (1785–1871). Er gehörte zu den Schriftstellern und Lebemenschen des 19. Jahrhunderts, die sich im Orient ihren Imaginationen hingaben und anschließend in Europa kleine orientalische Inseln schufen. Park und Schloss Branitz zeugen bis heute von persönlicher Erinnerung, Fantasie und Fernweh. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge einer internationalen Tagung, die 2018 in Muskau und Branitz stattfand.
Fürst Pücklers Orient
Maillet · Neuhäuser (Hg.)
Edition Branitz 16
Edition Branitz 16
Fürst Pücklers Orient Marie-Ange Maillet Simone Neuhäuser (Hg.)
Zwischen Realität und Fiktion
Mit Beiträgen von Daniel Bertsch, James Peter Bowman, Christian Friedrich, Susann Harder, Dino Heicker, Wolf-Dieter Heilmeyer, Silke Kreibich, Marie-Ange Maillet, Andrea Micke-Serin, Simone Neuhäuser, Andrea Polaschegg, Ulrike Stamm und Kerstin Volker-Saad.
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783954
102662
34 Euro [D]
ISBN 978-3-95410-266-2
EB16_PücklersOrient_Umschlag.indd Alle Seiten
www.bebra-wissenschaft.de
28.10.20 08:15
edition branitz Bd. 16 publiziert mit Unterstützung der Université Paris 8 Vincennes-Saint-Denis (Laboratoire Les Mondes Allemands)
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Fürst Pücklers Orient Marie-Ange Maillet Simone Neuhäuser (Hg.)
Zwischen Realität und Fiktion
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2020 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Satz und Umschlag: typegerecht berlin Cover: »Ankunft beim Sauwan« aus dem Atlas zu Semilasso in Afrika, 1836, Tafel 4 zum 4. Bd. Rückseite: Die Pyramiden bei Gizeh, Stahlstich 1837, und Die Pyramiden im Branitzer Park, Foto: Olga Volova-Höwler, 2020 Schriften: Kunda, Typold Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-95410-266-2 www.bebra-wissenschaft.de
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Inhalt
STEFAN KÖRNER
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Vorwort MARIE-ANGE MAILLET/SIMONE NEUHÄUSER
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Einleitung ANDREA POLASCHEGG
25
Möglichkeitsraum Morgenland Fürst Pückler im Schwerefeld orientalistischer Erfahrungswelten des 19. Jahrhunderts CHRISTIAN FRIEDRICH
47
»Die Engländer nennen jetzt eine Reise nach der Türkei, Griechenland und Egypten: la petite journée« Orte und Stationen der Orientreise Fürst Pücklers MARIE-ANGE MAILLET
75
Fürst Pückler, Frankreich und die Kolonisierung Algeriens DANIEL BERTSCH
107
»Mir ist der Beduine achtungswerther als der größte Parlamentarier« Anton Prokesch von Osten und Hermann von Pückler-Muskau: eine außergewöhnliche Freundschaft WOLF-DIETER HEILMEYER
127
Fürst Pückler in Athen Die Musealisierung der Akropolis
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KERSTIN VOLKER-SAAD
151
»… ganz froh wieder vom Arm der Macht getragen durch das Land zu ziehen.« Hermann Fürst von Pückler-Muskaus Reise durch Syrien und Kleinasien hofiert von seinen rivalisierenden Gastgebern Mehemed Ali und Sultan Mahmud II. PETER JAMES BOWMAN
183
»Wie eine Sybille des Alterthums« Pückler und Lady Hester Stanhope ULRIKE STAMM
213
»a queer animal … but very popular with the Turks«: der exzeptionelle Fall Lady Stanhopes DINO HEICKER
235
»Je me laisse aller à un doux far niente dans mon cher Orient, où seul on vit.« Hermann von Pückler-Muskau und andere deutsche Orientreisende um 1840 ANDREA MICKE-SERIN
263
Von Ghabra bis Scheitan Pückler und seine orientalischen Pferde SILKE KREIBICH
287
»Welcher Farbenreichthum und welch schönes Ineinanderwirken aller Künste« Pücklers Orienträume im Schloss Branitz SIMONE NEUHÄUSER
311
Matten, Mumien, Merkwürdigkeiten Zu den Reiseandenken des Fürsten
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SUSANN HARDER
335
Die Bedeutung von Grabhügeln als Inspiration für die Erdpyramiden von Fürst Pückler in Branitz
ANHANG 354
Literatur
376
Personenregister
381
Die Autorinnen und Autoren
384
Bildnachweis
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Vorwort
Wenn zwei so bildgewaltige Projektionsflächen aufeinandertreffen wie der sagen-
hafte Fürst Pückler und das Tausendundeine-Nacht des Orients, entsteht Kunst. Pückler träumte sich bereits als Kind, als Mozarts Zauberflöte ein Riesenerfolg wurde, in den geheimnisvollen Orient. Als junger Mann strebte er in Konstantinopel eine diplomatische Karriere an. Als Semilasso berichtete er ab 1834 der Welt von seinen Reiseabenteuern zwischen Heiligem Land und Nil, zwischen präziser Beobachtung und literarischer Freiheit. Mit seiner Branitzer Oase in der Wüste der Lausitz schuf er ab 1846 einen Zauberpark voller Reminiszenzen an seine große Reise in den Orient, sodass »ein Maler, der eben aus dem Orient zurückkam und Branitz besuchte, glaubte, als er diese Pyramide erblickte, sich voll Entzücken nach Aegypten hinversetzt, und meinte in den sich am Horizont abzeichnenden Dächern und Thürmen von Kottbus Kairo wiederzusehen!«1 Literatur, Architektur, Gartenkunst, aber auch Musik und Sammelleidenschaft waren bei Pückler also zeitlebens wie bei einer ganzen Epoche europäischer Kulturgeschichte von der Sehnsucht nach dem Orient geprägt. Europas Traum von Tausendundeiner-Nacht ließ Zeitgenossen schwelgen, künstlerische Rezeptionen von Portugal bis Preußen entstehen. Bis heute inspiriert der Fürst die Strukturwandler der Lausitz zwischen Sachsen und Brandenburg zu manch hochfliegender Zukunftshoffnung, während die Gartenschöpfungen Tausende Besucher faszinieren – und Pückler uns von dem einen oder anderen Marketingprodukt mit Turban entgegenblickt. Pücklers Orient-Faszinosum und künstlerische Selbstinszenierung leben also in der Gegenwart dermaßen wirkmächtig fort, dass sich auch heutige Forschung und Wissenschaft dieser Projektionsfläche nicht entziehen können. In der mittlerweile langen Tradition von Tagungen in Branitz zu Pückler und dem von ihm überlieferten Kulturerbe geht es um die kritische Einordnung und teilweise Entschlüsselung oder Dekonstruktion des künstlerischen Werks Pücklers, das immer Wahrheit eines genauen Beobachters und die Dichtung eines reisenden Schriftstellers und genialen Nachruhmproduzenten vereint. Zeitgeschichte, Biografie, Selbstinszenierung und posthume Mystifizierung treffen somit auch bei der Pückler-Forschung seit gut 100 Jahren ebenso aufeinander wie alle Kunstgattungen und die jeweiligen Strömungen von gesellschaftlichem Diskurs und Zeitgeist. 1
Landpyramide, Südseite mit rekonstruierten Stufen, 2020
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Blick zur Mondstele im Branitzer Park, 2013
Die Restaurierung der Orienträume im Schloss Branitz markierten 2017 den Beginn der kritischen Beschäftigung mit dem Thema Pückler und der Orient. Neben der Sonderausstellung »Sehnsucht nach Konstantinopel. Europa sucht den Orient« gehörte 2018 für die Branitzer Stiftung dazu eine gemeinsam mit der Stiftung FürstPückler-Park Bad Muskau und dem Institut für Germanistik der Universität Paris Paris 8 Vincennes-Saint-Denis veranstaltete Tagung. Deren Beiträge sind Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit, für die Cord Panning aus Bad Muskau und MarieAnge Maillet aus Paris für deren intensive inhaltliche und finanzielle Unterstützung zu danken ist. Ab 2020 soll die Sammlung der fürstlichen Reiseandenken wissenschaftlich untersucht werden. Für die Möglichkeit, an den Kunstwerken aus Ägypten, Palästina und Syrien zu forschen, gilt der Erbengemeinschaft nach Fürst Pückler in Branitz (EFPiB), der Eigentümerin der sogenannten Orientalika, unser Dank. Deren Bekenntnis zu Branitz als dem dauerhaften Standort der fürstlichen Sammlungen ist besonderes Vermächtnis von Hermann Graf von Pückler und seiner Familie und für die
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Vorwort
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Stiftung Aufgabe und Verpflichtung. Wie die Vermittlung der Sammlungsobjekte und die Dekonstruktion von Geschichte sind die Pflege und Rekonstruktion der gartengestalterischen Ideen im Branitzer Park auch künftig Konstanten in der Arbeit der Stiftung. So werden die verlorenen Rasenstufen der Landpyramide 2021, wenn der Park seinen 175. Geburtstag feiert, wiedererstanden sein und diese besondere Rezeption der ägyptischen Stufenpyramiden in der Lausitz wie zu Zeiten des Fürsten erlebbar machen. Mein ganz besonderer Dank für die Zusammenführung der Tagungsergebnisse gilt Simone Neuhäuser und ihrem Team des Fachbereiches Museum und Sammlungen sowie dem be.bra verlag für ihre publizistische Aufbereitung in diesem 16. Band der edition branitz. Fürst Pücklers Orient wird als brandaktuelles historisches Thema – Stichwort Black Lives Matter und Kolonialismusdebatte – auch in Zukunft enormen Stoff für Forschung und kritische Betrachtung, aber auch weiterhin ideenreiche Projektionsfläche für die Bilder aus Tausendundeiner-Nacht liefern. Zwischen den Pyramiden von Branitz und unter dem Himmel der Lausitz können so aus der »lebendigen, historischen Person« des Fürsten Pückler weiterhin Forschungsergebnisse generiert werden, aber auch Kunst entstehen. STEFAN KÖRNER
Vorstand der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz
Anmerkung 1 Assing 1858, S. 498.
Vorwort
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MARIE-ANGE MAILLET · SIMONE NEUHÄUSER
Einleitung
Nicht nur als Gartenkünstler, sondern auch als Vielreisender und Autor von mehr als 20 Bänden Reisebücher, in denen er von seinen Aufenthalten in nahen oder entfernten Weltteilen erzählt, ist Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785–1871) heute noch bekannt. Nach seiner Englandreise in den Jahren von 1826 bis 1829 und den berühmten »Briefen eines Verstorbenen« von dieser missglückten Brautschau waren es vor allem die Berichte von seiner sogenannten Orientreise, die ihn in Europa zum Gesprächs- und Lektürethema werden ließen und ihm Geld einbrachten. Also reiste er und stellte fest: »Ohne Reisen kann ich nicht schreiben – denn dann fehlt der Stoff, u. Romane aus der Luft zu greifen fehlt es mir an Fähigkeiten.«1 Das Publizieren während der Reise funktionierte nur durch das heimische »Redaktionsteam« – bestehend aus der in Muskau waltenden Ex-Frau Lucie von Pückler-Muskau (1776–1854), Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) und vor allem dem in Muskau lebenden Schriftsteller und Ratgeber Leopold Schefer (1784–1862). Er sandte Pückler empfehlenswerte Literatur und Karten, redigierte seine Manuskripte, sorgte für Abschriften, schlug Buchtitel vor, erfand zum Beispiel das Pseudonym »Semilasso«2, verhandelte mit dem Verlag und veranlasste Rezensionen. In loser Folge erschienen außerdem Artikel Pücklers in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die zwar nicht dem Reiseverlauf entsprachen,3 aber für Bekanntheit sorgten und eine zusätzliche Einnahmequelle darstellten. Von Frankreich aus unternahm der Fürst im Jahr 1835 zunächst eine Expedition nach Algerien, wo er die französische Besatzung aus nächster Nähe beobachten konnte, und nach Tunesien, das ihm, weil es von europäischen Besuchern noch kaum berührt war, besonders ansprach – er widmete dieser Gegend drei der fünf Bände von Semilasso in Afrika (1836). Sein Weg führte ihn dann Ende 1835 in das Griechenland von König Otto, dem Sohn des bayerischen Königs Ludwig I., über das er Der Vorläufer (1838) und etwas später den unkonventionellen Südöstlicher Bildersaal (1840/41) schrieb, die an vielen Stellen nicht gerade ins enthusiastische Griechenlandbild der damaligen Philhellenen passten.4 Anschließend begab er sich Anfang 1837 nach Ägypten, wo er
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»Machbuba« († 27.10.1840), posthumes Porträt durch einen unbekannten Sorauer Maler, Öl/Leinwand
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Erstausgabe aus dem Besitz des Fürsten: Die Rückkehr, Berlin: Duncker, 1846 –1848
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mit dem Vize-König Mehmed Ali bekannt gemacht wurde und auf dessen Einladung hin die Reise bis in den Sudan fortsetzte. Seine Reiseeindrücke versammelte er in etwas veränderter Form in Aus Mehemed Ali’s Reich (1844). Darin feierte Pückler den von den Europäern als Despoten verschrienen Mehmed Ali als ägyptischen Napoleon und setzte seinem Modernisierungsstreben nach europäischem Vorbild ein Denkmal. 1838 reiste der Fürst durch Syrien und den Libanon und kam schließlich im Mai 1839 in Konstantinopel an – der Stadt, in der er 20 Jahre zuvor gern als Diplomat gewirkt hätte. Über Pest, Wien und Prag kehrte Pückler nach fast sechsjähriger Abwesenheit schließlich am 8. September 1840 nach Muskau zurück, dessen Verkauf er bereits in Konstantinopel geplant hatte und schließlich 1845 umsetzte. Ein Jahr später begann er in Branitz auf dem überlieferten Gut seiner Vorfahren mit der Neuanlage eines Parks und erst hier beendete er mit den drei Die Rückkehr betitelten Bänden (1846 bis 1848) sein Schriftsteller-Dasein. Als der Fürst in der Nacht vom 4. zum 5. Februar 1871 im Türkischen Zimmer seines Branitzer Schlosses starb, war er nicht nur längst berühmt als »Zauberer der Oasen«, er konnte auch wunschgemäß in seinem Tumulus in der Form einer Pyramide im See bestattet werden und hinterließ Sammlungsobjekte, Souvenirs und Mitbringsel, die ihn bis zum Schluss an die längste Reise seines Lebens erinnert hatten. Im November 2017 begannen die Vorbereitungen für Restaurierungsarbeiten in den Orientzimmern des Branitzer Schlosses und mit Blick auf das European Cultural Heritage Year 2018 sollte das, was in Branitz von »Fürst Pücklers Orient« in materieller Form überliefert war, vorgestellt und das dazu Bekannte und Überlieferte be- und hinterfragt werden. Ein erstes Ergebnis war die Ausstellung »Sehnsucht nach Konstantinopel: Europa sucht den Orient«, die Pücklers Sehnsüchte und die damalige »Orientmanie«, zahlreiche Exponate, offene Fragen wie auch den Stand der Restaurierungsarbeiten präsentierte.5 Ebenfalls daraus folgte eine Tagung, die unter dem Titel »Fürst Pücklers Orient zwischen Realität und Fiktion« vom 15. bis 17. November 2018 in Branitz und Muskau stattfand und Beiträge von Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaftlern, Ethnologen und Archäologen versammelte.6 Sie liegen in überarbeiteter Form nun mit dieser Publikation vor. Wie bei der Tagung in Form eines mitreißenden Festvortrages samt musikalischen Einlagen zeigt zunächst einleitend Andrea Polaschegg das große kulturelle Panorama, das »Fürst Pücklers Orient« begründete und prägte. Sie benennt Vorstellungen, Erfahrungen und Zeugnisse für die Untrennbarkeit von Morgen- und Abendland. Ebenfalls als Einleitung und Rüstzeug zum Tagungsthema beschäftigte sich Christian
Einleitung
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Koffertruhe aus dem Besitz des Fürsten, Holz mit Perlmuttintarsien, 1. H. 19. Jh.
Friedrich als langjähriger Mitarbeiter der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz (SFPM) mit der fürstlichen Reiseroute und trug Angaben zu Orten und Aufenthaltszeiten zu einem Itinerar zusammen, das ausdrücklich als erster Entwurf zu verstehen ist. Die Organisatoren der Tagung griffen auf die bewährte Kooperation mit dem Fachbereich Germanistik der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis zurück und knüpften zugleich inhaltlich an die gemeinsam 2011 veranstaltete Tagung »Fürst Pückler und Frankreich« an.7 Bereits damals hatte sich gezeigt, wie ergiebig das Thema »Orient« – sowohl als politische Konstellation wie auch als imaginäres Konstrukt – für das Verständnis der Lebens- und Gedankenwelt Pücklers ist. Aus den sowohl zur Zeit Napoleons als auch in der Restaurationszeit entstandenen engen Beziehungen zwischen Frankreich und Gebieten wie Algerien, Tunesien und Ägypten ergaben sich viele Berührungspunkte.8 Nicht zuletzt geht es dabei um Machtfragen und koloniale Bestrebungen innerhalb der europäischen Expansion.9 Marie-Ange Maillet untersucht in ihrem Beitrag Pücklers Urteil über das französische Kolonisierungsstreben in der Regentschaft Algier und arbeitet seine eigene und eigenartige Auffassung zum Kolonialgedanken heraus. Daniel Bertsch beleuchtet die langjährige Freundschaft zwischen Pückler und dem Diplomaten Anton von Prokesch-Osten, die sich erstmals in Athen trafen. Beide
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4 Scheinkanopen, Kalkstein, ca. 300 v. Chr.
hatten viele Gemeinsamkeiten: die Liebe zum Reisen, das Interesse an den Kulturen des Mittelmeerraums und eine über viele Jahre anhaltende schriftstellerische Tätigkeit. Ebenfalls den Aufenthalt in Griechenland bzw. Mitbringsel von dort nimmt Wolf- Dieter Heilmeyers Beitrag zum Ausgangspunkt. Er betrachtet aus der archäologischen Perspektive Pücklers Besuch der Akropolis und ordnet diesen in die damals beginnende Politik der Denkmalrestaurierung ein, die unter der Obhut des Archäologen Ludwig Ross stand. Aus dem Ägypten des Mehemed Ali kam Pückler durch das ebenfalls von diesem beherrschte Heilige Land und nachdem er eher widerwillig »nichts aus der heiligen Litaney ungesehen« 10 gelassen hatte, betrat er bei Aidin den Herrschaftsbereich Sultan Mahmuds II., der wenige Tage nach der Ankunft des Fürsten in Konstantinopel starb. Kerstin Volker-Saad beschreibt Pücklers Reise durch die Gebiete der beiden Machthaber und welche Bedeutung deren Wohlwollen für den Fürsten hatte. Gleich zwei Beiträge beschäftigen sich mit der faszinierenden Persönlichkeit von Lady Hester Stanhope, deren Schilderung in Pücklers Rückkehr Alexander von Humboldt zu dem Lob bewegte: »Dieser neue Band ist von dem Glänzendsten, was sie geschrieben, denn sie schildern die Wunderfrau, zur Königin von Palmyra auserkoren, wie die Lüfte, die man einathmet, wie den balsamischen Duft […].«11 James Bowman untersucht die Beziehung, die zwischen Stanhope und Pückler bestand und eine solche Schilderung ermöglichte, während Ulrike Stamm das Außergewöhnliche der Persönlichkeit, ihre Form des »going native«, herausarbeitet, die einen Gegenakzent zu dem patriarchalisch gedachten Imaginationsraum Orient darstellte. Wie dieser Imaginationsraum Orient zu Hause beschrieben und vermittelt wurde, welche Metaphern
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und Bilder sich dabei wiederholten, inwiefern Pücklers Schriften in die Zeit »passten«, ist ablesbar am Beitrag Dino Heickers, der rekonstruiert, wie andere deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in den Orient reisten, über das »märchenhafte Morgenland« schrieben. Bis nach Frankreich zurück lässt sich das Spezialistentum des pferdebegeisterten Fürsten verfolgen. In der französischen Pyrenäenstadt Tarbes besuchte Pückler vor seiner Abreise nach Algier das berühmte königliche Gestüt, in dem er die arabischen Pferde bewundern konnte, die der Tierarzt Damoiseau als Begleiter des Vicomte Desportes im Auftrag des Königs Ludwig XVIII. im Jahr 1818 aus Syrien nach Frankreich gebracht hatte. Andrea Micke-Serin stellt dar, wie aus Pückler ein idealer Vermittler zwischen französischer und orientalischer Pferdezucht werden konnte. Wie eingangs beschrieben, war »Fürst Pücklers Orient« in Branitz Ausgangsund Schwerpunkt der Aktivitäten 2018, die Anstoß zur Tagung gaben. Drei Aspekte waren dabei besonders wichtig: die Gestaltung der Orientzimmer im Schloss Branitz, die überlieferten Sammlungsobjekte, Reisemitbringsel und Souvenirs und – natürlich – die Pyramiden im Park. Silke Kreibich stellt in ihrem Beitrag die Geschichte und die Ausstattung der drei Orientzimmer vor, die sich in der ersten Etage auf der Südostseite des Schlosses befinden. So faszinierend deren farbkräftige, fantasievolle Wandmalereien sind, so schwierig und herausfordern stellte sich die Restaurierung der Papiertapeten dar, die nun Ende 2020 erfolgreich abgeschlossen sein wird. Was von der Fülle der einst durch den Fürsten von unterwegs nach Hause gesandten »ägyptischen Antiquitäten« überhaupt noch erhalten bzw. was davon noch in Branitz vorhanden ist, versucht Simone Neuhäuser aufzuzeigen. Eine Sonderausstellung befasste sich 2018 speziell mit Pyramiden in europäischen Landschaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts und setzte die Branitzer Beispiele in den Kontext, arbeitete aber zugleich ihre Besonderheit heraus, denn deutlich unterscheiden sie sich in ihrer Materialität, da sie aus Erdmaterial aufgeschüttet und nicht aus Stein errichtet wurden.12 Der Fürst bezeichnete folgerichtig sein eigenes Grabmal, die Seepyramide, konsequent als »Tumulus«. Susann Harder nimmt diesen Sachverhalt zum Anlass, die mögliche Bedeutung antiker Hügelgräber, wie den Tumuli in Kleinasien, zu diskutieren. Pücklers Veröffentlichungen gehören zur Reiseliteratur. Sie überliefern nicht unbedingt das tatsächlich Geschehene, die »Realität« der Reise, sind nicht zuerst als Bericht, Dokumentation und authentische historische Quelle zu lesen, sondern entsprechen einer »fingierten Authentizität«13, sind fiktional und Ausdruck einer mal mehr, mal weniger poetischen Balance zwischen »Lebens- und Werkwirklichkeit«14.
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Aman Te-In, »August Paolo Joladour« (1829–?), Lithografie, um 1845
So weit, so herkömmlich, so bekannt.15 Jenseits der Publikationen Pücklers und mit zunehmender Quellenkenntnis, aber auch vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Debatten um Geschlecht, Rasse und Dominanz wurde und wird deutlicher, dass Pückler nicht nur als ein »wichtiger und feinsinniger Beobachter der Lebensumstände des 19. Jahrhunderts«16 beschrieben werden kann. Er reiste als ein privilegierter, adliger Europäer und war oft weniger ein »Kind seiner Zeit, ein Ächtes«17 als vielmehr ein sehr standesbewusster Mann seiner Zeit mit einem hierarchisierenden Blick, der in Algerien von einer »Feudalexistenz wie im Mittelalter in Europa« träumte, an die Segnungen der europäischen Zivilisation glaubte und kolonialpolitische Anschauungen äußerte.18 Pückler war ein Akteur innerhalb und Gestalter von Machtverhältnissen, die wiederum die Lebensrealität anderer prägten. Am drastischsten ablesbar wird das beim Thema Sklaven, von denen der Fürst mehrere erwarb und zwei von ihnen sogar nach Muskau mitbrachte. »Der kleine Neger aus dem Sennaar und die abyssinische Prinzessin«19 – so heißen sie als fiktive Gestalten in Pücklers Rückkehr. In den Branitzer
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Sammlungen ist von den beiden jeweils ein Bildnis überliefert (Abb. ). Im Begleitbuch zur Ausstellung 2018 wurden die Informationen zusammengetragen, die aus den Quellen zugänglich waren, wie auch entsprechende Erwähnungen aus der fürstlichen Korrespondenz, die die Anzahl der Sklaven, ihre Behandlung und die Sicht des Fürsten auf diese Menschen skizziert.20 Ausdrücklich sollte und soll auf den dazu bestehenden Forschungsbedarf auch an dieser Stelle nochmals hingewiesen werden – Forschungen, die über die Möglichkeiten eines Museums hinausgehen. Grundlegend waren die bisherigen Erkenntnisse bei der Neukonzeption der Ausstattung der Orienträume im Schloss Branitz.21 Die Bildnisse von »Machbuba« und »Joladour« sind nicht mehr aufgehangen zwischen dekorativen Ansichten, Souvenirs und Reisemitbringseln, sondern sind mit Informationen gerade auch zu ihrem »Wahrheitsgehalt« und zu den zeitgenössischen Darstellungskonventionen innerhalb der neuen ständigen Ausstellung verortet. Die Herausgeberinnen danken den MitarbeiterInnen und KollegInnen in Branitz und Paris für die Unterstützung bei der Realisierung dieser Publikation, vor allem Susann Harder für die Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung, Karin Kuhn für die Unterstützung bei den Transkriptionen aus der Sammlung Varnhagen, Maria Lutz für die Recherche in der fürstlichen Bibliothek und die Bildbeschaffung sowie Navid Nail für das Register. Nach Kairo geht ein Dankeschön an Salwa Badry für Lektüre und Deutung. Den MitarbeiterInnen des be.bra verlages gebührt ebenfalls großer Dank.
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Anmerkungen 1 Pückler an Rother aus Tunis, 3.9.1835, Vgl.
SFPM, SV, V183, CD15/F51/394–395. 2 Vgl. Schefer an Pückler, Muskau, 12.12.1834, SFPM, SV, V225, CD29/F138/454–456, hier 454. 3 Dazu Peuckert 2012, S. 152. 4 Vgl. Meier 2009. Vgl. Meier 2009. 5 Dazu erschien Fürst-Pückler-Museum 2018. 6 Leider fehlt die Textfassung des Beitrags von Leyla von Mende, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie referierte zu »Firengistan und Orient. West-östliche Beziehungen im 19. Jahrhundert«; Wolf-Dieter Heilmeyers Vortrag fand am 20. März 2019 in Branitz statt. 7 Vgl. Fürst-Pückler-Museum 2012. 8 Vgl zum Beispiel die Beiträge von Nina Bodenheimer zu Pücklers Beziehung zu den Saint-Simonisten in Ägypten, Sylvia Peuckert zu Pücklers Champollion-Lektüre, oder Leslie Brückner zu den Orientreisen der französischen Schriftsteller René de Chateaubriand und Alphonse de Lamartine, in Fürst-Pückler-Museum 2012.
Einleitung
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9 Vgl. auch Fendri 1996, Hamann 2008. 10 Pückler an Leopold Schefer aus Jerusalem,
SFPM, SV, V227, CD29/F139/88 f. 11 Assing 1873/75, Bd. 5, S. 15. 12 »Faszination Pyramiden. Branitz und die Sammlung Kindel«, Sonderausstellung im Marstall Park Branitz, März bis September 2018. 13 Vgl. Böhmer 2007. 14 Baum 2007. 15 Vgl. Meier 2009, Prass 2019. 16 So Peter Goodchild im Vorwort zu Kunstund Ausstellungshalle 2016 S. 12–15. 17 Vgl. Fürst-Pückler-Museum 2010. 18 Vgl. Fendri 1996, S. 220/221, Brückner 201, Anm. 15, S. 133, Böhmer 2011. 19 Pückler 1848, S. 246. 20 Friedrich/Neuhäuser 2018, ab S. 21; vgl. auch Hamernik 1999 und Fürst-PücklerMuseum 2020, S. 202 und 221. 21 Bereits 2016 ist die einst im Türkischen Zimmer ausgestellte Skulptur »Machbuba« von Hans Scheib entfernt worden. Nicht nur in dieser Hinsicht den »Geist« der Vergangenheit beschreibend vgl. Schwachenwald 2019, hier S. 117.
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Europa, 22 West-Asien und Nord-Afrika, Karte von Carl Friedrich Klöden, Berlin bei Simon Schropp & Co. 1832
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Möglichkeitsraum Morgenland1 Fürst Pückler im Schwerefeld orientalistischer Erfahrungswelten des 19. Jahrhunderts
Ex oriente luxus
Um den Orient mit allen Sinnen erleben zu können, hat man in den Jahrzehnten um 1800 deutschen Boden nicht verlassen müssen. Als Hermann Ludwig Heinrich Graf von Pückler-Muskau geboren wurde, war das Morgenland längst in Brandenburg, Sachsen und der Oberlausitz angekommen, und es trug eine ausgeprägt mondäne Note. Schließlich sind es samt und sonders Luxusgüter gewesen, die seit dem Spätmittelalter aus dem Nahen, Mittleren und Fernen Osten nach Westeuropa gelangten und im Laufe der Jahrhunderte mitsamt ihrer orientalischen Signatur tief in die hiesigen Wahrnehmungs- und Lebenswelten hineinwirkten – stets vermittelt über die großen Höfe und Adelshäuser.2 Der Import von Seide, Damast und Teppichen und die Einführung orientalischer Polstermöbel wie des Sofas, der Ottomane oder des Divans, deren Namen noch heute von ihrer Herkunft zeugen, revolutionierten die hiesigen Interieurs und schufen im Wortsinne ein Morgenland zum Anfassen. Für die Orientalisierung der Geschmackswelten sorgten Safran, Zimt, Nelken und Muskat, flankiert von Tee und Kaffee, genossen aus ehedem ebenfalls morgenländischem Porzellangeschirr. Besonders aparte visuelle Reize sendeten die einst exklusiven Haustiere und Zierpflanzen ex oriente wie Goldfische, Pfauen, Papageien, Tulpen, Chrysanthemen, Kamelien oder Heliotrope.3 Dank des Moschus, des Sandelholzes und des legendären Rosenöls drückte das Morgenland auch der Olfaktorik seinen sinnlichen Stempel auf. Und selbst akustisch konnte sich der Orient mitteilen: über die sogenannte »Janitscharenmusik«,4 die während der Frühen Neuzeit aus den Militärkapellen des Osmanischen Reiches übernommen wurde und im 18. Jahrhundert auch die hiesige Kunstmusik
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»Fürst Pückler-Muskau als Reisender in Afrika«, Lithografie, um 1838
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eroberte. In Opern und Singspielen der Zeit waren Kompositionen »alla turca«5 bald der letzte Schrei, wovon die Ouvertüren zu Christoph Willibald Glucks La rencontre imprévue (Die Pilger von Mekka, 1764) oder zu Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1782) zeugen, und es wurden sogar eigens ausgestattete Hammerklaviere gebaut, auf denen sich im eigenen Salon die entsprechenden Klangeffekte erzeugen ließen.6 Die spezielle Instrumentierung der »Janitscharenmusik« hat Matthias Claudius in einem ironischen Geburtstagsgedicht an Friedrich Heinrich Jakobi von 1797 anschaulich ins (Klang-)Bild gesetzt, wobei sich in den verkürzten Versen das »alla turca«-typische Tempo vermittelt: »Prinz Heraklius schickt seine Musikanten Zum langen Emigranten, Ihm zu spielen diesen Tag Was der Orient vermag Mit Reigen, Mit Pfeifen, Schellentrommel, Vox humana, Triangel Und Becken- und Rutengetös.«7
Im Dauereinsatz waren diese Instrumente aber schon seit den 1750er Jahren im Potsdamer Park Sanssouci, wo sie bis heute von den güldenen Figuren an der Außenfassade des Chinesischen Teehauses gespielt werden8 und auf diese Weise die bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebte orientalisierende Gartenarchitektur mit einer imaginären Klangdimension versehen. Wie die angeführten Beispiele illustrieren, war der deutsche Orientalismus9 der Pückler-Zeit von einem intensiven ost-westlichen Kulturtransfer grundiert, der die üblichen Analysekategorien von »Realität« und »Fiktion« durchkreuzt. Das hiesige Orientbild um 1800 setzte sich eben keineswegs allein aus Vorstellungen vom Morgenland zusammen, sondern auch und nicht zuletzt aus ganz konkreten Orient-Erfahrungen, für die man – wohl gemerkt – keinen Fuß auf östlichen Boden setzen musste. Als 1785 geborener deutscher Adelsspross war es schlicht unmöglich, dem Orient in heimatlichen Gefilden nicht zu begegnen und ihn nicht mit einer Welt des Luxus, der Sinnesfreuden und selbstverständlich der Hochkultur zu verbinden.
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Aus der Bibliothek des Fürsten: Les Mille et une nuits contes arabes traduits par Galland, Hg. v. Sylvestre de Sacy, 3. Bd., Paris 1840
Das galt auch für die morgenländische Literatur, die zu Pücklers Lebzeiten den deutschen Buchmarkt eroberte und sich dort rasant vermehrte. Die im deutschsprachigen Raum um 1800 besonders ausgeprägte »Lust am Übersetzen«10 beschränkte sich nämlich keineswegs auf Werke der griechisch-römischen Antike, der italienischen Renaissance oder Shakespeares, sondern sie griff weit in den Osten aus. »Warum sollten auch«, fragte Johann Gottfried Herder 1792 rhetorisch, »Griechenland und Rom allein ihre Anthologien haben? Sind nicht die schönsten Blumen unsrer Gärten morgenländischer? Ist unsre Rose nicht Persischer Abkunft?«11 Und tatsächlich fuhren die »Blumenlese[n] aus morgenländischen Dichtern«12 während der folgenden Jahrzehnte reiche Ernte ein und boten der interessierten Leserschaft eine Fülle poetisch-floraler Kostbarkeiten aus dem Orient, darunter die viel gelesenen Anthologien des großen Übersetzers und Orientalisten Joseph von Hammer, des späteren Hammer-Purgstall, wie etwa das Morgenlaendische Kleeblatt13 oder – gleichsam als Destillat des poetischen Rosengartens – das Rosenöl, erstes und zweytes Fläschchen.14
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Den unangefochtenen Spitzenplatz in der Lesergunst nahmen allerdings die Erzählungen der Tausendundeinen Nacht ein, deren Stoffe im Laufe der Jahrhunderte von Indien über Persien in die arabische Welt eingewandert waren, wo sie im Zuge ihrer mündlichen Tradierung weiter angereichert und zu verschiedenen Sammlungen arrangiert wurden.15 Mit der Kompilation und Übersetzung dieses Pools von Geschichten durch den französischen Orientalisten Antoine Galland ab 1704 begann schließlich der beispiellose Siegeszug der Tausendundeinen Nacht durch Westeuropa, wobei die Erzählungen der Scheherazade im deutschsprachigen Raum bereits Ende des 18. Jahrhunderts den Status eines Volksbuchs besaßen und von zeitgenössischen Gelehrten insbesondere dem jüngeren Publikum zur Lektüre empfohlen wurden.16 Einer besonderen Schützenhilfe von pädagogischer Seite bedurften die Geschichten allerdings nicht, um die Privatbibliotheken der Zeit zu erobern und zumal die jugendliche Leserschaft in ihren Bann zu schlagen. Schließlich wimmelte es in ihnen nur so von magischen Gegenständen, labyrinthischen Großstädten, rätselhaften Inseln, gewaltigen Palast- und Gartenanlagen, von Riesen, Zauberern, Feen, Dschinn, Flugobjekten aller Art und vor allem von Kaufmannssöhnen und Prinzen, die zu Wasser, zu Lande und in der Luft die unglaublichsten Abenteuer erlebten. Der berühmteste unter ihnen, Sindbad der Seefahrer, muss eine exzeptionelle Faszinationskraft auf den kleinen Hermann Ludwig Heinrich ausgeübt haben. Zwar gibt sich der erwachsene Pückler im Rückblick auf seine jugendliche Leseerfahrung betont abgeklärt, wenn er das Vorwort zum Südöstlichen Bildersaal – dem Bericht seiner Griechenlandreise von 1836 – mit den Worten eröffnet: »Sindbad machte sieben Reisen, und schon als Kind hätte ich ihn mir gern zum Vorbild erwählt. Aber schon damals ward in unserem skeptischen Jahrhundert der süße Mährchenglaube in mir gebrochen, während er, der Glückliche, noch in jener goldenen Zeit die Welt durchstrich, wo der nächste Horizont schon nie gesehene, nie erhörte Wunder barg.«17 Doch der kurz darauf erwähnte Riesenvogel Roc, mit dessen Hilfe Sindbad auf seiner berühmtesten Abenteuerreise ins Diamantental vorgedrungen und dadurch zu unermesslichem Reichtum gelangt war,18 durchzieht als fliegendes Leitmotiv zahlreiche Werke Pücklers, und dies nicht von ungefähr. Schließlich hatte der Graf bereits 14 Jahre vor Beginn seiner Karriere als Reiseschriftsteller selbst eine ebenso abenteuerliche wie öffentlichkeitswirksame Luftfahrt unternommen und im Nachhinein – nicht minder öffentlichkeitswirksam – die Bewegung des Ballons mit dem Flug des Vogels Roc verglichen,19 auch wenn ihm ein Besuch des Diamantentals bekanntlich verwehrt geblieben ist. Nicht verwehrt geblieben ist ihm dagegen der Besuch orientalischer
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Städte, an deren Beschreibung sich der nachhaltigste Einfluss der Tausendundeinen Nacht auf die hiesige Morgenlandimagination ablesen lässt. Seinen ersten Spaziergang durch Kairo fasst Pückler in die bezeichnenden Worte: »Es kam mir fortwährend vor, als wenn ich in der Tausendundeinennacht läse oder vielmehr als wenn ihre bunten Szenen in lebenden Bildern jetzt vor mir aufgeführt würden.«20 Und mit diesen literarischen Reminiszenzen ist Pückler unter seinen Zeitgenossen nicht allein. Ob sie nun wie Ferdinand Lassalle durch Belgrad streifen21 oder wie Friedrich von Bodenstedt Tiflis besuchen22: Stets finden sich die Orientreisenden des 19. Jahrhunderts in den Räumen ihrer Kindheitslektüre wieder, kaum haben sie einen Fuß in die Stadt gesetzt. Noch aber ist die orientalische Textsammlung nicht zur Sprache gekommen, die wie keine andere die hiesigen Vorstellungswelten vom Morgenland um 1800 geprägt hat – und dies ebenfalls von Kindheit an in Wort und Bild. Die Rede ist von der Bibel – dem größten literarischen Exportschlager des Nahen Ostens – und hier besonders vom Alten Testament mit seinen Erzählungen vom Beduinenleben der Erzväter, von Moses in Ägypten, Israel in der Wüste, von Salomo und der Königin von Saba oder von den babylonischen Königen. Diese biblischen Landschaften, Städte und Figuren zählten zumal in den protestantisch geprägten Gegenden Deutschlands zur Grundausstattung orientalischer Imagination im Zeichen des Vertrauten und wurden in den seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert inflationär verbreiteten Bilderbibeln auch ikonografisch konkret.23 Ein Blick in Ferdinand Freiligraths Gedicht Die Bilderbibel von 1838 vermittelt einen guten Eindruck sowohl von der Wirkungsmacht dieses Mediums als auch vom dezidiert morgenländischen Einschlag der aufgerufenen Szenerien:
»Die Bilderbibel Du Freund aus Kindertagen,
Du schobst für mich die Riegel
Du brauner Foliant,
von ferner Zone Pforten,
Oft für mich aufgeschlagen
Ein kleiner, reiner Spiegel
Von meiner Lieben Hand;
Von dem, was funkelt dorten!
Du, dessen Bildergaben
Dir Dank! durch dich begrüßte
Mich Schauenden ergötzten
Mein Aug’ eine fremde Welt,
Den spielvergeßnen Knaben
Sah Palm’, Kamel und Wüste,
Nach Morgenland versetzten:
Und Hirt und Hirtenzelt.
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Du brachtest sie mir näher,
Der Patriarchen Leben,
Die Weisen und die Helden,
Die Einfalt ihrer Sitte,
Wovon begeisterte Seher
Wie Engel sie umschweben
Im Buch der Bücher melden;
Auf jedem ihrer Schritte;
Die Mädchen, schön und bräutlich,
Ihr Ziehn und Heerdentränken,
So ihre Worte schildern,
Das hab’ ich oft gesehn,
Ich seh sie alle deutlich
Konnt’ ich mit stillem Denken
In deinen feinen Bildern.
Vor deinen Blättern stehn. [...]«24
Ihren orientalischen Charakter verdankten die biblischen Erzählungen in der Wahrnehmung der Pückler’schen Zeitgenossen allerdings nicht allein ihren Schauplätzen und Figuren, sondern auch ihrem literarischen Duktus. Der »Ton« der Bibel sei, ihrem Entstehungskontext entsprechend, »morgenländisch, d.i. einfach, groß und edel« und damit derselbe, der in den Geschichten der Tausendundeinen Nacht und »in allen orientalischen Schriften« vorherrsche, so noch einmal Herder.25 Von Mauren und Mohren
Zum Zuschnitt des »Morgenlandes« um 1800 lässt sich somit zweierlei festhalten: Zum einen war es – kulturell wie geografisch – nicht einmal chirurgisch von dem zu trennen, was heute »das christliche Abendland« genannt und nicht selten unter identitärem Vorzeichen gegen den Orient in Stellung gebracht wird. Zum anderen umfasste das Morgenland eine Vielzahl von Völkern, Kulturen, Religionen und Räumen, unter denen »die islamische Welt« nur einen Teil ausmacht, und zirkelte ein gewaltiges Gebiet ab: Auf einer virtuellen Landkarte abgetragen,26 begann der Orient tatsächlich bereits hinter Wien, im südlichen andalusischen Spanien und Sizilien, zog sich über den Balkan, Griechenland und das Mittelmeer bis nach Nordafrika, zum Nahen und Mittleren Osten weiter über Indien, Indonesien bis nach China und Japan. Er umgriff mithin veritable Teile Süd- und Südosteuropas, das nördliche Drittel Afrikas und fast ganz Asien, sodass sich das nicht-orientalische Europa wie ein kleiner Appendix zu diesem drei Kontinente umspannenden Kulturraum ausnahm. Die größte konzeptgeschichtliche Nähe wies der Orient aus deutscher Perspektive um 1800 allerdings zu Asien auf, sodass in verschiedenen zeitgenössischen Diskursen das Attribut »asiatisch« tatsächlich synonym zu »orientalisch« verwendet werden konnte und vice versa. Anschaulich wird diese Konzeptverschmelzung an der
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