Omnibus IV Simplification Package
Common Specifications
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1. September 2025
Hintergrund
Am 21. Mai 2025 hat die Europäische Kommission ihre neue Binnenmarktstrategie veröffentlicht. Neben den Binnenmarkthindernissen beschreibt die Strategie auch die aktuellen Herausforderungen des europäischen Normungssystems So habe dieses beispielsweise Schwierigkeiten, den aktuellen Anforderungen des Marktes sowie den politischen Vorgaben der EU gerecht zu werden. Insbesondere mit Blick auf die rechtzeitige Bereitstellung von harmonisierten europäischen Normen (hEN) Da sich dies negativ auf die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Binnenmarktes auswirke, sollen die Überarbeitung der Normungsverordnung (EU) Nr. 1025/2012 sowie die systematische Einführung von Common Specifications durch das gleichzeitig veröffentlichte Omnibus-IV-Paket Abhilfe schaffen. Common Specifications werden durch Durchführungsrechtsakte erlassen und sollen als Ausweichmöglichkeit zu hEN dienen, in Fällen, in denen diese nicht verfügbar, verspätet oder unzureichend sind, um die Einhaltung von EU-Rechtsvorschriften dennoch nachzuweisen zu können.
Die deutsche Industrie begrüßt eine einheitliche sowie horizontale Regelung dieses Instruments und fordert dabei gleichzeitig, dass Common Specifications nur in begründeten Ausnahmefällen als Alternative zu harmonisierten Normen genutzt werden dürfen. Zudem weisen wir auf bisher ungeklärte Fragen bezüglich der Rahmenbedingungen und Regeln für deren Entwicklung, Verwendung und Zurückziehung hin Im Folgenden haben wir dafür Vorschläge und Positionen ausgearbeitet, die wir gern einbringen und erläutern möchten
Vorrang für das bewährte Europäische Normungssystem
Das europäische Normungssystem ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg des Binnenmarktes und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union. Es basiert im Kern auf der Bereitstellung von harmonisierten Europäischen Normen (hEN) nach dem Regulierungsmodell des New Legislative Framework (NLF) Dieses Modell sieht eine klare Trennung zwischen den in Rechtsakten festgelegten grundlegenden Anforderungen (beispielsweise an die Produktsicherheit) und ihrer technischen Umsetzung durch in Normen beschriebene Anforderungen vor. hEN sind dabei das zentrale Instrument zur Vermutung der Konformität im Rahmen von EU-Rechtsvorschriften Sie werden von Normungsexperten in einem transparenten und konsensbasierten Verfahren erarbeitet und spiegeln den Stand der Technik sowie die Marktrelevanz wider. Die Einbindung des technischen und marktbezogenen Fachwissens bei der Umsetzung von EU-Gesetzgebung ermöglicht eine praxisnahe Regulierung und begründet dadurch Wettbewerbsvorteile für die europäische Industrie.
Wir verstehen die Absicht der EU-Kommission, der Industrie zeitnah technische Leitlinien zur Verfügung zu stellen, aufgrund von Bedenken hinsichtlich der rechtzeitigen Verfügbarkeit von hEN. Jedoch sind wir der Ansicht, dass die eigentlichen Gründe für die Verzögerungen beim Erarbeiten von hEN, wie etwa das HAS Assessment und die Dauer für die Veröffentlichung der Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union, vorranging beseitigt werden müssen. Weiter sehen wir keine hinreichende Betrachtung der negativen Auswirkungen einer umfassenden Einführung des Instruments der Common Specifications auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft.
Einerseits haben wir Bedenken hinsichtlich der Verfügbarkeit von angemessenem Fachwissen, welches für die Erarbeitung von technischen Leitlinien zur Umsetzung von rechtlichen Schutzzielen unerlässlich ist Dieses technische Know-how auf dem neuesten Stand der Technik steht den Experten innerhalb der Normungsgremien zur Verfügung, ist jedoch innerhalb der EU-Kommission oder anderen beauftragten Stellen begrenzt. Ein Mangel an Erfahrung und Beteiligung qualifizierter Experten bei der Erstellung technischer Leitlinien kann zu ungeeigneten oder gar technisch nicht realisierbaren Forderungen führen und den freien Warenverkehr in der EU beeinträchtigen. Zudem schafft die Erarbeitung von Common Specifications außerhalb der Normungsgremien parallele Strukturen, die ohnehin knappe Ressourcen binden und den Mangel an technischen Fachexperten weiter verschärfen werden.
Andererseits könnte die umfassende Einführung von Common Specifications zu technischen Handelsbarrieren im globalen Markt führen. Denn im Gegensatz zu hEN sind Common Specifications nicht an die internationale Normung im Rahmen von ISO und IEC angebunden. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft hängt maßgeblich vom Zugang zu globalen Märkten ab. Wenn technische Anforderungen international möglichst einheitlich gestaltet werden, baut dies Handelshemmnisse ab und gewährleistet den freien Marktzugang. Eine Divergenz mit auf internationaler Ebene vorgeschlagenen technischen Lösungen würden zur Fragmentierung der Märkte und Wettbewerbsnachteilen für europäische Unternehmen im internationalen Handel führen.
Daher plädieren wir dafür, die verfügbaren Ressourcen in die Optimierung und Beschleunigung des bestehenden europäischen Normungssystems zu investieren Die Schaffung neuer und von der industriellen Praxis losgelöster Strukturen lehnen wir hingegen ab. Harmonisierte Normen müssen weiterhin das vorrangige Instrument für die Vermutung der Konformität im Rahmen von EU-Rechtsvorschriften bleiben. Die Nutzung von Common Specifications sollte dabei keine Alternative zum Rechtsrahmen des NLF und des Europäischen Normungssystems bilden, sondern nur in eng definierten und hinreichend begründeten Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden.
Allgemeine Rahmenbedingungen für den Rückgriff auf Common Specifications
Die Verwendung von Common Specifications sollte horizontal geregelt werden und nur in begrenzten sowie begründeten Ausnahmefälle zulässig sein, wie:
• hEN sind nicht verfügbar, weil die europäischen Normungsorganisationen (ESOs) die Normungsaufträge nicht angenommen haben oder
• erhebliche Verzögerungen bei der Ausarbeitung von hEN entstehen und eine Fristverlängerung nicht möglich ist, oder
• wenn Anforderungen des Rechtsakts durch die Anforderungen in der hEN nicht oder ungenügend abgedeckt sind.
Sollten diese Fälle eintreten, muss die Europäische Kommission offenlegen und begründen, weshalb:
• der Normungsauftrag von den ESOs nicht angenommen wurde.
• die Erarbeitung einer harmonisierten Norm zu spät fertiggestellt sein wird, indem sie den Bericht der ESOs (z. B. das Annual Work Program) dazu der Öffentlichkeit zugänglich macht.
• die technischen Anforderungen einer hEN nicht den Anforderungen des betroffenen Rechtsaktes genügen bzw. nicht erfassen
Zusammenfassend bedeutet dies, dass der Prozess zur Entwicklung technischer Anforderungen zur Umsetzung von EU-Rechtsakten ausnahmslos immer mit einem Normungsauftrag beginnen muss. Dieser richtet sich an die anerkannten europäischen Normungsorganisationen Sollten die beschriebenen Ausnahmefälle eintreten, die in der Nichtverfügbarkeit einer hEN resultieren, erst dann kann die Erarbeitung von Common Specifications als Fallback-Option in Betracht gezogen werden. Dies sollte bereits im Normungsauftrag verbindlich geregelt werden, ebenso wie die Kriterien zur Erarbeitung und Prüfung der alternativen Spezifikationen. Die Option, einen Normungsauftrag direkt auf die Erarbeitung von Common Specifications auszurichten, lehnen wir strikt ab. Gleiches gilt für die Erstellung von Common Specifications ohne einen erteilten Normungsauftrag.
Prozess zur Erstellung von Common Specifications
Viele Fragen zur Umsetzung von Common Specifications, insbesondere zum Entwicklungsprozess, sind noch offen und müssen von der EU-Kommission rechtsverbindlich geklärt werden. Um eine Fragmentierung und Inkohärenz des Normen- und Regelwerks zu verhindern, sollte sich die Verwendung der ebenso technisch anspruchsvollen Common Specifications an den Kriterien für die Erarbeitung, Bewertung und Veröffentlichung von harmonisierten Normen orientieren.
Der Erarbeitungsprozess sollte transparent und offenen gestaltet werden. Aufgrund der erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen von technischen Spezifikationen, ist es entscheidend, dass das notwendige technische Fachwissen und Marktverständnis durch Experten bei der Erarbeitung gesichert ist. Es ist sinnvoll, das technische Lösungswege von denjenigen erarbeitet werden, die sie anschließend in der Praxis anwenden, um Qualität, Marktrelevanz und Praxistauglichkeit der technischen Anforderungen sicherzustellen. Die Zusammensetzung der Gremien für Common Specifications sollte bereits im Normungsauftrag durch Beschreibung von Qualifikationen und Betroffenheiten etwaiger Behörden, Organisationen und Experten enthalten sein. Sollten Common Specifications ohne den Einbezug von praxisrelevantem und technischem Fachwissen entwickelt werden, könnte dies zu weniger praktischen sowie weniger wettbewerbsfähigen Ergebnissen führen.
Zeitlich begrenzte Verwendung von Common Specifications
Die Einführung von Common Specifications als Fallback-Option in EU-Rechtsvorschriften darf nicht zu einer dauerhaften Parallelstruktur zum etablierten Normungssystem führen Daher ist es notwendig, Rahmenbedingungen für die Gültigkeit und Rücknahme von Common Specifications aufzustellen.
Ihre Gültigkeit beginnt mit der Veröffentlichung des entsprechenden Durchführungsrechtsakts durch die Europäische Kommission. Voraussetzung ist jedoch, dass keine gleichwertige hEN durch die Listung der Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union (OJEU) bereits vorliegt und keine gleichwertige fertiggestellte hEN der Kommission zur Listung vorgelegt wurde.
Sobald die Fundstelle einer gleichwertigen hEN im OJEU gelistet wird, muss die entsprechende Spezifikation zurückgezogen werden. Um dabei einen geordneten Übergang zu gewährleisten, sollte bereits im Normungsauftrag ein, für den jeweiligen Fall angemessener, Übergangszeitraum festgelegt werden, durch den die Common Specification weiterhin die Vermutung der Konformität mit den wesentlichen Anforderungen begründen darf.
Die deutsche Industrie begrüßt zwar die Regelung des Konzepts von Common Specifications, weist aber auf viele offene Fragen hinsichtlich einer einheitlichen und horizontalen Regelung ihrer Begründung, Erstellung, Anwendung und Zurückziehung sowie mögliche schwerwiegende Fehlausrichtungen hin. Daher laden wir die Kommission dazu ein, den derzeitigen Ansatz zu den Common Specifications zu überdenken. Denn das harmonisierte europäische Normungssystem hat lange Zeit als Grundpfeiler für Europas Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und regulatorische Kohärenz gedient. Seine inklusive und konsensorientierte Struktur – unter Einbeziehung von Industrie, Zivilgesellschaft, öffentlichen Behörden neutral moderiert und organisiert von Normungsorganisationen – hat vertrauenswürdige und hochwertige Normen hervorgebracht, die sowohl den Binnenmarkt als auch Europas globale Rolle bei der Festlegung internationaler Normen stärken.
Auch wenn wir das berechtigte Interesse der Kommission anerkennen, eine rechtzeitige Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften sicherzustellen, sind wir besorgt, dass die Einführung von Common Specifications als Standardlösung oder paralleler Weg die Stärken des etablierten Systems untergraben könnten Eine Einführung ohne klar definierte Bedingungen und Schutzmechanismen könnte zu Fragmentierung, geringerer Beteiligung von Interessengruppen und einer Schwächung der strategischen Rolle Europas im globalen Wettbewerb führen.
Wir sind der Auffassung, dass Common Specifications eine Fallback-Option bleiben müssen – nur in hinreichend begründeten Fällen, in denen trotz eines klaren regulatorischen Bedarfs der Markt innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens keine harmonisierte Norm liefert. Selbst in solchen Fällen muss ihre Entwicklung die Grundprinzipien der Inklusivität, Transparenz und Beteiligung von Interessengruppen respektieren, wie sie im europäischen Normungsansatz und in der Arbeit von CEN, CENELEC und ETSI verankert sind
Die Stärkung und Optimierung des harmonisierten Normungsprozesses selbst, einschließlich Verbesserungen des HAS-Systems und einer besseren Koordination zwischen den Akteuren, muss weiterhin im Mittelpunkt stehen. Dieser ausgewogene Ansatz dient Europas langfristigen strategischen Interessen am besten und bewahrt die Integrität, Legitimität und globale Glaubwürdigkeit des europäischen Normungssystems.
Über den BDI
Der BDI transportiert die Interessen der deutschen Industrie an die politisch Verantwortlichen. Damit unterstützt er die Unternehmen im globalen Wettbewerb. Er verfügt über ein weit verzweigtes Netzwerk in Deutschland und Europa, auf allen wichtigen Märkten und in internationalen Organisationen. Der BDI sorgt für die politische Flankierung internationaler Markterschließung. Und er bietet Informationen und wirtschaftspolitische Beratung für alle industrierelevanten Themen. Der BDI ist die Spitzenorganisation der deutschen Industrie und der industrienahen Dienstleister. Er spricht für 39 Branchenverbände und mehr als 100.000 Unternehmen mit rund acht Mio. Beschäftigten. Die Mitgliedschaft ist freiwillig. 15 Landesvertretungen vertreten die Interessen der Wirtschaft auf regionaler Ebene.
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