Cristina Gómez Godoy & Michail Lifits

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und deutscher, vom Barock bis zur Romantik – als charakteristisch für Saint-Saëns’ Stil. So entspricht der erste Satz der Oboensonate zwar dem klassischen Sonatensatzschema, verweist mit seiner polyphonen Stimmführung und dem Verzicht auf einen ausgeprägten Themenkontrast aber auf barocke Vorbilder. Es ist wichtig, diese Eigenart nicht als rückwärtsgewandt zu begreifen: an die Vergangen­ heit anzuknüpfen, um das Alte in einer zeitgemäßen harmonischen Sprache zu erneuern und weiterzuentwickeln, das war Saint-Saëns’ Ziel. In der konstruktiven Tendenz, die sich daraus ergab, in der Bedeutung, die er Form und Proportionen in der Musik beimaß, scheint er sogar auf die weitere Entwicklung der 1920er Jahre ­vorzugreifen. Dem Topos der „ländlichen Oboe“ entspricht das ­Allegretto durch Merkmale der musikalischen Pastorale wie den punktierten Siciliano-­Rhythmus, die schlichte, im Umfang zunächst begrenzte Melodie, das mäßige Tempo und die Durtonart. Hinzu kommt ein Rahmenteil aus rhythmisch freien, improvisiert ­wirkenden Arabesken.

Bereits in der antiken Mythologie war die Hirtenwelt mit Musik assoziiert. Prominentes Beispiel ist der Hirtengott Pan mit seiner Flöte Syrinx, dessen musikalisches Bildnis Benjamin Brittens Six Metamorphoses after Ovid eröffnet. Syrinx war eine Nymphe, die sich in Schilfrohr verwandelte, um dem zudringlichen Pan zu entkommen. „Diese Unterhaltung mit dir soll mir bleiben!“, erklärte der daraufhin und baute die Flöte. Die Erzählung berührt eine ­weitere Konstante in der Geschichte der Oboenliteratur: den Vergleich mit der menschlichen Stimme. Den „gleichsam redende[n] Hautbois“ nannte sie 1713 der Musiktheoretiker Johann Mattheson. „Das Wesen der Welt liegt im Wandel“, lautet der Grundgedanke der Metamorphosen des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.). In 250 Episoden führen sie vom „Urbeginn der Welt“ bis „auf meine eigene Zeit“ und erzählen von Menschen und ­menschenähnlichen Wesen, die zu Tieren, Pflanzen oder Gewässern werden: zu ihrem Schutz wie Syrinx und ihre Leidensgefährtin Arethusa oder als Strafe wie Niobe und Narcissus, die für ihren Hochmut büßen. Phaethon wird von Jupiter mit einem Blitz getötet, nachdem er mit dem Sonnenwagen seines Vaters Phoebus die Erde in Brand gesteckt hat. Der Gott Bacchus verwandelt verschiedene

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