8 minute read

Cristina Gómez Godoy & Michail Lifits

Metamorphosen der Oboe

Werke von Saint-Saëns, Britten, Skalkottas, Carter und anderen

Antje Reineke

„Zur Zeit verwende ich meine letzten Kräfte darauf, denjenigen Instrumenten, die in dieser Hinsicht wenig begünstigt sind, die Möglichkeit zu geben, sich Gehör zu verschaffen“, erklärte der 85-jährige Camille Saint-Saëns 1921 die Pläne zu seinen drei Bläsersonaten. Der Oboe hatten sich in der Tat nur wenige namhafte Komponisten des 19. Jahrhunderts gewidmet – die damaligen Instrumente entsprachen in Tonumfang, Dynamik und Ausdrucksvielfalt nicht ihren Bedürfnissen. Hector Berlioz schreibt 1843 in seiner Instrumentationslehre, die Oboe habe „einen ländlichen Charakter, voll Zärtlichkeit, fast möchte ich sage: voll Schüchternheit“. Zum „Schrei der Leidenschaft“, zum „stürmischen Ausbruch des Zornes, der Drohung oder des Heldenmutes“ sei sie nicht fähig. Die Situation änderte sich am Übergang zum 20. Jahrhundert zu einen durch Fortschritte im Instrumentenbau, zum anderen, weil Komponisten wie Debussy, Ravel und Strawinsky in ihren Orchesterwerken vermehrt Gewicht auf die Bläser legten und damit deren Spieltechniken vorantrieben. Auch das Interesse an der Oboe als Kammermusik- und Soloinstrument erwachte nun neu. Insofern ist es kein Zufall, dass fast alle Werke des heutigen Abends aus dem 20. Jahrhundert stammen.

Saint-Saëns’ Sonate steht mit ihrer klaren Linienführung, dem durchsichtigen Klaviersatz und der konzisen, klassischen Anlage aus einem Sonaten-, pastoralen Mittel- und virtuosen Schlusssatz beispielhaft für Ideale wie Einfachheit, Eleganz, Rationalität und formale Balance, die in Frankreich als Merkmale einer nationalen Musiktradition angesehen wurden. Zudem gilt der Bezug auf eine Vielzahl historischer Vorbilder – französischer wie österreichischer und deutscher, vom Barock bis zur Romantik – als charakteristisch für Saint-Saëns’ Stil. So entspricht der erste Satz der Oboensonate zwar dem klassischen Sonatensatzschema, verweist mit seiner polyphonen Stimmführung und dem Verzicht auf einen ausgeprägten Themenkontrast aber auf barocke Vorbilder. Es ist wichtig, diese Eigenart nicht als rückwärtsgewandt zu begreifen: an die Vergangenheit anzuknüpfen, um das Alte in einer zeitgemäßen harmonischen Sprache zu erneuern und weiterzuentwickeln, das war Saint-Saëns’ Ziel. In der konstruktiven Tendenz, die sich daraus ergab, in der Bedeutung, die er Form und Proportionen in der Musik beimaß, scheint er sogar auf die weitere Entwicklung der 1920er Jahre vorzugreifen. Dem Topos der „ländlichen Oboe“ entspricht das Allegretto durch Merkmale der musikalischen Pastorale wie den punktierten Siciliano-Rhythmus, die schlichte, im Umfang zunächst begrenzte Melodie, das mäßige Tempo und die Durtonart. Hinzu kommt ein Rahmenteil aus rhythmisch freien, improvisiert wirkenden Arabesken.

Bereits in der antiken Mythologie war die Hirtenwelt mit Musik assoziiert. Prominentes Beispiel ist der Hirtengott Pan mit seiner Flöte Syrinx, dessen musikalisches Bildnis Benjamin Brittens Six Metamorphoses after Ovid eröffnet. Syrinx war eine Nymphe, die sich in Schilfrohr verwandelte, um dem zudringlichen Pan zu entkommen. „Diese Unterhaltung mit dir soll mir bleiben!“, erklärte der daraufhin und baute die Flöte. Die Erzählung berührt eine weitere Konstante in der Geschichte der Oboenliteratur: den Vergleich mit der menschlichen Stimme. Den „gleichsam redende[n] Hautbois“ nannte sie 1713 der Musiktheoretiker Johann Mattheson. „Das Wesen der Welt liegt im Wandel“, lautet der Grundgedanke der Metamorphosen des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.). In 250 Episoden führen sie vom „Urbeginn der Welt“ bis „auf meine eigene Zeit“ und erzählen von Menschen und menschenähnlichen Wesen, die zu Tieren, Pflanzen oder Gewässern werden: zu ihrem Schutz wie Syrinx und ihre Leidensgefährtin Arethusa oder als Strafe wie Niobe und Narcissus, die für ihren Hochmut büßen. Phaethon wird von Jupiter mit einem Blitz getötet, nachdem er mit dem Sonnenwagen seines Vaters Phoebus die Erde in Brand gesteckt hat. Der Gott Bacchus verwandelt verschiedene Personen, Brittens Stück allerdings bezieht sich auf die Schilderung der Bacchanalien. Dass der Komponist gerade diese Geschichten als Grundlage seiner 1951 entstandenen Suite für Oboe solo wählte, hängt sicherlich mit dem Ort der Uraufführung zusammen: Sie fand unter freiem Himmel auf einem kleinen (künstlichen) See in dem Dorf Thorpeness statt, das direkt an der Nordsee inmitten einer Sumpf- und Heidelandschaft liegt.

Der Gedanke der Metamorphose findet sich auf verschiedenen Ebenen: Da sind die Verwandlungen, von denen die Geschichten handeln; die Verwandlung des Textes in Musik; die Verwandlung der Oboe, die sich von verschiedenen Seiten zeigt; und schließlich Verwandlung als kompositorisches Grundprinzip, indem die Stücke aus ihren Anfangstakten entwickelt werden. Sie erzählen nicht die Geschichten nach, auch wenn Phaethon, nachdem er immer höher gestiegen ist, dramatisch in die Tiefe stürzt, sondern bieten Momentaufnahmen: Niobes Klage, Arethusas Wasserspiel … Narcissus’ Blick auf sein Spiegelbild wird dadurch eingefangen, dass der Melodie leise und in höherer Lage ihre Umkehrung gegenübertritt. Diese Zweistimmigkeit war neu in der Oboenliteratur und wurde in der Folge von anderen Komponisten aufgegriffen.

Im Zentrum seines Concertinos beschwört auch der Grieche Nikos Skalkottas die Oboe als pastorales Instrument. Hinzu treten ein kurzer Sonatensatz und ein Rondo als spielfreudiger Kehraus: eine traditionelle Satzfolge also, die sich mit einer kompromisslos modernen Sprache verbindet. Die Verkleinerungsform Concertino, die generell auf einen geringen Umfang oder eine kleine Besetzung hinweist, trägt dem eher leichten Charakter des Stücks Rechnung. Skalkottas selbst hebt in einem Einführungstext die Virtuosität der Partitur, ihren in Teilen tänzerischen Charakter und die vielfältigen musikalischen Kontraste und Variationen hervor. Außerdem betont er den Dialog der Instrumente. Es solle dem Hörer „Freude bereiten, ihn unterhalten und faszinieren“.

Skalkottas, geboren 1904 in Athen, hatte ursprünglich eine Karriere als Geiger angestrebt, seinen Schwerpunkt dann jedoch auf die Komposition verlagert und ab 1927 bei Arnold Schönberg in Berlin studiert. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen ihn 1933 zur Rückkehr nach Athen, wo er als Orchestergeiger arbeitete. Von den Entwicklungen der neueren Musik war er damit abgeschnitten; an Aufführungen seiner avantgardistischen Werke war in Griechenland nicht zu denken. Den größten Teil seines umfangreichen, vielgestaltigen Schaffens, das dennoch bis zu seinem frühen Tod 1949 entstand, hat er nie gehört.

Stilistisch zeigt sich Skalkottas in seinem Concertino Strawinsky näher als Schönberg. Komponiert ist es in einem frei atonalen Stil – verzichtet also auf den harmonischen Bezug auf zentrale Töne oder Tonarten, ist aber auch nicht zwölftönig organisiert. Dennoch erscheinen häufig alle oder fast alle zwölf Töne auf engem Raum (innerhalb eines Themas, einer Akkordfolge, weniger Takte etc.). Skalkottas gestatte sich jedoch „größere Freiheit, um sein Material spontan mit Verzierungen, Arpeggien, Ton- und Phrasenwiederholungen, bewusst neoromantischen Gesten, tonal oder polytonal wirkenden Momenten und parodistischen oder humoristischen Stellen zu entwickeln“, fasst John Thornley zusammen. Typisch sind zudem die mitunter von sehr weiten Intervallen geprägte Melodieführung und die expressive Verwendung der extremen Lagen der Oboe.

Skalkottas schrieb das Concertino 1939 für einen Oboisten des Athener Staatsorchesters. Später fasste er es mit einer „Sonata concertante“ für Fagott und Klavier sowie einem Concertino für Trompete und Klavier zu einem Zyklus zusammen, den er durch zwei kurze Quartette komplettierte. Die Uraufführung des OboenConcertinos verzögerte sich allerdings bis 1959; der Zyklus war erstmals 1969 in London zu hören.

Elliott Carter verfolgte trotz seiner Ausbildung als Oboist keine Karriere als ausübender Musiker. Von Charles Ives in jugendlichem Alter in die Welt der modernen Musik eingeführt, unterrichtete er seit den vierziger Jahren Komposition an verschiedenen Hochschulen in den USA. Er gilt als einer der führenden amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein Inner Song ist Teil einer Trilogy für Oboe und Harfe, die Carter 1991/92 für das Ehepaar Heinz und Ursula Holliger schrieb. Heinz Holliger spielte Inner Song erstmals im April 1992 im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik zum 20. Todestag des Komponisten Stefan Wolpe, dem das Stück gewidmet ist. Carter ging für seine musikalische Hommage von Wolpes Suite im Hexachord für Oboe und Klavier aus. Unter einem Hexachord versteht man eine Reihe von sechs stufenweise aufeinanderfolgenden Tönen. Sie bilden hier die Grundlage für ruhige, weitgespannte kantable Bögen – den verinnerlichten Gesang des Titels. Dieser könne einerseits im Sinne von Introvertiertheit und damit als persönliches Gedenken an Wolpe interpretiert werden, schreibt der Musikwissenschaftler Henning Eisenlohr. Andererseits beinhalte er den Gedanken, dass Musik menschliche Erfahrungen auszudrücken vermag, gerade auch solche, die mit Worten nicht zu fassen sind. In die gleiche Richtung weist auch ein Vers aus einem der Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke, den Carter unter sein Stück gesetzt hat – wobei er versicherte, diese Assoziation sei ihm nachträglich gekommen: „Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …“

Franz Schuberts acht Impromptus D 899 und 935 datieren wahrscheinlich von 1827. Nur zwei von ihnen erschienen zu Lebzeiten des Komponisten im Druck: Sie seien „als Kleinigkeiten zu schwer“, erklärte ihm der Mainzer Schott-Verlag. Mit dem Begriff Impromptu verbinden sich Vorstellungen einer (scheinbar) aus dem Stegreif geschaffenen Dichtung oder Musik. Schuberts Stücke wirken allerdings kaum improvisiert, sondern greifen die verschiedenen Satztypen der Sonate auf. Ohnehin geht die Benennung wohl auf seinen Verleger zurück.

Das träumerische Impromptu in Ges-Dur, das einem langsamen Satz entspricht, lebt von dem Gegensatz zwischen der ruhigen gesanglichen Melodie in dem schreitenden Rhythmus lang – kurz – kurz, der so typisch für Schubert ist, und einer figurierten Mittelstimme aus zarten, fließenden Arpeggien. Ein wenig dramatischer und bewegter, aber dennoch mit dem Anfang eng verwandt ist der Mittelteil. Die Melodie verwendet nun größere Intervalle und ihr Tonumfang erweitert sich. Auch die linke Hand wird eigenständiger, setzt Akzente durch Sforzati und Auftakte, bevor die Musik zur Ruhe des Anfangs zurückkehrt.

„Die Oboe ist vor allem ein melodisches Instrument“, formulierte Hector Berlioz die zu seiner Zeit herrschende Meinung. In Solowerken konnte sich Kantabilität jedoch mit einem erheblichen Maß an Virtuosität verbinden, denn die Oboe war im 19. Jahrhundert kein Laieninstrument und daher in der Hausmusik kaum vertreten. Auch das Morceau de Salon des Tschechen Johann Wenzel Kalliwoda von 1859 verbindet Melodienreichtum mit mitreißenden figurativen Passagen. Hinter einer einfachen Bogenform scheint das für Salonkompositionen typische potpourriartige Prinzip durch, das auf Abwechslungsreichtum abzielt. Jeder Teil verfügt über zwei einprägsame melodische Ideen: So kontrastiert der „agitato“ überschriebene Beginn in g-moll mit einem schwungvollen Thema in B-Dur, das die Oboe in mehreren Ansätzen immer höher führt, bis sie über eine Kette chromatisch ansteigender Triller ein dreigestrichenes G erreicht, den höchsten Ton, der im 19. Jahrhundert von diesem Instrument verlangt wurde. Am Beginn des Mittelteils steht eines der damals beliebten alpenländisch gefärbten Themen, das mehrfach variiert und brillant gesteigert wird. In seiner Klangsprache scheint das Morceau der Oper verwandt, was ausgesprochen typisch ist für eine Zeit, die sich für Paraphrasen und Variationen über Opernmelodien begeisterte.

Kalliwoda selbst war Violinvirtuose und wirkte von 1822 bis 1866 als Hofkapellmeister in Donaueschingen. Waren seine ersten Symphonien u.a. von Robert Schumann begeistert aufgenommen worden, so ließ das Interesse an seinen Werken schon zu Lebzeiten merklich nach. Aus seinem vielfältigen Schaffen haben sich bis heute vor allem einige konzertante Bläserwerke im Repertoire gehalten. Als sein beliebtestes Werk gilt ein Concertino für Oboe und Orchester.

Charles Martin Loeffler wurde 1861 wahrscheinlich in Berlin geboren, auch wenn er selbst behauptete, aus dem Elsass zu stammen. Ab 1874 studierte er in Berlin und Paris Geige und Komposition. Da sein Vater aus politischen Gründen zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt worden war, distanzierte sich Loeffler von allem Deutschen – seine Liebe galt der französischen Kultur. 1881 emigrierte er in die USA und wurde im folgenden Jahr Konzertmeister des Boston Symphony Orchestra. Nachdem er sich 1903 aus dem Orchester verabschiedet hatte, trat Loeffler weiter als Kammermusiker auf, unterrichtete, leitete einen Knabenchor, gehörte verschiedenen Wettbewerbsjurys und dem Board der Boston Opera Company an – und bewirtschaftete außerdem einen Bauernhof. Seine Zwei Rhapsodien gehen auf drei Lieder für Bariton, Klarinette, Viola und Klavier zurück, die Loeffler 1898 für den Klarinettisten Léon Pourtau komponierte. Ob sie damals aufgeführt wurden, ist allerdings unklar, da Pourtau im selben Sommer bei einem Schiffsunglück ums Leben kam. Angeregt durch den französischen Oboisten Georges Longy, ebenfalls Mitglied des Boston Symphony Orchestra, arbeitete Loeffler einige Jahre später die ersten beiden Stücke für Oboe, Viola und Klavier um. Aus dem dritten wurde eine Symphonische Fantasie für Orchester und Orgel. Die Texte der Lieder stammten von Maurice Rollinat, einem Dichter der Baudelaire-Nachfolge und Vertreter der Décadence. Als Décadent und Symbolist galt auch Loeffler, der seiner Biographin Ellen Knight zufolge großes Gewicht auf die „Klangfarbe, Nuancen, den Gefühlsausdruck sowie die Beschwörung von Atmosphären und Stimmungen“ legte: „Wie die Dichter reizte ihn das Exotische, Außergewöhnliche und Exquisite, Zauberei, sehnsüchtige und melancholische Stimmungen sowie oft das Makabre.“ Rollinats Gedichte sind der Partitur vorangestellt. L’Étang beschreibt einen Teich voller „sehr alter Fische“ und das „plätschernde Grauen seiner Trübe“ sowie darüber den Mond, „einen innwendig erleuchteten Totenkopf“, der „sich in einem dunklen Spiegel beschaut“. Das lyrische Ich von La Cornemuse lässt die Erinnerung an den fernen, „flöten- und oboenartigen“ Klang eines Dudelsacks nicht los, obgleich der Spieler tot ist: „Immer, tief in meiner Seele, in den Ecken alter Furcht, höre ich wie einst den Dudelsack stöhnen.“ Wie die Flöte des Pan gilt auch der Dudelsack – für dessen Spielpfeifen in Frankreich wie für Oboen meist Doppelrohrblätter verwendet wurden – als Hirteninstrument. In Loefflers Rhapsodien laufen so die Fäden des heutigen Abends zusammen: die Oboe als ländliches Instrument und als Verwandte der menschlichen Stimme, deren Gesang Ausdruck von Empfindungen jenseits der Worte ist.