STADTSICHT 4/2018

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wie eine riesige Gemischtwarenhandlung, in der man aus dem Fundus der Weltreli­ gionen schöpfen kann. Kein Wunder, ist es schwierig, hier die Übersicht zu behalten. Diese mit Worten schwer zu fassenden Erfahrungen und Eindrücke bilden die Substanz aller Schulen der Meditation. Vipas­sana steht zum Beispiel für die buddhistische Achtsamkeitsmeditation mit dem Ziel, erleuchtet zu werden. Zen ist eine­in Japan beliebte Strömung, um eine «tiefe Erkenntnis» zu erlangen. Der vom Dalai Lama praktizierte tibetische Buddhismus verfolgt die «allumfassende Weisheit». Doch nicht nur im Fernen Osten hat man den Hang zur Transzendenz, auch im Westen: Die christliche Mystik strebt nach dem «Einswerden mit Gott», Gebet und Kontemplation dienen hier als «Techniken». Die jüdische Kabbala beschreibt den Zustand «bei Gott zu sein». Für den Islam schliesslich besteht Spiritualität darin, eine­geistige Brücke zwischen Menschen und Welt aufzubauen, aber auch zum offenbarten Gott (Allah). In vielen Religionen­ sind meditationsähnliche Rituale stark vertreten. Meditation hilft dem Geist

Das Spektrum der Meditation ist unendlich. Es reicht von «sich von dieser Welt lösen» bis zu «eins werden mit Mutter Erde und dem Universum». Erreicht werden diese geistig entrückten Zustände über Mantras oder Gebete, meditatives Singen oder rhythmische Bewegungsabläufe. Auch die Kampfkunst des Tai-Chi oder ­Qigong haben meditative Aspekte. Das Feld der Meditation ist heute wissenschaftlich gut erforscht. Man hat nachgewiesen, dass Meditation Wirkungen auf unseren Körper und unser Gehirn hat. Unmittelbar während oder nach einer Meditation sind ­Gammawellen deutlich stärker als vor der Meditation. Das deutet auf eine erhöhte Konzentrations- und Lernfähigkeit hin. Wer regelmässig meditiert, weist eine grössere Vernetzung der Hirnzellen im

Frontalkortex auf, was wiederum die kognitiven Fähigkeiten verbessert. Das Gehirn wandelt sich: Nach dem Meditieren werden Teile der vorderen Hirnrinde verstärkt durchblutet. Das sind genau jene Areale, die für das Regulieren von Gefühlen wichtig sind. Konkret heisst das: Wer im Alltag, in der Schule oder im Beruf, sehr kopflastig unterwegs ist, hilft sich mit regelmässigem Meditieren auf die Sprünge. Danach ist man besser fokussiert, agiert konzentrierter, lernt besser.

ANTWORTEN Was sagt die katholische Kirche zum Trend der Spiritualität. Bischof Felix Gmür im Kurzinterview. STADTSICHT: Ist Spiritualität ein moderner Trend? Felix Gmür: Ich weiss nicht, ob Spiritualität wirklich ein Trend ist – ein Modebegriff ist es auf jeden Fall. Welche Rolle spielt die Spiritualität in

Achtsamkeit gegen den Stress

der katholischen Kirche?

Achtsam und mitfühlend durch den Alltag zu gehen – dagegen kann man wohl nichts haben. Achtsamkeit beschreibt einen­Zustand des bewussten, aber wertfreien Wahrnehmens und Aufnehmens. Es ist ein Zustand von Offenheit und im Grunde das Gegenteil von Konzentration, in welcher alles ausserhalb eines gewählten Fokus ausgeblendet werden soll. Für das eigene Leben und unsere Gesundheit kann Achtsamkeit einen konkreten Nutzen bringen. Hand aufs Herz: Oft funktionieren wir im Alltag nur. Wir nehmen uns nicht die Zeit zu hinterfragen oder auch, um die Zeichen unseres Körpers oder Geistes zu erkennen, geschweige denn zu deuten. Vieles machen wir zielorientiert, automatisch und unreflektiert. Wir achten zu selten darauf, was uns Freude bereitet oder einfach nur guttut. Achtsamkeit und die darin angewandten Meditationstechniken sind längst nicht «nur» Beruhigungsmethoden, sie können unseren Alltag stark beeinflussen. Wir müssten grundlegend in unserem Alltag etwas ändern, um unseren grössten Stressauslöser, den Zeitmangel, zu beseitigen. Dazu bedarf es Momenten der Ruhe. Diese Augenblicke des Innehaltens können wir uns mit Meditieren oder über Achtsamkeit verschaffen. Die Meditation verschafft uns wertvolle Inseln der Ruhe, die Achtsamkeit lehrt uns, bewusster zu leben.

Sie spielt die tragende Rolle, weil sie der

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tragende Pfeiler des Gebets, der Meditation, der Liturgie, des sozialen Handelns ist. Sie macht die Verbindung zu Gott bewusst. Führen die vielen spirituellen Behandlungen und Angebote zu einer Abkehr von der Religion? Spiritualität heisst einfach Geistigkeit und muss nicht zwingend mit einem religiösen Inhalt aufgeladen sein. Spirituelle Angebote anderer Religionen führen näher zu dieser anderen Religion; das kann für manche eine interessante Erfahrung sein. Manchmal sucht man jedoch in der Ferne, was man auch in der Nähe finden könnte: Die katholische Kirche verfügt über einen grossen, jahrhun­ dertealten Reichtum an unterschiedlichen spirituellen Traditionen und Angeboten. In der Kirche glaubt man als Gemeinschaft, in den gegenwärtig florierenden Alltagsangeboten als Einzelner. Was ist richtig? Das eine bedingt das andere: Viele spirituelle Praktiken verfolgen das Ziel, den Zugang zum eigenen Selbst zu finden. Andererseits ba­ siert die christliche Glaubensgemeinschaft darauf, auch im menschlichen Gegenüber Gott zu begegnen. Ist Spiritualität für Sie so etwas wie der Schlüssel zum Glück? Sie kann ein Weg zu Gott sein, aber «Schlüssel zum Glück» wäre zu kurz gegriffen.


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