Three Six O | Sonderausgabe | September 2022 | deutsch

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Zeitung für Raumkunst | 10. Ausgabe | September 2022 SONDERAUSGABE

Das

Die Kunst des Erinnerns

Gefühl einer Zeit 10 Jahre Mauer-Panorama am Checkpoint Charlie Juliane Voigt Between Worlds – Kunst ohne Grenzen Dr. Rebekka Revel | Erinnern am historischen Ort: Die Stiftung Berliner Mauer Axel Klausmeier Was von ihr übrig ist … in den Köpfen und Herzen der nächsten Generation Juliane Voigt Sehen mit allen Sinnen Klaus Honnef | Jugend braucht Raum Dimitri Hegemann Komposition aus Erinnerung Peter Schneider | Wanderer zwischen den Welten Bernd Sahling GRATIS

2 Editorial

TON STEINE SCHERBEN aus: Der Traum ist aus, 1972

Ich hab’ geträumt, der Krieg wär’ vorbei. Du warst hier und wir waren frei.

Wie junge Menschen in der DDR gelebt haben, hat der Filmemacher Bernd Sahling in seinem Film „Alles wird gut“ festgehalten. Er ist in den 80er Jahren als Doku mentarfilmer in die Punk-Szene Ost-Berlins eingetaucht. Sein Beitrag in diesem Heft beleuchtet, wie die DDR durch Einengung und Bedrohung junge Menschen auch für den Rest ihres Lebens zerstören konnte.

Dass junge Menschen eigene Freiräume brauchen, dafür setzt sich seit Beginn der 1990er Jahre der Berliner Kulturunternehmer Dimitri Hegemann ein. Mit dem Club „Tresor“ hat er so einen Raum geschaffen. Und er setzt sich bis heute dafür ein, dass in Berlin Freiräume bleiben, als Orte für die Kreativität junger Menschen. Denn „Dit is Balin!“ Der brodelnde Untergrund für international beachtete junge Kunst. Deren kreative Wilde immer weniger Platz haben.

Oderwar.auch:

die Beiträge in dieser Ausgabe auch zu sein scheinen, sie drehen sich doch um eins: Die Mauer, die die Berliner schon beinahe vergessen haben. Die im Mauer-Panorama visuell konserviert wird. Auch als Mahnmal gegen alle sinnlosen Mauern in dieser Welt.

Liebe Leserinnen, Liebe Leser,

Zehn Jahre Mauer-Panorama! Wir hätten es nicht für möglich gehalten. Auf unbestimmte Zeit sollte der Inte rimsbau dort nur stehen, als er am 23. September 2012 eröffnet wurde. Wie oft hieß es danach, das Gelände sei an einen Investor verkauft oder jedenfalls stünde der Verkauf kurz vor dem Abschluss. Die Innenstadt von Berlin wuchs zu einem utopischen „Metropolis“. Aber das kleine Mauer-Panorama blieb, als sei es durch eine unsichtbare Bannmeile geschützt vor der Investitionsund Baublase, die ringsum alles aufsaugte.

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Fast 1,5 Millionen Besucher waren in den vergangenen zehn Jahren im Mauer-Panorama in Berlin. Unter ihnen auch der Schriftsteller Peter Schneider. Er galt mit vielen seiner Bücher als Sprachrohr der jungen Linken und beschreibt als Zeitzeuge der Berliner Szene auch die Mauer als Kulisse des täglichen Lebens. Und sein Déjà-vu dieser Zeit im Mauer-Panorama. Einen Ausschnitt aus seinem Buch „An der Schönheit kann’s nicht liegen“ durften wir mit seiner Genehmigung hier abdrucken. Auch der Kunstkritiker und Kurator Klaus Honnef schildert seine Eindrücke vom Mauer-Panorama in einem Text, der das Phänomen Panorama noch einmal in den Mittelpunkt rückt.

Was junge Menschen noch von Berlin vor dem Mauerfall 1989 wissen, haben wir in einem Interview erfragt. Und wie die Gedenkstätte Berliner Mauer die Geschichte deutsch-deutscher Teilung an die Nachgeborenen vermittelt, darüber berichtet Prof. Dr. Axel Klausmeier, der Leiter der Stiftung Berliner Mauer mit mehreren SoStandorten.unterschiedlich

Das wollen wir mit dieser Ausgabe der Threesixo feiern. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, gerade in Berlin, in einer Zeit, an einer Stelle, in einer Welt, in der nichts bleibt, wie es

Nichts so sicher ist, wie der Wandel. Ein Lieblingsmantra der Großmutter von Dr. Rebekka Revel. Die Berliner Künstlerin gehört einem Kunstmarkt an, in dem Kunstwerke im herkömmlichen Sinne nicht mehr vorhanden sind. Es gibt keine Bilder, keine Kunst transporte, keine großen Museen, die für klimatische Bedingungen sorgen müssen. NFT ist die Kunst der Zukunft, digitale Kunstwerke, die mit einem Mausklick die Besitzer wechseln. Wir finden das interessant, denn auch die Rund-Bilder von Yadegar Asisi entstehen erst einmal als digitale Kunstwerke im Computer, bevor sie gedruckt, in Rotunden als Panoramen begehbar werden. Auch sie könnten eines Tages als VR-Panoramen auch den digitalen Kunstmarkt erobern.

Ihre Juliane Voigt

marktstreiben rund um den legendären früheren Grenzkon trollpunkt. In dem Panorama-Bild hat der Künstler Yadegar Asisi seine persönliche Erinnerung an die Berliner Mauer als immersives Kunstwerk geschaffen.

Juliane Voigt

Comic-Wall. Auch ein gepflasterter Pfad, der den Verlauf des einst knapp 160 km langen monströsen Beton-Wurms nachzeichnet und sich geräuschlos wie eine alte Narbe durch die Stadt zieht, hatte auch nicht das Image eines Auf machers. Die Macher einer der einflussreichsten Tageszei tungen der Vereinigten Staaten mit weltweiter Leserschaft wussten, was sie taten und entschieden sich konzeptionell für das Asisi-Bild auf der ersten Seite der Jubiläums-Aus

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steht am Checkpoint Charlie auch inhaltlich in deutlicher Entfernung zu dem touristischen Jahr

Diegabe.Panorama-Rotunde

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Das einerGefühlZeit

Zu sehen ist die Berliner Mauer der 80er Jahre in Kreuz berg. Das abgehängte Skandalviertel war eine entlegene Enklave, gefährliches Pflaster, das auch mal schnell durch die Gegend fliegen konnte. Mit der U-Bahn erreichbar, aber Lichtjahre entfernt vom glitzernden Kurfürstendamm. Was Asisi dort auf höchst fotorealistische Weise aus seiner Erinnerung, aber auch historisch genau rekonstruiert hat, ist ein kleiner Platz mit dem obligatorischen „Gemüse-Tür ken“, einer Tankstelle, dem ebenso klischeehaft langhaari gen Autoschrauber, einer Gruppe Punks am Kreuzberger Kiez-Kiosk. Die Szene ist an einer Seite begrenzt von der knapp drei Meter hohen Mauer, die sich aus der Fußgän gerperspektive gar nicht als das martialische Ungetüm, das es ist, anfühlt. Angemalt, mit Straßenkunst, Graffiti-Tags und mit Plakaten beklebt, wirkt die Mauer wie eine Hauswand. Den Himmel sieht man von hier aus nur halb, Menschen stehen da, quatschen, schauen sich um, beschäftigen sich.

5Foto:©asisi

6 Das Gefühl einer Zeit – 10 Jahre Mauer-Panorama am Checkpoint Charlie

Kenntnis der geschichtlichen Zusammen hänge erzählt das Mauer-Panorama diesen Ausschnitt der Leben vieler. Und das macht dieses Bild mit seinem Sound mix aus Textcollagen und Straßenatmosphäre zu einer Art Gedenkstätte, die wie kein anderer Ort in Berlin auch füh len lässt, was die Mauer damals für die Menschen gewe sen sein muss. Es gab kein Aufbegehren, kein Trennungs schmerz, im Angesicht der Mauer regte sich nur bedingt ein Gefühl der Trauer oder der Ohnmacht. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Die meisten Menschen lebten ihre ganz normalen Leben unter dem geteilten Him mel. Wenn sich ihre Blicke begegneten, sahen sie einander an, wie durch die Linse eines James Bond Filmes.

asisi©Foto:

Die Berliner hatten da den Schock der Trennung einiger maßen verwunden. Wer es gar nicht ausgehalten hatte, war aus der mit Stahlbeton ummauerten Stadt weggezogen. Die Weltpolitik hatte sich nach dem 13. August 1961 symbolisch noch ein wenig aufgebäumt, aber der damalige US-Präsi dent J.F. Kennedy soll als Reaktion auf die Nachricht vom Mauerbau zu Beratern gesagt haben, dass er den Russen im Grunde dankbar sei für diese radikale Lösung. So seien alle noch mal knapp um einen dritten Weltkrieg herum gekommen. Die Fronten des Kalten Krieges waren damit endgültig abgesteckt. Die manifestierte Grenzziehung garantierte zudem, dass die Sowjets offensichtlich nicht vorhatten, sich West-Berlin einzuverleiben, eine seit Kriegs ende tief sitzende Angst der Bewohner und der westlichen Alliierten. Der Einzige, der sich übrigens nie mit der Mauer abgefunden hat, war der damalige Berliner Bürgermeister Willy Brandt. Der auch unter deutschen Politikern bald keine Unterstützung mehr fand für seinen hilflosen Protest. Wenn zuerst niemand die Absicht gehabt hatte, eine Mauer zu bauen, dann hatte erst recht keiner die Absicht, sie wieder Miteinzureißen.einwenig

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Das Bild zeigt die Zeit 20 Jahre nach dem Tag des Mauerbaus. Seitdem zwängt der schmale Pfad der Sebas tianstraße die Bewohner der Straße auf dem Weg zu ihren Hauseingängen in einen dunklen Straßenkorridor. Links das bröckelnde Kreuzberger Wohnhaus. Rechts die Mauer. Von ihren Wohnungen aus sehen sie in den Todesstreifen hin unter. Sie haben sich daran gewöhnt, dass es dort immer taghell ist, manchmal sind es kleine Zwischenfälle, manch mal Übungen, dann reißen anhaltendes Hupen und Sire nen die Bewohner aus dem Schlaf. Sie kennen die Grenzer, von denen sie mit Feldstechern beobachtet werden. Sie kennen die Menschen in den Wohnungen gegenüber, die manchmal scheu herübersehen. Sie schauen hinunter in den menschlichen Abgrund von Hass und Gewalt, trinken Kaffee und ärgern sich, weil die Milch sauer ist, lieben sich oder planen ihren Urlaub irgendwo im Süden.

Der Mensch gewöhnt sich an alles. Das ist vielleicht die eindrücklichste Message des Mauer-Panoramas, die Yadegar Asisi aussenden will. Und das macht diesen Mauer-Erinnerungsort wirklich einzigartig. Es geht auf die sem Bild nicht um Diktatur und Verfolgung, um Schwarz oder Weiß, Kapitalismus und Sozialismus, um DDR-Auf arbeitung oder Unrechtsstaat-Debatten. Es geht um den kleinen Menschen in seinem kleinen Leben, der sich den merkwürdigsten Gegebenheiten anpassen kann. Wie in Platons Höhlengleichnis spielt Yadegar Asisi mit der Blind heit des Menschen. Das lässt er den Besucher des Pan oramas auch nacherleben. Es gibt die Unwissenheit der Fußgängerperspektive in der Dunkelheit des Nichtwissens. Erst vom Besucherpodest aus zeigt sich, was wirklich ist, eröffnen sich die Möglichkeiten, zu erkennen, zu begreifen und zu reflektieren.

Vielleicht war es das, was die New Yorker Zeitungsmacher zu dieser Entscheidung brachten, mit einem Ausschnitt aus diesem Panorama auf ihrer Titelseite an das Ereignis zu erinnern. Das Mauer-Panorama funktioniert als Gedächt nisstütze für die, die mit der Mauer gelebt haben. Für viele ist es ein Ort, an dem sie miteinander über diese Zeit ins Gespräch kommen. Und nach zehn Jahren hat der Interims bau, der er eigentlich ist, vielleicht nur durch seine Präsenz mit dafür gesorgt, dass ein Bewusstsein für diesen legen dären Ort gewachsen ist, der bis heute von Investoren frei gehalten werden konnte. Und ist damit der vielleicht einzige authentische Ort für Menschen, die diese Zeit nicht erlebt haben. Die sich danach vielleicht ein wenig mehr vorstellen können, wie es sich anfühlen würde, wenn heute zwischen Museumsinsel und Potsdamer Platz eine unüberwindliche Mauer stehen würde: am Ende nämlich irgendwie auch ein bisschen normal.

Das asisi Panorama Berlin feiert sein zehnjähriges Bestehen. Das ist umso erstaunlicher, betrachtet man die ursprüng lich geplante Standzeit des Ausstellungsbaus von nur zwei Jahren, die aufgrund des nicht abreißenden öffentlichen Interesses immer wieder verlängert wurde. Der Erfolg als lebendiger und vor allem emotionaler Erinnerungsort an die Berliner Mauer bietet Grund genug, die wichtigsten Ereig nisse der letzten Dekade Revue passieren zu lassen.

Durch die historische Lage am Checkpoint Charlie und die inhaltliche Verbindung des Panoramas DIE MAUER zum Kreuzberger Grenz-Viertel SO36 bleibt die Ausstellung nicht nur für Touristen, sondern gerade für viele Berliner auch nach Jahren noch attraktiv. Das zeigt die starke Ein bindung in regionale Kultur- und Stadtaktivitäten, wie acht Teilnahmen an der Langen Nacht der Museen (2013 2019, 2022), vielfache Gedenkläufe, Sonderausstellungen und vor allem zahlreiche Veranstaltungen. Als Veranstaltungsort reichte die Bandbreite von Gedenkveranstaltungen, über historische Konferenzen und Preisverleihungen bis zu Podi umsdiskussionen und TV-Talkformaten.

Das asisi Panorama Berlin mit der Panorama-Ausstellung DIE MAUER ist also angekommen im Berliner Kultur- und Erinnerungskosmos und wird von Bürgern, Besuchern, Poli tikern und Kultur- wie Medienschaffenden gleichermaßen genutzt und geschätzt. Anlässlich des Jubiläums ermög licht ein vielfältiges Programm ab dem 28. September 2022 die Möglichkeit, die Ausstellung noch einmal aus einem neuen Blickwinkel zu sehen.

Nach der Eröffnung im September 2012 ließen die ersten prominenten Besucher nicht lange auf sich warten. So statteten im Sommer 2013 sowohl die damalige First Lady Michelle Obama als auch US-Botschafter John B. Emerson der Mauer einen Besuch ab. Eine illustre Runde, in die sich im Laufe der folgenden Monate und Jahre sogar Sportstars und -vereine wie Real Madrid, aber auch zahlreiche deut sche Politiker, so unter anderem die Ministerinnen Franziska Giffey und Christine Lambrecht, sowie vor allem Staats gäste und Botschafter aus aller Welt einreihten.

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Ein zumRückblickJubiläum

Alle Führungen sind auf 20 Teilnehmer begrenzt.

die Vernissage zur Ausstellung am 30. September sind über Meetup oder Lu.ma möglich (Teilnehmerzahl begrenzt). After Show: DJ Handmade, powered by TRESOR BERLIN

Führung – Hinter den Kulissen Erfahren Sie alles zur Entstehung des Panoramas DIE MAUER.

finden Sie auf: die-mauer.de/10jahre

Führung – Im Gespräch mit dem Studio asisi Sprechen Sie während der Führung direkt mit Mitarbeitern des Künstlers.

PROGRAMM - HIGHLIGHTS ZUM 10-JÄHRIGEN JUBILÄUMS DES ASISI PANORAMA BERLIN

Führung – So war mein Leben an der Mauer Hören Sie aus der Perspektive eines wirklichen Zeitzeu gen, wie es ist, direkt an der Berliner Mauer aufzuwachsen.

Temporäre Sonderausstellung mit digitaler Kunst und NFT’s zu den Themen Mauern, Grenzen, Menschenrechte, Krieg und AnmeldungenFluchtfür

Begleiten Sie den Künstler durch sein wohl persönlichstes Werk. Im Anschluss folgt eine exklusive Filmvorführung von Bernd Sahlings Wende-Dokumentation „Alles wird gut“.

4. Oktober 2022

In der Langzeitdokumentation begleitet Sahling den Ost berliner Punker Michael, der kurz vor dem Fall der Berliner Mauer nach West-Berlin ausreist.

11. Oktober 2022

Old Walls – New Art

1. bis 14. Oktober 2022 Between Worlds

18. Oktober 2022

Sechs Tage freier Eintritt bis zum Tag der deutschen

28. September bis 3. Oktober 2022 Kostenlose Jubiläumswoche

Weiterereicht.Informationen

1.Einheit!Oktober 2022

2. bis 3. Oktober 2022

Tickets nur solange der Vorrat

Exklusivführung mit Yadegar Asisi

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Filmvorführung – „Alles wird gut“ (1990) von Bernd Sahling

Der Lieblingsspruch meiner Großmutter war „Nichts ist so sicher wie Veränderung“.

Dr. Rebekka Revel

NFTs haben begonnen, den Kunstmarkt in verschiedener Hinsicht zu revolutionieren, da sie digitale Dateien in den Besitz und die Verknappung bringen. Dies ist auch für Samm ler interessant, da sie nun öffentlich und nachweislich Eigen tümer eines einmaligen digitalen Objekts sind. Ein NFT kann wie physische Kunst verkauft werden und der Künstler das Urheberrecht behalten. Alternativ können Lizenzgebühren in die Transaktion eingebettet werden, sodass der Künstler jedes Mal, wenn das NFT weiterverkauft wird, einen vorher festgelegten Prozentsatz erhält. Ein weiterer Grund für das wachsende Interesse liegt darin, dass die Künstler mit ihren Kunstwerken nun laufende Einnahmen generieren können.

In unserem Berliner Ökosystem ist sie Bestandteil dessen, was diese Stadt ausmacht – Schichten über Schichten von Geschichte, Wiederaufbau, Zerstörung, Neuschöpfung und Transformation. Dies geschieht in einem immer schnelleren Tempo, bei dem selbst innerhalb eines einzigen Lebens eine Flut von Veränderungen über weite Teile des Globus hinweg rollt. Meine Großmutter ist auf einem Bauernhof aufgewach sen, ohne Strom und mit Pferd und Wagen (oder Schusters Rappen) als einzigem Fortbewegungsmittel. Als sie 2014 verstarb, gab es bereits die Kryptowährung Bitcoin. Diese technologische Beschleunigung ist weltweit in vielen Berei chen zu beobachten und hat sich in Berlin aufgrund seiner einzigartigen Geschichte auf eine ganz besondere Weise entwickelt. Die Kombination aus einer Vielzahl von Kreati ven und neuen Technologien hat in Berlin ein einzigartiges Ökosystem geschaffen. In den letzten Jahren ist ein größe res Interesse und eine stärkere Verflechtung von Kunst und Technik zu beobachten sowie vor allem ein stetig zunehmen des Interesse an NFTs.

BetweenWorlds KunstGrenzenohne

die es mit einem Original-Kunstwerk vergleichbar macht, und da es in der Blockchain existiert, kann es weder verändert noch zerstört werden.1

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DR. REBEKKA REVEL NFT Club Berlin, Künstlerin Web3- und Kunst-Enthusiastin Rebekka Revel ist Co-Kuratorin der Jubilä ums-Sonderausstellung BETWEEN WORLDS im asisi Panorama Berlin.

1 Eine Blockchain ist eine verteilte Daten bank, die in einem gemeinsamen Compu ternetzwerk existiert und Informationen elektronisch speichert. Blockchains sind in der Regel für ihre Verbindung zu Kryp towährungssystemen wie Bitcoin bekannt, da die Blockchain eine sichere und dezent ralisierte Aufzeichnung aller Transaktionen ermöglicht. Ein NFT kann nicht „gelöscht“ werden. Sobald der entsprechende Token (in Form von Code) in die Blockchain eingeschrieben ist, bleibt er für immer auf dieser bestehen. Es kann aus dem Umlauf genommen werden, indem es an eine un zugängliche Adresse gesendet wird, wobei jedoch alle früheren Transaktionen auf der Blockchain sichtbar bleiben.

Die wachsende Popularität von NFTs verschiebt die Kunst landschaft auf internationaler Ebene, und seit einem Jahr schlagen einige dieser Trends aus dem Silicon Valley auch hier in Berlin Wellen. NFT steht für „non-fungible tokens“ –„non-fungible“ bedeutet, dass jede Einheit einzigartige, unersetzliche Eigenschaften besitzt. Vermögenswerte wie Diamanten sind „non-fungible“, weil sie unterschiedliche Qualitäten, Farben und Größen aufweisen und als solche nicht austauschbar sind. Traditionelle Kunstwerke fallen ebenfalls in diese Kategorie, da es immer nur ein Original gibt. Jedes NFT hat eine einzigartige, unersetzliche Signatur,

Das lokale Interesse an NFTs in Berlin spiegelt sich im schnellen Wachstum vieler NFT-bezogener Organisationen wider, wie z. B. dem NFT Club Berlin, der Künstler, Samm ler und Enthusiasten durch Veranstaltungen und Kunstaus stellungen zusammenbringt. Das internationale NFT-Projekt Bright Moments hat im April eine dreiwöchige immersive NFT-Kunsterfahrung im Kraftwerk Berlin veranstaltet und ist nun auch mit einer Galerie in Mitte vertreten. Einige traditio nelle Galerien stellen bereits NFTs aus, wie z. B. die König Galerie, die Galerie Kang Contemporary und die Galerie Panke, aber auch andere zeigen allmählich Interesse. Expe rimentelle Räume wie Game Over und die bald startende Notagallery loten ebenfalls die Beziehungen zwischen Street Art, Augmented Reality, NFTs und Installationskunst aus.

Auch Kunst- und Kulturräume veranstalten NFT-Ausstellun gen und entwickeln ihre eigenen NFT-Projekte, wie z. B. Asisi.

wändigen Blockchains. Glücklicherweise entwickeln viele Künstler und Entwickler riesige, erfolgreiche Netzwerke auf Blockchains, die eine ähnliche Energiebilanz haben wie eine Google-Suche.

Interessanterweise finden dieses Jahr die Berlin Blockchain Week und die Berlin Art Week in der gleichen September woche (12.–18.09.) statt, und es bleibt abzuwarten, wel che weiteren Überschneidungen sich zwischen der Block chain-Technologie und der Kunstwelt ergeben werden. Wir wenden uns der Kunst und Kultur zu, um unser Verhältnis zum Wandel (gesellschaftlich, technologisch, persönlich) zu begreifen und darzustellen, und Künstler, die sich mit die sen Konzepten auseinandersetzen, erschaffen revolutionäre Kunst. Unabhängig von unserer persönlichen Meinung zur rasanten Entwicklung der Technologie und den damit ein hergehenden gesellschaftlichen Veränderungen können wir letztlich nur eins mit Gewissheit sagen: „Nichts ist so sicher wie Veränderung“.

11 Vom 1. bis 14. Oktober verwandelt Asisi seinen historischen Standort am Checkpoint Charlie in eine NFT-Ausstellung mit dem Titel „Between Worlds: Old Walls–New Art“ („Zwischen den Welten: alte Mauern – neue Kunst“). Dabei geht es nicht nur um die neuen Technologien, die von Künstlern erforscht werden, sondern auch um den Versuch, diese Trends in einem größeren kulturellen Kontext zu verstehen. Die Ent wicklung der Blockchain-Technologie und ihre Möglichkei ten eröffnen Dialoge über Konzepte des Digitalen und des Physischen – dies schließt auch eine Untersuchung unserer Beziehung zu bedeutenden physischen Gegenständen wie traditioneller Kunst, kulturellen und historischen Artefakten ein. Was bedeutet es für den Einzelnen und die Gesellschaft, etwas zu schaffen oder zu sammeln, das nur in digitaler Form existiert? Kunst auf der Blockchain beseitigt eine Vielzahl von Hürden – so können beispielsweise Kunstwerke nicht zerstört werden, wie es bei unzähligen historischen Werken gesche hen ist (z. B. auch der Berliner Mauer), Künstler haben es leichter, in ihrem Beruf erfolgreich zu sein, und die Kunst werke sind für jeden zugänglich, der über eine Internetver bindung verfügt. Natürlich ist künstlerisches Schaffen auf der Blockchain nicht ohne Herausforderungen und es gibt viele berechtigte Kritikpunkte und offene Fragen, insbeson dere bei der Nutzung der beliebten, aber enorm energieauf

Bild oben: Simulation © asisi Artwork by Dona Aglaia

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Erinnern am historischen Ort:

Gut ein Drittel aller Menschen, die nach Berlin kommen, besu chen einen Ort, für den die Stiftung Berliner Mauer zuständig ist: Die Gedenkstätte Berliner Mauer, den Checkpoint Char lie oder die East Side Gallery. Sie wollen mit eigenen Augen sehen, wo die Berliner Mauer stand und die Absurdität und Brutalität des Grenzregimes nachvollziehen. Oft wollen sie auch noch mehr verstehen: wie das Leben mit der Mauer war, welche Auswirkungen die stark gesicherte Grenze auf die Menschen in Berlin und Deutschland hatte – und natür lich auch, ob und wie Menschen trotz aller Hindernisse erfolgreich flüchteten. Zur Attraktivität der Berliner Mauer gehört insbesondere auch ihr menschengemachter Sturz im November 1989. Die Friedliche Revolution und der Mauer fall faszinieren Menschen in der ganzen Welt; vor allem die implizite Hoffnung, die mit den Ereignissen zusammenhängt: Hoffnung auf das Ende von scheinbar auf ewig zementierten Diktaturen, auf das Ende unmenschlicher Zustände, auf eine Wende zu einer besseren Welt. Mit einem Besuch an den Originalorten der ehemaligen Grenze wollen sie auch diesem Gefühl nahekommen.

Axel Klausmeier

MauerBerlinerStiftungFoto:

Die Stiftung Berliner Mauer ist Mitveranstalter des TalkFormats „Mauer und Kunst“ im asisi Panorama Berlin.

Berlin hat spät, aber nachhaltig auf diese Nachfrage reagiert: Durch den rund 160 Kilometer langen Mauerweg entlang der alten Grenzanlangen, die Kennzeichnung des ehemali gen Mauerverlaufs im und um das gesamte Stadtgebiet wie auch mit der Gründung der Stiftung Berliner Mauer im Jahr 2008 als Teil des dezentralen Gesamtkonzepts zur Erinne rung an die Berliner Mauer wird die Geschichte des geteilten Berlin heute an vielen Orten in der Stadt sichtbar. Ausgangs punkt aller Angebote ist jeweils die Besonderheit des histo rischen Ortes. Interessierte können sich so in jeweils sehr unterschiedlicher Weise mit Fragen zur Teilungsgeschichte, politischen Handlungsspielräumen in der Diktatur, Grenzen, Migration, und der Erinnerung in historischer und gegen wartsorientierter Perspektive auseinandersetzen. Dabei bil det die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen wich tigen Anknüpfungspunkt.

PROF. DR. AXEL KLAUSMEIER Direktor der Stiftung Berliner Mauer

Die Stiftung Berliner Mauer versteht die ihr anvertrauten Orte als Stätten der Begegnung, an denen Menschen dis kutieren und voneinander lernen können. Sie erhalten nicht nur Informationen über Zeitgeschichte mit aktuellem Bezug, sondern können sich auch mit verschiedenen Geschichtsbil dern beschäftigen und so ihre eigenen Standpunkte und sich selbst reflektieren. Im Austausch über gesellschaftspolitische Fragen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist es uns wichtig, auf die Verantwortung aller für sich und die Gesell schaft aufmerksam zu machen. Deshalb stärken wir die Aus bildung eines differenzierten Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft und tragen so dazu bei, den Wert politischer Teilhabe als gesellschaftliche Verantwortung zu verankern.

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Die BewahrenBerlinerStiftungMauer

Einen gänzlich anderen Charakter hat der international bekannteste Mauerort: Die East Side Gallery, an der viele unterschiedliche Bildungsformate für die rund vier Millionen Besucherinnen und Besucher im Jahr angeboten werden. Die 1990 entstandene Galerie bietet mit der Kunst auf der Mauer vielfältige Anknüpfungspunkte für die Vermittlung der Geschichte der Umbruchzeit und mit ihrer Lage zwi schen Kreuzberg und Friedrichshain auch Möglichkeiten, die Stadtentwicklung Berlins nach 1990 zu diskutieren. Ab November 2022 wird an der East Side Gallery erstmalig eine Open-Air-Ausstellung zu sehen sein, die durch eine Online-Ausstellung ergänzt wird.

Die Gedenkstätte Günter Litfin hat dessen Bruder, Jürgen Lit fin, in einem ehemaligen Wachturm der Berliner Mauer 2003 für seinen an der Grenze erschossenen Bruder eingerichtet. Günter war 1961 bei der Flucht aus der DDR von Grenzsolda ten erschossen worden. Mit der Ausstellung seines Bruders bewahrt die Stiftung nicht nur die Erinnerung an ihn, sondern auch die Erinnerung an die Trauer seines Bruders und den Umgang der Familie mit dem Verlust.

Diskutieren

Der zweite „Gründungsort“ ist die Erinnerungsstätte Not aufnahmelager Marienfelde, die sich dem Thema Flucht im geteilten Deutschland widmet. Ein Teil des zentralen Aufnah melagers in West-Berlin für Geflüchtete aus der DDR wurde ähnlich wie in der Bernauer Straße durch ehrenamtliches Engagement erhalten und als Erinnerungsstätte aufgebaut. Ein anderer Teil wird noch heute als Übergangswohnheim für geflüchtete Menschen genutzt. Aufgrund dieser besonderen Lage thematisiert die Stiftung dort regelmäßig auch aktuelle Fragen von Migration. Wir wollen mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen, um ihre Perspektiven auf Flucht und Ankommen in Berlin in unsere Arbeit integrieren zu können.

Herzstück und einer von zwei Gründungsorten der Stiftung Berliner Mauer ist die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Ber nauer Straße. Hier wurde bereits 1998 ein Denkmal zur Ber liner Mauer errichtet, an einem Teilstück der originalen Mauer, das dank zivilgesellschaftlichen Engagements und der frü hen denkmalpflegerischen Unterschutzstellung bewahrt wor den war. Bis 2014 wurde in einem aufwendigen und politisch und öffentlich beachteten Prozess eine Außenausstellung gebaut. Auf dem 1,4 km langen und rund fünf Hektar großen Grenzabschnitt an der Bernauer Straße werden die einstige Grenze wie das sie bewachende militärische Regime als sichtbarstes Element des von der SED zu verantwortenden Repressionsapparates vermittelt. Heute ist die Gedenkstätte der zentrale Erinnerungsort für die deutsche Teilung.

Verbinden

Den allergrößten Zulauf von allen Orten hat ein Ort der Stif tung, an dem bisher nur wenig zu sehen ist. Etwa 4,5 Millio nen Menschen zieht der Checkpoint Charlie jährlich an. Hier erarbeitet die Stiftung ein Konzept für einen neuen Bildungsund Erinnerungsort. Er soll über die internationale Dimension der Mauer, den Kalten Krieg und seine Folgen für Berlin, Europa und die Welt informieren. Schon jetzt gibt es mehrere digitale, interaktive Tools – etwa einen Audiowalk zum Mauer bau 1961 oder die Augmented-Reality-App Cold War Berlin. Mit dem Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt und der Gedenkstätte Günter Litfin hat die Stiftung zwei Bei spiele für erinnerungspolitische Initiativen von Einzelperso nen übernommen. Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt ist ein vom Natur- und Kunstaktivisten Ben Wagin (1930 2021) initiierter Gedenkort für die Toten an der Ber liner Mauer und ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt inmit ten des Berliner Regierungsviertels.

threesixo: Was weißt Du über die Mauer?

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threesixo: Was weißt Du über die DDR?

Mira Jablonski: Ich habe Geschichte als Leistungsfach gewählt und wir haben ein halbes Jahr lang das Thema deutsch-deutsche Teilung behandelt. Ich hatte aber das Gefühl, dass sich der Lernstoff sehr zu Gunsten der BRD ausrichtet. Wenn es um die DDR ging, dann immer um die Opposition, die unter Repressalien gelitten hat. Platt gesagt hat die Diktatur der DDR die Menschen so unterdrückt, dass Widerstand unmöglich war. Die DDR hat die Nazizeit auch nur einseitig über Schuldzuweisungen behandelt.

Als in diesem Jahr wieder einmal an den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 erinnert werden sollte, hatten die Organi satoren einer Gedenkveranstaltung in Mecklenburg-Vorpom mern Vertreter*innen der Landesregierung offiziell ausgela den. Hintergrund war die Nord-Stream-2-Förderung durch eine so genannte Umweltstiftung, die ein paar Jahre vorher von der Ministerpräsidentin des Landes höchstpersönlich gegründet worden war. Viele junge Leute verstanden auf Nachfrage den Zusammenhang nicht. Was der 17. Juni mit Nord-Stream-2 zu tun hat? Russische Panzer hatten damals demokratische und freiheitliche Entwicklungen in der sowje tischen Besatzungszone bzw. jungen DDR unterdrückt. Und sind bis heute Mittel zum Zweck, um, wie aktuell, Territorium zu klären. Es ist zum Beispiel nicht unwichtig, wie auch immer dieser russische Überfall auf die Ukraine auch noch einge ordnet werden muss, das mürrische alte Krokodil der rus sischen Diplomatie im Auge zu behalten. Schläfrig mustert es seine Gegner, dann schnappt es zu. Wer gehofft hatte, es durch Annäherung zu zähmen, hatte sich schwer geirrt. Wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten. Die DDR war eine Diktatur, so harmlos sie auch durch Filme, Bücher und Erzählungen heute daherkommt. Und das sollte auch die nächste Generation wissen.

Merle Siebert: Dass sie in der DDR Antifaschistischer Schutzwall hieß. Die so genannte Todeszone war bis zu 500 Meter breit. Es gab eine Hundezone, die Schießzone, dann den Bereich mit dem geharkten Sand, um Fußabdrücke sicht bar zu machen. Dann die Mauer an sich. Zum Westen hin war das ja wirklich nur so eine Betonmauer. Und zum Osten war die Mauer eben Wall für Wall in Abschnitte eingeteilt.

Was ist von all den Ereignissen um den Mauerbau und den Gründen für die Einrichtung der beiden deutschen Staaten in der nächsten Generation angekommen? Wir haben das zwei Schülerinnen gefragt, die lange nach dem Mauerfall gebo ren wurden. Merle Siebert ist 16 Jahre alt, lebt eigentlich in Stralsund, ist aber für ein Jahr Stipendiatin des Deutschen Bundestages in den USA. Mira Jablonski ist 18 Jahre alt, lebt in Berlin und hat gerade ihr Abitur gemacht.

Warum ist es eigentlich wichtig, dass die Gesellschaft über die deutsch-deutsche Teilung Bescheid weiß, dass auch junge Menschen die Geschichte der Mauer kennen? Immer hin gibt es Mauer-Gedenkstätten, Museen, Denkmäler und den Geschichtsunterricht in Schulen, mit denen immer wie der an die 28 Jahre, in denen Deutschland getrennt war, erin nert wird. Haben wir nicht längst wichtigere Themen? Höhere Mauern? Geht es nicht gerade darum, Europa einzumauern?

Was von ihr übrig ist … in den Köpfen und Herzen Generationnächstender

Merle Siebert: Planwirtschaft gegen Kapitalismus. Es gab weniger, aber es sollte für alle genug sein. Hat aber nicht geklappt. Meine Oma hat von Lieferschwierigkeiten erzählt. Wenn man ein Auto kaufen wollte, musste man mehr als zehn Jahre darauf warten. Südfrüchte gab es fast nie. Tomaten, Gurken auch nur selten.

Wir haben im Unterricht die Klasse in zwei Teile geteilt und debattiert. Die einen hatten Argumente, die für die DDR typisch waren, viele Parolen natürlich. Und die anderen haben dagegen argumentiert. Dann haben wir uns die Karte von Stralsund vorgenommen und uns vorgestellt, dass da über Nacht eine Mauer durchgezogen wird. Und wir vielleicht nicht mehr nach Hause kommen, weil wir bei einer Freundin geschlafen haben. Die Vorstellung war schrecklich.

threesixo: Wie würde Dein Leben aussehen, wenn es noch die DDR gäbe?

threesixo: Die Mauer sollte einerseits die Flucht von DDR-Bürgern aus dem Land verhindern. Und anderer seits die Idee eines sozialistischen Staates verwirkli chen. Was weißt Du darüber?

threesixo: Was glaubst Du, ist von Deinen Eltern aus ihrer Zeit als DDR-Bürger bei Dir angekommen?

Mira Jablonski: Ich fahre gerne mit meiner Familie oder Freundinnen spontan an andere Orte. Der Darß, Rügen, selbst Polen sind schnell als Wochenend- oder sogar auch Tagestrip zu erreichen. Auch in andere Richtungen geht es manchmal, beispielsweise nach Köln, Hamburg oder Mün chen. Man setzt sich für ein paar Stunden in den Bus oder die Bahn und ist einfach da. Schon allein die Weltoffenheit, die ich dadurch gelernt habe, sind diese Reisen wert gewe sen. Außerdem fahre ich ja regelmäßig quer durch Berlin zu meiner Oma. Das wäre früher Ost-Berlin gewesen.

Merle Siebert: Dieses Einheitsgefühl ist schon was Schö nes, gerade weil man ja alles gleich hat. Die gleichen Lie der singt, die gleichen Klamotten anhat, das wäre glaube ich schon toll, weil es dann vielleicht nicht so viele Benachteili gungen gäbe, aufgrund der Klamotten zum Beispiel. Aber mit der politischen Einflussnahme, würde ich von mir selber hoffen, dass ich dann nicht beitreten würde, wenn ich das nicht ganz vertrete.

Mira Jablonski: Definitiv keinen großen Wert auf materielle Werte zu legen und das, was ich habe, wertzuschätzen. Auch das Ideal einer vom Mann unabhängigen Frau kommt ver mutlich aus diesem Hintergrund meiner Mutter. Mein Vater, der eigentlich von einer „West-Erziehung“ geprägt ist, hat mir das aber auch vermittelt.

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Ein Interview mit Merle Siebert (16) und Mira Jablonski (18) geführt von Juliane Voigt

threesixo: Weißt Du, wie die Mauer durch Berlin ging? Was war zum Beispiel Friedrichshain?

threesixo: Wärst Du gern Pionier geworden?

Mira Jablonski: Bei mir war es neben dem Unterricht in der Schule das Mauer-Panorama. Es hat mir einen Einblick geschenkt, im Geschehen zu sein und ein Teil dieser Situ ation zu sein, die da zu sehen ist. Dadurch kann ich mir ansatzweise vorstellen, wie es mit der Mauer in Berlin war, alleine hätte ich mir das nicht visualisieren können.

Mira Jablonski: Es sollte die Gesellschaft von den westli chen Idealen der Konsumgesellschaft abhalten. Und es ging um Gleichberechtigung, die eine Spanne zwischen Arm und Reich ausschließen sollte. Die Umsetzung war dann natürlich schwierig und ist nicht gelungen.

Merle Siebert: Dann könnte ich in jedem Fall nicht in die USA, wo ja in vier Tagen mein Stipendium beginnt. Auch unsere tollen Familienurlaube, die immer so wichtig waren. Wir sind jedes Jahr nach Polen gefahren. In Italien waren wir im vergangenen Jahr. Das wäre alles überhaupt nicht mög lich. Super eingeengt. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste für immer in Stralsund bleiben, das kann ich gar nicht aushalten.

Mira Jablonski: Nein, ich finde die individuelle Entfaltung eines Kindes sehr wichtig.

Merle Siebert: Keine Ahnung. (Lachen) Kreuzberg? Auch nicht.

Merle Siebert: Frauen haben in der DDR immer gearbeitet, einfach weil Arbeiter gefehlt haben. Ich bin so erzogen wor den, dass ich eines Tages mein Geld selber verdiene, wie meine Mutter auch. Und unsere offenen Gespräche am Fami lientisch kommen vielleicht auch da her. In der DDR saß man lieber zu Hause am Küchentisch, als irgendwo belauscht zu werden.

threesixo: Was hat Dir die Mauer am Eindrücklichsten Merleerklärt?Siebert:

Ein wichtiger Unterschied zwischen den Panoramen vor dem kinematographischen Zeitalter und den Panoramen Asisis ist der direkte Zugang zum inszenierten Spiel der Bilder, nachdem man einen kleinen Saal mit notwendigen Erläuterungen zum Sujet des jeweiligen Panoramas und einem kurzen Making-Of durchquert hat. Kein dunkler Tun nel bereitet die Besucher auf die verblüffende Rundumsicht vor. Stattdessen taucht man sofort in die Bilderwelt ein –und schreckt vielleicht zurück, ist verwirrt, ist überwältigt und orientierungslos. Das Sehen raubt einem den Atem, man fasst es nicht. Das, was sichtbar ist und allmählich noch wird, mutet bis auf weiteres wie in einem Zerrspiegel an. Als habe die Bildsprache El Grecos oder des expressio nistischen Films ihm seinen Stempel aufgedrückt. Anderer seits entfacht dies die Neugierde; schärft trotz des leichten Schwindels, der die Besucher ergreift, ihre Aufmerksamkeit. Der Weg von der Verwirrung bis zum endlichen Erlangen der unverstellten An-, Ein- und Übersicht verwirklicht sich jedoch erst im körperlichen Vollzug. Die Szenarien, die beim Eintritt verzerrt erscheinen, klären sich Stufe um Stufe, Zug um Zug durch das Aufsteigen auf eine erhöhte Plattform. Und da offenbart sich am Schluss ein überwältigendes Uni versum. Im Fall des anfangs erwähnten Mauer-Panoramas eröffnet sich eine scheinbar dystopische Szenerie, an die ich mich nur allzu gut erinnern konnte: Der Blick von einem West-Berliner Fenster in den Todesstreifen, der so realis tisch wirkte, dass ich kurz erschauderte. Das Universum hatte mich gänzlich gefangen.

Seit sie sich 2016 kennengelernt haben, setzt sich Klaus Honnef mit der Kunst von Yadegar Asisi auseinander. Sein Beitrag in dieser Ausgabe erschien in Auszügen bereits im Ausstellungskatalog zum Panorama PERGAMON sowie auf der Facebookseite des Autoren.

KLAUS HONNEF Publizist, Kurator, Prof. em. für Fotografie

Während sich im Kino und Fernsehen die Dinge bewegen, bewegen sich im Rundbau des Panoramas die Betrach ter und setzen die Dinge in Bewegung. Sie nehmen die anschaulichen Szenarien auf der unüberschaubaren Lein wand im Gehen, Innehalten, sich Annähern und Entfernen, beim Drehen des Kopfes nach rechts und nach links und beim Heben und Senken nach oben und unten wahr. Sie geben dem Sehen den Körper zurück. Dieser Faktor bei der optischen Wahrnehmung wird in der Regel unterschätzt. Dessen ungeachtet ist er von außerordentlicher Tragweite, namentlich für ein anschauliches Denken, für das Denken schlechthin. Im ambulanten Sehen verkörpert sich – buch stäblich – ein aktiver Vorgang. Das Sehen ist beim Rund gang im Panorama eine Sache des ganzen Körpers und nicht allein des Konnexes von Auge und Hirn. Es ist kein passives Hinnehmen dessen, was sichtbar wird.

Sehen mit allen Sinnen

ist das Panorama eine Kombination aus den vielfältigen handwerklichen Techniken von Malerei und Zeichnung und modernen mechanischen und baulichen Herstellungspraktiken. Es diente wie die Jahrmärkte und die öffentlichen Hinrichtungen von einst der spektakulären Version öffentlicher Unterhaltung und erfüllte das soziale Bedürfnis nach periodischem Vergnügen und Ablenkung. Das Panorama setzte damit den Auftakt zur Entwicklung einer der mächtigsten Industrien überhaupt, der inter national operierenden Unterhaltungsindustrie. Ende des 19. Jahrhunderts endete seine Erfolgsgeschichte indes. Das Kino entfaltete eine stärkere Faszination auf das Publi kum und sprach auch die nicht-bürgerlichen Schichten der Gesellschaft an.

Das Panorama als begehbares Gemälde in 360°, als immersive Seh-Landschaft, hat seinen Ursprung im spä ten 18. Jahrhundert zur Zeit der frühen Industrialisierung. Zu dieser Zeit war das Sehen in überschaubaren Räumen des menschlichen Daseins eingebettet. Der Kirchturm bot die Orientierung, und in seinem Schatten vollzog sich das Leben der meisten. Wer ihn bestieg, vermochte seinen Horizont ein wenig zu erweitern. Das Panorama sowie die sich anschließenden Sehmaschinen Diorama und schließ lich das Kino steigerten die visuellen Erfahrungen um ein Mehrfaches. Die Besucher der Panoramen, die alsbald in den großen Städten des europäischen Kontinents errichtet wurden, in London, Paris und Berlin, waren die Einwohner der zugleich flächen- und zahlenmäßig ausufernden Met Alsropolen.Bildmedium

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Zwar verschwand das Panorama nicht vollständig von der Bildfläche. Doch es fristete fortan ein Randdasein und spielte in der öffentlichen Wahrnehmung allenfalls noch die Rolle eines nostalgischen Relikts. Bis der Architekt und Künstler Yadegar Asisi es um die letzte Jahrtausendwende wiederbelebte und einer Erneuerung von Grund auf unter zog. In einer technisch und auch sonst erheblich verbesser ten und verfeinerten Form feierte das Panorama zur Über raschung vieler seine triumphale Wiederkehr. Abermals sorgte ein Bündel von Ursachen in den verschiedensten sozialen Feldern für günstige Bedingungen einer „Renais sance“ des Panoramas. Im Rückblick werfen sie ein Licht auf jenes entscheidende Moment, wodurch es dem Kino voraus ist: Ein Sehen, dass sich der Kontrolle verweigert.

Klaus Honnef

Original-Zitat aus einem Facebook-Beitrag vom 8. Dezember 2016

asisi©

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Er ist der vielleicht erfolgreichste Künstler in Deutschland, Architekt, Zeichner, besessen, Maler, Fotograf, Rechercheur, Historiker, Regisseur, Anreger. Seine Auftritte im Fernsehen sind sonder Zahl. Nur nicht in Kulturprogrammen, und der Kunstbetrieb kennt seinen Namen nicht oder will ihn nicht kennen, weil er Berührungsängste hat. Er realisiert mit einem seiner größeren Projekte, die sich auf zweistellige Millionen Euro Summen belaufen, Publikumserfolge. Yadegar Asisi, der fließender und eloquenter Deutsch spricht als ich, hat sich die Aufgabe gestellt, das wunderbare Medium des Panoramas zu erneuern und auf die Höhe der heutigen Zeit zu bringen. Und es gelingt: Gestern sah ich sein „Mauer“ Panorama am Checkpoint Charlie in Berlin: Überwältigend und in jeder Beziehung genau.

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DIMITRI Kulturmanager,HEGEMANNGründer des Berliner Kult-Clubs Tresor und vieler weiterer DimitriKulturinitiativenHegemann ist Unterstützer der Sonderausstellung BETWEEN WORLDS im asisi Panorama Berlin.

Jugend brauchtRaum!

Dimitri Hegemann

HeussVolkerGustav©Foto:

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Das ist die Lehre aus dem kulturellen Aufbruch in Berlin Anfang der 1990er Jahre: Gebt den Jungen wieder Orte, die noch nicht wissen, was mit ihnen geschehen wird! Erhaltet die Nischen, in denen experimentiert und das Neue erprobt werden kann!

Jede neue Bewegung braucht am Anfang einen freien, geschützten Raum, in dem neue Ideen, neue Sounds und ein neues Miteinander ohne Druck und Einflussnahme von außen überhaupt erst ausprobiert und weiterentwickelt wer den können. Ein Labor für Experimente, deren Auswirkungen auf Musik und Kultur auch Jahrzehnte nach der kreativen Explosion der Anfangstage nichts an Intensität und Inspiration verloren haben.

Ganz Berlin war nach dem Mauerfall so ein freier Raum. Hier versammelten sich die Menschen mit dem Potential und dem Drang, etwas Neues zu erschaf fen, etwas Einzigartiges. Und sie fanden überall in leerstehenden Gebäuden und Hallen ihre ganz eigenen freien Räume, um sich auszuprobieren und zu

Dieentfalten.politisch einmalige Situation, wie sie im Berlin nach dem Mauerfall herrschte, war ein historischer Glücksfall, den man natürlich nicht wiederholen, aus dem man aber lernen kann. Wo freie Räume, niedriger ökonomischer Druck und große behördliche Toleranz und Wohlwollen zusammentreffen, entstehen inno vative Ideen und wird das Morgen gestaltet. Was einst Labor und Nische war, hat die Kraft, die Welt zu verändern. Eine Ruine kann eine Nische sein, eine Nische kann ein Spielplatz und der Ausgangspunkt für etwas ganz großes Neues sein.

Gebt den jungen Menschen den Freiraum, den sie brauchen, um kreativ zu sein!

die von beamteten DDR-Malern frisch geweißten Mauerpassagen anschließend sofort wieder von westlichen Graffiti-Künstlern übermalt. Wahrscheinlich sind die späteren Aufkäufer großer und spektakulärer Mauerstü cke nie auf die Idee gekommen, ihre tonnenschweren Expo nate näher zu untersuchen – wie es doch bei Gemälden italienischer Rennaissance-Maler, deren Herkunft strittig ist, durchaus üblich ist. Oft stellt es sich dann heraus, dass das sichtbare Gemälde nur die letzte Version eines Meis terwerks ist, das ein tumber Schüler übermalt hat. Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich bei einer guten Anzahl von teuren Mauerstücken. Wenn man die neueste Graffitischicht abträgt, kommen darunter andere, viel aufregendere Graf fitis zum Vorschein und unter der zweiten Schicht noch ein mal ältere, die vielleicht genial oder auch erbärmlich sind.

Peter Schneider

lich eines zwei Meter breiten Streifens noch auf DDR-Boden stand. In einem Fall nutzten die DDR-Grenzer die verborge nen Türen dazu, zwei freigekaufte DDR-Flüchtlinge, die sich auf der Westberliner Seite der Mauer in Sicherheit wähnten und ihre Hass-Sprüche auf die Mauer sprayten, in die DDR Natürlichzurückzuholen.wurden

PETER PeterSchriftsteller,SCHNEIDEREssayistSchneiderwarim Rahmen der Veranstaltungsreihe „Forum Demokratie“ zu Gast im asisi Panorama Berlin.

Im Herbst 2012 stieß ich auf ein Mauerdenkmal, das diesen Namen verdient. Es handelt sich, wie könnte es in Berlin anders sein, um eine Simulation, nämlich um das Panora magemälde des Berliner Künstlers Yadegar Asisi. Es wird im Inneren eines eigens für dieses Werk errichteten Rund turms in unmittelbarer Nähe des Checkpoint Charlie gezeigt und setzt das Drama des ehemaligen Grenzsystems in einer Weise in Szene, die alle nachträglich gebauten Mau erdenkmäler blass aussehen lässt. Das Berliner Prinzip der Simulation – der Täuschung, des Trompe-l’oeil – erweist sich wieder einmal als stärker und wirklichkeitsnäher als alle museal aufbereiteten „realen“ Orte.

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Asisi hatte in den achtziger Jahren an der Mauer gelebt und seine Erinnerungen an jene Zeit zu einer fiktiven Augen blicksaufnahme verdichtet. Frech hat er räumlich und zeit lich weit auseinander liegende Gebäude und Szenen, zu einer einzigen Ansicht komprimiert, die in den achtziger Jahren angesiedelt ist. Wenn man den Turm betritt und das Gemälde auf sich wirken lässt, sticht zuerst der irrwit zig geschwungene Verlauf der Mauer ins Auge. Es ist die späte, die vierte Version der Mauer, die der Maler unter einem dunklen Novemberhimmel zu einem mäandernden, die Stadt beherrschenden Ungeheuer werden lässt. Natür lich fehlt nicht das zum Überdruss bekannte Warnschild –„You are leaving the American sector“-, es fehlen auch nicht die Graffiti auf der westlichen Seite der Hauptmauer, auch nicht die sorgfältig getarnte Tür in der Mauer, die Grenz soldaten manchmal öffneten, um die Westseite der Mauer vor einem Staatsbesuch frisch zu übertünchen. Nur Kenner wussten ja, dass auch die Westberliner Mauer einschließ

ausKompositionErinnerung

Zurück zu Asisis Panorama-Gemälde. In dem Gelände hin ter der Hauptmauer inszeniert er den vom kalten Licht der Peitschenlampen erhellten Todesstreifen und einen Wacht turm der schussbereiten Grenzer. Man erkennt die Panzer sperren, den Asphaltstreifen für die Jeeps der Grenzer, die Hundelaufanlagen und die sogenannte Hinterlandmauer auf der Ostseite – das erste Hindernis, das jeder Flüchtling, der diesen Weg in den Westen wählte, überwinden musste.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus seinem Buch: „An der Schönheit kann s nicht liegen: Berlin-Porträt einer unfertigen Stadt“.

Hinter der Grenzanlage ruft Asisi das Bild eines zerfalle nen Hauses aus dem 19. Jahrhundert auf, dessen untere Stockwerke vermauert sind. Nur in den oberen Etagen brennt Licht und deutet auf ein paar Bewohner hin. Hinter einem erleuchteten Fenster erkennt man den Schatten einer Frau, aber sie schaut nicht nach drüben in den Westen, auf den ersten Blick gibt es kein Drama. Der Eingeweihte weiß jedoch, dass direkt an der Mauer nur parteitreue Mieter wohnen durften, die mithilfe eines besonderen Ausweises Zugang zu ihren grenznahen Wohnungen erhielten. Oft waren es parteitreue kinderlose Familien, denen die Kinder von ertappten Republikflüchtlingen zur Adoption zugewie sen Wunderbarwurden.genau

Kein Zweifel: Yadegar Asisi ist mit seinem Panorama-Bild etwas Besonderes gelungen: eine Jahrzehnte umfassende Augenblicks-Aufnahme eines Stadtviertels in einer gespal tenen Stadt, in deren Nischen und Ecken es sich die Bewoh ner auf beiden Seiten gemütlich gemacht haben. Nichts –und doch alles – deutet auf den bevorstehenden Knall hin, der die Weltgeschichte verändern wird.

asisi©

Was Asisi mit seinen Mitteln natürlich nicht zeigen kann, sind die Anlagen unter dem Sand. Ahnungslose Flüchtlinge, die die Tücken dieser Hinderlandmauer nicht kannten, landeten bei ihrem Sprung auf im Sand verborgene Nagelbretter, die ihre Füße und Sprunggelenke durchbohrten.

Aber auch die falsche Idylle auf der Westberliner Seite hat der Maler in Szene gesetzt. In unmittelbarer Nähe der Grenzanlage sieht man ein verfallenes Haus, das von Hausbeset zern besetzt ist. Wer die Geschichte der Hausbesetzungen kennt, weiß, dass die Besetzer nur einen Feind kannten: die Westberliner Polizei und den Senat, der immer neue Räu mungsbefehle erließ. Ich erinnere mich an keinen einzigen Slogan der Hausbesetzer, der sich mit dem Schicksal der eingeschlossenen Deutschen auf der anderen Seite der Mauer befasst hätte. Unter dem besetzten Haus erkennt man Obdachlose und Penner, die sich an einem Feuer vor einem Wohnwagen die Hände wärmen. Sie unterhal ten Gemüsebeete im Schatten der Mauer und auch einen kleinen Zoo mit nicht identifizierbaren Tieren. Die schäbigen Autos, die verlassene Shell-Tankstelle, die Berliner Eckneipe und der türkische Gemüseladen daneben – alles atmet den Stillstand und die Trostlosigkeit, die ich aus den achtziger Jahren kenne.

hat der Maler den Zerfall der bis auf die Ziegel entblößten Wände dieses Ostberliner Mietshauses festgehalten; nur der Fassadenschmuck aus der Jahrhun dertwende ist erhalten geblieben. Links daneben zeigt er die grenznahen Neubauten der DDR, noch weiter links einige Plattenbauten aus den achtziger Jahren, die Spötter als die spätgotische Phase der Honecker-Ära bezeichne ten. In der Mitte des Bildes erhebt sich unter dem dunklen Novemberhimmel der gewaltige, irgendwie surreale Pfahl des Fernsehturms.

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Bernd Sahling

Da erinnerte ich mich an den charismatischen Punk. Hinter der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg gab es einen Treff punkt der Punkszene. Dort trafen wir Stummel wieder.

Bild rechts: Stummel 1985

Es waren junge Leute, die den Mut hatten, schon durch ihr Erscheinungsbild aufzufallen.

Filmregisseur, Autor und Medienpädagoge

Foto: Bernd Sahling

WandererdenzwischenWelten

Der Film entwickelte sich zu einem Doppelportrait. Stum mels Mutter Brunhilde vertrat die Auffassung, dass man seine persönliche Freiheit nur im Rahmen der Konventionen ausleben könne, wozu auch eine geregelte Arbeit gehört. Für Stummel hingegen dienten die gesellschaftlichen Normen nur der menschlichen Unterdrückung. In einem Gespräch sagte er uns: „Welche Probleme soll’s für mich geben. Geldprobleme? Geld ist für mich nicht wichtig. Einen Job? Ich bin nicht drauf angewiesen… Ich kann mir keine großen Probleme vorstellen, weil ich das ablehne, Verant wortung zu tragen!“

In meiner Anfangszeit an der Potsdamer Filmhochschule kam Lothar Bisky als neuer Rektor. Vor seiner Zeit hatten wir noch Sätze gehört wie: „Ihr wäret nicht die ersten, die mit ihrem Filmmaterial den Weg in den Heizungskeller antre ten.“ Bisky kam in Jeans, bot einen Schnaps an und sagte, wir sollten bitte drehen, was uns wirklich interessiert. Für das zweite Studienjahr stand der Abschlussfilm der obliga torischen Dokumentarfilmausbildung an.

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Für meine Bewerbungsmappe zur Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg hatte ich 1985 eine Fotoreihe mit DDR-Jugendlichen erarbeitet.

Sie durften entscheiden, wie und wo sie fotografiert wer den wollten. Einer der Jugendlichen, ein Ostberliner Punk, der sich Stummel nannte, führte mich in einen Berliner Hinterhof, wo sich allerlei Sperrmüll auftürmte. Dort wollte er, auf einem Haufen von Bauschutt, abgelichtet werden. Dann stellte sich Stummel an eine Mauer und zeigte mit einer Hand den „Stinkefinger“. Die andere Hand war einge gipst. Stummel nannte es die Zeit der gebrochenen Finger. Viele Jugendliche aus der Punkszene landeten wegen ihres aufmüpfigen Verhaltens und Schulverweigerung in einem Jugendwerkhof. Der einzige Weg aus dieser Einrichtung zu entkommen, war eine Krankschreibung. Und der sicherste Weg zu einer Krankschreibung waren gebrochene Finger.

Zu dröhnender Punkmusik wurde Pogo getanzt. Die Jugendlichen trugen selbst geschneiderte, bemalte Klei dung und phantasievolle Frisuren. Unser Kamerastudent Quan kam aus Vietnam. Wir waren nicht sicher, wie die Ost berliner Punks auf einen Asiaten, der plötzlich eine Kamera auf sie richtete, reagieren würden. Die Jugendlichen in dem Kellergewölbe hatten viele Demütigungen erlebt. Der ange staute Frust konnte sich schnell entladen, auch wenn Aus länderhass eher eine Angelegenheit der Skins war. Mehrere Wochen ließen wir die Technik im Kofferraum liegen und kamen ohne Aufnahmen zurück. Als Quan schließlich mit der Kamera im Keller drehte, entstanden wilde, überbelich tete Aufnahmen, die durchaus dem entsprachen, was wir dort erlebt hatten.

BERND SAHLING

Bernd Sahling ist zu Gast im Talk-Format „Mauer und Kunst“ im asisi Panorama Berlin. Im Rahmen der Veranstaltung sowie an weiteren Terminen wird seine Langzeitdokumentation ALLES WIRD GUT zu sehen sein.

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Bild oben: Stummel und seine Tochter 1988 Foto: Bernd Sahling

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Wanderer zwischen den Welten

Aber Stummel war gerade Vater geworden, woraus sich zwangsläufig Verantwortung ergab. Über diesen Kon flikt wollten wir mit ihm und seiner Freundin Kathi vor der Kamera reden. Ein Problem bei den Dreharbeiten war, dass Punks Verabredungen nicht so eng sahen. Oft standen wir mit der mühsam ausgeliehenen 16 mm-Technik an einem Treffpunkt oder vor einer Wohnungstür in Berlin und muss ten unverrichteter Dinge wieder abziehen. An einem Win tertag im Frühjahr `88 hatten wir Glück und trafen Stummel, seine Freundin mit dem Baby und zwei Freunden in der ver abredeten Wohnung an.

„Ich würde alles stehen und liegen lassen. Alles!...Weil ich das hier nicht aushalte, die geistige Unterdrückung! Könnt ihr das überhaupt drehen?“

„Und drüben wäre das anders?“, fragte ich. „Weiß ich nicht. Auf alle Fälle, dass ich in Ruhe krepieren kann, wenn ich will… Und dass ich meine Schnauze aufreißen kann, wann ich will, wo ich will…“

Ich habe den Rohschnitt der Dokumentarfilme, an denen ich gerade arbeitete, immer den Protagonistinnen und Pro tagonisten gezeigt. Ohne Zustimmung der vorgestellten Personen wollte ich der Öffentlichkeit nichts preisgeben. Gleichzeitig bin ich als Dokumentarist dem verpflichtet, was ich erfahren und erlebt habe. Und das stellte uns am Ende der Dreharbeiten zu ALLES WIRD GUT vor ein Problem.

Wiewar.

Stummel erzählte uns in dem Gespräch, dass er einen Aus reiseantrag gestellt hat:

auf den Antrag bekamen wir zunächst nicht. Derweil dokumentierten wir die zahlreichen Demonstratio nen im Land und verfassten an der Filmhochschule eigene Resolutionen. Der Höhepunkt der Bürgerbewegung im Herbst `89 war die Demo am 4.9. auf dem Alexanderplatz. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine so riesige Men schenmenge fotografiert. Die Forderungen und Zeichnun gen auf den Plakaten waren so vielfältig, wie humorvoll. Als sich die Menschenmenge auflöste, kam der Produktionsstudent Peter Hartwig zu mir und sagte, dass wir den Film über Stummel und seine Mutter weiterdrehen dürfen. Wenige Tage danach fuhren wir auf der Autobahn in Rich

bei meiner ersten Fotoreihe von 1985 konnte unser Filmheld selbst entscheiden, welche Lebensbereiche doku mentiert werden sollten. Er wünschte sich einen Studioter min für die Band BLOODY BRAINS. Zu der eingespielten Musik würde dann nach den Vorstellungen von Stummel und seinen Freunden ein Video entstehen.

25 tung Süden. Mit nur einer Tankfüllung und ohne eine ein zige Westmark schafften wir die 800 km zur Münchener Filmhochschule. Dort war die Überraschung groß, als wir sagten, dass wir nicht aus der DDR abgehauen sind, wie so viele Ostdeutsche im Herbst `89. Wir bekamen unbüro kratisch etwas Westgeld und eine Kamera. Stummel fuhr aufgrund unseres Besuches extra aus Westberlin zu seiner Mutter nach München, das erste Mal seit ihrer gemeinsa men Ausreise ein Jahr zuvor.

Dort sahen wir jubelnde Menschen, die über den Gren zübergang Bornholmer Straße ungehindert nach Westberlin strömten. „Wahnsinn, Wahnsinn…“, riefen sie immer wieder in das Kameramikro. Es war der Abend des Mauerfalls.

Stummels Heroinsucht kam in dem von uns gedrehten Material nicht vor. Die Sucht dominierte aber zunehmend

wir beim Zentralrat der FDJ den Antrag auf Fortsetzung des Dokumentarfilms über Stummel und seine Mutter. Beide waren inzwischen ausgereist. Stummel lebte in Westberlin, seine Mutter und die kleine Schwester in EineMünchen.Antwort

ABER WENN MAN SO LEBEN WILL WIE ICH, der erste Film der Langzeitdokumentation, hatte 1988 auf dem inter nationalen Studentenfilmfestival der Potsdamer Filmhoch schule Premiere. Der Film bekam den Preis für den besten Dokumentarfilm und zu unser aller Überraschung den Preis des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend. Dass ein Film über einen Punk, der einen Ausreiseantrag in den Westen stellt, weil er die geistige Unterjochung in der DDR nicht mehr aushält, den Preis des DDR-Jugendverbandes erhielt, erfüllte uns mit Hoffnung. So, wie es war, konnte es nicht weitergehen. Wir hatten den Anspruch, mit unseren Filmen Widersprüche und Konflikte in unserem Land sichtbar zu 1989machen.stellen

Wir drehten diese Begegnung von Mutter und Sohn am Abend des 9. Novembers 1989. Schon nach wenigen Minu ten stritten sich beide so heftig, dass Stummel sagte: „Dreh die Kamera weg!“ Wir machten eine Drehpause und Brun hilde schaltete den Fernseher ein.

Im Januar 1990 fuhren wir für eine Drehwoche nach Bayern. Stummels Mutter Brunhilde hatte für sich und ihre Tochter im teuren München nur eine Einzimmerwohnung mieten können. Das Bett ihrer Tochter stand in der Küche. Geld verdiente Brunhilde als Kellnerin in einem Café. Diese Arbeit war schwer mit den Pflichten einer alleinerziehenden Mutter unter einen Hut zu bekommen. Da die Marktwirtschaft auch in Ostdeutschland Einzug halten würde, waren wir beson ders neugierig auf die Erfahrungen von Stummel und seiner Mutter im Westen. Geld spielte für beide eine enorme Rolle. Wir staunten, welche hohen Beträge für Mieten oder Grund nahrungsmittel bezahlt werden mussten. Brunhilde erzählte uns in einem Gespräch, dass Stummel am Telefon immer wieder nach Geld fragte: „Kannst nicht einen Hunni?“. Zu diesem Zeitpunkt ahnte die Mutter noch nicht, dass Stum mels Heroinsucht der wahre Grund für die ständige Geldnot

26 Wanderer zwischen den Welten

Bisher wollte unser Protagonist vor der Kamera nicht über Heroin reden. Nun brach es aus ihm heraus. Wir belichte ten zwei Filmrollen mit einem Gespräch darüber, was die Heroinabhängigkeit für Stummel bedeutet: der ständige Gelddruck, die Prostitution, Fahrradklau, der nachlassende Kick, die immer höhere Dosis. Dieses Gespräch war ein eigener Film und ließ sich in der Montage nicht integrie ren. So hängten wir einen Teil dieses Interviews an das Fil mende. Als wir Stummel in der Nacht nach Kreuzberg fuh ren, brach jener Sonntag an, an dem sich die Mehrzahl der DDR-Bürger in den ersten freien Wahlen für eine sofortige Wiedervereinigung und das Ende ihres Staates entschei den würden.

Am Filmende sagt Stummel, der Wanderer zwischen den „MirWelten:läuft’s manchmal eiskalt den Rücken runter, wenn ich darüber nachdenke, dass ich einfach mal für mich verant wortlich bin. Und sich wirklich jemand einen Dreck darum kümmert, wenn ich auf der Straße krepiere.“

das Leben unseres Filmhelden. In der Nacht vom 17. zum 18. März 1990 lud ich Stummel für einen letzten Dreh in meine Potsdamer Wohnung ein.

Bild oben: Demo am 4.9.1989 auf dem Alexanderplatz Foto: Bernd Sahling

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