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Krisen-Interventions-Team
Ersthelfer für die Psyche: Das KIT-München
Das Krisen-Interventions-Team KIT-München betreut, berät und begleitet jedes Jahr etwa 2 000 Menschen, die unmittelbar nach einem außergewöhnlichen Vorfall unter schweren psychischen Belastungen leiden oder unter akutem psychischem Schock stehen.
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Das KIT-München wird von der Leitstelle angefordert, wenn sich Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst mit Personen konfrontiert sehen, die als Hinterbliebene, Vermissende oder Zeugen keine notfallmedizinische Versorgung benötigen – wohl aber psychosoziale. Statistisch 2,5mal wird das KIT-München in München täglich angefordert. Großeinsätze ziehen sich mitunter über mehrere Tage. In jeder normalen Schicht werden zwei Ehrenamtliche für den Einsatz und eine Einsatzleitung eingeteilt. Zu den Einsatzgebieten des KIT-München gehören neben Todesfällen unter besonderen Umständen Selbsttötungen, der Tod eines Kindes und das Überbringen von Todesnachrichten an Hinterbliebene in enger Zusammenarbeit mit der Polizei. Auch Betreuungen nach einer massiven Gewalterfahrung wie Überfall, Mord oder Tötung, Geiselnahme oder (sexueller) Gewalt fallen in den Aufgabenbereich des KITMünchen, dasselbe gilt für Brände mit Schwerverletzten oder Toten sowie Evakuierungen oder Vermisstensuche. Ein weiteres Aufgabenfeld sind schwere Verkehrs-, Schienen- oder Arbeitsunfälle. Ausbildung in der KIT-Akademie
· ca. 1,5 Jahre Ausbildungsdauer · Voraussetzungen: bei Ausbildungsende mindestens 25 Jahre alt, rettungsdienstliche Ausbildung oder Bereitschaft dazu, physische und psychische Eignung, erweitertes polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintrag · Bewerbungsgespräch und Probeschichten, anschließend · KIT-Kurs: 100 Unterrichtseinheiten theoretische Ausbildung, Rollenspiel und Bestehen der Prüfung · Einführungsseminar für zukünftige Ehrenamtliche im KIT-München · mindestens 1 Jahr mentorbegleitete praktische Ausbildung · Teilnahme an Supervisionen/ Fortbildungen/ Praktikantentreffen · Prüfungsgespräch · zweite Mentoren-Phase für den fließenden Übergang ins Team

Speziell ausgebildete und erfahrene MitarbeiterInnen des KIT-München sind ehrenamtlich an 365 Tagen rund um die Uhr in Bereitschaft oder im Einsatz.
Obwohl Großeinsätze medial häufig größere Beachtung erfahren, betont KIT-Gründer Dr. Andreas Müller-Cyran, »dass die alltäglichen Dinge – wie ein unerwarteter Todesfall – für die Betroffenen häufig die größte denkbare Katastrophe darstellen«. Die durch das KIT angebotene Versorgung bei Individualereignissen ist ein Pionierprojekt, das international als Vorbild dient. Denn in vielen Ländern gibt es diese Form der psychosozialen Unterstützung zwar, bisher aber lediglich nach Terroranschlägen oder Katastrophen. »Unser Ansatz ist es darüber hinaus, bei alltagsnahen Katastrophen den Grad an Unterstützung zu geben, die der Dimension gerecht wird, die solche Ereignisse für den Einzelnen haben«, sagt Müller-Cyran. Unabhängig von der Einsatzart steht die Haltung zu den Betroffenen im Fokus der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV). Um sie in der Ausnahmesituation zu stärken und zu einem Umgang mit dem Ereignis zu befähigen, appellieren die Einsatzkräfte an die Stärken der Person und deren Umfeld. »Es ist sinnvoll, zurückhaltend in die Situation zu gehen und nicht als derjenige aufzutreten, der alles weiß und schon alles erlebt hat«, sagt Müller-Cyran.
Im Auftrag der Bundesregierung: Auslandseinsätze Bei Verkehrsmittel-Unfällen, Katastrophen, terroristischen Anschlägen oder einem Amoklauf wie im OEZ München kann diese Aufgabe nicht von der diensthabenden Schicht allein bewältigt werden. In derartigen Fällen werden alle gut 45 Ehrenamtlichen per SMS benachrichtigt. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich so innerhalb einer Stunde ein Team von mindestens zehn Helfern mobilisieren lässt.
Ausnahmen im Einsatz bilden die Auslandseinsätze, zu denen das Auswärtige Amt das KIT erstmals nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und seitdem immer wieder anforderte. Logistische Hürden stellen sich den Einsatzkräften dabei kaum in den Weg, weil sie im Auftrag der Regierung reisen und entsprechend bevorzugt behandelt werden. Was sie vor Ort erwartet, ist hingegen nicht immer vorhersehbar. Einzig eine persönliche Gefährdungslage wird sowohl durch die reisebedingte zeitliche Verzögerung als auch die Einschätzung des Auswärtigen Amtes vorab weitestgehend ausgeschlossen, auch wenn das Team nach dem Erdbeben im japanischen Fukushima beispielsweise den Nachbeben ausgesetzt war.
Unklare Lage: Der Amoklauf im OEZ Eine extreme Ausnahme bildete 2016 der rechtsextremistisch motivierte Amoklauf im Münchner OlympiaEinkaufszentrum, weil die zeitliche Verzögerung entfiel und das KITMünchen in einer unsicheren Situation in Abstimmung mit der Polizei operieren musste. Das sei eine Ausnahmesituation in der Ausnahmesituation gewesen, sagt Müller-Cyran, denn grundsätzlich gelte: »Sicherheit kann nur vermitteln, wer sich selbst sicher fühlt.« Und Sicherheit ist das, was Menschen, die eben ein Attentat überlebt haben, als Erstes und Wichtigstes brauchen. Als das Team nach dem verheerenden Tsunami nach Thailand flog, gingen die Eindrücke nicht spurlos an ihm vorbei. Beim Abflug war von zwölf deutschen Opfern gesprochen worden – tatsächlich waren es fast 600. »Das sind Einsätze, bei denen uns die Heftigkeit des Ereignisses überrascht«, sagt Müller-Cyran. Ähnliches berichtet Dr. Dominik Hinzmann: Er leitete das KIT-München 2015 bei der Betreuung der Angehörigen nach dem Absturz der Germanwings-MaKIT-Einsätze im Ausland
· Terroranschlag in New York · Busunglücke in Siófok/Ungarn,
Lyon/Frankreich, Vincenza/Italien, bei Prag/Tschechoslowakei · Tsunami/ Thailand · Konflikt im Libanon (Evakuierung) · Tsunami/Japan · Schiffsunglück Costa Concordia/
Italien · Flugzeugabsturz Germanwings/
Frankreich · Terroranschläge Paris (Stade de
France, Bataclan)

11. September 2001: Mitarbeiter des KIT-München koordinieren ihre Einsätze von einem New Yorker Büroraum aus, der ihnen vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt wurde.

Blumenmeer nach dem Amoklauf am Münchner OEZ (Olympia-Einkaufszentrum) 2016
Dr. Andreas Müller-Cyran umgeben von weiteren Helfern beim Katastropheneinsatz nach dem Tsunami in Thailand

17 Mitarbeiter des KIT-München betreuten deutsche Angehörige, die nach Frankreich zum Absturzort der Germanwings-Maschine reisten. Die Nähe zur Unfallstelle hilft den Hinterbliebenen, das unbegreifliche Ereignis begreiflicher werden zu lassen. schine in den französischen Alpen. Trotz jahrelanger Erfahrung mit Ausnahmesituationen »haben wir dort emotionale Momente erlebt, die an die Nieren gingen«. Weil sich die Angehörigen damals nicht an der schwer zugänglichen Absturzstelle verabschieden konnten, regte Hinzmann an, einen Stein mit nach Hause zu nehmen. Die Arbeit des KIT-München hat nichts mit Schönfärberei zu tun, sondern meist mit harten Wahrheiten, die es so behutsam wie möglich, aber dennoch in aller Deutlichkeit zu überbringen gilt. Ein Patentrezept hat Hinzmann dafür nicht. »Oft sind es kleine Signale; das Taschentuch reichen oder ein Trost spendendes Wort«, sagt er. Er »beurteile oft aus der Erfahrung heraus, was im individuellen Fall zu tun ist«. Das KIT-München leistet bei Auslandseinsätzen keine humanitäre Hilfe, sondern kümmert sich explizit um deutsche Staatsbürger. Diese Grenze sei notwendig, manchmal aber schwer einzuhalten, gibt Müller-Cyran zu. In Thailand sei es angesichts der immensen Zerstörung hilfreich gewesen, zu sehen, wie parallel die internationale Hilfe anlief. »Wir konnten uns dadurch besser auf unseren Auftrag konzentrieren«,
sagt er, »denn Leute zurückzulassen, von denen man den Eindruck hat, dass sie sich selbst überlassen bleiben, ist kein gutes Gefühl.«
»Es gab wenig Forschung und viele Widerstände« Dr. Andreas Müller-Cyran ist ehrenamtlicher Rettungsassistent und Gründer des Krisen-Interventions-Teams München – kurz KIT-München – im ASB. Er ist Doktor der Psychologie und leitet hauptberuflich die Notfallseelsorge in der Erzdiözese München und Freising.
Als »Gründungsmythos« für die Entstehung des KIT-München gilt der tödliche Verkehrsunfall eines Kindes. Welchen Stellenwert hatte dieser Einsatz tatsächlich für den Aufbau der Krisenintervention? Dr. Andreas Müller-Cyran: Diesen Einsatz gab es, aber er steht stellvertretend für die immer wiederkehrende Erfahrung vieler Rettungskräfte, dass in einer Versorgung, in der kein Platz für die Angehörigen ist, etwas fehlt. Meine Chance war, dass ich aufgrund meines beruflichen Umfelds und meiner Ausbildung die Möglichkeit hatte, Lösungsansätze dafür in eine Struktur und ein System zu überführen.
Wie ist man vor Gründung des KIT-München mit Situationen umgegangen, in denen Angehörige oder Zeugen offensichtlich Probleme mit dem Erlebten hatten? Man muss es so offen sagen: nach Gutdünken. Die Kollegen haben es trotzdem versucht, aber es war im Einsatzrahmen eigentlich nicht vorgesehen. Darüber hinaus wussten wir einfach wenig. Um in einer solchen Situation die richtige Ansprache zu finden, braucht man relativ differenziertes psychotraumatisches Grundwissen. Das hatten wir alle nicht, und das stellte auch niemand zur Verfügung.
Das heißt, dass man Menschen damit im Grunde alleinlassen musste? In letzter Konsequenz ja. Wir mussten uns für den nächsten Einsatz bereithalten. Aber die Situation war sehr unbefriedigend, weil wir gemerkt haben, dass wir die Menschen mit Eindrücken alleinlassen, an die sie sich ein Leben lang erinnern werden. Ich erinnere mich an Zeiten, zu denen wir beklommen in der Wohnung standen und irgendwann den Piepser aus- und wieder eingeschaltet haben, weil der dann ein Geräusch machte und man sich unter diesem Vorwand

Dr. Andreas Müller-Cyran wurde 2013 das Bundesverdienstkreuz durch Bundespräsident Joachim Gauck verliehen.
aus der Situation befreien konnte. Aber glücklich war damit niemand.
Woran liegt es, dass die psychische Gesundheit unmittelbar Beteiligter oder Betroffener so lange kaum eine Rolle spielte? Hat das damit zu tun, welchen Stellenwert psychische Unversehrtheit in der Wahrnehmung hat und hatte? Durchaus. Die Zeit, in die die Gründung des KIT-München fällt, war eine Zeit, in der Psychotraumatologie in Deutschland bestenfalls in den Kinderschuhen steckte – auch akademisch. Es gab ganz wenig Forschung – dafür aber viele Widerstände in Bezug auf das Thema.
Welche Idee lag der Gründung des KIT-München konkret zugrunde? Wir haben in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren sehr gute Strukturen aufgebaut, wenn es um den langsamen Tod geht: Es gibt Palliativmedizin, Hospizvereine. Das ist gut so. Im Rettungsdienst haben wir es aber mit einem plötzlichen Tod zu tun. Der wird gerne verdrängt, ist gesellschaftlich aber relevant, weil bis zu 25 Prozent der Menschen plötzlich oder unerwartet sterben. Mit dieser täglichen Realität wird sich zu wenig beschäftigt. Aber genau dieser Realität müssen wir uns in unserer Gesellschaft stellen.

So fuhr man 1997 zur Einsatzstelle (l.), das Nachfolgefahrzeug war bereits mit Blaulicht ausgestattet.
Wo setzt die Krisenintervention genau an? Wir sind als Rettungskräfte im Kampf gegen den plötzlichen Tod oft hilflos und ohnmächtig. Wenn wir bei einem Einsatz mit einem Toten konfrontiert werden, verdeutlicht das, dass wir die fundamentale Hilfe – nämlich den Toten wieder lebendig zu machen – nicht leisten können. Es ist deshalb unsere Aufgabe, mit den Trauernden einen Weg zu finden, mit dem, was sie erlebt und erlitten haben, umzugehen. Außerdem kommt uns eine Brückenfunktion bei der Vermittlung in die psychosoziale Regelversorgung zu. Wir setzen nur einen ersten Impuls.
Sind solche Situationen nicht auch für die Ehrenamtlichen des KITMünchen belastend? Wer macht die Krisenintervention bei der Krisenintervention? Wenn ich mich in klaren Strukturen sicher bewege und gelernt habe, was ich umsetzen soll, belastet die Arbeit deutlich weniger, denn belastend sind immer Situationen, in denen ich selbst hilflos bin. In der Nachbearbeitung ist die wichtigste Ressource, dass wir uns untereinander gut austauschen. Arbeiten im Team ist eine große Hilfe. Wir sind aber auch alle in Supervision. Wir sprechen dort über Situationen, mit denen wir hadern, weil es Schwierigkeiten oder eine Fehleinschätzung gab. Wir kommen ja nicht aus jeder Betreuungssituation als Helden heraus. Manchmal gibt es einen bitteren Nachgeschmack oder Zweifel.
Warum ist Krisenintervention nicht längst Bestandteil der staatlichen Grundversorgung? Es geht im Kern um die Frage, ob ein psychosozialer Notfall als solcher anerkannt wird und damit Bestandteil der Gefahrenabwehr ist. De facto ist er das – aber es gibt weder entsprechende Gesetze noch Finanzierung. Bisher ist das KIT-München eine rein ehrenamtliche Abteilung. Der ASB muss auch nach wie vor viel finanzieren – weder Ausbildung noch die ehrenamtliche Tätigkeit haben irgendeinen finanziellen Hintergrund. Das kommt erst langsam in der Politik an. Außer der Landeshauptstadt München und dem Landkreis München, die einen kleinen finanziellen Zuschuss geben, finanziert die Arbeit niemand. Die staatliche Seite nimmt das bisher nur am Rande zur Kenntnis. Ich bin diesbezüglich immer wieder in Gesprächen, ich betrachte es auch als meine Aufgabe, dass wir da vorankommen.
KIT-Akademie
Die Referentinnen und Referenten der KIT-Akademie sind erfahrene Mitarbeiter des KIT-München sowie Kolleginnen und Kollegen von Kooperationseinrichtungen.
KIT-Basisausbildung Peritraumatische Krisenintervention Dieser Kurs vermittelt die Grundlagen der Krisenintervention in der Akutphase der Belastung. Weil die Hilfe möglichst unmittelbar nach dem belastenden Ereignis in der peritraumatischen Phase stattfinden soll, beinhaltet der Kurs eine Einführung in die Psychotraumatologie.
KIT-Vollausbildung Psychosoziale Notfallversorgung für Betroffene (PSNV-B) Dieser Kurs bereitet auf die Krisenintervention im Rettungsdienst vor. Hierfür werden Kenntnisse der Psychotraumatologie in der Akutsituation sowie Wissen im Umgang mit Stress vermittelt. Die Kommunikation mit Menschen nach hoch belastenden Ereignissen und auch der Umgang mit fremden Kulturen und Religionen werden genauso thematisiert wie die rechtsmedizinischen Richtlinien und Verhaltensweisen am Tatort. Die Weiterbildung umfasst 98 Unterrichtseinheiten.