VORWORT
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fingstlich-charismatisches Christentum schaut auf eine fast einhundertjährige Geschichte zurück. Aus einer enthusiastischen Bewegung, die von den etablierten Kirchen kritisch betrachtet wurde, ist das am schnellsten wachsende Segment des Christentums geworden. Charismatisch-pfingstliche Frömmigkeit strahlt in (fast) alle historischen Kirchen und Denominationen hinein. Pfingstkirchen und charismatische Bewegungen sind Gesprächspartner in der Ökumene geworden. Während Jahren standen die Diskussionen um Geistestaufe, Zungenrede und Krankenheilungen im Mittelpunkt. Heute sind eine ganze Anzahl weiterer Themen aktuell – Themen, die für manche Ausdruck von Geisteswirken und Erneuerung, für andere Anlass zu Besorgnis sind. Genannt seien etwa ein charismatisches Gottesdienstverständnis mit seiner Betonung von Lob und Anbetung und der spontanen Geisterfahrung, ferner eine charismatische Spiritualität, welche dem „unmittelbaren Geistreden im Herzen“, also Prophetie, Visionen und Träumen große Bedeutung gibt, und schließlich eine Sicht vom Verhältnis von Kirche und Welt, die unter anderem durch das Konzept der „geistlichen Kampfführung“ geprägt ist. Im gegenwärtigen Streben nach einem ganzheitlichen Glauben kann die pfingstlich-charismatische Frömmigkeit helfen, in Ergänzung zur rechten Lehre (Orthodoxie) und dem rechten Handeln (Orthopraxis), zur „rechten“ Emotionalität (Orthopathie) zu finden. In der Mission spricht man heute von der Notwendigkeit, dass neben das „Wort“ als Verkündigung und die „Werke“ als beglaubigende Taten auch die „Wunder“ als Manifestationen der Kraft Gottes gehören. Es ist auch hier die pfingstlich-charismatische Tradition, die diese dritte Dimension einbringt. Unter dem Stichwort „Faszination Heiliger Geist – Herausforderungen charismatischer Frömmigkeit“ organisierte das Theo-
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logische Seminar Bienenberg in Liestal/Schweiz vom 11. bis 13. Juni 2004 ein Symposium mit mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich von diesen Dimensionen pfingstlichcharismatischer Frömmigkeit herausfordern lassen wollten. Dieses Buch vereinigt sowohl die Hauptreferate dieser Tagung als auch eine Reihe der darauf erfolgten Antworten und Reaktionen. Ergänzt werden diese Beiträge durch persönliche Erfahrungsberichte aus Gemeinden sowie durch die am Symposium gehaltenen Morgenbesinnungen. Die Autorinnen und Autoren der nachfolgenden Beiträge repräsentieren eine große Vielfalt sowohl des kirchlichen Hintergrunds als auch der Akzentsetzung in Theologie und Spiritualität. Insgesamt verbindet sie alle aber die Bereitschaft zu einer wohlwollend-kritischen Evaluation dessen, was gegenwärtig im Bereich der kirchlichen und persönlichen geistlichen Erneuerung diskutiert und praktiziert wird. Grundlage dafür ist das selbstkritische Eingeständnis, dass wir erstens individuell und als Kirchen und Gemeinden in vielem durchaus noch dazuzulernen haben und dass wir alle zweitens Erneuerung immer wieder brauchen. Zu allen Zeiten war die christliche Gemeinde angewiesen auf geistliche Erneuerung. Solche Erneuerungsbewegungen waren in der Neuzeit die Reformation und das Täufertum im 16., der Pietismus im späten 17. und 18., die Erweckungsbewegung im frühen sowie die Heiligungs- und Gemeinschaftsbewegung im späten 19. Jahrhundert, ferner der Religiöse Sozialismus, die christlichen Kommunitäten sowie die pfingstlich-charismatischen Bewegungen im 20. Jahrhundert – um nur diese zu nennen. Fast immer rückte die Frage nach der Rolle des Heiligen Geistes bei diesen Erneuerungsprozessen recht rasch ins Blickfeld. Bisweilen gelang eine umfassende kirchliche Erneuerung von innen her, aber ohne Spannungen ging es kaum ab. Nicht selten führten Erneuerungsbewegungen zu Trennungen und Spaltungen, und bei den dabei entstehenden Gemeindeneugründungen 9