Prolog Frühling Ich habe wirklich gedacht, das Schlimmste wäre vorbei. Ein ganzer Monat ist seit dem kühlen Tag vergangen, an dem südöstlich von Straßburg eine neue Scheune errichtet wurde. Mama und ich waren den weiten Weg gefahren und hatten reichlich Essen mitgenommen. Wir wollten den Frauen dabei helfen, die Männer, die die neue Scheune aufstellten, mit einer kräftigen Mahlzeit zu versorgen. Die Bitte, bei diesem Arbeitseinsatz mit anzupacken, war durch die amische Gerüchteküche weitergetragen worden, von der einige behaupten, sie würde Neuigkeiten schneller verbreiten als das Radio. Wir waren also dort und saßen bei den anderen Frauen am Tisch, als Mama plötzlich nach Luft schnappte, aufsprang und auf eine Frau, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, zueilte. Sie begrüßten einander aufgeregt und brachen dann zu einem sehr langen Spaziergang auf. Ohne ein Wort zu mir oder zu irgendjemand anderem zu sagen, marschierte Mama einfach davon. Von diesem Moment an schien meine Mutter in Gedanken weit weg zu sein ... ja, sie wirkte richtig verhudelt. Am meisten beunruhigt mich, dass sie seitdem anfing, mitten in der Nacht aufzustehen und draußen herumzulaufen. Manchmal sehe ich sie durch ein Maisfeld gehen. Sie läuft immer in dieselbe Richtung, bis sie aus meinem Blickfeld verschwindet. Sie geht vornüber gebeugt, als trage sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern. In den letzten paar Tagen benimmt sie sich aber wieder ein wenig normaler: Sie kocht und putzt und näht fast wieder wie früher. Mir ist aufgefallen, dass sie gelegentlich sogar ein bisschen lächelt und ihr Gesicht wieder freundlich und hübsch ist. Aber als gestern Abend die Rede auf meinen einundzwanzigsten Geburtstag kam, liefen stumme Tränen über ihr blasses Gesicht, während sie das Geschirr nachspülte und es in das Abtropfgitter stellte. Ich hatte das Gefühl, ein schwerer Stein lege sich auf mein Herz. „Mama ... was ist los?“ 5