Einleitung Der Begriff Mittelalter ist schillernd. Er kommt in der Renaissance (15. Jh.) auf, als Gelehrte die Antike wieder entdecken und an deren Errungenschaften anknüpfen wollen. Sie fühlen sich als Menschen einer neuen Zeit, sehen eine Wiedergeburt (Renaissance) der Antike herannahen. Die Epoche zwischen Antike und Renaissance bezeichnen sie abschätzig als „Mittelalter“, kulturlos, barbarisch, gotisch. Ein wenig erinnert ein solches Verhalten an die Art von Kritik, die Jugendliche an den Eltern anbringen, von denen sie sich durch Lebenseinstellung und Lebensstil absetzen möchten. Bei aller Kritik bleiben sie dennoch Kinder ihrer Eltern, was sie meist später selbst sehen. Kein Wunder, dass wir die Epoche heute differenzierter sehen. Wir verdanken dem Mittelalter vieles. Auch wenn diese Zeit heute vielen fremd und fern steht, entstehen damals ganz typische Grundüberzeugungen, die für die moderne europäisch geprägte Welt stehen. Zum einen wird eine europäische Kultur geformt, die bei aller Verschiedenheit im Einzelnen doch gemeinsame Grundlagen und Werte hat. Zu diesen Werten gehört die Trennung von geistlicher und politischer Gewalt: Kirche und Staat stehen sich als selbständige Größen gegenüber. Aus der christlichen Grundlage wächst die Wertschätzung des Individuums, dessen Würde und Leben unbedingt gewahrt werden muss. Daher wird Europa von der Verantwortung für die sozial Schwachen einerseits und von der Demokratie als Mitspracherecht aller Staatsbürger andererseits geprägt. Schließlich entdeckt Europa die große Bedeutung von Bildung. Bildung und Wissenschaft, Schule und Buch, Kommunikation und Interaktion prägen die Grundlagen unserer Zivilisation. Das Mittelalter wird deutlich von der Kirche geprägt. Die Menschen des Mittelalters verstehen sich als Christen, ihr Lebensziel liegt im Himmel, hier auf Erden leben sie als Pilger. Der Jüngste Tag hat daher für den mittelalterlichen Menschen eine große Bedeutung, was etwa in der bildenden Kunst (s.u. 8.5) zum Ausdruck kommt. Um das Jüngste Gericht zu bestehen und in den Himmel zu gelangen, kommt der Kirche und ihren Amtsträgern eine Schlüsselstellung zu. Die Zugehörigkeit zur Kirche und die Teilnahme an ihren Heilsangeboten ist daher für die Menschen des Mittelalters selbstverständlich. Aus diesem Grund beansprucht die Kirche Einfluss auf alle Lebensbereiche. Alles Denken wird