globalista Onlinezeitung 2011

online zeitung

Journalismus-Werkstatt 1 | 2011

GefĂśrdert durch: Das RĂźckkehr-Qualifizierungsprogramm der Arbeitsstelle Weltbilder e.V.

Das Projekt globalista ist ein Qualifizierungsprogramm der Arbeitsstelle Weltbilder e.V. im Rahmen der Rückkehrarbeit von weltwärts.

Bei globalista werden die zurückgekehrten weltwärts-Freiwilligen dabei unterstützt, die Erfahrungen und Erkenntnisse aus ihrem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst hier in Deutschland in die „Mitte der Gesellschaft“ zu tragen. Das geschieht auf unterschiedliche Arten und Weisen – allen gemeinsam ist, dass es um Wahrnehmung geht – wahrnehmen was war …

Im Projekt globalista können die vielen Erfahrungen und Erlebnisse reflektiert, strukturiert, zu Erkenntnissen verarbeitet und ausgedrückt werden.

In diesem Prozess entsteht die Spezies „globalista“ – In unserer Vorstellung sind „globalistas“ junge Menschen, die global denken, handeln und ihr Wissen anwenden können.

Innerhalb unseres Programms „globalistas in Qualifikation“ fand am 21. + 22.01.2011 die Journalismus-Werkstatt statt. Ziel war die Produktion einer Onlinezeitung, die Sie jetzt gerade in den Händen halten. Sie ist das Produkt von zwei Tagen intensiver Arbeit mit 12 „globalistas“!

Journalismus, das meint: den Umgang mit Text- und Bildersprache lernen. Alle Texte, Layout-Ideen, Seitenaufbau und Seitenverlauf sind direkt in der Journalismus-Werkstatt entstanden.

Viel Freude beim Lesen!

Elisabeth Marie Mars, Melanie Heisterberg, Bert Odenthal

Ich habe einem Augenblick weh getan.

Nicht absichtlich, niemals absichtlich. Es waren meine Ehrfurcht und meine Bewunderung, die mich so handeln ließen. Ich wollte ihn haben. Für immer. Und da ist er geflohen, weil er nur in seiner Flüchtigkeit perfekt sein kann. Ich habe den Augenblick festgehalten. Er lebte noch, da habe ich ihn eingemauert. Ich habe ihn aufgeschrieben.

In meinem Jahr in Uganda habe ich Tagebuch geführt. Meistens hat es mir gut getan. Manchmal ist es mir allerdings passiert, dass ich eine Erinnerung zu Materie machen wollte und sie dadurch verändert habe. Mit dem, was ich in einem Augenblick, in diesem ganz bestimmten JETZT festhalte, fange ich nur eine Erinnerung an die Erinnerung ein. Und die kann zu jeder Zeit von unserem subjektiven Erleben beeinflusst und dadurch anders geprägt sein. Wenn ich sie zu einem bestimmten Zeitpunkt festhalte, gehen so viele andere Nuancen einer Situation verloren. Plötzlich hat sie eine Definition und ein Gesicht, dessen Züge erstarrt sind. Ein seltsamer Anblick, an den man sich zu schnell gewöhnt. Schreibe ich dann das, was ich denke?

Oder das, was ich denken will? Oder das, was man von mir denken soll?

Ich will später nicht in meinem „Uganda-Buch“ lesen und dabei denken: „Das also war mein Jahr“. Es gibt kein „Jahr“, es gibt Tausende von Momenten, die alle ewig waren und es eigentlich noch sind. Wenn ich schreibe, werde ich mir meiner Gedanken und Worte viel bewusster, ich muss sie ja ansehen, ihnen in die Augen schauen.

Und mit dem Bewusstwerden geht die Möglichkeit der Veränderung einher. Niemals kann ich beim Schreiben einen Anspruch auf Wirklichkeit stellen, denn schon durch die Nachahmung derselben provoziere ich ihre Veränderung. Vielleicht können wir pure Wirklichkeit nicht einmal ertragen. Einen Augenblick kann ich also nicht zur Wirklichkeit machen. Ich kann trotzdem über ihn schreiben und ihn WAHRnehmen. Eigentlich ist es so: ich will nicht wirklich, sondern wahr sein.

Und so ist es auch mit meiner Zeit in Uganda: Ich messe nicht die Zeit, die wirklich war, ich messe die Erfahrungen, die wahr sind.

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Ruth gonschorrek — DRK KV Münster, Uganda

Es war einmal … ein Augenblick

Wie real ist die Wirklichkeit?

Hast du dich auch schon mal gefragt: „Passiert das gerade wirklich?“ Die Frage nach der Existenz einer ultimativen Realität stellen sich Menschen seit jeher. Oft, wenn es ihnen besonders gut oder besonders schlecht geht. Manchmal auch, wenn sie gerade intensiv geträumt haben. Worin unterscheiden sich Traum und Wirklichkeit? Oder gibt es noch eine andere Dimension?

Ich wache morgens auf und weiß: Jetzt bin ich wach. Ich bin in der Realität angekommen. Ich schalte das Radio ein und höre die Nachrichten.

Kaum eine davon betrifft mich. Die Akteure sind distant. Nachrichten über Seebeben, Wirtschaftskrisen, Sportwettkämpfe sind in ihrer eigenen Realität. Genauso wie ich in meiner eigenen Realität bin. Ich bin erst betroffen, sobald sich diese Realitäten überschneiden. Wird mein Haus vom Tsunami zerstört, bin ich Opfer dieses Seebebens.

Verliere ich meinen Job, weil meine Firma Insolvenz anmeldet, leide ich unter der Wirtschaftskrise. Und steigt mein Fußballverein auf, wird meine Stimmung durch einen Sportwettkampf beeinflusst. Es werden meine Realitäten.

Was aber, wenn ein Baum in der tiefsten Taiga umfällt und keiner ist dort. Gibt es dann ein Geräusch?

Was aber, wenn ich träume zum Jupiter zu fliegen, ist es dann wahr, weil ich dabei bin? Letztendlich ist Realität das, was wir in unserem Kopf schaffen.

Dadurch, dass wir unsere Träume auch als Träume behandeln, sind sie unwahr. Träume sind also kein Beispiel für unsere eigene Realität.

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Nehmen wir die Erinnerung. Auf Grund der Struktur unseres Gehirns können wir uns nicht an alle Eindrücke und Erfahrungen unseres Lebens erinnern.

Forscher haben nun eine interessante Beobachtung gemacht: Sobald eine Erinnerung fehlt, versucht das Gehirn sie zu rekonstruieren. Bei einem Versuch wurden erwachsenen Menschen Bilder gezeigt, auf denen sie selbst mit einem Familienmitglied bei einer Ballonfahrt zu sehen waren. Danach wurden die Menschen zu ihren Erinnerungen an dieses Erlebnis befragt. Fast alle wussten etwas zu der Ballonfahrt zu berichten: dass das Wetter besonders heiß war, dass die Mutter einen Kuchen gebacken hatte oder dass der Bruder an jenem Tag besonders quengelig gewesen wäre. Merkwürdig klingt das erst, wenn man den Hintergrund des Versuchs kennt. Der Clou ist, dass die Bilder nur photomontiert waren und in Wirklichkeit niemand auf der Ballonfahrt gewesen war. Die Forscher folgern nun, dass Gedächtnislücken automatisch vom Gehirn ersetzt werden. Wozu das gut sein soll, ist noch unklar.

Bewiesen ist, dass auch unsere Erinnerung ihre eigene Realität hat. Wir können uns nicht auf unsere Erinnerung verlassen, somit auch nicht auf unsere Wahrnehmung.

Wie sollen wir dann die Realität bestimmen können? Die einzig logische Antwort ist: Es gibt keine ultimative Realität. Realität ist untrennbar mit Wahrnehmung verknüpft. Der Mensch kann nicht aus sich heraus und somit auch nicht aus seiner persönlichen Realität. Beim nächsten Mal, wenn du dich fragst: „Passiert das gerade wirklich?“ kann die einzige Antwort nur sein: „In meiner Realität: Ja!“

Jenny Fuhrmann — ijgd, Indien

Vom Ankommen Mein einprägsamstes Erlebnis, als ich in Uganda ankam, war ein Hund, der fast reglos auf der Straße lag. Es war in den ersten Tagen. Das Vorbereitungsseminar war gerade vorbei und wir waren auf dem Weg nach Jinja, der Stadt, in der ich die kommenden zwölf Monate verbringen sollte. Der Hund sah aus wie alle Hunde in Uganda. Sein Fell war kurz und von gelbbrauner Farbe. Er lag mitten auf der Straße, die von Entebbe in die Hauptstadt Kampala führte. Die Menschen beachteten ihn nicht. Die Autos fuhren im Bogen um ihn herum. Er lag ganz still da und bewegte nur manchmal kurz den Kopf oder den Schwanz. Er starb. Niemand kam um ihm zu helfen. Er war nur einer von vielen. Ich verstand nicht, warum niemand diesem armen Geschöpf half. Man könnte ihn doch wenigsten von der Straße runterziehen. Ihm dem Gnadenstoß geben. Wir hielten an einer Tankstelle. Ich saß wie gelähmt im Auto. Ich wollte die Tür aufreißen und zu dem Hund rennen. Nur: was würden meine Mitfahrer von mir denken? Wie konnten die Menschen hier so grausam sein und so unberührt an diesem armen Tier vorbeifahren? Sie lachten, verkauften ihre Waren, redeten. Sie sahen den Hund nicht. Genauso wenig, wie alles andere Selbstverständliche, das sie umgab. So wenig wie die Buden, auf denen in abblätternder Farbe Friseursalon geschrieben stand oder den Müll, der am Rand der Straße lag und langsam mit der roten Erde verschmolz. Nur ich sah das alles. Ich sah den Müll, die rote Erde, die Menschen, die Straßenstände, die Früchte, die Bananenstauden, die Hühner, die Marabus, die Fahrradfahrer zwischen den Autos. Ich sah so viel in den ersten Tagen und konnte mich gar nicht satt sehen. Und jetzt sah ich diesen Hund, wie er sterbend auf der Straße lag. Ich dachte, das Bild von dem Hund würde mir für den Rest des Tages nicht

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Annika Waymann — DRK KV Münster, Uganda

aus dem Kopf gehen. Ich wusste nicht, dass es bald schon von zahlreichen neuen Eindrücken und Bildern ersetzt werden würde.

Ich musste an Deutschland denken, wo die Menschen alles für ihre geliebten Tiere tun. Sie gehen mit ihren Hunden zum Arzt, sobald sie das kleinste Zeichen von Unwohlsein von sich geben. Sie leiden mit ihren Tieren und wenn sie sterben, sind sie untröstlich. In Deutschland könnte kein Hund unbeachtet auf der Straße sterben, dachte ich.

Später sah ich noch öfter tote Hunde auf der Straße. Die Menschen in Uganda haben ein anderes Verhältnis zu Hunden. Auf dem Gelände vom Roten Kreuz hatten wir zwei Hündinnen. Sie bekamen Junge und alle starben, weil die Hundemütter keine Milch für sie hatten. Ich wollte den Hündinnen Essen kaufen, aber wie hätte ich das tun können, während der Gärtner sich nur von Maisbrei ernährte?

Jemand sagte, es sei normal, dass sie beim ersten Wurf ihre Welpen verlieren.

Ich hielt die Menschen für grausam. Dabei waren sie nicht weniger grausam als wir. Wir haben „Ein Herz für Tiere“. Es gibt Tierheime, Spenden werden für heimatlose Tiere gesammelt, wir kleben Aufkleber auf unsere Autos, auf denen steht: „Ich bremse auch für Tiere“. In zahlreichen Kinderfilmen sind Hunde, Ferkel oder sogar Fische die Helden und die Menschen die Bösen.

Doch unsere Tierliebe erstreckt sich nur auf Haustiere. Schweine lieben wir nur im eigenen Darm und unsere Kinder bekommen zum Frühstück Wurst in Bärchenform.

Es dauerte eine Zeit lang, bis ich erkannte, dass sich unsere Mentalität nicht wirklich von der der Ugander unterscheidet. Wir sind nur inkonsequenter. Als sich mein Jahr dem Ende zuneigte, bekamen die Hündinnen noch einmal Welpen. Sie überlebten alle und sie fanden alle neue Besitzer. Einmal, als ich auf dem Weg zum Büro war, kamen mir zwei glückliche Straßenkinder entgegen.

Auf den Armen hielt jedes von ihnen einen Welpen.

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Annika Waymann — DRK KV Münster, Uganda

Großstadtaffe Historisch und evolutionär betrachtet liegen die Ursprünge des Menschen in der

Ich bin täglich online, verbunden mit einem weltweiten Netz aus Mensch und Maschi-

Savanne Afrikas. Jahrmillionen liefen meine Vorfahren barfuß über steinige Böden,

ne. Ich schreibe etwas hinein und die Antworten hallen aus allen Richtungen zurück.

Felswüsten üppige Graslandschaften und später auch grüne Wiesen. Nachts

Meine Freunde wissen immer was ich tue und ich weiß immer, wo die nächste Party

­schliefen sie in Höhlen oder selbst errichteten Unterschlupfen, tagsüber striffen

steigt oder eine interessante Ausstellung eröffnet wird. Es ist einfach immer was los.

sie über das weite Land.

Kino, Konzerte, Kulturveranstaltungen. Wir sitzen zusammen und reden darüber was

Beim Anblick einer stimmungsvollen Landschaftsaufnahme, die mit ihrer Farbpracht

gerade so passiert – wer wo war, wie es war und was man verpasst hat.

und Größe eine beinahe hypnotische Kraft auf mich ausübt, erwacht in mir ein Fern-

Eigentlich bin ich glücklich, so wie es ist und denke „mir fehlt nichts“. Doch wenn ich

weh, das mir so ursprünglich erscheint, wie der Fels und der Baum, nach dem ich

vor einem Gemälde von Caspar-David Friedrich stehe oder zu lange in einem Bildband

mich sehne.

des National Geographics verweile, dann kommt mir mein Großstadtleben wie eine

Aber ich bin als Stadtkind geboren, hunderttausende von Jahren trennen mich von

surreale Farce vor. Eine Pappkulisse vor der wirklichen Szenerie.

dieser natürlichen Umgebung und das wilde Gebrüll meiner Vorfahren hallt nur noch

Das Verrückte ist, dass wenn ich dann auf der Bergspitze stehe, in die Täler hinab-

als leises Echo in mir wieder. An meinen Füssen trage ich einen industriegefertigten

blicke und dem Nebel dabei zuschaue, wie er sich sanft auf die Wiesen legt, dann

Sportschuh, mit dem ich in Höchstgeschwindigkeit von einem Bahnsteig zum nächs-

fühle ich mich zwar an der Wurzel meiner Existenz, zutiefst berührt und inspiriert.

ten Eilen kann um nicht den Anschluß zu verpassen. Ich habe jeden Tag Termine und

Nach einigen Tagen jedoch stumpfe ich ab und das Gefühl, dass mein Ursprung auch

Dinge die ich erledigen muss und da es den meisten anderen Menschen ebenso geht,

mein Ziel sein kann, meine Füsse statt in Turnschuhe auf eine frische Wiese gehören,

schlängel ich mich gemeinsam mit Ihnen durch die Straßen und Einkaufszonen des

verblasst und macht der Langeweile Platz, die ich erst zurück in der Stadt überwinden

allumfassenden Großstadtdschungels.

kann.

Meine Kleidung trage ich nicht nur um mich zu wärmen oder vor kleineren Verletzun-

Und bald horche ich dann wieder ängstlich in mich hinein, auf der Suche nach dem

gen zu schützen, sondern um meine Persönlichkeit und Gruppenzugehörigkeit auch

Echo meiner Vorfahren in der Hoffnung, dass es noch nicht verstummt sein möge. Das

äußerlich sichtbar zu machen. Das hilft sich zu orientieren.

Spiel beginnt von neuem und mein Platz ist weder hier noch da.

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Benjamin Diedrichsen — ijgd, México

Unterwegs Da standen sie auf einmal vor mir, als hätte ich mich ­einen Moment lang nicht auf den Weg konzentriert. Als wären ­meine Füße schnellen Schritts über das Kopfsteinpflaster ­geeilt, während meine Gedanken durch den Sand gestreift und das bunte Schillern des Wassers bewundert hätten.

Ich hörte zuerst ihren ruhigen Atem, der tief die kalte Luft einsog. Ich blieb stehen, hob den Kopf und betrachtete die nebligen Atemwolken vor ihren Gesichtern. „Wo kommen die beiden eigentlich her?“, fragte ich mich instinktiv, ohne die Antwort wirklich wissen zu wollen. Irgendwie wusste ich, dass sie hier sein würden und ich deutete mit meinen vereisten Mundwinkel ein Lächeln an. Als der Wind die ­Wolken ­langsam wegblies war ich wieder alleine. Sie waren verschwunden, fortgegangen auf ihren Wolkentreppen.

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Marius Eckert — ijgd, Vietnam

Fantasia

Land

„OK, hört mal alle zu! Unser Lehrer kommt heute nicht. Ich werde mit euch eine kurze Einheit machen, bis der Lehrer kommt. Ich möchte von euch hören, wie eine Blume aussieht!“ So hätte ungefähr eine Unterrichtseinheit in Deutschland aussehen können. Die Kinder hätten sofort Blumen und Pflanzen beschrieben, ohne großartig zu zögern.

Farben, Formen, Größen – alles Details, die ein Kind in der Grundschule ohne weiteres aussprechen könnte.

Mit dieser Einstellung habe auch ich eine Unterrichtseinheit in Ghana eingeleitet.

Ich war der vollen Überzeugung, dass dies eine gute Konzentrationsübüng für den Beginn einer Stunde hätte werden können. „Beschreibt mir eine Blume.“Es kann doch nicht schwer sein, aus der Fantasie eines Kindes heraus eine Blume zu beschreiben? Auch in Ghana gibt es Blumen und die Kinder sehen sie täglich. Aber wieso dauert das bloß so lange? Die Kinder antworten mir nicht. Ich warte und warte und warte. Knapp 30 Minuten vergehen. Immer noch keine Antwort. Ich bin

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Gamze Güldal — ded, Ghana

verzweifelt. Ohne an die Norm zu denken, setze ich mich auf den Boden. Vor die Füße der Kinder. Wie kann eine Lehrerin das bloß tun? „Madame, bitte setzen Sie sich auf den Stuhl!“, „Sie dürfen sich nicht auf den Boden setzen, Madame.“ Mit diesen Rufen wollen die Kinder verhindern, dass sich ihre Lehrerin erniedrigt, sich selbst in eine missliche Lage bringt.

Doch ich höre nicht hin, binde mir noch meinen Schal um die Augen und behaupte, ich sei blind. „Ich kann nichts sehen. Noch nie habe ich einen Baum gesehen.

Wie sieht denn ein Baum aus?“ Dieses Mal ist es nicht eine Blume, sondern ein Baum. Weshalb? Der Baum steht genau vor dem Fenster! Vielleicht brauchen die Kinder das Visuelle? Vielleicht fällt es den Kindern so leichter etwas zu beschreiben? Ich warte wieder. Und warte. Und warte immer noch. Aber wo bleiben die Antworten?

Plötzlich kommt ein zaghaftes Geräusch aus der Mitte des Raumes. Ich war kurz davor zu verzweifeln. Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich machen sollte – außer ständig fragen inzwischen schon spezifische Fragen: „Wie groß ist ein Baum?“ „ Wie ist er aufgebaut?“ „Welche Farben hat er?“ „Gibt es Merkmale, die erwähnenswert sind?“ „Wie fühlt er sich an?“ Und dann eine Stimme. Eine weitere Stimme und noch eine. Am Ende reden alle wirr durcheinander. Ich stehe auf. Meine Verzweiflung ist vorbei. Die Schüler beschreiben mir einen Baum. Ich hab es geschafft, stehe auf und nehme den Schal von den Augen. Ich merke, dass die Hälfte der Schüler stehen und total aufgeregt sind. Sie wollen ihre Gedanken formen und zum Ausdruck bringen. Ihre Lippen bewegen sich. Und sie schaffen es, ihre Gedanken zu offenbaren.

Am Ende der Stunde hatten sie einen Dschungel beschrieben. Tiere nachgeäfft, ihre Lieblingsfrüchte erwähnt – auch wenn die nicht immer im Dschungel wuchsen.

In Deutschland halten wir die Fantasie für selbstverständlich. Sie ist wie ein angeborenes Merkmal. Und genau das ist sie nicht: nicht selbstverständlich und auch bestimmt nicht angeboren. Wir lernen im Kindergarten, unsere Eltern kaufen uns Spielzeuge, welche speziell der Fantasie gewidmet sind und lassen uns Hörbücher hören. Wir schauen Filme, die für Kinder gemacht wurden. Wir dürfen Träume entwickeln.

Fantasie lässt uns träumen. Ist es den Kindern dieser Klasse in Ghana überhaupt möglich zu träumen? Dieses Mal für einen glücklichen Moment.

Die andere Wirklichkeit eröffnet sich, wenn man von der breiten Hauptstraße in die kleine, unscheinbare Nebenstraße abbiegt.

Straßenhunde laufen in wilden Rudeln herum, barfüßige Kinder spielen auf den matschigen Straßen. Männer mit hageren Körpern und verhärmten Gesichtern weben Körbe oder verkaufen Zigaretten. Sie schlägt einem ins Gesicht, diese Wirklichkeit.

Die glitzernden, klimaanlagenunterkühlten Malls, die modisch eingerichteten Cafes für die globale Cafe Latte Generation liegen auf der Hauptstraße um die Ecke.

Es sind lediglich ein paar Schritte und doch erscheint diese Welt sehr fern. Von hier wirkt sie fast surreal, als wäre sie ein Implantat.

Diese Wirklichkeit hier ist nicht poliert und blankgeputzt. Keine glänzenden Scheiben und Metall, sondern marode Bausubstanz.

Der jährliche Monsun hinterlässt den allgegenwärtigen Grünstich auf den Häuserwänden.

Weltbank-Mittel mitfinanziert, soll er nun in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

Die neue Wirklichkeit ist solide gebaut, in langen Reihen aus rauem Beton, vier Stockwerke hoch. Sie liegt an der Peripherie der Metropole, im brachigen Niemandsland zwischen den zwei großen Hauptausfallstraßen Richtung Süden.

Fast 200.000 Menschen leben schon hier, in den zwei neu angelegten Wohnsiedlungen Kannagi Nagar und Semmencheri.

Die Menschen lebten vorher in Hütten am Strand oder in den zentral gelegenen Vierteln der Unterschicht. Jetzt sind die Dächer über den Köpfen der 12 Quadratmeter großen Wohnungen, die einer Familie zugewiesen werden, sicher vor Stürmen, Tsunamis und anderen Widrigkeiten.

Die ökonomischen Widrigkeiten hingegen haben sich kaum verbessert.

Viertel wie Semmencheri und Kannagi Nagar am südlichen Stadtrand von Chennai sind Ballungszentren der Armen. Es gibt keine Arbeitgeber.

o u t g e s o u r c t Der städtische Fluss, der entlang der Straße verläuft, ist längst zur Kloake geworden, zähflüssig wie Öl, fast schwarz.

Doch es wird hoch geträumt im Aufschwungland Indien.

Lebenswertere Umstände für die unterprivilegierten Schichten der städtischen Armenviertel – in den meisten Städten ist dies gut die Hälfte der Bevölkerung – sollen geschaffen werden.

Mit Beginn der neuen Legislaturperiode der von der Congress–Partei angeführten Regierungskoalition wurde der National Urban Renewal Plan im Jahre 2009 bestätigt.

Schon in den 70er Jahren geplant und zeitweise durch

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Martin Hoffmann —

ijgd, Indien

Die Busse, die das neue Viertel mit dem Wirtschaftsraum der Stadt verbinden, kommen allenfalls sporadisch.

Die Konsequenzen sind ersichtlich: Pulks von jungen Männern säumen die vermüllten Straßen. Sie sitzen, rauchen, spielen Karten. Die Raten von häuslicher Gewalt und Alkoholismus sollen laut hier tätigen NGOs höher sein als in den alten, organisch gewachsenen Vierteln der Stadt.

Leitungswasser gäbe es durchschnittlich alle vier Tage, sagen die Bewohner. Es wird dann in Plastikkanistern abgefüllt und gelagert. Reicht es doch nicht, bis der Wasserhahn wieder welches hergibt, muss es teuer bei den Wasser verkaufenden Firmen erworben werden.

Man hat sie verlagert, die andere Wirklichkeit, weg von den Augen der Mittelschichten und der Besucher des neuen, urbanen Indiens. Outgesourct an die Ränder der Stadt.

Auf eine Veränderung der Wirklichkeit hingegen wird noch gewartet.

Pilchas Gauchas Buenos Aires: einst das unermesslich reiche Handelszentrum all jenes Silbers, das in den Minen des andinen Hochplateaus gewonnen und durch die weiten Ebenen des Gran Chaco bis hierhin transportiert wurde, um nach Europa verschifft zu werden. Einst Wiege der Unabhängigkeit der vier heutigen Staaten, die dem Vizekönigreich La Plata angehörten und seit jeher Hoffnungsträger von Einwanderern, Metropole städtischer Kultur und Geburtsort des Tango.

Welche zwei Worte könnten besser eine Nation wie die argentinische beschreiben als diese: Buenos Aires.

Doch es scheint, als sei von Argentinien hier nur wenig zu finden. Auf den Straßen drängen sich Gucci und Prada, der Preis eines einfachen südamerikanischen Kaffees übersteigt jenen in europäischen Metropolen und bestürzt sieht man mit an, wie die Seele des Tango in Seitenstraßen an den Teufel des Fremdenverkehrs verkauft wird. Die Stadt ist geschäftig wie New York, elegant wie Paris, hochnäsig wie London, traditionsbewusst wie Madrid und auch bunt wie Berlin. Nichts fehlt in dieser mystischen Hafenmetropole, sie zeigt sich in derart vielen Facetten, dass es ein Leben lang Neues zu entdecken gäbe – nur Argentinien sucht man vergeblich.

Die Stadt am Río de La Plata war einst kolonialer Verwaltungssitz, im 19. Jahrhundert Ballungsraum der zentralistischen Kräfte in der noch jungen Republik, im 20. Jahrhundert Zentrum einer grausamen Militärdiktatur, die noch immer tiefe Narben im Bewusstsein dieses Volkes hinterlässt. Immer schon war Buenos Aires hier – und immer schon stellte die Stadt eine Grenze zu Argentinien dar.

Die Kultur jener Landesväter, auf deren Asche diese amerikanischen Böden liegen, zelebriert man noch zu Paraden und in Sportvereinen. Argentinische Wurzeln als Kostüm in der Landeshauptstadt – wieso gerade hier?

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Max Frömling — VNB, Brasilien

Selbstgespräche Der kleine Mann im Ohr – aus Gründen der Political Correctness möchte ich darauf hinweisen, dass es sich durchaus auch um eine Frau handeln kann – ist eine schöne Metapher für ein Phänomen, das wir alle kennen. Die Stimme in unserem Kopf, die manchmal zu uns spricht, aber auch für Tage verstummen kann.

Manchmal redet sie einfach dazwischen, macht unsinnige Kommentare oder hämische Bemerkungen. Sie kann aber auch ernsthaft zu uns sprechen, vor Gefahren warnen, Bedenken äußern und zum Nachdenken anregen. Woher sie kommt und ob man ihr auf der Suche nach Geheimnissen unseres Ichs trauen kann – man weiß es nicht.

Ich höre ihr im Allgemeinen gerne zu und sie scheint mir wohlgesonnen, aber mein absolutes Vertrauen genießt sie nicht und ich wüsste nur zu gern, wo der Knopf ist, um sie einfach mal abzustellen.

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benjamin diedrichsen — ijgd, Mexiko

landschaft??

kommt noch

Wir Esel Schon komisch wenn sich dann und wann die Möglichkeit ergibt, eine große Menschenmenge eingehend zu beobachten, ohne selbst Teil von ihr zu sein. So viele verschiedene Biographien und Einzelschicksale zusammengepfercht auf engstem Raum, ein Event eben. All die Individuen verschwimmen in der eigenen Wahrnehmung unbewusst zu einer zähen Masse. Schnell spricht man von einer bestimmten ,,Generation“, einer Ausgeburt der Spaßgesellschaft, man urteilt und das oft vorschnell. Der Klischeebus steht zur Abfahrt bereit, man nimmt Platz und hat während der Fahrt genug Zeit, Feuilleton-kompatible Lebensgefühlstheorien aufzustellen.

Aber was ist das, ein Lebensgefühl? Ist es das, was einen aus der Masse herausstechen lässt oder ist es eine, jedem Menschen innewohnende Emotion, die der eine nur exzentrischer und impulsiver als der andere auslebt? Ist es ein Motor oder eher ein Klotz am Bein? Vielleicht fragt sich jeder einzelne manchmal, ob ihm dieses Gefühl nicht tagtäglich in Form der Karotte erscheint, welche zum greifen nahe vor seiner Nase baumelt. Aber er, der einzelne, der Esel, rennt ihr in blindem Aktionismus immer nur nach, anstatt sich zu fragen, ob dieser Trott ihn an sein Ziel führen kann. Einem Ideal nachhängen, von Illusionen träumen, so sein wollen wie ,,die in der Werbung“, ein Ziel vor Augen haben…Lebensgefühl kann viele Ausprägungen annehmen, aber alleine seine Existenz ist ein Beweis dafür, dass man noch empfindet und denkt.

Und egal ob jetzt Weltverbesserer, Konsumjunkie oder Antriebsloser – auch Lebensgefühl will ab und an auf den harten Boden der Tatsache zurückgeholt und hinterfragt werden. Sonst drohen Höhenkrankheit und Blindflug und man endet doch als kleines Rad in einer Masse, egal wie individuell sie sich gibt. Und na klar, jeder wie er will, aber weiß denn jeder was er wie will? Sollte das denn überhaupt jeder wissen?

Und wo kämen wir denn dann hin? Wahrhaftig, das wäre ein Aufbruch zu neuen Ufern, wenn plötzlich nicht mehr nur eine Minderheit ihren Egoismus ausleben würde, sondern alle. Am Horizont ziehen langsam erste Anzeichen eines solchen, alles verändernden Sturmes auf und es bleibt zu hoffen, dass wir, die mit Selbstfindung beschäftigten Satten, wieder öfters in den Himmel und in Richtung Horizont blicken. Auch um festzustellen, dass wir bei allen Gefühlslasten nur ein Teilchen vom Ganzen sind.

Wie auch immer, vermutlich ist es mit dem Lebensgefühl so wie mit der Freiheit: Man kann sie nicht eingrenzen, man muss sie ausleben.

In diesem Sinne: Hinaus in die Welt und bis zum nächsten Tief einfach mal fliegen.

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Ole Schwabe — lkj, Togo

Hilfe!

Nach meiner Schulzeit habe ich mich für den Freiwilligendienst „weltwärts“ beworben.

Wenn ich nun rückblickend mein Motivationsschreiben lese, muss ich über die Mutter Teresa in mir schmunzeln. Aus der Überzeugung heraus, dass mich mein Wohlstand dazu verpflichtet, Menschen zu helfen, die ums tägliche Überleben kämpfen, hatte ich fleißig Spendengelder gesammelt und im Bekanntenkreis von meinem heldenhaften Vorhaben berichtet.

Als ich damals ohne Spanisch-Kenntnisse ins Flugzeug nach Ecuador stieg, war ich beseelt vom Wunsch, die Welt als Englischlehrerin zu verbessern und das Leiden der ecuadorianischen Kinder mit ihren großen braunen Augen und der zerrissenen Kleidung zu lindern. Mit dem ersten Schultag kam die Ernüchterung: Ecuadorianische Kinder tragen tadellose, glattgebügelte Schuluniformen und nicht einmal die Socken haben Löcher. Zu Hause wartete der Fernseher auf sie und die Mamá mit einem Teller voller Reis, Bohnen und Hühnchen. Wenn ich hastig in meinem Wörterbuch nach einer fehlenden Vokabel suchte, sind sie aufgestanden und tobend durchs Klassenzimmer gelaufen. Besonders die Erstklässler waren kleine, wilde Rabauken, die nach Lust und Laune arbeiteten, kreischten und umher rannten. Ich verzweifelte, verfluchte sie und erfand irgendwann das Nadelspiel: In meinen Fingerspitzen die Stecknadel. Ein Spiel mit dem grellen Neonlicht: Schimmerblitzer. Aufregung. Kleine Kinder, große Augen. Silbernes Metall mit hellblauem Kopf. Es wird mucksmäuschenstill. Ich lasse die Nadel fallen, wir lauschen. Haben alle das Klirren auf dem Boden gehört? Ich hebe die Nadel auf, halte sie noch einmal hoch. Schimmerblitzer. Totenstille. Konzentration. Ein hellblauer Kopf, der lautlos die Luft durchbricht und mit einem Klirren auf dem Boden des Klassenzimmers aufschlägt. Stille.

Ich spielte mit den Kindern Memory auf Englisch, sang „Head, Shoulders, Knees & Toes“, bastelte kleine Handpuppen, arbeitete ein Karteikartensystem aus und verbrachte viele Stunden mit dem Entwerfen von Arbeitsblättern. Trotz der Fortschritte und kleinen Erfolgen wurde mir klar, dass mein Schulabschluss und mein Wissen mich nicht unbedingt dafür qualifiziert haben, Kinder im ecuadorianischen Regenwald in die Sprache ihres großen nördlichen Nachbarn einzuführen und kompetenten Entwicklungsdienst zu leisten. Irgendwann verließ mich die Geduld. Als die Kinder auch nach drei Wochen das „chicken“ 12 | 17

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Lara Gross — Experiment e.V., Ecuador

immer noch mit dem „monkey“ verwechselten, versuchte ich es mit dem Belohnungsprinzip: Wer am schnellsten alle „farm animals“ auf dem Arbeitsblatt findet und ausmalt, gewinnt einen kleinen bunten Schaumstoffball. Das Wetteifern begann. Blaue Hühner, rote Katzen, gelbe Kühe. Zwischendrin auch mal ein lilaner Löwe. Mal über die Linie gemalt, mal das kleine Küken in der linken Ecke vergessen.

Am Ende überreichte mir jedes Kind voller Stolz sein Arbeitsblatt mit der festen Überzeugung, am besten gearbeitet zu haben. Und in der Tat, jeder hatte sein Bestes gegeben. Entsetzen und Enttäuschung auf den Gesichtern der Vierjährigen, als ich Veronica den Ball überreichte.

Tränen. Wut. Arbeitsverweigerung. Ich: überfordert. Den Mangel an Pädagogik, Methodenwissen und effizienter Unterrichtsplanung versuchte ich mit viel Engagement, Motivation und einem dicken Ordner voller Arbeitsmaterialien wett zu machen.

Nur morgens kehrte in dem Klassenzimmer mit den viel zu hohen, vergitterten Fenstern und dem abblätternden Anstrich langsam Ruhe ein. Die Kinder saßen mit kerzengeraden Rücken, andächtig gesenkten Köpfen und gefalteten Händen in ihren Bänken. Das Morgengebet.

Einmal, während der Regenzeit, als dicke Tropfen auf das Wellblechdach prasselten, war Anthony an der Reihe. Er rutschte unglücklich auf seinem kleinen Hocker herum, schielte mal nach links, mal nach rechts. Was sah er an diesem Morgen? Vielleicht wanderten seine Augen von seinen Klassenkammeraden hinüber zur Tafel, an der noch vom Vortag in großen Druckbuchstaben, aber leicht verwischt Ma Me Mi Mo Mu stand. Vielleicht hatte er einen Blick in Richtung Lehrerin gewagt. Vielleicht hat er die gesenkten Köpfe, die auf seine Dankesworte warteten, vor lauter Nervosität gar nicht wahrgenommen. Dann, nach fünf qualvollen Minuten, verkündete Anthony: „Ich will nicht beten.“ Erlösung. Schweigen. Die Ruhe vor dem Sturm. Unsichere Blicke in Richtung Lehrerin. Leises Gemurmel. Dann brüllt die Lehrerin: Beten wichtig. Wichtig. Sehr wichtig. Traurig. Lieber Gott. Gott lieb.

Du musst. MUSST!! Sonst Hölle und Luzifer.. Alle Augen sind auf Anthony gerichtet und niemand wollte in dem Moment in seiner Haut stecken. Er windet sich verzweifelt, eingeschüchtert und ängstlich auf seinem Hocker. Niemand stand ihm bei, auch ich nicht.

Ich habe ein Land bereist und dabei tiefe Einblicke in eine mir fremde Kultur erhalten, Lebensgewohnheiten und Traditionen kennen gelernt. Die Welt habe ich nicht verbessert, aber ich habe gelernt, dass gottesfanatischen Lehrerinnen mit der Heiligen Schrift Unheil anrichten können, dass Kinder vom Klirren einer Stecknadel fasziniert sind und dass kleine Schaumstoffbälle für viel Tumult sorgen können.

Erfolgs-Story Was ist eigentlich Erfolg? Jeder kennt dieses Wort. Jeder will Erfolg. Jeder meint zu wissen was das ist – Erfolg. Doch, dass wir es hier mit einem irreführenden, mehrdeutigen Wort zu tun haben, das ist den meisten Menschen nicht klar.

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Die Medien suggerieren uns jeden Tag, was Erfolg ausmacht. Welche Menschen zu den Erfolgreichen gehören und welche als Looser einer Generation verschrien sind. Das Fernsehen ist, so scheint es mir, der Vorreiter Nummer 1, wenn es darum geht, Menschen einen Stempel aufzudrücken. Der Zuschauer kann sehen, wie Daniela Katzenberger es nach langer Gleichgültigkeit schafft, einen Quadratmeter der Wand ihres Restaurants von den Tapetenesten zu befreien. Was ist der Sinn solcher Bilder? Wer soll sich hier über welchen „Erfolg“ freuen? Eine andere Szenerie: ein zerstrittenes Ehepaar. Die Ehefrau hegt Verdacht, dass ihr Mann sie betrügt, engagiert einen Privatdetektiv, überführt ihren Mann mit Beweismaterial des Ehebruchs. Was wäre in dieser Situation denn Erfolg?

Oder: D-Promis lassen sich ins Dschungelcamp sperren, gehen Knebelverträge ein und schaffen drei Dschungelprüfungen, bei denen sie sich wahlweise fünf Eimer Kakerlaken über den Kopf schütten lassen oder mit einer Schlange in einen Glaskasten gesperrt werden.

Sauflustige / dem Alkohol nicht abgeneigte Jugendliche fliegen nach Ibiza und feiern eine Woche lang durch. Tagsüber liegen sie wie die Sardinen geplättet in der Sonne.

Sind dies die Erfolgsträger unserer Generation? Haben sie Lob und Anerkennung verdient für das, was sie geleistet haben?

Wenn man den Machern dieser Shows glaubt: ja. Sie als Leser meinen nun, diese Menschen haben nicht wirklich Erfolg gehabt? Erfolg sei etwas anderes?

Wikipedia sagt, Erfolg sei das Erreichen selbst gesetzter Ziele. Das gelte sowohl für Einzelne als auch für Organisationen.

Aber ist nun ein Dschungel-Promi erfolgreich, weil er die Dschungelprüfung schafft? Nur weil er sich dieses Ziel vorher gesetzt hat? Oder ist er erfolgreich, weil er sich einem Millionenpublikum ausliefert?

Dem würden Sie zustimmen? Sehen Sie einen Börsen-Freak mit Top-Lebenslauf und dickem Bankkonto als erfolgreich an?

Oder als skrupellosen Zocker? Wenn wir eine Marktfrau aus Togo einen Tag begleiten würden, sie filmen, wie sie jeden Tag von 6 bis 21 Uhr auf dem Markt steht und nach diesem Tag nicht müde ins Bett fällt, sondern für die ganze Familie Essen kocht – was würden wir dann sehen? Bekäme solch eine Reality-Sendung die Quoten von Dschungelcamps oder DetektivSendungen?

Woher kommt dieses Ungleichgewicht in unserem Urteil über Erfolg und Nicht-Erfolg? Warum nehmen wir uns raus darüber zu urteilen welche Menschen die Kings und welche die Looser unserer Generation sind? Warum ist ein Topmodel in Deutschland erfolgreicher als eine Marktfrau in Togo. Beide verfolgen ihre Ziele, beide strengen sich an. Woran misst man Erfolg?

An der Zahl, die auf dem Bankkonto steht? An unseren guten oder schlechten Absichten?

Weiter heißt es bei Wikipedia: „Erfolg ist die Summe richtiger Entscheidungen.“ Na, wunderbar. Danke Wikipedia. Und was ist die Definition einer „richtigen“ Entscheidung? Für den Einen ist Erfolg, nach seinem Studium fest in seinem Traumjob eingestellt zu werden. Ein Anderer sammelt seine Erfahrungen in Auslandaufenthalten und Zeitverträgen. Und der Dritte arbeitet das, womit er seine Familie ernähren kann. Wer von diesen Dreien hat nun die richtigen Entscheidungen getroffen und somit den größten Erfolg?

Diese Diskussion könnte ich ewig weiterführen. Nur zu einem Ziel komme ich nicht. Zum Glück habe ich mir vor dem Schreiben kein Ziel gesetzt. Sonst wäre ich jetzt erfolglos. Oder?

Anna Luisa Schmitz — ded, Togo

Wir Kulturimperialisten

Es gibt eine Menge Gründe, die zu einem Freiwilligendienst bewegen: Einblicke in eine neue Kultur gewinnen, eine weitere Sprache lernen, an einer Herausforderung wachsen. Aber vor allem möchten viele “helfen”. Mit bestem Gewissen sammeln wir Spendengelder für die gute Sache im Bekanntenkreis und berichten in Rundbriefen oder Blogs vom heroischen, manchmal nahezu märtyrerhaften Ringen um bessere Umstände – trotz aller Widerstände und Enttäuschungen.

Wie selbstverständlich übertragen wir Freiwilligen dabei die eigenen Normen und Wertevorstellungen auf die Kultur des Einsatzortes: Die Energieversorgung sollte z.B. stabiler, die Menschen umweltbewusster, die Wertschätzung von Bildung größer, die Arbeitsorganisation effizienter, die Familien kleiner, die Eltern älter, die Straßen sauberer und das Wohlstandsniveau höher sein.

So werden die Menschen der Gastländer diskriminiert, indem heimische Ideale ungefragt als Maßstab angelegt werden.

Meistens sind wir uns nicht bewusst, dass der Ausdruck “helfen” ein hierarchisches Gefälle einschließt, das die Menschen im Einsatzland entmündigt. Freiwillige fühlen sich aufgrund der eigenen Kompetenz berufen und befähigt, das “Entwicklungsland” dem anzunähern, was es ihrer Auffassung nach sein sollte. Dieser kulturimperialistische Gedankengang ist nicht neu: Mit ähnlichen Argumentationen, die wie selbstverständlich die Überlegenheit der europäischen Kultur voraussetzen, wurde früher bereits die Kolonialisierung gerechtfertigt.

Oft fordern Freiwillige in Ländern des Südens ein, was im Heimatland selbst überhaupt nicht geleistet wird: Sie engagieren sich in Aufforstungsprojekten, ohne jemals auf den Gedanken gekommen zu sein, in Deutschland Bäume zu pflanzen.

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Lars Thoma — Experiment e.V., Ecuador

Sie treten gegen Erdölförderung und die damit verbundene Regenwaldzerstörung ein und reflektieren kaum, dass der eigene hohe Lebensstandard (einschließlich des Fluges in das Gastland) überhaupt erst die Nachfrage schafft.

Sie bemängeln fehlende Nachhaltigkeit, während sie in Europa stillschweigend hinnehmen, dass Kernkraftwerke trotz Sicherheitsbedenken und ungelöster Entsorgungsfrage betrieben und fossile Brennstoffe ohne Rücksicht auf klimatische Veränderungen verfeuert werden.

Es ist so und deshalb auch nicht verwunderlich, dass nur wenige Freiwillige ihre Motivation kritisch hinterfragen. In Deutschland wachsen wir mit dem Selbstverständnis heran, einer vorbildlich freiheitlichen und offenen Kultur anzugehören. Wir halten uns für tolerant, obwohl sich unser Rassismus subtil hinter dem Vokabular der Political Correctness und in unseren Ansichten und Gewohnheiten verbirgt. Zwar wird diese Problematik oft im Rahmen der Vorbereitung auf Freiwilligendienste thematisiert, aber unser Selbstverständnis ist so fest verankert, dass nur eine sehr kritische Eigenreflexion den eigenen Rassismus zu entlarven vermag.

Dies soll kein pauschales Plädoyer gegen Freiwilligendienste sein – im Gegenteil: Kulturimperialistische Einstellungen sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Und wer könnte dem besser entgegenwirken als junge und weltinteressierte Menschen? In welchem Zusammenhang könnte man sich der Ethnozentrierung des eigenen Weltbildes besser bewusst werden als in der Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur? Und: was könnte geeigneter sein als Grenzsituationen, die einen mit fundamental anderen Wertevorstellungen konfrontieren?

Sich der Kulturabhängigkeit der eigenen Weltanschauung bewusst zu werden, ist schmerzhaft, weil man dazu grundverschiedene Ansichten als gleichwertig anerkennen muss. Aber es ist ein notwendiger Schritt, um Diskriminierung durch Kulturimperialismus zu bekämpfen und eine wirklich offene, tolerante Gesellschaft zu schaffen.

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Lars Thoma — Experiment e.V., Ecuador

Abziehbild Die Schultasche landete mit einem Knall in der Ecke und Robert ließ sich auf den vergilbten Klappstuhl fallen. Der Deckenventilator rotierte lautstark und schaukelte gefährlich. Jemand rief nach ihm, mehrmals, drängend. „Noch eine Minute“, brüllte er zurück. „Gönnt mir doch mal eine Minute Pause!“, dachte er im Stillen. Die Uhr war wieder einmal stehen geblieben, doch die Sonne schien im Zenit zu verharren. Die Hitze ließ nicht nach, genauso wenig wie die Rufe seines Vaters: „Robert, du gehst heute mit leerem Magen ins Bett, wenn du nicht sofort kommst!“. Als ob das eine wirkliche Drohung wäre, an Hungerträume hatte er sich schon lange gewöhnt. Es war eher die harte Hand des Vaters, die ihm Angst machte.

Ein letzter Blick noch auf das Bild, das er ständig bei sich in der Hosentasche trug, dann sprang er auf und rannte hinaus auf die staubige Straße. Sein Vater hatte bereits den Zweitakter-Motor des klapprigen Rollers gestartet und deutete Robert, hinter ihm Platz zu nehmen. Federleicht schwang er sich auf die harte Sitzbank und umklammerte die Hüften seines Vaters. Im Augenwinkel sah er noch einen schnellen Schatten bevor er den Schmerz im Rücken spürte. „Mensch, Paul, kannst du nicht vorsichtiger sein, du kleiner Rotzbengel!“ Sein jüngerer Bruder war zwar einen Kopf kleiner, aber dafür frech wie zwei. „Ich muss ihm bald mal wieder eine Abreibung verpassen“, dachte er, während sich die drei auf dem Roller ratternd von der Wellblechhütte entfernten.

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Marius Eckert — ijgd, Vietnam

„Wenn ich groß bin, will ich Mechaniker werden“, überlegte Robert und schloss die Augen, um den kühlen Fahrtwind auf der rauen Haut zu genießen. „Mechaniker oder Fußballspieler“, dachte er. „So wie Didier Drogba will ich werden.“ Er kramte wieder das zerknitterte Abziehbild des berühmten Fußballers aus seiner Hosentasche. „Ich muss jeden Tag mindestens fünf Stunden üben und am Wochenende in die Stadt fahren, um auf dem großen Platz im Victoriapark zu spielen. Da wurde auch Didier entdeckt. Und wenn ich dann nach England komme, werde ich den ganzen Tag nur Fußball spielen oder in meinem Pool schwimmen.“ Die Stimme seines Vaters holte ihn aus den Träumen zurück. Nun, da Fahrtwind und Motorenlärm nicht mehr störten, zeterte er wieder los. „Robert, lehn den Roller gegen den Baum und schließ ihn ab. Paul, hilf mir, die Eimer zu tragen. Guckt nicht so blöd, fangt an, wir müssen heute das ganze Feld bewässern!“ Robert schob den Roller in den Schatten des Baums und rannte hinter den beiden her zur Wasserstelle. Mit den großen Eimern mussten sie heute sicherlich mehr als hundert Mal den schmalen Trampelpfad zwischen Feld und Wasserloch gehen.

Im trüben Nass stand eine Gruppe Flamingos und ihre Köpfe schnellten gleichzeitig hoch, als sich Vater und Söhne näherten. Nervös staksten sie an den anderen Rand der kleinen Wasserstelle und erhoben sich, als die drei begannen, die Eimer zu füllen. Mit großen Flügelschlägen wurden die Tiere rasch zu pink schimmernden Flecken am klarblauen Himmel. Robert hielt einen Moment inne und blickte ihnen nach. Sie flogen von der Sonne weg nach Norden. Ob sie wohl auch in England vorbeikommen?

Impressum

© 2011 Seminarzeitung des Seminars globalista »Journalismus-Werkstatt«, 21./22.01.2011 – Haus Mariengrund, Münster.

Seminarveranstalter: Arbeitsstelle Weltbilder e.V. © Texte: die Seminarteilnehmer Alle Texte sind fiktiv oder persönlich recherchiert. Der Veranstalter übernimmt keine Haftung für den Wahrheitsgehalt.

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Verantwortlich für das Projekt globalista sind: Arbeitsstelle Weltbilder e.V. Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. (lkj) Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. (VNB)

© Fotos: Es war einmal … ein Augenblick | Max Frömling Wie real ist die Wirklichkeit? | Max Frömling Vom Ankommen | James Akena Großstadtaffe | Max Frömling Unterwegs | Max Frömling Fantasia Land | Gamze Güldal outgesourct | Martin Hoffmann Pilchas Gauchas | Max Frömling Selbstgespräche | Max Frömling Wir Esel | stockxchnge Hilfe! | Lara Gross Wir Kulturimperialisten | Photocase Abziehbild | Max Frömling

Gefördert wird das Projekt mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)

Autoren: Anna-Luisa Schmitz Annika Waymann Benjamin Diedrichsen Gamze Güldal Jenny Fuhrmann Lara Gross

Lars Thoma Marius Eckert Martin Hoffmann Max Frömling Ole Schwabe Ruth Gonschorrek

Konzept und Realisation: Elisabeth Marie Mars Melanie Heisterberg Bert Odenthal

www.globalista.org

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Abkürzungsverzeichnis und Konsortialpartner: artefact gGmbH Bischöfliches Generalvikariat Münster Deutscher Entwicklungsdienst g GmbH (ded) Deutsch-Tansanische Partnerschaft e.V. (DTP) Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Münster (DRK KV Münster) Deutsches Rotes Kreuz – Landesverband Westf.-Lippe e.V. Jugendrotkreuz Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM) Experiment e.V. grenzenlos e.V. – Vereinigung internationaler Freiwilliger Internationale Jugendgemeinschaftsdienste e.V. (ijgd) Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. (lkj) Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. (VNB)