gbook 4: Menschenrechte und Flucht 2015

Menschen

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rechte & Flucht

Das Projekt wird gefĂśrdert vom:

Arbeitsstelle Weltbilder e.V. (Hrsg.)

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Ebook / StraĂ&#x;en-Kinder

Intro

Wir möchten Ihnen unsere neue Ebook Reihe zum Thema „Menschenrechte“ im Rückkehrprogramm von weltwärts vorstellen.

Die Ebooks sollen sich gerne als Bildungsmaterial im schulischen und außerschulischen Bereich und ebenso in der weltwärts Vor- und Nachbereitung ausbreiten.

Die thematischen Ebooks werden von weltwärts-Freiwilligen recherchiert und geschrieben.

Dieses Ebook macht die Flucht von Menschen und die Frage der Menschenrechte zum Thema.

Eine qualifizierte Rückkehrarbeit ist nicht nur im dringenden Interesse der ehemaligen weltwärts-Freiwilligen geboten, sondern die Chance, um weltwärts in der Mitte unserer Gesellschaft ankommen zu lassen. Über die Rückkehrarbeit geht’s hinein in die Bildungs- und Kulturarbeit – und selbstverständlich in weitere gesellschaftliche Bereiche.

Das Thema „Menschenrechte und Flucht“ wurde für dieses Ebook ausgewählt, da sich viele Rückkehrende weltwärts-Freiwillige mit diesem Thema beschäftigen und sich in diesem Bereich engagieren. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so heißt es in Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes.

Doch warum verlassen Menschen ihre Heimat, Freunde und Familien? Wer gilt als politisch verfolgt und wer nicht? Wie leben geflüchtete Menschen in der deutschen Gesellschaft und wie lebt die deutsche Gesellschaft mit geflüchteten Menschen? Hat jeder Mensch das (Menschen-) Recht auf Flucht und Asyl?

Fragen, mit denen sich die Autor_innen in diesem Ebook beschäftigt haben.

INHALTSVERZEICHNIS 3 – 7

ICH WILL NUR, DASS KEINER SCHIESST Sebastian Wolligandt

8 – 13

HALLO BILAN, WAS MACHST DU HIER? Kristina Mauer

EIN GESICHT GEBEN Jil Carmen Holtbernd

14 – 20

UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE IN DEUTSCHLAND Johanna Frommelt

21 – 25

WOHIN GEHST DU? Karsten Valerius

26 – 30

DER DUFT DER HEIMAT „globalista bietet jungen Menschen, die in der Fremde begonnen haben, anders auf sich und die Welt zu schauen, einen Raum, um über aktuelle gesellschaftliche Phänomene miteinander ins Gespräch zu kommen. In kreativer Weise werden Erfahrungen und Wissen ausgetauscht und nach außen getragen, ohne dabei die globale Perspektive zu verlieren. Ein immer wieder gerne angenommenes Angebot!“ Johanna Frommelt, weltwärts-Rückkehrerin.

Melissa Derafsheh

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Impressum

Auf der globalista-website findest du die info.box mit weiteren Informationen, Links und Filmen zum Thema „Menschenrechte und Flucht.“ www.globalista.org/infobox/menschenrechte-undflucht/

Ich will nur, dass keiner schießt

Das Leben der Familie A.M., jetzt in Deutschland Prolog: Sebastian Wolligandt hat die Familie A.M. 2013 im Rahmen einer Arbeit seines Fotojournalismus-Studiums kennen gelernt. Aus dieser fotografischen Begegnung ist inzwischen eine Freundschaft mit der gesamten Familie geworden. Neulich hat Sebastian vom Vater der Familie einen Schlüssel zur neuen Wohnung bekommen, „damit er sich schon mal Kaffee kochen kann, wenn sie noch nicht da sind.“ Die Familie A.M. ist 2012 aus Syrien geflohen, 2013 sind alle in Deutschland eingetroffen.

Der folgende Text ist aus Interviews entstanden, die Sebastian mit der Familie geführt hat und spiegelt nicht nur das Entsetzen einer Flucht, sondern auch das Vertrauen in eine Person wider, die das Ankommen unterstützt.

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Der Vater: Vor dem Krieg hatten wir ein sehr gutes Leben in Syrien. Wir hatten eine feste Arbeit und besaßen zwei Häuser. Ich habe als Ingenieur gearbeitet.

Unseren gesamten materiellen Besitz haben wir einsetzen müssen, um es zu schaffen nach Deutschland zu kommen.

Wir sind erst mit dem Flugzeug nach Ägypten geflogen und haben dort sieben Monate gelebt. Von dort waren wir acht Tage auf dem Meer – in einem Boot, das nur 20 Meter lang war. 200 Menschen waren wir auf dem Boot. Das Boot war in der Mitte gerissen. Die ganze Zeit hat eine Pumpe das eindringende Wasser herausgepumpt. Mitten auf See ist der Schlepper geflohen, mit einem anderen Boot weggefahren. Wir waren dann alleine. Wir mussten das Boot dann selber fahren. Wir hatten die ganze Zeit Todesangst. Die Kinder haben geweint. Wir hatten kein

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Wasser zu trinken. Wir hatten das Gefühl, dass unsere Kinder sterben. Wir haben es dann doch bis Italien geschafft.

Das Rote Kreuz in Italien hat uns aufgefangen. Das Rote Kreuz hat uns geholfen. Wir freuen uns – Gott sei Dank – dass das Boot nicht umgekippt ist. Wir haben gesehen, wie andere Boote umgekippt sind und alle sind gestorben. Und wir sind geblieben. Direkt neben uns gab es ein Boot, das umgekippt ist. Die Leute, die unten im Boot waren, kamen nicht raus und sind gestorben. Wir konnten das nicht mehr anschauen. Wir haben nur geschrien und Angst gehabt. Die ganze Zeit.

In Ägypten, wohin wir von Syrien aus geflogen sind, wurden wir sehr schlecht behandelt. Wir sind dort mitsamt den Kindern ins Gefängnis gekommen. In Ägypten gibt es sehr viele Schlepper. Wir waren einfach am Meer und schon wird man angesprochen: „Ihr seid bestimmt Syrer.

Ich kann euch helfen, dass ihr von hier raus nach Deutschland oder Italien fliehen könnt.“ Eigentlich wollten wir in Ägypten leben und haben einen Asylantrag gestellt. Man sagte uns: „So etwas gibt es hier nicht“ und wir sind stattdessen alle ins Gefängnis gekommen. Der Schlepper hat uns gefunden und uns geholfen nach Italien zu kommen. Für die Bootsfahrt haben wir sehr viel Geld zahlen müssen und unser aller Leben riskiert, aber das wussten wir in dem Moment noch nicht. Von Ägypten nach Italien und

danach Deutschland. Den Schleppern haben wir immer das Geld gegeben ohne jede Garantie. Wir wussten nicht, ob wir wirklich nach Deutschland kommen oder nicht. Wir konnten nicht einschätzen, ob er uns jetzt reingelegt hat und haben nur bezahlt, weil wir verzweifelt waren. Die ganze Flucht hat 35 000 Dollar gekostet. Das alles um unser Überleben als Familie mit vier Kindern zu retten.

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Die Mutter: In Ägypten war es so schlimm. Plötzlich sagte der Schlepper: „Wer in zehn Minuten nicht am Boot ist, bleibt hier. Wir sind die drei Kilometer zum Strand einfach gerannt. Wir haben die Taschen mit unseren letzten Sachen zurückgelassen. Entweder die Kinder oder unsere Taschen.

Und dann ging‘s ins Wasser, wir mussten bis zum Boot schwimmen. Die Kinder waren unter Wasser und konnten nicht mehr atmen, wir haben sie hochgehoben. Wir dachten: Entweder sterben wir oder unsere Kinder.

Wir haben es bis zum Boot geschafft. In dem Moment hat die ägyptische Armee angefangen zu schießen. Und wir haben uns unter Wasser geduckt und wussten nicht, was wir machen sollen. Aber es gab noch eine andere Armee in Ägypten, die hat uns geholfen. Die, die geschossen haben, waren die Islambrüder. Wir konnten unsere Kinder in das kleine Beiboot geben, wir selber waren noch im Wasser. Wir dachten, unsere Kinder sind jetzt weg und wir bleiben im Wasser. Doch dann kam auch das andere Boot.

Ich wurde krank und bekam Fieber. Es gab keinen Arzt und auch kein Essen oder Wasser auf dem Boot. Im Boot war viel Eis, damit es auf dem Rückweg wie ein Fischerboot aussieht. Wir haben ja all unsere Sachen am Strand in Ägypten gelassen, wir waren nass, hatten nichts zum Umziehen, das Boot war nicht geschlossen, es war richtig kalt, wir haben gefroren.

Das Schlimmste waren diese acht Tage auf dem Wasser. Gott sei Dank, dass wir jetzt in Deutschland sind.

Der Sohn, 9 Jahre: In Syrien bin ich mit meinem Papa zur Moschee gefahren, wir haben dort gebetet. Nach der Gebetszeit wollten wir raus und haben plötzlich die Scharfschützen gesehen. Auf einmal wurde ein Mann an der Hand getroffen. Ich habe es gesehen, wie das Blut richtig gelaufen ist und ich habe gesehen, wie die Hand runter gefallen ist. Und dann fielen die Raketen von oben auf uns und ich war in der Straße. Ich habe meinen Vater verloren. Ich wusste nicht, wo er hin ist. Dann habe ich meinen Papa gefunden und wir sind unter ein Auto gekrochen, damit uns nichts passiert.

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Der Vater: Als wir nach Ägypten geflogen sind, fragte mein Sohn, ob das solch ein Flugzeug ist, das immer auf uns geschossen hat. Wir hatten bei allem noch eine besondere Erfahrung: Die Leute, von denen wir immer dachten, dass es unsere Feinde sind, die sind mit uns geblieben. Und die Leute, von denen wir dachten, dass es unsere Brüder sind, die waren gegen uns. Schon zum Zeitpunkt unserer Flucht durften Leute aus Syrien eigentlich überhaupt nicht in andere arabische Länder kommen. Wir sind nach Ägypten geflogen, wir wollten dort vorübergehend leben und arbeiten.

Wir waren definitiv nicht willkommen. In Saudi Arabien oder Katar sind wir auch nicht willkommen. Wir dachten in Ägypten: die Menschen sind unsere Brüder, aber sie sind unsere Feinde. Und Europa: wir dachten, das

Die Mutter: Mein Bruder wurde in Syrien umgebracht, danach haben sie mich auch festgenommen, weil mein Bruder gestorben ist. Alle Männer meiner Familie wurden verhaftet. Dabei wollen wir nur in Frieden leben.

Wir haben die Füße der Leute geküsst, nur damit mein Mann frei kommt.

Er ist dann frei gekommen und wir sind sofort geflohen. Die Soldaten von Assad haben uns gesagt, wir haben eine Stunde Zeit. Es war nicht mal eine Stunde, dann wurde bereits mit dem Bombardieren angefangen. Ich habe gesehen, wie die Hunde angefangen haben Leichen zu fressen. Wir hatten Angst vor den Hunden, dass sie uns auch beißen. Ich habe gesehen, wie die Hunde einen Kopf gefressen haben.

Wenn mein Mann hier in Deutschland raus geht, weiß ich, dass er zurück kommt. In Syrien hatte ich immer Angst, dass er nicht wiederkommt. Und jetzt habe ich immer das Gefühl, dass er wieder zurückkommt. Hier ist es so anders, wir haben so etwas noch nicht gesehen.

sind unsere Feinde und die sind unsere Brüder jetzt. Es ist echt umgekehrt.

Die arabischen Leute haben uns nicht geholfen, überhaupt nicht, die ganze arabische Halbinsel ist gegen Syrer. In der Schule aber haben wir immer gelernt, dass Europa unser Feind ist. Wir haben so viele falsche Geschichten gelernt: Europa hilft Israel sehr und Israel will Syrien umbringen.

Und deswegen ist Europa unser Feind. Und jetzt sehen wir: Nicht Israel hat unsere Leute umgebracht, sondern andere Araber, Mitglieder unserer arabischen Familie. Es sind unsere Brüder, die uns umbringen. Wir haben jetzt gesehen, dass Europa uns hilft. Die sind nicht mehr unsere Feinde, die sind unsere Brüder.

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Der Vater: Demokratie haben wir nie gekannt. Und jetzt freuen wir uns, dass wir sie hier sehen. Die Kinder auch, sie freuen sich sehr, dass sie hier leben können. Wenn das in Syrien so bleibt, wollen und können wir nicht zurück. Wir haben zwar unsere Freunde und all unser Hab und Gut verloren. Aber wir sind so dankbar. Ich will nur, dass keiner schießt.

Sebastian Wolligandt

Hallo Bilan, was machst du hier?

Welche Privilegien habe ich? 25 Jahre alt, westlich, weiß und Autorin dieses Artikels, die über ein Thema schreibt, bei dem ich mir aussuchen darf, wie weit ich es an mich heran lasse. Bislang habe ich in meinem Leben großes Glück erfahren. Oder anders ausgedrückt: große Vorteile und Privilegien genossen. Hineingekommen in eine Welt mit vorherbestimmten Möglichkeiten und Grenzen, die es gut mit mir meinen. Ich habe ein „begehrtes Los“ gezogen. Als Kind deutschrussischer Spätaussiedler kam ich mit acht Jahren nach Deutschland und bekam ohne große Anstrengungen etwas, mit dem mir vieles erlaubt ist: Vom Zugang zur Bildung, über das weltweite und problemlose Reisen bis hin zu ständigen Umzügen in verschiedene Städte und Wohngemeinschaften. Das Los, das ich meine, ist die deutsche Staatsangehörigkeit.

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Für viele andere allerdings assoziiere ich Integrations- und Asylpolitik in Deutschland mit einem Gesellschafts-Spiel. Die Spielregeln sind einfach, es gibt richtige und weniger richtige Felder. Mit dem Betreten eines richtigen Feldes gewinnt der Spieler einen bestimmten sozialen Status und ein bestimmtes Etikett. Er hat Glück, dass sein weiterer Weg weniger steinig wird. Die Startchancen von Flüchtlingen in Deutschland entscheiden sich auf den weniger richtigen Feldern dieses „Spiels“ und sind von Anfang an erschwert.

Die erste Station eines flüchtenden Menschen jenseits des Mittelmeeres sind die Grenzen Europas. Die nächste Station, vorausgesetzt Deutschland wurde erreicht, ist die Ausländerbehörde, die entscheidet, in welchem Bundesland an dem Tag der Ankunft noch Kontingente verfügbar sind. Mit einem Ticket in der Hand werden die geflüchteten Menschen zu ihrer Erstaufnahmeunterkunft in eine x-beliebige Stadt in Deutschland geschickt. Dort werden die Personalien aufgenommen und genaueres zur Flucht erfragt. Wie die Unterkunft aussieht – dezentral in einer Wohnung oder zentral in einer Gemeinschaftsunterkunft – bestimmt jede Kommune selbst. Während des Asylverfahrens und bevor die Flüchtlinge offiziell „anerkannt“ werden, also einen Aufenthaltstitel zugesprochen bekommen, können sie nicht darüber bestimmen, wo oder wie sie leben. Und dieses Verfahren kann sich trauriger­ weise aufgrund von Duldungen bis zu 20 Jahren oder länger hinziehen. Mit dem Aufenthaltstitel hört das Gesellschaftsspiel „deutsche Integrations- und Asylpolitik“ noch nicht auf. Mit der dritten Station, einer eignen Wohnung, ist man dem Ziel des Ankommens in Deutschland durch die rechtliche Anerkennung jedoch einen Schritt näher gekommen.

In Lüneburg leben ungefähr 500 Flüchtlinge, davon sind 400 in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, die weiteren 100 Menschen leben im Stadtgebiet verteilt. Die Flüchtlingszahl ist steigend. In dem niedersächsischen Lüneburg ist es seit Anfang 2015 erlaubt nach drei Monaten in eine Privatwohnung zu ziehen.

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Mit der Ankunft von Flüchtlingen zeigte sich Lüneburg von einer positiven Seite. Im Gegensatz zu anderen Städten gab es keine organisierten Proteste. Die Stimmung ist grundlegend positiv. Schulen, Universität, Kirchen und andere Institutionen zeigen sich offen. Bürgerliche Netzwerke entwickeln viele Angebote. Allein die Willkommensinitiative hat 100 freiwillig Mitwirkende. Neue Projekte, wie die „No Border Academy“ und die „Open Lecture Hall“ an der Leuphana Universität bekräftigen aufs Neue: „Flüchtlinge sind keine Belastung, sondern eine Bereicherung“.

Mit der Wohn- und Lebenssituation von Flüchtlingen kennt sich die Lüneburger „Willkommensinitiative“ aus. Birger, ein aktives Mitglied, beschreibt sie als einen „Zusammenschluss von Menschen, die Flüchtlinge unterstützen“. Sie sind in verschiedenen Gruppen organisiert und stellen unterschiedliche Aktivitäten auf die Beine. „Darüber hinaus unterstützt die Willkommensinitiative auch Menschen einzeln. Über die Gruppen und ihre Aktivitäten entstehen Freundschaften“, erzählt er. Eine Solidaritätsgemeinschaft, die eingreift, wenn eine Abschiebung droht oder bei Behördenangelegenheiten hilft, aber auch gegenseitiges Lernen und Freundschaften auf Augenhöhe hervorbringt.

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Um mir ein Bild von der Wohn- und Unterbringungssituation zu verschaffen, habe ich ein Treffen mit Birger vereinbart. Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich zu der Erstunterkunft in der Bleckeder Landstraße. Insgesamt gibt es drei Gemeinschaftsunterkünfte, zwei weitere sollen noch gebaut werden. Die Gemeinschaftsunterkunft, die ich mir heute anschauen werde, befindet sich hinter dem Bahnhof. Der Hinweg ist eine Straße, die unaufhörlich geradeaus führt und in beiden Richtungen stark von Autos frequentiert wird. Auf der linken Seite beginnt irgendwann ein Zaun, der nicht mehr aufzuhören scheint und mich bis zu meinem Ziel, dem ehemaligen Kasernenkomplex begleitet. Kurz vor der Ankunft entdecke ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen schmalen Spalt in dem Zaun.

Es ist der Eingang zur Unterkunft.

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Das Erste, was mir beim Betreten des Grundstückes auffällt, sind die vielen Fahrräder, die teilweise überdacht und vereinzelt vor dem Haus stehen. Die Sonne scheint auf eine der drei Unterkünfte, ein zweistöckiges Backsteingebäude. Ich setze mich an einen Gartentisch vor dem Haus und grüße zwei Jungs – einer von beiden trägt ein Fußballtrikot – und ich bekomme ein „Hallo“ zurück. Die Menschen vor dem Haus unterhalten sich, die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan, Algerien und den Gebieten der ehemaligen UdSSR. Ich verstehe die Gespräche nicht und fühle mich als die Fremde, die Außenstehende. Als die, die die Privatsphäre überschreitet. Die, die nicht hierher gehört. Bemerke die Absurdität der Situation und frage mich, wie es mir gefallen würde, wenn jemand in meinem Vorhof oder Treppenhaus stünde, mich nach persönlichen Dingen befragt und Fotos macht.

Bis Birger, ein Freiwilliger der Willkommensinitiative kommt, zweifele ich weiter, ob es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen. Ich beobachte die Szenerie: Vor dem Haus dreht ein Junge auf seinem Fahrrad Kreise. Ein weiteres Kind kommt auf einem Fahrrad auf die Unterkunft zugefahren und wird mit der Frage: „Hallo Bilan, was machst du hier?“ empfangen. Die zwei Jungs unterhalten sich weiter

auf Deutsch. Ein Vater schaut mit seinen zwei Kindern aus dem Fenster, das Kleinste klopft mit den Händen gegen die Scheibe. Auf dem Boden liegen Inliner.

Keiner schaut mich komisch an oder fragt, was ich hier mache. Mein Gefühl des Fremdkörpers schwindet mit jeder weiteren herauskommenden Person, die mich mit einem „Hallo“ begrüßt. Eine Frau schenkt mir im Vorbeigehen ein Lächeln. Ich lese das Schild an der Hauswand: „Lüneburg: Ort der Vielfalt“ und in mir kehrt eine gewisse Ruhe ein.

Birger zeigt mir das recht große Grundstück. Eine ehemalige Kaserne, die ihren gradlinigen Charakter nicht verloren hat. Außerdem befindet sich im Keller der Anlage eine Fahrradwerkstatt, in der Flücht­linge zusammen mit Fahrradexperten an ihren Rädern schrauben. Insgesamt gibt es zwei Wohnblocks. Jede Einheit wird von ungefähr 100 Menschen geteilt. Einige haben ein Einzelzimmer, die meisten teilen es sich jedoch mit mehreren Menschen. Aussuchen kann sich niemand, wie er untergebracht wird. Die Einteilung wird von der Stadtverwaltung festgelegt. Nur Familienmitglieder haben das Recht, sich mit ihren Angehörigen ein Zimmer zu teilen. Neben den Zimmern werden auch die Küche und das Bad geteilt. Privatsphäre existiert hier nicht. Der Flur der Unterkunft ist wie ein langer Schlauch, Zimmer reihen sich der Länge nach aneinander und auf jedem Stockwerk wohnen ungefähr dreißig Menschen.

Im Erdgeschoss gibt es einen Raum, der als Aufenthalts- und Beratungsraum genutzt wird. In diesen ziehen wir uns zurück und Birger fängt an zu erzählen.

Dann kommt Birger, in Begleitung von einer Fotografin, die heute Fotos für eine von der Willkommensinitiative gestaltete Ausstellung über die Situation der Flüchtlinge machen wird. Hier und da führt Birger eine Unterhaltung, wird um Rat gefragt oder einfach nur zum Grillen eingeladen bzw. lädt selber zu Veranstaltungen ein. Ich beobachte ihn und das Miteinander, das sich vor meinen Augen abspielt. Es ist menschlich, ehrlich, herzlich, freundschaftlich und erscheint als das Natürlichste, was zwischen zwei Menschen passieren kann.

„Die Menschen kommen meistens freudig an, auch wenn sie eine Flucht hinter sich haben. Aber nach und nach werden sie müde und mürbe. Es kommt Langeweile auf. Sie dürfen nicht arbeiten, also hängen sie hier rum und haben nichts zu tun.“ In der Zwischenzeit hat sich ein Bewohner zu uns gesellt. Er spricht gut Deutsch und hat kein Problem uns zu folgen. Auf Birger`s Frage, wie das Leben hier sei, sagt sein angestrengter Gesichtsausdruck genug. Die Asylverfahren dauern lange und das Leben mit so vielen verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Ländern ist

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eine kontinuierliche Herausforderung. Birger erzählt von einer Frau aus Syrien, die alleine mit ihrem Kind kam. Ein Einzelfall, denn meistens flüchten Männer.

Abgesehen davon, dass es in Syrien nicht üblich ist als Frau alleine unter vielen Männern zu sein, wäre es sicherlich genauso unangenehm für jede deutsche Frau, ausschließlich von Männern umgeben zu sein. Eine Flüchtlingsunterkunft ist kein vor Diskriminierung geschützter Ort. Birger erzählt von den Lüneburgern, die sich nicht scheuen, Anschluss zu den geflüchteten Menschen zu suchen und gemeinsame Aktivitäten zu planen und zu unternehmen. Es sind die „Deutschen“, die hier ein- und ausgehen und damit eine Privatsphäre durchdringen. Birger spricht von einer Sonderzone, die auch ich heute betreten habe und stellt fest, dass „ohne

Tätigkeit der Initiative. „Diese Sonderzone wird nicht besser, indem man sie isoliert. Es ist schon gut, dass wir hier sind.“ Und wer weiß, ob ohne das Wirken der Initiative die Stadtverwaltung den Umzug nach einer Dreimonatsfrist in private Wohnungen erlaubt hätte.

die Lüneburger die Menschen hier total isoliert“ wären. Die Mitglieder der Willkommensinitiative sind es, die hier Angebote und Möglichkeiten schaffen: Von einer Fahrradwerkstatt und der Organisation eines Kleidertreffs über eine Teestunde bis hin zu Begleitung bei Behördengängen und vielem mehr, ermöglichen diese Menschen, was die Kapazitäten, Ressourcen oder vielleicht auch die Bereitschaft der Stadtverwaltung nicht schaffen will. Ein Beispiel dafür sind die an den Türen im Eingangsbereich hängenden Plakate mit Informationen und Angeboten. Bis vor Kurzem wurden diese von der Stadtverwaltung verboten – mit der Begründung, man wolle den Flüchtlingen keine Hoffnungen machen. Doch: Auch ein Warten auf Asyl ist Lebenszeit. Menschen haben ein Recht darauf, diese Zeit nach ihren Wünschen zu füllen und zu gestalten.

Es ist ein Balanceakt, den die Willkommensinitiative versucht zu realisieren. Birger lacht, als er von einem Bewohner erzählt, der gesagt haben soll: „In Syrien brauchte ich keinen Terminkalender, aber in Deutschland schon“. So viel Programm hat die Willkommensinitiative zu bieten. Birger sucht seine Worte bewusst aus, er spricht gewählt und reflektiert über die 12 | 32

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Während wir in dem Aufenthaltsraum sitzen, ist ein stetiges Brutzeln und Zischen aus der Küche zu hören. Plötzlich ertönt laute Musik und verstummt wieder. Man hört, wie sich Menschen auf dem Flur unterhalten. Birger erzählt, wie schwierig die Wohnsituation zwischen Warten und Ungewissheit sei. Einige können sich, ohne gemeinsame Sprache, nicht verständigen. Tagesrhythmen kollidieren miteinander. Andere kommen aus weiteren Gründen nicht miteinander aus, so wie das bei Menschen nun mal vorkommt. Kommt es zu Abschiebungen, sind die psychische Situation und die Stimmung in der Unterkunft kaum noch auszuhalten.

Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um festzustellen, dass ein angenehmes Wohnen unter diesen Umständen nicht gelingen kann.

Die Stadt ist mit der Wohn- und Unterbringungssituation von Flücht­ lingen überfordert. Und in Zukunft wird die Flüchtlingszahl auf 700 bis 800 Menschen steigen. Es war schon immer schwierig, bezahlbaren Wohnraum in Lüneburg zu finden und Birger betont: „Vorher wurde auf die Studenten geschimpft und jetzt wird auf Flüchtlinge und Studenten zusammen geschimpft.“ Die Stadtverwaltung leistet nur finanzielle, aber kaum personelle Unterstützung bei der Bewältigung dieses Problems. Bezahlbaren Wohnraum, der dem Mietsatz von Arbeitslosengeld II entspricht, müssen Flüchtlinge selber finden. Birger schätzt, dass 20% der Flüchtlinge auf dem Lüneburger Wohnungsmarkt selbst eine Wohnung finden und 80% mit Hilfe von Paten der Willkommensinitiative vermittelt werden.

Und wieder ist es das zwischenmenschliche Engagement, das Wege findet.

Es bleibt die Frage, wie lange politische Kräfte sich hinter einem unbarmherzigen Gesicht verstecken können und wann sie anfangen, wahre Initiative zu ergreifen.

Kristina Mauer

Ein Gesicht geben Wie im Traum, wie in Trance laufen sie. Stimmen und Geräusche von überall – jeder für sich. „Ich muss da mal vorbei“, jeder eilt umher.

Anonym inmitten von Menschen, sich im Strom bewegend – wie Fische im Fluss treibend.

Was wäre, wenn ein Jeder einmal innehält, seinem Gegenüber ein Gesicht gibt?

Aus einem Fragezeichen würde ein Ausrufezeichen.

Aus einem starren Blick würde ein Lächeln.

Aus Stille würden Worte.

Kopf nach links, Kopf nach rechts.

Vielleicht ist es der Lauf der Zeit, vielleicht Ausdruck der heutigen Menschlichkeit.

Der Schlüssel dreht sich im Schloss, die Tür öffnet sich – angekommen?

Jil Carmen Holtbernd

Willkommensinitiative Lüneburg ist eine Gruppe von Menschen, die sich in verschiedenen Zusammenhängen für bessere Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der Stadt oder im Landkreis Lüneburg engagieren. www.willkommensinitiative.de

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Unbegleitete Minderjährige in Deutschland Jeder Mensch hat das Recht, sein Land zu verlassen und in einem anderen Land um Asyl zu bitten. Ebenso hat jeder Mensch ein Recht auf Bildung und körperliche Unversehrtheit. Dies gilt für alle Menschen, unabhängig von kultureller, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprache, religiöser oder politischer Orientierung und Alter. Kindern wird zudem ein besonderer Schutz zugesprochen, insbesondere wenn sie sich ohne elterliche Begleitung auf der Flucht befinden. In der UN-Kinderrechtskonvention heißt es daher, dass „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs“ (Artikel 19) getroffen werden und dass das Wohl des Kindes immer vorrangig zu behandeln sei. Dass es nicht immer gelingt, den Menschen- und Kinderrechten gerecht zu werden, zeigt die derzeitige Situation in Deutschland lebender unbegleiteter Minderjähriger.

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Unter den fliehenden Menschen, die in Deutschland Asyl ersuchen, sind zunehmend auch immer mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche zu finden. Allein für das Jahr 2013 spricht der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) von rund 5.500 Geflüchteten. Einige von ihnen haben gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Verwandten ihre Heimat verlassen und diese unterwegs verloren. Andere wurden von ihren Eltern alleine losgeschickt, in der Hoffnung selbst später nachzukommen oder weil sie körperlich nicht in der Lage sind, die Strapazen der Flucht auf sich zu nehmen. Es gibt auch Kinder und Jugendliche, die sich alleine auf den Weg machen, weil sie – beispielweise kriegsbedingt oder aufgrund politischer Verfolgung – keine Angehörigen in ihrer Heimat mehr haben oder weil sie in ihrer eigenen Familie zu Opfern von Konflikten, Ausbeutung und Gewalterfahrungen geworden sind. Gemeinsam ist all diesen Kindern und Jugendlichen eine besondere Verletzlichkeit und durch diese bedingt ein besonderes Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit.

Bei den in Deutschland ankommenden unbegleiteten Minderjährigen handelt es sich keinesfalls um eine homogene Gruppe, denn die ca. 10- bis 17-Jährigen kommen aus verschiedenen Ländern und bringen sehr individuelle Geschichten und Erfahrungen mit. In einer Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge werden als häufigste Herkunftsländer

Afghanistan, Somalia, Syrien, Eritrea, Ägypten, Pakistan, Irak, Guinea und Äthiopien genannt. Vertreten sind aber ebenso Länder der ehemaligen russischen Föderation, Indien, Bangladesch und Vietnam. Prozentual lässt sich sagen, dass der Anteil der männlichen Flüchtenden (ca. 80%) den der weiblichen (ca. 20%) deutlich übersteigt.

Die zugangsstärksten Bundesländer in Deutschland sind: Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern, Berlin, Hamburg.

Wenn unbegleitete Minderjährige von der Grenzpolizei oder anderen Behörden aufgegriffen werden und eine Rückschiebung nicht möglich ist, erfolgt eine Weiterleitung an das Jugendamt. Manchmal werden die Jugendlichen auch direkt an eine Clearingstelle oder eine Betreuungseinrichtung verwiesen. Allerdings ergaben Schätzungen des B-UMF, dass 25% der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen nicht vom Jugendamt in Obhut genommen werden und daher keine Leistungen der Jugendhilfe erhalten. Die Clearingstelle ist dafür verantwortlich zu prüfen, ob eine Familienzusammenführung bzw. -rückführung denkbar und erstrebenswert wäre. Wenn nicht, wird ein pädagogischer Hilfeplan erstellt und die Frage erörtert, ob ein Schulbesuch infrage kommt und ob der_die Minderjährige eine therapeutische Betreuung benötigt. Auch wird geklärt, ob es sinnvoll erscheint, einen Asylantrag zu stellen. Neben diesen verschiedenen Punkten steht aber insbesondere im Vordergrund, für die Minderjährigen ein gewisses Maß an Stabilität nach der Flucht und Trennung von den Eltern wiederherzustellen.

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Sumon musste aufgrund des politischen Engagements seines Bruders im Alter von 16 Jahren aus Bangladesch fliehen. Nach seiner Ankunft in Deutschland war er zunächst vier Monate in einer Clearingstelle und wurde dann in ein betreutes Wohnen aufgenommen. Nach sechs Monaten bekam der junge Mann, der bereits neun Jahre in seiner Heimat zur Schule gegangen war, einen Platz in einer Willkommensklasse. Dort lernt er fleißig, besucht zusätzlich Deutschkurse und absolviert diverse Praktika in den Ferien. Später möchte er einmal Automechaniker werden.

Nach drei bis sechs Monaten verlassen die unbegleiteten Minderjährigen dann die Clearingstelle und werden an eine Jugendhilfeeinrichtung weitergereicht, in der sie sozialpädagogisch betreut werden. Die Betreuung vor Ort wird abhängig gemacht vom Reifegrad der Kinder und Jugendlichen und sieht daher von Fall zu Fall verschieden aus. Einige werden den ganzen Tag über betreut, andere hingegen nur wenige Stunden die Woche. So sind selbst in einer Stadt sehr verschiedene Konzepte der Unterbringung zu beobachten: Es gibt Jugendhilfeeinrichtungen, in denen die Minderjährigen wohnen und wiederum andere, die in der Nähe der Büros der Einrichtung mehrere Wohnungen anmieten, in denen eher selbstständige Jugendliche in Wohngemeinschaften wohnen.

Unbegleitete Minderjährige in Berlin sollen die Möglichkeit bekommen, in sogenannten Willkommensklassen – offiziell „Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse“ – Deutsch zu lernen und anschließend einen Schulplatz in einer Regelklasse zu bekommen. Es lässt sich auch beobachten, dass die Zahl der Willkommensklassen kontinuierlich steigt (allein in Berlin 2013: 183 Klassen mit 2331 Schüler_innen, 2014: 266 Klassen mit 3074 Schüler_innen), allerdings ist der organisatorische Aufwand sehr hoch und aufgrund von Personalmangel stehen viele Minderjährige zunächst auf einer Warteliste oder bekommen eventuell vom Jugendamt einen VHS-Kurs genehmigt. Ob und wann die Jugendlichen in eine Regelklasse überführt werden können, hängt dann zum einen von den Kapazitäten der infrage kommenden Schulen ab und zum anderen vom individuellen Kenntnisstand der Schüler_innen. Letzterer ist jedoch bereits in der Willkommensklasse eine Herausforderung für die Lehrenden, die in der Regel auch nicht für diese Tätigkeit ausgebildet sind. Nicht selten sitzen unter den bis zu zwölf Lernenden sowohl Jugendliche, die in ihrem Heimatland noch nie zur Schule gegangen sind als auch welche, die bereits viele Jahre eine Schulausbildung genossen haben. Zudem beträgt die Altersspanne in der Gruppe häufig mehrere Jahre, teils sitzen 13-Jährige neben 18-Jährigen. Unterrichtsfächer sind neben Deutsch in der Regel Mathematik, Sport und Musik, manchmal zusätzlich Englisch und Kunst.

Allerdings gibt es weder einen allgemeinen Lehrplan noch zentralisierte 17 | 32

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Prüfungen. Welche_r Jugendliche wo nach der Willkommensklasse einen Schulplatz bekommt, ist daher stets abhängig von individuellen Aushandlungsprozessen. Eine weitere Hürde ist zudem, dass häufig Jugendliche für eine allgemeinbildende Schule zu alt sind und ihnen zugleich die ausreichende Vorbereitung für eine Berufsschule fehlt.

Unter anderem anspruchsberechtigt für die Gewährung der Hilfen zur Erziehung ist der gerichtlich bestellte Vormund der Kinder und Jugendlichen. Wie stark diese_r sich für sein Mündel einsetzen will und kann, hängt von Motivation, Fähigkeiten und Zeitressourcen der jeweiligen Person ab und damit in erster Linie auch, ob es sich um einen Amtsvormund oder einen ehrenamtlichen Einzelvormund handelt. Für gewöhnlich wird ein_e Mitarbeiter_in des Jugendamts zum Vormund bestellt, wobei diese_r nach den aktuellen Vorschriften bis zu 50 Mündel betreuen kann. Dass bei einer so großen Zahl ein regelmäßiger Kontakt und eine persönliche Betreuung erschwert, wenn nicht sogar unmöglich werden, liegt auf der Hand. Eine mögliche Alternative bieten daher einige wenige Vereine an, die sich darauf spezialisiert haben, ehrenamtliche Menschen für die Übernahme einer Vormundschaft zu schulen und anschließend zu betreuen und zu beraten.

Als Beispiel dafür kann „AKINDA – Netzwerk Einzelvormundschaften“ in Berlin genannt werden. Die ausgebildeten Ehrenamtlichen nehmen sich hier in der Regel eines_r Minderjährigen an und begleiten sie_ihn bis zur Volljährigkeit und oftmals auch noch Jahre danach. Auf diese Weise wird es ermöglicht, auf die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen einzugehen; bei akuten Problemen oder Kontaktbedarf sind die ehrenamtlichen Vormünder leichter erreichbar für die Minderjährigen. Auch kann der persönliche Kontakt das Ankommen und Zurechtfinden in Deutschland erleichtern.

Und schließlich ist als erheblicher Vorteil erwähnenswert, dass über die Ehrenamtlichen den Kindern und Jugendlichen ein vorhandenes soziales Netzwerk verfügbar gemacht werden kann, sei es bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen oder nach einer eigenen Wohnung.

Leider ist es aber nicht in jedem Fall so leicht, als Vormund bestellt zu werden, denn die Kinder und Jugendlichen müssen zunächst beweisen, dass sie einerseits unbegleitet und andererseits minderjährig sind. Im Zeitalter von Handys und Skype wird gerne argumentiert, dass die Eltern auch über die Distanz hinweg das Sorgerecht ausüben könnten. Wie das funktionieren soll angesichts fehlender Kenntnisse der deutschen Sprache etc., ist dabei schleierhaft.

Wenn die Jugendlichen keine (anerkannten) Dokumente zum Nachweis ihrer Identität vorzeigen können, findet durch das Jugendamt eine Altersschätzung statt, Inaugenscheinnahme genannt. Werden im Zuge dieser Zweifel am angegebenen Alter geäußert, müssen die Jugendlichen diverse medizinische Untersuchungen ertragen: Röntgen der Handwurzelknochen und des Gebisses, Computertomographie des Schlüsselbeins, Festhalten anthropometrischer Maße sowie eine Beschauung der äußeren Genitale.

Verschiedene Aspekte werden daran kritisiert: Die verwendeten Methoden erlauben keine exakten Messungen und dennoch wird stets von einer „Altersfeststellung“ gesprochen; zu den Methoden gibt es keine zuverlässigen Mittelwerte. Existierende Referenzstudien stammen aus den 1930er Jahren und beziehen sich auf weiße Nordamerikaner_innen und Europäer_ innen der Mittelklasse. Einflüsse sozioökonomischer Faktoren und Ethnizität werden nicht berücksichtigt. Die Jugendlichen werden einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt, die einen körperlichen Gewaltakt darstellt.

Einige der Methoden sind entwürdigend und insbesondere bei Jugendlichen, die vor Genitalverstümmelung oder Zwangsprostitution geflohen sind, besteht eine Gefahr der (Re-)Traumatisierung. Da mit den medizinischen Altersschätzungen kein therapeutischer Nutzen für die Jugendlichen verbunden ist, begeben sich die agierenden Mediziner_innen in einen ethischen Konflikt, denn ihre Berufsordnung verbietet es ihnen, ihren Patient_innen willentlich Schaden zuzufügen und das Wohl Dritter, in 18 | 32

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diesem Falle die Interessen des Staates, über das Wohl ihrer Patient_innen zu stellen. Außerdem wird die endgültige Entscheidung über das Alter der Jugendlichen oftmals nicht im Sinne des Kindeswohls gefällt, denn bei weiterhin existierenden Zweifeln sollte von einer Minderjährigkeit ausgegangen werden. Genaue Zahlen zu den Entscheidungen auf nationaler Ebene wurden bislang noch nicht erfasst. Schätzungen des B-UMF zufolge werden jedoch rund 50% der Jugendlichen nach dem Verfahren als volljährig behandelt. In Berlin wurden von 2012 bis 2014 81,6% der untersuchten Jugendlichen anschließend offiziell für volljährig erklärt. Für die Jugendlichen hat das erhebliche Konsequenzen: Sie verlieren den Anspruch auf die Jugendhilfe und eine jugendgemäße Unterbringung ebenso wie den Zugang zu Bildungsinstitutionen und das Anrecht auf einen Vormund.

Die Mindeststandards der UNHCR sehen zwar eindeutig vor, dass noch vor Beginn der Altersschätzung ein Vormund bestallt werden soll, damit dieser den_die Jugendliche zu den Untersuchungen begleiten kann – in der Praxis werden jedoch selten Vormundschaften geschlossen, solange die Minderjährigkeit noch in Zweifel gezogen wird.

Abdul aus Bangladesch kam mit 15 Jahren nach Deutschland, wo er nach wenigen Monaten eine Vorladung zur Altersschätzung erhielt. Das Ergebnis aller durchgeführten Methoden lautete: wahrscheinlich volljährig. Den Platz in seiner Jugendhilfeeinrichtung, in der er sich nicht sehr wohl gefühlt hatte, hat er zwar nicht mit sofortiger Wirkung verloren; dass er gehen musste, hat er aber erst zwei Tage vor der Frist bei einem Gespräch mit Mentor und Anwältin verstanden. Als er Freitagnachmittag in ein Asylbewerberheim umziehen wollte, eröffnete man ihm dort, dass das vor Montag nicht ginge. Zurück in die Jugendhilfeeinrichtung konnte er übers Wochenende jedoch auch nicht mehr. Später wurde er im Asylbewerberheim von einem Mitbewohner mit einem Messer bedroht. Aus diesem Grund wurde der junge Mann in ein anderes, familienfreundlicheres Asylbewerberheim übergeben. Doch auch dieses ist kein idealer Ort, um in Ruhe Hausaufgaben zu machen und für die Schule zu lernen.

Farid aus Afghanistan kam mit 15 Jahren nach Deutschland, nachdem sein Vater von den ­Taliban ermordet worden war. Da ihm sein Alter nicht geglaubt wurde, wurde eine medizinische Altersschätzung durchgeführt – Untersuchung von Hand und Schlüsselbein – die ihm bescheinigte, er sei zwischen 19 und 24 Jahren alt. In den anschließend erstellten Dokumenten wurde er für 20 erklärt. Der junge Mann erlitt daraufhin einen psychischen Zusammenbruch, fügte sich Verletzungen zu und wollte sich das Leben nehmen. Bis heute ist er in psychotherapeutischer Behandlung. Durch die Hilfe seines Umfeldes geht es ihm wieder besser, die Ereignisse haben ihn aber sehr zurückgeworfen. Seinen Geburtstag feiert er seitdem nicht mehr.

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Kritiker_innen plädieren aus den genannten Gründen für ein holistisches Verfahren zur Altersschätzung, damit neben der Annäherung an das chronologische Alter auch das psychische und soziale Alter der Jugendlichen erfasst werden kann, wobei Methoden angewendet werden sollen, die kindgerecht, vorurteilslos, dem Geschlecht angemessen sind und im Zweifel für die Jugendlichen sprechen.

Obwohl der Großteil der Kinder und Jugendlichen gute Gründe hatte, seine Heimat zu verlassen, gestaltet es sich oftmals nicht gerade leicht für sie, einen Flüchtlingsstatus zu erhalten. Da in den vergangenen Jahren viele der von Minderjährigen gestellten Asylanträge abgelehnt wurden, wird inzwischen manchmal davon abgeraten, als Minderjährige_r überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Allerdings unterscheidet sich die Handhabung von Bundesland zu Bundesland. Ein Grund dafür ist, dass es Minderjährigen oft schwer fällt, die eigene Geschichte nachvollziehbar zu erzählen, zumal wenn sie traumatisierende Erfahrungen gemacht haben.

Und selbst wenn – aus der Kinderperspektive – Fluchtgründe und Fluchtwege einleuchtend vorgetragen wurden, bedeutet das nicht, dass diese auf der Seite des erwachsenen Empfängers auch genauso ankommen. Anstelle

des Asylantrages wird dann versucht, Abschiebeverbote geltend zu machen und einen subsidiären Schutz zu bewirken.

Wie schwierig es für Minderjährige ist, bei einer Anhörung Glauben geschenkt zu bekommen, zeigen die Zahlen von 2012: bei den 2096 gestellten Asylanträgen kam es zu 1169 Entscheidungen; nur 146 unbegleitete Minderjährige erhielten den Flüchtlingsstatus, 341 immerhin einen subsidiären Schutz. 58 % der Asylanträge wurden abgelehnt.

Aktuelle Debatten, Stellungnahmen, Positionspapiere, Publikationen und Veranstaltungshinweise rund um die Situation unbegleiteter Minderjähriger können auf der Homepage des Bundesfachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge gefunden werden: www.b-umf.de Die Namen der Jugendlichen wurden zum Schutz ihrer Identität abgeändert.

Johanna Frommelt

AKINDA sucht, schult und berät Ehrenamtliche, die Vormundschaften für unbegleitete M ­ inderjährige in Berlin übernehmen. Die Projektkoordinator_innen sind unter akinda@xenion.org zu erreichen. Im Rahmen des Do it! – Projektes kooperiert AKINDA zusammen mit dem Diakonischen Werk in Dortmund und Lünen, dem Diakonieverbund Schweicheln und dem Deutschen Kinderschutzbund in Bochum. www.xenion.org/angebote/akinda/ Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge: Aktuelle Debatten, Stellungnahmen, ­P ositionspapiere, Publikationen und Veranstaltungshinweise rund um die Situation unbegleiteter Minderjähriger. www.b-umf.de

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Wohin gehst du?

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Es ist etwas in die Jahre gekommen und doch verrät mir mein Wissen über die Geschichte der Menschheit: Schon vor der Existenz fester Ländergrenzen gab es vielfältige Migration. Menschen bewegen sich und das bereits seit Jahrtausenden. Sie begeben sich auf oftmals unbekannte Wege, um sich anzupassen, neu zu beginnen, etwas Besseres zu finden – gestern, heute und morgen. An Aktualität hat Migration seither nichts verloren. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtete im Global Trends Report von 2013, die Anzahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden weltweit übersteige mit 51,7 Mio. Menschen erstmals das Ausmaß zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Bis Ende 2014 stieg diese Zahl weiter auf 59,5 Mio. und erreichte damit das höchste Niveau, das jemals vom UNHCR verzeichnet wurde (Global Trends Report, 2014). Als Gründe für diese rasante Entwicklung werden vor allem der im Jahr 2011 begonnene Krieg in Syrien genannt, der weltweit mittlerweile die größte Fluchtbewegung verursachte, aber auch andere anhaltende, wieder aufflammende und neue Konflikte in Afrika, Asien, Europa, insbesondere im Nahen Osten. Die hohe Anzahl von Binnenvertriebenen (38,2 Mio.) im Vergleich zu Flüchtlingen (19,2 Mio.), die über Ländergrenzen hinweg fliehen, zeigt, dass die meisten Menschen in ihrem Herkunftsland bzw. in der Nähe ihres vertrauten Umfeldes bleiben.

Aus naheliegenden Gründen: Viele Menschen haben sich dort über Jahre hinweg eine Existenz aufgebaut – Familie, Freunde, Arbeit, ein Haus. All das, was Leben ausmacht, gibt keine_r freiwillig auf. Hinzu kommen die Gefahren und finanziellen Schwierigkeiten, um überhaupt außer Landes zu gelangen.

Wie viele und welche Gründe sind es also, die einen Menschen heute dazu bewegen, seine gewohnte Umgebung zu verlassen? Nöte, Verfolgung, Ängste, Zweifel, fehlende Perspektiven, Wünsche, Hoffnungen – die Grenzen der Motive zerfließen. Ich bin allerdings überzeugt, dass das dauerhafte Verlassen der vertrauten bzw. heimatlichen Umgebung in den meisten Fällen erst durch äußere beschränkende und treibende Einflüsse angestoßen wird. Nicht nur unser alltagspsychologisches Verständnis, sondern auch Erkenntnisse der psychologischen Forschung lassen darauf schließen, dass sich viele unserer Handlungen aus Gewohnheiten ableiten oder anders und vereinfacht formuliert: Der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten ist vergangenes Verhalten. Mit dem gewohnten Leben zu brechen, erfordert demnach viel Energie und Ausdauer. Für mich ist es daher naheliegend, dass dieser Aufwand nicht ohne Grund betrieben wird.

Die individuelle Wahrnehmung von potentiellen oder realen Problemen bzw. Gefahren spielt für vertriebene Personen hierbei eine bedeutende Rolle. Stark negative, emotionale Erlebnisse können zur Folge haben, dass selbst das eigene Land mit all seinen vielfältigen Erscheinungen eine andere Bedeutung bekommt und andere Länder trotz unbekannter Risiken und der Angst, eine so einschneidende Entscheidung zu treffen, plötzlich eine echte Alternative darstellen.

Wie fühlt sich Flucht an? Wie ist es, die eigene Heimat für eine ungewisse Zukunft einzutauschen – nicht wissend, wann und ob es eine Rückkehr gibt? Es ist kein Urlaub, kein Auslandsjahr, bei dem die Rückkehr bereits auf den Tag genau eingeplant wurde. Was hält Menschen auf der Flucht nachts wach und agiert tagsüber als Triebfeder? Wie viel Mut brauchen diese Menschen? Wie viel davon können sie sich allein überhaupt zusprechen? Und wie geschieht es, dass sich Ängste, Zweifel und Sorgen in diesen Mut verwandeln? Die Frage, die mich derzeit jedoch am meisten beschäftigt: Wie geht es ihnen bei bzw. nach der Ankunft?

Verschiedene Untersuchungen schätzen, dass 40–50% der in Deutschland neu ankommenden Asylsuchenden traumatisiert sind (bspw. Gäbel, U. in Kooperation mit dem BAMF, 2005) – bei den derzeitigen Asylantragszahlen 22 | 32

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also alles andere als Einzelfälle. Die betroffenen Personen erleben oft nicht nur ein singuläres Trauma, sondern mehrere, sequenzielle Traumata – in ihrem Heimatland, zu Beginn und während der Flucht sowie im Ankunftsland. Die mehrheitlich viele Monate bis Jahre dauernden Asylverfahren in Deutschland stellen eine psychische Doppelbelastung dar: Die Ungewissheit, ob ihnen geglaubt wird, dass sie Unrecht erlebt haben und die ständige Angst davor, abgeschoben zu werden. In einem Vortrag in Greifswald vom 25. Februar 2015 zu „Flüchtlingen in der ärztlichen Praxis“ betonte Dr. Barbara Wolff (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer) deshalb die Notwendigkeit, Unrecht, das den betroffenen Flüchtlingen widerfahren ist, auch zu benennen und in der Gesellschaft anzuerkennen. Sind wir uns im Ankunftsland dessen bewusst? Und wie können wir angemessen auf diese Traumata reagieren?

Statistiken und Zahlen können dabei helfen, einen Überblick zu behalten, allerdings kreieren sie auch schnell eine „bequeme“ Distanz: Es ist einfacher, über Zahlen und „die Flüchtlinge“ zu diskutieren als über einzelne Personen- und Familienschicksale, geschweige denn gemeinsam mit den betroffenen Personen darüber zu reden. Deutsche Behörden prüfen noch zu selten die individuelle Vorgeschichte und die Erlebnisse während der Flucht. Allzu oft interessieren die Motive nicht. Zu fragen, wer denn die Menschen sind, die hinter den vielen Zahlen und Prozenten stehen, sollte aber eigentlich nicht die Ausnahme sein.

Zugegeben, manche Erzählungen von geflüchteten Menschen klingen in meinen Ohren fast unwirklich. Aber nur, weil ich mir etwas nicht vorstellen kann, bedeutet ja nicht, dass es nicht geschehen ist und nicht auch noch immer geschieht. „Wir sind hier“, eine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Versionen von Aufenthaltsstatus in Berlin Kreuzberg, nimmt sich dieser Problematik an. Allen Sprachbarrieren zum Trotz erzählen sie in dem Theaterstück „Wohin gehst du?“ ihre eigenen Geschichten von Flucht, Ankommen und Hindernissen im deutschen Alltag, mit denen sie anderen den Zugang zu diesen Themen erleichtern und auf Missstände im Umgang mit Flüchtlingen in Europa hinweisen möchten. Sie kritisieren hierbei vor allem die langen, frustrierenden Asylverfahren und entdecken, 23 | 32

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dass der Zufall der Geburt, sprich: ein paar Buchstaben auf einem Stück Papier und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Teil der Welt, in das wir hineingeboren wurden, darüber entscheiden, ob überhaupt und wohin wir migrieren dürfen. Um den während ihres Auftrittes aufkommenden Gedanken und Fragen einen Raum zu bieten, treten sie anschließend in Dialog mit den Zuschauer_innen.

Während der Diskussionsrunde erzählten einige Asylsuchende der Theaterinitiative davon, wie sehr es sie belastet und demotiviert, nicht arbeiten zu können und trotzdem Geld zu bekommen. Von dem gleichen bedrückenden Gefühl erzählte mir auch Samuel, einer der Teilnehmenden vom Deutschkurs des Projekts „Weltfreunde“ in Greifswald, den eine Kommilitonin und ich in einem Begegnungszentrum geben. Sie wollen arbeiten, sich selbst versorgen und ihren Teil zum Ganzen beitragen.

In einer Studie von 2015 verweist die Bertelsmann Stiftung auf die tragende Rolle der Integration von Asylsuchenden in den Arbeitsmarkt: „Für die soziale Akzeptanz ist es [...] nicht gut, viele Menschen in arbeitsfähigem Alter auf engem Raum zu konzentrieren und öffentlich sichtbar zu machen, dass sie unbeschäftigt sind und [vom Staat] versorgt werden. Auch für den wenig informierten Betrachter wird dann klar, dass etwas im System nicht funktioniert. Es entsteht Unmut, der sich in lokalen Spannungen äußert.“ Obwohl mittlerweile die rechtlichen Rahmenbedingungen bestehen, die es Asylbewerber_innen erlauben, bereits nach drei Monaten arbeiten zu dürfen, erhalten sie nur selten eine Arbeitsstelle. Zu groß seien die Bedenken der Arbeitgeber_innen. Schuld ist die lange Zeit der Unsicherheit durch laufende Asylverfahren. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt daher mehr Personal in zuständigen Behörden, um die Zielvorgaben der Regierung – Asylverfahren binnen drei Monaten abzuschließen – einhalten zu können. Dabei müsse die Qualität der Entscheidungen dringend beachtet werden.

Yacouba ist einer von der Gruppe „Wir sind hier“. Er wurde in Burkina Faso geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend. Ab 2004 lebte er in Libyen. Seine Mutter eröffnete damals ein kleines Restaurant in der Hauptstadt Tripolis. Im Zuge der Rekrutierung gegen die Rebellen im Jahr 2011 – zu diesem Zeitpunkt waren Yacouba und seine Mutter bereits knapp sieben Jahre in Libyen – wurde Yacouba für zwei Monate von Gaddafis Truppen inhaftiert und anschließend vor die „Wahl“ gestellt: Kämpfen mit der Waffe oder Libyen mit dem Schiff verlassen. Yacouba wählte damals den Weg über das Mittelmeer. Sein Cousin, dem es bis dahin genauso erging, überlebte die Fahrt über das Mittelmehr auf einem anderen Schiff nicht. Jetzt ist Yacouba in Europa. Wo seine Mutter ist, weiß er nicht. Seit seiner Ankunft in Italien denkt er ständig an sie. Die Tatsache, nicht zu wissen, wo sie sich aufhält, ist für ihn auch Jahre nach seiner Flucht unerträglich. Hinzu kommt die immerwährende Angst, sich in Deutschland nicht ausweisen zu können, denn dann würde er gemäß des Dublin-III-Abkommens nach Italien abgeschoben werden, wo er das erste Mal als Flüchtender registriert wurde. Die Bedingungen in Italien sind aber um einiges schlechter als in Deutschland, denn das italienische Asylsystem ist mittlerweile überfordert und in der Folge leben viele Geflüchtete auf der Straße. Yacouba wohnt deshalb in Berlin. Dort kann er bei Freunden unterkommen und fühlt sich etwas sicherer. In München, erzählte er mir, wäre es anders: dort werde noch stärker kontrolliert.

Seine äußere Erscheinung kann Yacouba nicht verbergen. Sie ist anders.

Das bedeutet aber weder gut noch schlecht, sondern einfach anders.

Anders heißt „nicht gleich“, das ist alles. Nur warum reagieren wir auf „anders“ häufig mit Ablehnung und nicht mit Interesse? Woher kommt diese undurchsichtige Angst vor dem Anderen bzw. Fremden? Wie schafft sie es, die menschliche Neugier auszuhebeln?

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Ich habe die Theatergruppe gefragt, wie sie sich die Angst und Besorgnis vieler Menschen in Deutschland erklären. Ihre Antwort bezog sich vor allem auf die Art und Weise, wie Asylbewerber_innen nach ihrer Ankunft in Deutschland behandelt werden: Auch wenn es erste Bemühungen gibt, die derzeitige Lage zu verändern, werden Asylsuchende oftmals noch immer so untergebracht, dass sie isoliert sind von den Menschen in Deutschland.

Dieses Versäumnis, böse Zungen würden es Absicht nennen, ist neben der Verarbeitung eigener Schicksale einer der Gründe für das Theaterprojekt der Gruppe „Wir sind hier“. Ohne Kontakt kann ihrer Meinung nach kein tieferes Verständnis füreinander entstehen. Die Menschen bleiben sich gegenseitig fremd. Verstehen kann so nicht funktionieren. Entgegen der derzeit ungünstigen Rahmenbedingungen wollen sie die zwischenmenschlichen Beziehungen und damit auch die Beziehungen zur deutschen Gesellschaft stärken. Gemeinsam Erfahrungen sammeln und Emotionen teilen, um sich dem „Anderen“ zu nähern – sowohl physisch als auch gedanklich.

In ihren Aufführungen begegnet ihnen dabei immer wieder das Problem, dass gerade diejenigen, die sie gerne erreichen möchten, nicht im Publikum sitzen. An stabilen Einstellungen bzw. Vorurteilen ist jedoch nicht zu rütteln, wenn noch keine Bereitschaft besteht, sich mit den individuellen Problemen von Flüchtenden und Asylbewerber_innen auseinanderzusetzen und die Bereitschaft dafür ist wiederum auch abhängig von persönlichen Einstellungen. Ein Dilemma also? Was es auch ist – um zu verändern, braucht es einen Anfang.

Untersuchungen zur Kontakttheorie, erstmals im Jahr 1954 formuliert als Kontakthypothese durch den amerikanischen Sozialpsychologen Gordon Allport, geben Hinweise darauf, dass der bloße Kontakt, auch wenn er nicht unter optimalen Bedingungen stattfindet, beim Abbau von Vorurteilen helfen kann. Es fällt auf, dass Zusammenschlüsse wie Pegida besonders dort Anhänger finden, wo sich kaum Menschen aus anderen Ländern aufhalten und dass konkreter Kontakt vermieden wird. So können Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern der Welt im alltäglichen Umgang nicht geübt und zu etwas Gewöhnlichem werden. Mehr dezentrale Unterbringungen in Privatwohnungen statt Gemeinschaftsunterkünfte in abgelegenen Orten könnten zu einer Veränderung beitragen.

In dieselbe Richtung zielt auch die Empfehlung der Bertelsmann Stiftung: Um den Kontakt zur deutschen Gesellschaft zu erleichtern und Akzeptanz zu fördern, sollte die Dauer des Aufenthaltes von Asylbewerber_innen in Gemeinschaftsunterkünften drei Monate nicht überschreiten. Außerdem sollten allen Asylbewerber_innen Deutschkurse bereits während der Wartezeit auf eine Entscheidung im Asylverfahren ermöglicht werden.

Bisher ist dies nur in fünf Bundesländern der Fall. Dazu passt ein bekanntes Zitat von Nelson Mandela: „Sprichst du mit jemandem in einer Sprache, die er versteht, so erreichst du seinen Kopf; sprichst du mit ihm aber in seiner eigenen Sprache, so erreichst du sein Herz.“ Auch wenn die Ängste und Sorgen verschieden sind, das Gefühl von Unbehagen und bewusster oder unbewusster Abneigung eint Menschen. Angst ist menschlich, darf unser Leben aber nicht beherrschen. Ich begreife Angst daher auch als eine Chance. Vielleicht ist sie es, die mehr Gemeinsamkeiten zutage bringen kann, wenn wir uns alle zutrauen, unsere inneren Grenzen zu überschreiten. Für diesen Schritt brauchen wir noch mehr Räume und Möglichkeiten, mit deren Hilfe möglichst transparent, gemeinschaftlich und vor allem behutsam kommuniziert werden kann.

Vielleicht können wir so zusammen noch einmal das „Mondwunder“ wiederholen: als der erste Mensch den Mond betrat, sagte er, es sei ein kleiner Schritt für einen Menschen, doch ein großer Sprung für die Menschheit.

Karsten Valerius

Bertelsmann Stiftung: Studie zur Verbesserung der ­A rbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen. http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/diearbeitsintegration-von-fluechtlingen-in-deutschland-1 Intergroup Contact Theory: Kontakttheorie zum Abbau von Vorurteilen.

Everett, J. (2013). Intergroup Contact Theory: Past, Present, and Future.

In-Mind, Issue 17 www.in-mind.org/article/intergroup-contact-theory-past-present-and-future Theaterinitiative „Wir sind hier!“ will geflüchtete Menschen unterstützen, ihre Lebenssituation und -perspektive mitzuteilen und zu gestalten.

Traumazentrierte Behandlung von Asylbewerberinnen ist eine ­F achzeitschrift zur Traumabehandlung von geflüchteten Menschen.

Heidinger, R. (2011). Traumazentrierte Behandlung von ­A sylbewerberinnen. Journal für Psychologie, Jg. 19 www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/99/62

UNHCR: Aktuelle Zahlen und Fakten über geflüchtete Menschen, ­B innenvertriebene, Rückkehrende, Asylsuchende und Staatenlose www.unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken.html

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Der Duft der Heimat „Die Gerüche der Slowakei sind einzigartig phantastisch. Die gibt es in Deutschland nicht.“ Wenn Marianna ihre Augen schließt, während sie diese Düfte einatmet, zieht sich ihr Herz zusammen und all die Verluste werden fast greifbar. Der Verlust ihrer zwei Muttersprachen, der Verlust ihrer Heimat, der Verlust ihrer Identität. Vor 45 Jahren ist sie im Alter von 19 Jahren mit ihrer Familie aus Košice, ihrem Heimatort in der ehemaligen Tschechoslowakei, geflohen. Seit 41 Jahren lebt sie in Berlin.

Die Slowakei als ihre Heimat zu bezeichnen erscheint ihr merkwürdig, da sie immerhin deutlich mehr Zeit in Deutschland verbracht hat als dort.

Sie ist seit 45 Jahren offiziell keine Slowakin mehr. Deutschland als ihre Heimat zu bezeichnen, erscheint ihr allerdings weitaus kurioser, da sie hier nicht geboren ist. Dennoch hat sie die deutsche Staatsangehörigkeit nun schon seit 32 Jahren, länger als sie die slowakische je besaß.

Aber was heißt es, deutsch zu sein? Welche Bedeutung hat es, für ein paar Wochen im Jahr in die Heimat nach Košice zu fahren?

Marianna hat sich schon immer gefragt, warum der Einmarsch der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes im Juni 1968 als „Prager Frühling“ bezeichnet wird. Den Tag, an dem sich der Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei breit machte, nach einem Musikfest zu benennen, hält sie eher für eine unglückliche politische Entscheidung. Aber von politischen Entscheidungen hielt sie sich schon immer lieber fern.

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Von dem politischen Umbruch in ihrer Heimat hat sie damals kaum etwas mitbekommen. Zwar war die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu spüren, auf ihr persönliches alltägliches Leben hatte der aufsteigende Kommunismus allerdings kaum Einfluss. Als unpolitische 17-jährige Teenagerin galt ihre Aufmerksamkeit weit spannenderen Dingen als der ungefärbten Realität. Ihr Vater jedoch litt unter den Repressionen der kommunistischen Elite. Als Zahntechniker der nationalen Polizei, der mit seiner Familie in ihrem Dienstgebäude lebte, war er ihren Blicken ununterbrochen ausgesetzt. Seine Vorliebe für das Christentum und die vielen regelmäßigen Kirchengänge fanden bei den Kommunisten keinen Zuspruch. „Warum genau mein Vater plötzlich gehen wollte, weiß ich nicht. Wir haben den Grund nicht besprochen. Wir wurden eher vor vollendete Tatsachen gestellt. Mein Bruder und ich sollten nur ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ sagen. Wir haben ‚Ja‘ gesagt.“ Marianna war neugierig darauf, wie die Schweiz, ihr neues Zuhause, werden würde. Sie konnte sich nichts vorstellen, kaum glauben, dass der „westliche Luxus“, von dem so viele schwärmten, bald zum Greifen nah sein sollte.

Gleichzeitig machte sich in ihrem Herzen auch das schlechte Gewissen breit, denn sie musste ihre Familie und Freunde verlassen. Zudem wusste sie, dass es für ihre zurückbleibenden Familienmitglieder nicht leicht werden würde. Diese mussten sich weiterhin der Unterdrückung beugen, der bisher auch ihr Vater ausgesetzt war und sie würden wegen der Flucht

womöglich Probleme bekommen, während Marianna selbst auf ein besseres Leben zusteuerte. Niemand um sie herum durfte von den Plänen erfahren. Zum Schutz der Anderen? Zum Schutz für sie selbst? Es gab keinen Abschied, schließlich sind sie nur in den „Urlaub“ gefahren. Marianna erinnert sich jedoch an ihre Großmutter, die gespürt haben muss, dass sie nicht zurückkehren werden.

Gleich nach der Ankunft in Basel haben alle vier Familienmitglieder ihre slowakischen Pässe abgegeben, ihre wahre Identität war damit nur noch ihnen selber bekannt. Danach ist Marianna nie wieder eine Slowakin geworden. Stattdessen erhielt sie den blauen Flüchtlingspass, für 13 Jahre. Marianna lebte vier Jahre in der Schweiz, in vier verschiedenen Städten.

Aber wirklich anfreunden mit dem Land konnte sie sich nie. „Ich war 19 Jahre alt und konnte kein Wort Deutsch. Ich hatte das Gefühl, die Leute waren ungeduldig mit mir, weil ich ihre Sprache nicht sprechen konnte. Die ganze Mentalität war mir sehr unangenehm, sehr fremd.

Ich will das nicht verallgemeinern, aber mir kamen die meisten Menschen dort eingebildet und hochnäsig vor. Und alles war so sauber.“

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Innerhalb der vier Aufenthaltsjahre in der Schweiz wurde auch die tschechoslowakische Regierung hellhörig, da die Familie nie aus ihrem „Urlaub“ zurückkehrte. Deswegen wurden Marianna und ihre Eltern zu einer Gefängnisstrafe von 1,5 Jahren verurteilt, wegen des illegalen Aufenthaltes in einem westlichen Land. Ihr Bruder blieb verschont, da er zu dem Zeitpunkt noch minderjährig war. Mit diesem Urteil schlossen sich alle Türen zurück nach Hause, solange der Kommunismus dort regierte.

Ihrem ersten Ehemann folgte Marianna 1974 schließlich nach Berlin, West-Berlin, glücklich die Schweiz verlassen zu können, froh über jede Alternative. Ihre Eltern zu verlassen war für sie kein Problem, sie hatten nie ein gutes Verhältnis. „In Berlin konnte ich anfangen, mein eigenes Leben zu leben.“ Sie begann mit Näh- und Kochkursen, bereiste Europa und die USA. Vor allem lernte sie die deutsche Sprache, der Schlüssel zur Integration, wie sie damals dachte.

Sie lernte Menschen kennen und gab sich alle Mühe, sich zu integrieren, nicht aufzufallen, eben Deutsche zu werden. Sie hielt sich von Slowaken fern und suchte deutsche Freunde.

Doch die Menschen schienen ungeduldiger als gedacht. Wie schon in der Schweiz, zeigten sich die Menschen auch in Deutschland wenig tolerant gegenüber dem gebrochenen Deutsch und wurden schnell nervös.

Als Marianna am 09. November 1989 – hochschwanger – hörte, dass die Grenzen geöffnet wurden, spielte sie mit dem Gedanken zurückzukehren.

Da der Kommunismus nicht mehr in ihrer Heimat regierte, war sie nun frei von der Gefängnisstrafe. 20 Jahre nach ihrer Flucht hatte sie das erste Mal die Möglichkeit zurückzukehren – dahin, wo sie hinzugehören schien.

Gleichzeitig überkam sie die Angst, sich dem Teil der Familie zu stellen, den sie damals zurück ließ und die wegen der Flucht ihrer Familie von dem ehemaligen Regime unter Druck gerieten.

Sie wagte es und begann von nun an regelmäßig zu Besuch zurückzufahren.

Fünf Jahre später blieb sie mit ihrer fünfjährigen Tochter für ganze zwei Monate in der Slowakei. In dieser Zeit zeigte sich, dass es Marianna unmöglich war für immer zurückzukehren. Alles hatte sich verändert und auch sie hatte sich verändert. Sie kam mit der Einstellung der Slowaken nicht mehr zurecht. „Die Menschen haben mich immer erst mal von oben bis unten gemustert und wenn ich mit meiner Tochter deutsch redete, haben sie besonders merkwürdig geguckt. Die Arbeitsweise der Menschen, die ich erlebte, schien mir die reinste Katastrophe zu sein.“ Schnell merkte Marianna, dass sie hier nicht mehr hingehörte, dass sie nicht mehr eine von denen war, keine Slowakin mehr, was besonders frustrierte, da es immerhin um ihre Heimat ging.

Inzwischen lebt Marianna seit 41 Jahren in Berlin, länger als sie je in ihrer Heimat verbracht hat. Ihre Mutter, die wenige Jahre nach der Grenzöffnung nach Košice zurückkehrte, besucht sie mehrmals im Jahr. Auch wenn beide kein besonders gutes Verhältnis haben, zieht es Marianna doch immer wieder an die Orte ihrer Kindheit zurück. Sie geht gerne an die Orte, an denen sie ihre Kindheit verbracht hat, zeigt ihrer Tochter, wo sie aufgewachsen ist. Die Traurigkeit über die verlorene Heimat, die Marianna dabei erfasst, ist bis heute greifbar. Den Tränen nahe, erzählt sie von dem Gefühl des Verlusts. Der Verlust ihrer Heimat, ihrer Muttersprachen, ihrer Identität.

An Deutschland hat sie sich inzwischen gewöhnt. Sich als Deutsche zu identifizieren, fällt ihr jedoch schwer. Sich als Slowakin zu fühlen ebenso.

Marianna spricht mittlerweile fließend Deutsch, doch wegen ihres Akzentes werden auch heute noch Gespräche beendet und die Aufmerksamkeit auf ihre Herkunft gelenkt. „Das gibt einem das Gefühl immer noch eine Ausländerin zu sein.“ In der Slowakei hingegen wird sie gelobt, nach so vielen Jahren ihre Muttersprache noch so gut zu beherrschen. Für sie ebenfalls ein Ausdruck des Fremdseins.

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Aber sie hätte gerne eine Identität. Sie würde sich gerne mit einer Nation identifizieren -oder auch mit beiden. Sie würde gerne endlich mal wieder nicht auffallen, so wie früher, als sie noch keine Fremde war. „Ich stehe irgendwo zwischen den Sprach- und Kulturregeln, zwischen denen von hier und jenen von dort. Ich bin hin- und her gerissen zwischen den Ländern und den Sprachen. Egal, an welchem der beiden Orte ich bin, immer fehlt der andere. Ich fühle mich entwurzelt, losgerissen und nie neu angekommen.“ Melissa Derafsheh

IMPRESSUM

gbook IV, 2015

Autoren und Autorinnen:

ten, wo sie auf die Situation unbegleiteter Minderjähriger in Deutschland aufmerksam geworden ist.

Sebastian Wolligandt hat 2011/12 den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst weltwärts in Nepal geleistet, im Hauptarchiv Madan Puraskar Pustakalaya (MPP) in Lalitpur, der drittgrößten Stadt Nepals. MPP archiviert und konserviert Print- und Medienprodukte sowie historisches Material in Nepali, der Muttersprache von 30 Millionen Menschen in Südasien. Während des einjährigen Aufenthaltes beriet Sebastian MPP bei der Planung und Erschließung eines neuen Arbeitsfeldes: der Audiound Videodigitalisierung und des non-linearen Videoschnitts. Er begann sich zunehmend mit politischen, kulturellen und sozialen Fragestellungen zu beschäftigen. Sebastian studiert seit Herbst 2013 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Weitere Informationen erhalten Sie unter www. sebastianwolligandt.com Kristina Mauer absolvierte nach ihrem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr in Caracas, Venezuelas Hauptstadt. Zusammen mit ihrem Mitfreiwilligen unterstütze sie die Arbeit der „ACEISB“, einem Verein, der in drei Zentren Kindergarten-, Vorschul- und Schulkinder vom ersten bis zum 14. Lebensjahr betreut. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland studiert sie Kulturwissenschaften und engagiert sich bei dem gemeinnützigen Verein „Zugvögel, interkultureller Süd-Nord-Austausch e.V.“. Im September 2015 beginnt sie das Masterstudium im Bereich Migration und Integration und wünscht sich bald noch einmal nach Venezuela zurückzukehren.

Jil Carmen Holtbernd hat ihren Text „Ein Gesicht geben“ in der Schreibwerkstatt des Projekts globalista im April 2015 verfasst. Sie war 2011/12 mit weltwärts in Ecuador.

Johanna Frommelt war 2011/12 mit der Gesellschaft für Internatio­n ale Zusammenarbeit (GIZ) in Riobamba, Ecuador. Dort hat sie im Centro Cultural Pablo Narváez Klavierunterricht gegeben, das Jugendorchester bei Auftritten begleitet und unterstützt sowie ein Notenbuch zur Optimierung des Unterrichts erstellt. Johanna studiert Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin und war von September 2014 bis Februar 2015 Praktikantin bei AKINDA – Netzwerk Einzelvormundschaf-

Karsten Valerius war während seines weltwärts-Jahres 2010/11 mit dem ICJA Freiwilligenaustausch weltweit e.V. in Cartago, Costa Rica. Er arbeitete dort parallel im Hogar Casa de Pan, einem von einem costa-ricanischem Ehepaar gegründeten Heim für misshandelte Kinder und Waisenkinder sowie bei AS.CA.TE, einem Tageszentrum für Senior_innen. Derzeit studiert Karsten Psychologie an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald und arbeitet im Vorstand der Initiative Psychologie im Umweltschutz e.V. (IPU). Für das Sommersemester 2015 initiierte und gestaltete er gemeinsam mit engagierten Mitarbeiter_innen des Psychologischen Instituts eine fakultative Seminarund Kolloquiums-Reihe zur Umwelt(schutz-)psychologie.

Melissa Derafsheh machte 2012/13 einen einjährigen Freiwilligendienst in Lalitpur, Nepal. Sie arbeitete in dem Archiv Madan Puraskar Pustakalya (MPP), der landesweit namhaftesten Anlaufstelle für Nepalesische Print- und Medienprodukte sowie historisches Material in Nepali. Vor Ort dokumentierte sie u.a. das aktuell politische und kulturelle Geschehen und begann darüber zu berichten, was sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Rahmen einer Fotoausstellung dokumentieren wollte. Aktuell studiert Melissa Sozialund Rechtswissenschaften in Erfurt und ist Mitglied bei Amnesty International.

Redaktionsteam: Elisabeth Marie Mars (Leitung), Melissa Derafshe, Eva Fedke, Verena Foth, Johanna Frommelt, Jil Carmen Holtbernd, Kristina Mauer, Bert Odenthal, Karsten Valerius, Sebastian Wolligandt Grafik-Design: Bert Odenthal I www.bert-odenthal.de Fotonachweise: Akinda, Eleanor Benz, Melissa Derafsheh, Christina Enns, Maria Feck, Maximilian Frömling, Kristina Mauer, Bernd Schwabe, Sebastian Wolligandt Verantwortlich für das Projekt globalista sind: Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugend­ bildung Sachsen-Anhalt e.V. und Arbeitsstelle Weltbilder e.V. info@arbeitsstelle-weltbilder.de Gefördert wird das Projekt aus Mitteln des Bundesministeriums für ­w irtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)

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