Der schmale Grat - Dramen am Berg

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Vielen Extrembergsteigern gelang es immer wieder, den schmalen Grat zwischen Durchkommen und Umkommen ohne gravierenden Unfall zu beschreiten. Manchmal aber waren, wie bei Joe Simpson und Doug Scott, fast übermenschliche Leistungen nötig, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Andere wiederum hatten weniger Glück und bisweilen führten sie auch kleinste Fehler ins Verhängnis. Und auch wenn sie überlebten, so müssen doch einige von ihnen ihr Leben mit schweren Behinderungen meistern. Dies hielt sie meist aber nicht davon ab, nach wie vor in ihre geliebten Berge zu gehen. Von beiden ist in diesem Buch die Rede, unter ihnen bekannte Namen wie Walter Bonatti, René Desmaison, Pierre Mazeaud, Jerzy Kukuczka oder Wanda Rutkiewicz, aber auch nahezu Unbekannte wie die jungen Deutschen Thomas Burger und Holger Wendel, die Franzosen Bruno Poitié und Bruno Pratt oder die Schotten Jamie Andrew und Jamie Fisher. Die Schilderungen der zehn Bergdramen werden jeweils durch einen Zusatztext ergänzt, erweitert und vertieft.

ISBN: 978-3-902656-20-9

www.alpinverlag.at

Ulrich Remanofsky

– Dramen am Berg

Der schmale Grat

Der schmale Grat

Ulrich Remanofsky

DER SCHMALE GRAT Dramen am Berg

Der Autor

Walter Bonatti, Oswald Oelz, René Desmaison,

Ulrich Remanofsky, Jahrgang 1943, dreißig Jahre lang als leitender Mitarbeiter im Goethe-Institut Lyon tätig. Als junger Mann Alroundbergsteiger mit einer Vorliebe für Eiswände in den West- und Ostalpen, heute leidenschaftlicher Klettersteiggeher, Bergwanderer und Skitourengeher mit dem Motto: Wenn ich in den Bergen bin, bin ich glücklich.

Doug Scott, Bruno Potié, Thomas Burger, Joe Simpson, Wanda Rutkiewicz, Jon Krakauer, Jamie Andrew ...

Vom gleichen Autor im Alpinverlag erschienen: Wen die Götter lieben, Schicksale von elf Extrembergsteigern

Alpinverlag Jentzsch-Rabl


Vorwort Pit Schubert - Ein Mann der Theorie und der Praxis

Archiv Pit Schubert

Vorwort

„Der Berg verzeiht keinen Fehler!“ Diese Bergsteigerweisheit sollte eigentlich jeder, egal ob Extrembergsteiger oder Bergwanderer, beherzigen. Aber da gibt es immer tausend „gute“ Gründe, um trotz Schlechtwetters, ungünstiger Verhältnisse, mangelnder körperlicher Verfassung und ungenügender Ausrüstung aufzubrechen. „Es wird schon gutgehen!“, ist oft genug die Devise. Spätestens dann, wenn sich zu ungünstigen Verhältnissen oder Schlechtwetter auch noch Pech gesellt, geht es häufig nicht gut und die Tour wird zum Überlebenskampf. Davon zeugen unzählige Beispiele aus der Alpingeschichte. Und selbst wenn die Ausrüstung für die gewählte Bergtour geeignet ist, werden immer wieder Fehler bei der Handhabung begangen. Wie im täglichen Leben ist auch am Berg alles möglich – auch das, was man für unmöglich hält. Unfälle dieser Art gibt es zuhauf.

Die in diesem Buch geschilderten Unfall-Beispiele machen deutlich, dass das Bergsteigen, vor allem das Extrembergsteigen – trotz aller technischen Fortschritte – eine Risikosportart ist, und dies auch immer bleiben wird. Unfälle sind also nicht immer vermeidbar, und eine Rettung kann nicht immer erfolgreich sein. So gilt auch heute noch der Ausspruch von Willo Welzenbach aus dem Jahre 1926: „Immer wird das Schicksal des Einzelnen der Macht des Zufalls überlassen bleiben, welche wie ein Damoklesschwert über dem Haupte eines jeden Bergsteigers schwebt, den einen verschonend in gütiger Fügung, dem anderen zum Verhängnis werdend.“ Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung, kann doch auf diese Weise dem einen oder anderen Unfall vorgebeugt werden Pit Schubert

(von 1996 bis 2004 Präsident der internationalen UIAA-Sicherheitskommission)

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Inhalt

Inhalt Vorwort von Pit Schubert ......................................................... 4 Inhalt ................................................................................... 5 Wettersturz am Frêney-Zentral-Pfeiler........................................ 7

Pierre Mazeaud – Bergsteiger, Jurist und Politiker aus Leidenschaft

„Mit mir ist es aus!“ ............................................................... 29 Bergrettung, gestern und heute

Gefangen in der Nordwand der Grandes Jorasses........................ 51 Alpine Streitfälle: Der Mythos des „Über allen Gipfeln ist Ruh“

Überlebenskampf am Ogre ..................................................... 79 Überleben in Extremsituationen Die beiden Brunos................................................................ 103 „ ... und küsst dich rasch und flattert fort.“

Kein Ausweg - nach oben zu schwer, nach unten zu gefährlich . ... 123 Irren ist menschlich

„ … was ich getan habe, kein Tier hätte es geschafft“................ 141 Darf ein Bergsteiger das Seil, das ihn mit einem Kameraden verbindet, durchtrennen?

Polnische Bergsteiger am K 2 (8611 m), Triumphe und Tragödien . ... 173 Das goldene Zeitalter des polnischen Bergsteigens

Sturm am Mount Everest ...................................................... 195 Verkauf von dünner Luft – kommerzielle Expeditionen am Mount Everest

Ein hoher Preis .................................................................... 225 Bergsteigen mit Behinderungen

Anhang: Glossar............................................................................... 252 Hinweise zu Schwierigkeitsbewertungen.................................. 253 Bibliografie.......................................................................... 254 Dank.................................................................................. 255

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KAPITEL 5 Die beiden Brunos „ ... und küsst dich rasch und flattert fort.“

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Die beiden Brunos Bruno Pratt und Bruno Potié kommen aus Südfrankreich. Sie kennen sich zwar nur flüchtig, es verbinden sie aber mehrere Gemeinsamkeiten. Beide sind eher klein und schlank, dafür aber bis in die letzte Faser durchtrainiert. Und sie sind Bergführer und Skilehrer. Wenn sie sich mit ihren Kunden aus Nordfrankreich unterhalten, lächeln diese bisweilen, denn der singende südfranzösische Akzent wirkt auf sie doch eher komisch. Ihre größte Gemeinsamkeit ist das schier unglaubliche Glück, das sie mehrfach bei ihren Bergtouren hatten. Beginnen wir mit der Geschichte von Bruno Pratt, die ihm den Spitznamen „Aspirin“ einbringen sollte.

Mein Gott, hab ich Kopfschmerzen! Bruno Pratt lebt in der Nähe von Perpignan in Südfrankreich. Nicht gerade eine ideale Ausgangsbasis, um Hochtouren im Montblanc-Gebiet zu unternehmen! Aber Bruno liebt sein Heimatdorf mit seinem mediterranen Flair und möchte es um keinen Preis gegen ein Gebirgsdorf mit seinem rauen Klima eintauschen. Lieber fährt er von Zeit zu Zeit mit seinen Kunden ein paar hundert Kilometer bis nach Chamonix oder La Bérarde im Oisans-Massiv.

Quelle: Jean-Luc Lafenêtre

Aber Möglichkeiten zum Felsklettern hat Bruno auch bei Perpignan in Hülle und Fülle - die bis zu 120 Meter hohen Kalkfelsen bei Vingrau weisen Führen aller Schwierigkeitsgrade auf. Mit einigen befreundeten Bergführern bietet er hier seinen Kunden eine ganz besondere Form des Kletterns an, das „Tanzklettern“, das der bekannte Bergsteiger Patrick Berhault als erster praktiziert hatte: ein rhythmisches Schwingen von Griff zu Griff und von Tritt zu Tritt.

Die Kalkfelsen bei Vingrau

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Heute aber, am 3. November 1981, ist Bruno ganz allein in den Felsen von Vingrau unterwegs. Es ist Anfang November, der Himmel ist grau und ab und zu fallen ein paar Regentropfen. Weit und breit ist niemand zu sehen, auch kein Bauer auf den angrenzenden Feldern. Bruno steigt in eine 6b-Führe ein, die er gut kennt. In diesem Schwierigkeitsgrad fühlt er sich noch sicher genug, um jeden Klettermeter in vollen Zügen genießen zu können. Dennoch weiß er natürlich, dass er sich bei einer Solo-Begehung auf ein riskantes Spiel einlässt: Auch der kleinste Fehler kann das Ende bedeuten. Er ist glänzend in Form und legt Meter um Meter mit fast spielerischer Leichtigkeit zurück. Nie zögert er, so klein die Griffe und Tritte auch sein mögen. Von Zeit zu Zeit umspielt ihn ein leiser Windhauch. Der Fels hängt jetzt leicht über. Er setzt die linke Fußspitze auf einen zentimetergroßen Tritt, richtet sich vorsichtig auf, verlagert das Körpergewicht von links nach rechts, setzt den rechten Fuß auf Reibung auf eine schräge Platte, sucht weit oben einen Griff für die rechte Hand, zieht das linke Bein nach. Vollkommene Körperbeherrschung, Harmonie der Bewegung, Leichtigkeit des Steigens. Bruno erreicht jetzt ein Felsband. Er dreht sich um, blickt auf die letzten Meter seiner Route zurück … Am Wandfuß kommt er wieder zu sich. Bei der geringsten Bewegung schmerzt der gesamte Körper, ein stechender Schmerz durchzieht seinen Kopf. Was ist passiert? Er weiß es nicht. Hat ihn, oben auf dem Band, ein Stein am Kopf getroffen? Ist er abgerutscht? Ist ihm plötzlich übel geworden? Vergeblich sucht er nach einer Antwort. Alles ist wie ausgelöscht. Er weiß nur, dass er fast 60 Meter abgestürzt ist und jetzt hier auf einem Steilhang zwischen großen Felsbrocken liegt. Alles tut ihm weh und Blut rinnt über seine Stirn. Als er den Kopf abtastet, stöhnt er auf, ein lähmender Schmerz durchfährt ihn. Mehrfach versucht er aufzustehen, aber sofort knickt er wieder um, sein rechter Fuß trägt ihn nicht mehr. Auf allen vieren schleppt er sich über einen steilen Pfad hinab bis zu seinem Auto. Er fühlt sich wie nach einer Narkose, sein Kopf scheint mit Watte gefüllt. Wie ein Automat lässt er den Motor an und fährt los. Später wird er sich nur noch bruchstückhaft an diese Fahrt auf der engen, kurvigen Straße erinnern. Er weiß nicht mehr, ob ihm andere Autos begegnet sind. Er durchquert zwei oder drei Dörfer, vorbei an mehreren Telefonzellen. Aber er hält nicht an, um ein Krankenhaus oder zumindest einen Arzt anzurufen. Seine Umwelt nimmt er nur schemenhaft wahr. Ob er Stoppschilder beachtet, ob er an einer roten Ampel anhält – er weiß es später nicht mehr. Und ohne, dass er bewusst die Entscheidung getroffen hätte, nach Hause zu fahren, steht er auf einmal vor seiner Wohnung. Auf Händen und Füßen kriecht er ins Badezimmer, erbricht sich mehrmals, legt sich dann ins Bett und schläft sofort ein. Aber es ist kein Tiefschlaf, in den er fällt. Er durchlebt einen wachkomaähnlichen Zustand, taucht ein in tiefste Finsternis und steigt wieder auf in klarere Bewusstseinssphären. Aber jedes Mal, wenn er kurz vor dem Aufwachen ist, fällt er wieder zurück in die Geborgenheit des Schlafes.

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24 Stunden nach dem Unfall kommt seine Freundin Françoise ihn besuchen. Als sie ihn sieht, erschrickt sie: Sein Kopf scheint doppelt so groß zu sein wie vorher, überall verklebtes Blut. Als sie ihn leicht berührt, wird er wach: „Hast du ein Aspirin für mich?“, ist seine erste Frage. „Ich habe furchtbare Kopfschmerzen!“ Françoise bringt ihn sofort ins Krankenhaus. Am Tag darauf wird er operiert und kann nach zwei Wochen wieder nach Hause – scheinbar vollkommen geheilt. Aber urplötzlich kann er nicht mehr sprechen. „Das war furchtbar. Ich fühlte, dass ich eigentlich sprechen konnte, aber irgendeine innere Blockade hinderte mich daran“, erzählt er später seinen Freunden. Nach einem Monat gelingt es ihm, zuerst einzelne Wörter, dann kurze Sätze zu formulieren. Und nach weiteren drei Monaten spricht er wieder mit der gleichen südländischen Verve wie zuvor. Bald darauf geht er auch wieder zum Klettern. Zwar legt er den Zustieg zu den Felsen anfangs noch hinkend zurück, aber beim Klettern fühlt er sich so sicher wie vor seinem Unfall. Wenige Wochen später nimmt er seine Tätigkeit als Bergführer auf. Ein Jahr später stürzt er in denselben Felsen aus 20 Meter Höhe ab – und steht unverletzt wieder auf! Seitdem ist der einst so extrovertierte Bruno ein anderer Mensch geworden; er liest sehr viel mehr als früher, interessiert sich für asiatische Meditations­ formen und sein Blick schweift oft in die Ferne, so als suche er nach Erklärungen für das unerklärliche Glück, das ihm zweimal begegnet ist.

Wie viele Schutzengel braucht ein Mensch? Nun zum anderen Bruno, der 1980 gerade seine Eignungsprüfung als Bergführeranwärter abgelegt hat. Er ist zwar ein hervorragender Felsgeher, hat aber noch wenig Erfahrung im Steileis. Anfang September hat er sich auf dem Campingplatz „Les Bossons“ bei Chamonix einquartiert und träumt von den ganz großen Wänden, Pfeilern und Graten des Montblanc-Massivs. Leider muss sein Freund frühzeitig abreisen und so würde Bruno ohne Seilgefährten dastehen, wären da nicht zwei Landsleute aus Marseille, die sich seiner annehmen: Hervé Pichoux und Yves Estève. Die beiden haben gerade eine schmale Eisrinne an der Aiguille du Chardonnet in einer sehr schnellen Zeit durchstiegen und wollen jetzt das Nordcouloir an den Drus in Angriff nehmen. Alle Einwände von Bruno wie: „Ich will euch nicht aufhalten“ oder „Als Dreierseilschaft sind wir zu langsam“, schlagen sie in den Wind. „Quatsch, du kommst mit uns! Wir werden doch einen Kumpel aus Marseille nicht allein herumhängen lassen!“ Am 3. September 1980 fahren die drei mit der Seilbahn zur Gipfelstation der Grands Montets auf 3275 Meter Höhe. Als sie später über den Nant-Blanc-Gletscher absteigen, halten sie ständig nach der günstigsten Stelle Ausschau, an der sie am kommenden Tag den Bergschrund am Fuß des Couloirs überwinden können. Am Biwakplatz auf den „Rognons“ wird dann die kommende Tour in allen Einzelheiten durchgegangen.

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Quelle: Hanno Schluge

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Links der obere Teil des Nordcouloirs an den Drus

Gegen zehn Uhr abends verstummen ihre Gespräche allmählich und jeder gibt sich seinen Träumen hin. Sie träumen von prachtvollem Eis, in dem die Zwölfzacker bombensicheren Halt finden, von ihren Pickelhieben, unter denen hunderte von Schneekristallen in alle Richtungen spritzen und im Sonnenlicht wie Diamanten aufblitzen … und finden schließlich in einen ruhigen, ungestörten Schlaf. Beim ersten Tageslicht sind sie schon auf den Beinen und überwinden den Bergschrund an der am Vortag ausgemachten günstigsten Stelle. Obwohl eine Dreierseilschaft doch eher schwerfällig ist, kommen sie überraschend schnell voran. Zunächst führt Yves, später dann Hervé, als das Eis durch kombiniertes Gelände abgelöst wird. Während Hervé sich im heiklen Gelände abmüht, hat Bruno immer wieder Muße, den eindrucksvollen Tiefblick zu genießen. Das Wetter ist strahlend schön und keiner der drei bereut auch nur eine Sekunde lang, dass sie sich für die relativ langsame Dreierseilschaft entschieden haben. Am späten Nachmittag liegen noch 400 Höhenmeter vor ihnen und sie entscheiden sich für ein weiteres Biwak. In ihren warmen Schlafsäcken und bei dem prachtvollen Sternenhimmel erscheint ihnen diese Biwaknacht fast als paradiesisch schön. Als Bruno gegen fünf Uhr morgens aufwacht, ist er völlig überrascht, dass von den Sternen nichts mehr zu sehen ist. Der Himmel ist wolkenverhangen und ab und zu treibt ihm der Wind ein paar Schneeflocken ins Gesicht. Die Aiguille Verte hat ihre

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berühmt-berüchtigte „Mütze“ aufgesetzt, für alle Kenner des Montblanc-Gebiets ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein Wettersturz droht. Noch fliegen während des eilig­eingenommenen Frühstücks ein paar Scherze hin und her, aber ihren Gesichtern ist anzusehen, dass sie jetzt am liebsten in Chamonix oder an einem anderen sicheren Ort wären. „Hervé, komm, geh du voran, du hast das gestern schon so prima gemacht!“ Yves und Bruno geben ihm einen Klaps auf die Schultern und los geht es. Eine halbe Stunde lang genießt es Hervé, dass die Vorderzacken der Steigeisen so prächtigen Halt finden. Die Verhältnisse sind ideal und wäre das Wetter so gut wie am Vortag, so wäre der Aufstieg ein einziger Genuss. Aber der anfangs leichte Schneefall wird allmählich immer heftiger und die Temperaturen sinken merklich. Bald rauschen kleinere Neuschneelawinen im hier fast 60 Grad geneigten Hang auf sie herab. ­Hervé holt mit keuchenden Lungen alles aus sich heraus und lässt an den Standplätzen Yves und Bruno gleichzeitig nachkommen. Es gilt, keine Zeit zu verlieren, um so schnell wie möglich aus dem Couloir herauszukommen. Als noch etwa vier Seillängen bis zum Ausstieg vor ihnen liegen, bittet er Yves, die Führung zu übernehmen – er hat sich doch ziemlich verausgabt. Der Wind ist inzwischen zum Sturm angewachsen. Alle paar Minuten fegen Lawinen auf sie herab und drohen jedes Mal, sie aus dem Gleichgewicht zu reißen. Als sie noch drei Seillängen vom Ausstieg entfernt sind, lässt auf einmal ein ohrenbetäubendes Krachen den Berg erzittern. Das Gewitter, das sie mit großer Sorge erwartet hatten, ohne den Gedanken aber auszusprechen, ist jetzt direkt über ihnen. Und das an den Drus, die für ihre oft lang anhaltenden Gewitter gefürchtet sind! Alle drei sind auf kleinen Standplätzen im mehr als 60 Grad geneigten Eis vereint und warten ab. Sie haben sich an drei Eisschrauben gesichert, um nicht in die Tiefe geschleudert zu werden, falls ein Blitz in ihrer Nähe einschlagen sollte. Einschlag folgt jetzt auf Einschlag. In der engen Schlucht wird der Donner von einer Felswand zur anderen geworfen und alles um sie herum scheint zu beben. In den dichten Schneefall mischt sich Hagel, der ihnen vom Sturm ins Gesicht geschleudert wird. Nach zwei Stunden, die ihnen in ihrer exponierten Stellung endlos vorkommen, scheint sich das Gewitter zu entfernen. Hervé massiert sich kurz die von der Kälte steifen Muskeln und macht sich wieder auf den Weg. Der Spitzentanz auf den Vorderzacken der Steigeisen im gut 60 Grad geneigten Hang verlangt höchste Konzen­ tration und einen Moment ist Hervé versucht, eine Zwischensicherung anzubringen, aber letztlich geht er doch die volle Seillänge aus. Schnell lässt er Bruno und Yves nachkommen und nimmt dann die letzten Meter des Couloirs in Angriff. Am Gipfel werden sie von Sturmböen gebeutelt und sie machen sich sofort daran, die erste Abseilstelle einzurichten. Bald stehen alle drei vierzig Meter tiefer auf einem mit Schnee bedeckten Band. Das Gewitter, das sich in Richtung Aiguilles de Chamonix entfernt zu haben schien, kommt jetzt doch wieder näher. Nach kurzer Beratung entschließen sie sich dazu, nicht weiter abzuseilen. Das Risiko, mitten in

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einem ­Abseilmanöver von einem Blitz getroffen und in die Tiefe gerissen zu werden, erscheint ihnen viel zu groß. Sie sichern sich mit mehreren Felshaken und warten ab. Der Schneesturm tobt nach wie vor um den Berg und sie kriechen in ihre Schlafsäcke. Obwohl sie ahnen, dass ihnen hier, noch immer in Gipfelnähe, Schlimmes bevorstehen wird, sind alle drei seltsamerweise ruhig und gefasst. „Wir wussten, dass wir in der Falle saßen und dem Gewitter nicht entkommen konnten, aber in einer Art Fatalismus gaben wir uns unserem Schicksal hin“, erzählt Bruno später. Die Einschläge kommen immer näher. Bruno fühlt ein Kribbeln in den Händen und bei Hervé und Yves sieht er kleine bläuliche Flämmchen an den Haarenden. „Auf einmal ein gewaltiger Schlag. Wir wurden alle drei in die Höhe geschleudert und fielen wieder auf das Band zurück. Nur gut, dass wir uns an Haken gesichert hatten, sonst hätte es uns in die Tiefe gerissen!“, erzählt Bruno weiter. Die Schmerzen im ganzen Körper sind beinahe unerträglich. Nur wenige Augenblicke später wieder ein schmetternder Einschlag. Bruno und Yves verlieren sofort das Bewusstsein und hängen mit verzerrtem Gesicht in ihrer Selbstsicherung. Hervé fühlt sich wie gelähmt, auf der ganzen Haut ein sengender Schmerz. Er hat den Eindruck, als seien Hemd und Unterhemd geschmolzen. Nach einer Weile kommt von Bruno ein leichtes Stöhnen. Er richtet sich mühsam auf und beginnt dann, zusammenhangloses Zeug zu stammeln. Yves liegt leblos mit weit geöffnetem Mund auf dem Band. Verzweiflung kommt in Hervé auf. Für Minuten erscheint ihm ihre Lage aussichtslos, aber dann entfernen sich die Einschläge allmählich und er gewinnt wieder etwas Hoffnung. Langsam kommt auch Gefühl in seine Hände.

Das Gewitter tobt weiter, aber glücklicherweise liegen die Einschläge jetzt nicht mehr in nächster Nähe. Bruno findet langsam in die Wirklichkeit zurück. Er öffnet den Reißverschluss seines Anoraks, steckt seine Hände hinein – und erschrickt. Von seinem Hemd und Unterhemd sind nur noch einige Fetzen da, der Rest ist geschmolzen. Auch die Haut scheint verbrannt zu sein, aber noch empfindet er keine Schmerzen. Zu schaffen macht Bruno und Hervé aber die Kälte. Immer wieder durchläuft ein unkontrollierbares Zittern ihre Körper. Ein heißes Getränk würde ihnen guttun, aber als Bruno den Gaskocher anzünden will, gleitet er ihm aus der Hand und nimmt den Weg in die Tiefe. Auf einmal erwacht Yves aus seinem komaähnlichen Zustand, redet aber zunächst nur wirres Zeug. An der linken Wange hat er ein Brandmal; hier hat ihn der Blitz getroffen und dann den ganzen Körper durchquert. An den Schuhen ist er wieder­ ausgetreten und hat dabei das Oberleder und die Sohle zerrissen. Von seinem Schlafsack bleibt kaum noch etwas übrig, er ist fast vollständig geschmolzen. Sie zittern alle drei vor sich hin und warten ungeduldig auf den kommenden Tag. Als es endlich zu dämmern beginnt, schält sich Hervé aus den Resten seines Schlafsacks und steigt mühsam die vierzig Meter zum Gipfel der Drus auf. Von hier gibt er mit seiner Stirnlampe eine halbe Stunde lang das alpine Notsignal, bis es so hell wird, dass der kleine Lichtkegel auch in nur wenigen hundert Meter Entfernung nicht mehr zu

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sehen ist. Danach schwenkt er die Überbleibsel seines roten Schlafsacks eine weitere halbe Stunde hin und her. Und tatsächlich – mehrere Bergsteiger nehmen die kleine Gestalt auf den Drus wahr, und zwei steigen auch sofort ins Tal ab, um die Bergwacht zu alarmieren. Aber das dauert mehrere Stunden und so erscheint der Rettungshubschrauber erst gegen drei Uhr nachmittags. Die drei Kameraden werden ins Krankenhaus nach Chamonix gebracht, wo sie eine Woche lang auf der Intensivstation bleiben. Danach fliegt man sie in eine Spezialklinik für schwere Verbrennungen in Marseille. „Die Ärzte waren nicht sehr optimistisch, was unser Überleben anbelangte und wir wurden noch zwei weitere Male in Spezialabteilungen verlegt“, erzählt Bruno dem Verfasser, „aber wie Sie sehen, haben sie uns wieder recht ordentlich zusammengeflickt.“ Yves, der wie Bruno die Absicht hatte Bergführer zu werden, gibt diesen Plan auf und beendet stattdessen seine Ausbildung als Ingenieur. Hervé nimmt bereits wenige Monate später seinen Beruf als Bergführer und Skilehrer auf und Bruno – ja, Bruno wird seinen Schutzengel erst ein weiteres Mal strapazieren, ehe er im Jahr 1990 seine Ausbildung zum Bergführer erfolgreich abschließt.

Bruno, der Glückspilz „Hol mir jetzt endlich einen Kaffee an der Theke!“, herrscht Bertrand seinen Freund Bruno an. Er ist vollkommen verwirrt, macht aber ein so ernstes Gesicht, dass es beinahe komisch wirkt. Er ist sich gar nicht bewusst, in welcher verzweifelten Lage sie sich befinden, hier in der Schweizer Führe der Les Courtes-Nordwand, 800 Meter über dem Wandfuß. Ohne Biwakausrüstung, ohne Kocher und Verpflegung – und das mitten im Winter, am 30. Januar 1980. In zwei Stunden wird die Nacht hereinbrechen. Der Helm von Bertrand ist eingedellt, Blut fließt über seine Wangen, seine Lippen zittern leicht. „Was sind wir doch für Deppen!“, sagt sich Bruno, „warum mussten wir auch diesen idiotischen Mist mitmachen!“ Ja, seit einiger Zeit ist es unter Extrembergsteigern Mode geworden, mit einem Minimum an Ausrüstung – also so leicht wie möglich – in eine schwierige Route einzusteigen, um noch am selben Tag in der Hütte oder gar im Tal zurück zu sein. Im Vergleich zu den radikalen Vertretern dieser neuen „Masche“ haben sie aber doch „gesündigt“ und zwei Thermosflaschen mit Tee sowie zwei Packungen mit getrockneten Bananenscheiben dabei. Am frühen Morgen, kurz nachdem sie die Argentière-Hütte verlassen hatten, hatte Bertrand noch gefragt: „Was hast du zum Trinken mitgenommen?“ „Zwei Liter starken schwarzen Tee, genug, um uns ordentlich Feuer unter den Hintern zu machen!“, hatte Bruno geantwortet. Und das ist auch notwendig, denn an diesen kurzen Wintertagen kann die Devise nur lauten: „Schnell hoch und noch schneller wieder runter!“ Die Sicherheit darf dabei aber natürlich nicht zu kurz kommen und so hat jeder, neben den Eisgeräten, mehrere

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Quelle: Marcel Dettling

Eisschrauben, Karabiner und Bandschlingen an seinem Anseilgurt hängen. Apropos Anseilgurt: Auch hier hat Bertrand Gewicht sparen wollen und nur einen einfachen Hüftgurt ohne Beinschlaufen angelegt, wie man ihn bei Feuerwehrleuten findet.

Routen an der Courtes Nordwand Links die Abstiegsroute (Bruno), Mitte die Österreicher- und rechts die Schweizer-Führe

Auf dem gesamten Anmarschweg fliegen die Kalauer zwischen den beiden hin und her und ihre gute Laune hält auch bei der nicht ganz einfachen Überwindung des Bergschrundes an. Sie sind in Höchstform und ohne den Rucksack fühlen sie sich wie beflügelt. Die Firnverhältnisse sind anfangs ideal und so gehen sie gleichzeitig. Aber bereits nach zwanzig Minuten endet ihr Sturmlauf. Der Firn ist in schwarzes Wassereis übergegangen und sie müssten jetzt eigentlich jede Seillänge mit Eisschrauben sichern. Aber das würde Zeit kosten und so begnügen sie sich damit, ihre Eisgeräte so tief wie möglich einzurammen. Außerdem hat Bruno sowieso nicht gerade die besten Erfahrungen mit Eisschrauben, denn wenige Tage zuvor war eine Eisschraube bei einem 10-Metersturz herausgerissen worden. Nach etwa zwei Stunden stoßen sie auf eine Felsbarriere, die zum Teil mit einer dünnen Eisschicht überzogen ist. In ihrer Tourenbeschreibung steht aber nichts von einer Felsbarriere, sie müssen sich also zu weit links gehalten haben. Bertrand testet kurz die Eisschicht - sie scheint gut auf der Felsunterlage zu haften. Er beginnt eine schräge Rechtsquerung im ca. 65 Grad geneigten Eis.

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Bruno, mit seinen nur 55 kg ein Leichtgewicht, folgt rasch nach. Die letzten Meter der Seillänge sind mehr als 70 Grad steil und sie müssen sehr vorsichtig zu Werke gehen. Nachdem sie dieses Steilstück überwunden haben, nimmt die Neigung deutlich ab und die nächste Seillänge bietet traumhafte Firnverhältnisse. Das Wetter ist noch immer strahlend schön, der Wetterbericht hatte sich also nicht geirrt. Kurz vor der letzten Steilpassage, der „goulotte“, gönnen sich die beiden eine Pause, knabbern von ihren getrockneten Bananenscheiben und trinken jeder einen Becher Tee. Frisch gestärkt geht es nach zehn Minuten weiter. Sie klettern überschlagend, auch wenn der jeweilige Seilerste so etwa 80 Meter zurücklegen muss. Im 60 Grad steilen, harten Eis der „goulotte“ bereut Bruno dann auch diese Entscheidung, denn er ist kurz vor einem Wadenkrampf. Die Vorderzacken der Steigeisen dringen nur zwei oder drei Zentimeter ins sehr spröde Eis ein und so schlägt er bereits nach 60 Metern eine kleine Standstufe, dreht eine Schraube ein und lässt Bertrand nachkommen. Das überschlagende Klettern geben sie von nun an auf, ein Wadenkrampf im ausgesetzten Steileis könnte dramatische Folgen haben… Der Gipfel liegt noch ca. 300 Höhenmeter entfernt und es bleiben ihnen noch etwa vier Stunden Tageslicht. „Zwei Stunden bis zum Gipfel und dann zwei Stunden für den Abstieg“, sagt sich Bruno, „das müsste hinhauen!“ Er sichert gerade Bertrand, dessen Silhouette sich dreißig Meter über ihm gegen den blauen Himmel abhebt, der sich aber urplötzlich verändert. Das tiefe Blau geht in ein Schmutziggrau über und Nebelschwaden senken sich langsam über die Wand. Heftiger Wind kommt auf und es beginnt zu graupeln. Als Bruno am Standplatz ankommt, sieht Bertrand ihn verständnislos an: „Die hatten doch schönes Wetter vorhergesagt. Wie kann man sich nur so irren! Na ja, es bleibt uns ja nur noch eine gute Stunde bis zum Ausstieg.“ Aus den Graupelschauern ist jetzt heftiger Schneefall geworden und erste Schneerutsche fegen links und rechts an ihnen vorbei. Bruno dreht noch eine zusätzliche Schraube ins Eis und Bertrand macht sich wieder auf den Weg. Nach zwanzig Metern setzt er eine Eisschraube und quert leicht nach links. Bald verschwindet er hinter einer Eisrippe. Dann scheint er Stand machen zu wollen, denn das Seil ruckelt nicht mehr nach. Plötzlich ein Aufschrei! In eine Schneewolke gehüllt rast Bertrand im 55 Grad geneigten Hang auf Bruno zu. Die Zwischensicherung wird herausgerissen. Reflexartig schleudert Bruno die beiden Seile über einen kleinen Felsvorsprung, der vier Meter höher aus dem Eis hervorragt. Dann reißt ihn eine gewaltige Kraft nach oben. „Das ist das Ende!“, schießt es ihm durch den Kopf. Plötzlich ist alles still. Bruno klebt an der Wand, die straff gespannten Seile ziehen ihn nach oben, aber auch von unten her verspürt er einen Zug, der ihn in die Knie zwingt. Er schaut zwischen seinen Beinen hindurch: Ein großer Eisblock mit den beiden Eischrauben der Selbstsicherung hängt einen Meter unter ihm. Es hat also die Selbstsicherung herausgerissen. Vom Felsvorsprung, einen Meter über seinem Kopf, führen die beiden Seile hinunter in die Nebelschwaden. „Bertrand! Bertrand!“, schreit Bruno immer wieder, aber er erhält keine Antwort. Tränen laufen über seine Wangen. Bertrand ist tot – er muss tot sein, sonst würde er doch

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antworten! Seine erste Winterbegehung ist nun auch zu seiner letzten geworden. Ein paar Sekunden lang kämpft Bruno gegen seine Verzweiflung an. Nach dem Unwetter an den Drus hatte er gehofft, nie wieder eine derartige Hölle durchleben zu müssen – und jetzt das! Aber bald hat er sich wieder in der Gewalt und überlegt, was zu tun ist. Er ist gerade dabei, sich eine Standstufe zu hacken, als ein Röcheln aus der Tiefe zu ihm dringt. „Bertrand!“, schreit Bruno hinunter. Als einzige Antwort kommt ein erneutes Röcheln. Fieberhaft dreht Bruno zwei Schrauben ins Eis, befestigt das eine der beiden Seile daran, legt dann eine Prusikschlinge zur Selbstsicherung um das Seil und beginnt langsam den Abstieg in die Tiefe. Kräftig haut er bei jedem Schritt die Eisgeräte und die Steigeisen ins harte Eis. Wieder kommt ein Röcheln. „Ich bin gleich bei dir!“, ruft er hinunter. Als er endlich auf Bertrands Höhe ist, sieht er sofort, dass dieser eine schwere Kopfverletzung haben muss, denn sein Gesicht ist blutüberströmt. „Jetzt wird alles gut“, redet er beruhigend auf ihn ein, obwohl er weiß, dass dies eigentlich Unsinn ist, denn wie soll er den schwer verletzten Kameraden allein aus der Wand bringen? Bertrand redet zusammenhangloses Zeug: „Mein Kopf tut so weh! Bring mich runter auf die Straße, aber zuerst will ich einen Kaffee!“

Bruno überlegt fieberhaft, was jetzt zu tun ist. Sie haben kein Verbandszeug dabei – sie wollten ja eine Speedbegehung machen und da wäre jedes Gramm zusätzlicher Ausrüstung zu viel gewesen. „Mach dir keine Sorgen, Bertrand, wir schaffen das schon!“, versucht Bruno seinen Freund zu beruhigen. „Wieso soll ich mir Sorgen machen, wir sind doch gleich auf der Straße unten“, gibt Bertrand völlig verwirrt zurück. Langsam weicht das Tageslicht, aber von der Sonne ist am bedeckten Himmel nichts zu sehen. „Traumhafte Sonnenuntergänge gibt es nur für die Sieger und wir beide gehören zu den Losern“, geht es Bruno durch den Kopf. Er schlägt eine geräumige Standstufe und hievt Bertrand mit großer Mühe auf die kleine horizontale Fläche. Anschließend setzt er zwei Eisschrauben, an denen er Bertrand sichert. Jetzt bräuchten sie einen Kocher, einen Biwaksack und warme Daunenkleidung. All das hätte nicht mehr als drei Kilo gewogen, aber sie wollten ja schnell sein, schnell hoch und noch schneller wieder runter! Aber jetzt ist keine Zeit zum Lamen­tieren, jetzt hilft nur Kaltblütigkeit weiter. Zuerst müssen sie die lange Nacht überstehen, ohne die Hoffnung aufzugeben, die Hoffnung auf besseres Wetter und darauf, dass man sie am kommenden Morgen von der Argentière-Hütte aus sieht und die Bergrettung benachrichtigt. Kälteschauer durchlaufen Bruno und plötzlich fällt ihm ein, was ein Freund ihm einmal empfohlen hatte: „Wenn du frierst, musst du versuchen, mit der Kälte eins zu werden, dich quasi mit ihr zu identifizieren.“ Egal, ob das ironisch gemeint war oder nicht, Bruno versucht es – und es scheint tatsächlich etwas zu helfen. Von Zeit zu Zeit tritt er auf der Stelle, bewegt Zehen und Finger. Bertrand sieht seinem

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Freund zu und fragt, immer noch vollkommen durcheinander: „Sind wir jetzt bald auf der Straße unten?“ Nach Stunden, die Bruno endlos erscheinen, beginnt es langsam zu dämmern. Da die Sicht sich gebessert hat, beschließt er, bis neun Uhr das alpine Notsignal zu geben. Falls niemand ihn sehen oder hören sollte, würde er zum Gipfel aufbrechen und anschließend zur Argentière-Hütte absteigen, um von dort die Bergrettung zu alarmieren.­ Das Wetter bessert sich zusehends, die Wolken ziehen ab und der Wind lässt nach. Deutlich sieht Bruno schwarze Punkte, die sich vor der Argentière-Hütte bewegen. Aber solange er auch winkt und schreit, da unten reagiert niemand – die Entfernung ist einfach zu groß. Es bleibt ihm schließlich nichts anderes übrig, als ihr Schicksal in seine eigenen Hände zu nehmen. „Ich gehe Hilfe holen“, sagt er mit möglichst ruhiger Stimme zu Bertrand, „in ein paar Stunden holen sie dich hier raus.“ “Ja, aber sag den Leuten von der Bergrettung, sie sollen mir einen Kaffee mitbringen“, erwidert Bertrand, der immer noch nicht sein volles Urteilsvermögen zurückerlangt hat. Die erste Seillänge legt Bruno ohne größere Schwierigkeiten zurück, denn er kann sich an dem Seil sichern, das er am Vortag mit zwei Eisschrauben befestigt hatte. Danach aber wird es heikel, denn ständig fegen kleinere Lawinen über die Wand. Ab und zu streifen sie ihn, aber glücklicherweise trifft ihn keine voll. Als er nach einer guten Stunde am Gipfel ankommt, ist er zwar einerseits erleichtert, andererseits aber ist er sich bewusst, dass auf der Abstiegsroute über die Nordostflanke extrem hohe Lawinengefahr besteht. Er steigt in tiefem Schnee ein Stück Richtung Nordosten ab, muss aber bald einsehen, dass die kalte Biwaknacht viel Kraft gekostet hat. Immer wieder muss er Rastpausen einlegen und beschließt deshalb, eine direkte Abstiegsroute durch ein Couloir zu wählen, das zwischen der Österreicher-Route und der Nordostflanke liegt. Kaum hat er ein paar Schritte im steilen Couloir getan, als ein Schneebrett unter seinen Füßen abgeht. Schnell dreht er sich auf den Bauch und lässt sich einfach mit der Lawine auf dem harten Firn gleiten. Als es ihm zu schnell geht, bremst er dann mit beiden Eisgeräten seine Rutschfahrt ab. Als er nach ca. zweihundert Metern zum Stillstand kommt, findet er diese Art des „Abstiegs“ eigentlich ganz praktisch – und vor allem schnell! Und auf Schnelligkeit kommt es jetzt vor allem an, damit Bertrand noch vor Einbruch der Nacht aus der Wand geholt werden kann. Wieder und wieder tritt Bruno kleine Lawinen los und lässt sich abwärts gleiten. Dass das ein gefährliches Spiel ist, weiß er natürlich, denn wenn diese kleineren Schneerutsche zu einer großen Lawine würden, könnte sie ihn verschütten oder über die gewaltigen Eisabbrüche im unteren Teil des Couloirs werfen. Und er hätte dann keinerlei Chance, einen solchen Horrorsturz über mehr als fünfzig Meter fast senkrechtes Eis zu überleben. Aber das Glück bleibt Bruno treu. Kurz vor dem Abbruch kann er eine erneute Rutschfahrt abstoppen und quert nach rechts zur Nordostflanke. Bald ist er auf dem flachen Argentière-Gletscher und schleppt sich im tiefen Schnee mit letzter

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Kraft zur Argentière-Hütte. Dort sind glücklicherweise zwei englische Bergsteiger, die auf Brunos Bitte sofort absteigen, um Hilfe zu holen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wird Bertrand mit dem Hubschrauber aus der Wand geholt; eine zweite Biwaknacht hätte er wohl nicht überstanden. Aber auch so sind die Folgen der sechsunddreißig Stunden in der Wand schlimm genug. An beiden Händen müssen ihm mehrere Fingerglieder amputiert werden und er ist von nun an nicht mehr in der Lage, schwierige Bergtouren zu unternehmen.

Foto: Archiv Bruno Potié, Briançon

Bruno dagegen, der das Abenteuer in der Courtes-Nordwand unversehrt überstanden hat, wird immer mehr vom Bergvirus gepackt und reiht eine extreme Bergtour an die andere. Im August 1983 steht ihm sein Schutzengel ein weiteres Mal bei. Mit dem Kletterstar der 80er Jahre, Patrick Edlinger, ist er in einer schwierigen Route in den Gorges du Verdon unterwegs. Auf den letzten Klettermetern werden sie von einem Gewitter überrascht. Auf dem Gipfel schlägt ein Blitz direkt neben ihnen ein; wie von einer riesigen Faust werden sie in ein nahes Gebüsch geschleudert – und kommen mit dem Schrecken davon.

Bruno Potié in den Calanques 1978

Aber Brunos Leidensfähigkeit wurde auch in einem ganz anderen Bereich auf die Probe gestellt. Dazu schrieb er dem Verfasser: „Im Jahr 2010 wurde bei mir eine akute myeloische Leukämie festgestellt. Ich habe dieses Abenteuer wie eine große Bergtour durchlebt, auf einem unendlich langen, schmalen Firngrat, wo der Schnee ständig unter meinen Füßen wegglitt, wo meine einzige Sorge immer nur dem nächsten Schritt galt. Ich bin diesen Weg mit der Unterstützung meiner Familie ohne Angst gegangen, habe einfach den Ärzten vertraut.

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Ich erhielt vier Chemotherapien und musste dann jeweils einen Monat in einem sterilen Raum verbringen. Im März 2011 konnte ich endlich das Krankenhaus verlassen und einen Monat später lief ich mit einem befreundeten Bergführer Ski im Grands Montets-Gebiet. Ich erinnere mich auch noch gut daran, wie ich zwischen den ersten beiden Chemotherapien eine kleine Bergwanderung gemacht habe, für die ich normalerweise zwei Stunden brauchte. Diesmal aber waren es sechs Stunden… Die Tatsache, Bergsteiger zu sein – oder besser gesagt – gelernt zu haben, mich nie geschlagen zu geben, hat mir beim Kampf gegen die Krankheit sehr geholfen.“ So wie es aussieht, wird Bruno auch diesen Kampf gewinnen, aber kann man einen Menschen wirklich einen Glückspilz nennen, wenn er so viele Situationen zu durchstehen hat, die ihn jedes Mal in Lebensgefahr bringen? Bruno scheint dieser Auffassung zu sein. Er schrieb dem Verfasser: „Das Schicksal meint es letzten Endes gut mit mir, ich habe wohl mehrere Schutzengel!“

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Vielen Extrembergsteigern gelang es immer wieder, den schmalen Grat zwischen Durchkommen und Umkommen ohne gravierenden Unfall zu beschreiten. Manchmal aber waren, wie bei Joe Simpson und Doug Scott, fast übermenschliche Leistungen nötig, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Andere wiederum hatten weniger Glück und bisweilen führten sie auch kleinste Fehler ins Verhängnis. Und auch wenn sie überlebten, so müssen doch einige von ihnen ihr Leben mit schweren Behinderungen meistern. Dies hielt sie meist aber nicht davon ab, nach wie vor in ihre geliebten Berge zu gehen. Von beiden ist in diesem Buch die Rede, unter ihnen bekannte Namen wie Walter Bonatti, René Desmaison, Pierre Mazeaud, Jerzy Kukuczka oder Wanda Rutkiewicz, aber auch nahezu Unbekannte wie die jungen Deutschen Thomas Burger und Holger Wendel, die Franzosen Bruno Poitié und Bruno Pratt oder die Schotten Jamie Andrew und Jamie Fisher. Die Schilderungen der zehn Bergdramen werden jeweils durch einen Zusatztext ergänzt, erweitert und vertieft.

ISBN: 978-3-902656-20-9

www.alpinverlag.at

Ulrich Remanofsky

– Dramen am Berg

Der schmale Grat

Der schmale Grat

Ulrich Remanofsky

DER SCHMALE GRAT Dramen am Berg

Der Autor

Walter Bonatti, Oswald Oelz, René Desmaison,

Ulrich Remanofsky, Jahrgang 1943, dreißig Jahre lang als leitender Mitarbeiter im Goethe-Institut Lyon tätig. Als junger Mann Alroundbergsteiger mit einer Vorliebe für Eiswände in den West- und Ostalpen, heute leidenschaftlicher Klettersteiggeher, Bergwanderer und Skitourengeher mit dem Motto: Wenn ich in den Bergen bin, bin ich glücklich.

Doug Scott, Bruno Potié, Thomas Burger, Joe Simpson, Wanda Rutkiewicz, Jon Krakauer, Jamie Andrew ...

Vom gleichen Autor im Alpinverlag erschienen: Wen die Götter lieben, Schicksale von elf Extrembergsteigern

Alpinverlag Jentzsch-Rabl


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