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Michael Larcher im Interview

»Das Sterben im Bergsport ist noch immer viel zu normal.«

Michael Larcher hat über Jahrzehnte die Bergsportfäden im Alpenverein gezogen, stets mit dem großen Thema Sicherheit im Fokus. Nun tritt er seinen „Ruhestand“ an und hinterlässt damit ein großes Erbe mit etlichen Meilensteinen.

Ein Interview von Tom Dauer

Bergauf: Du bist seit 33 Jahren im Österreichischen Alpenverein tätig, seit 23 Jahren als Leiter der Abteilung Bergsport. Mindestens so lange hast du dich dem Thema „Sicherheit im Bergsport“ gewidmet. Woher kommt die Leidenschaft, aber auch die Einsatzbereitschaft und die Energie, jahrzehntelang an Konzepten, an Methodik und Didaktik zu arbeiten?

Michael Larcher: Als ich anfing, bergzusteigen und zu klettern, wusste niemand, welche Haltekräfte Normalhaken haben. Eisschrauben sahen aus wie Korkenzieher. Statt LVS-Geräten und Airbags hatten Skitourengeher Lawinenschnüre am Körper. Das war Anfang der 1970er-Jahre, da hatte die Menschheit bereits den Mond besucht! Nach gut 15 Jahren extremen Unterwegsseins merkte ich, dass meine Risikobereitschaft und meine Leidensfähigkeit nicht groß genug waren, um als Profi zu reüssieren. Damals erkannte ich, dass ich mein Können und meine Erfahrung als Lehrer und Ausbilder sinnvoller einsetzen konnte. Robert Renzler, der damals die Abteilung Bergsport des Alpenvereins leitete, gab mir die Chance, dies zu beweisen.

Bergauf: Du hast Handlungs- und Entscheidungsstrategien sowie Werkzeuge für deren Anwendung mitentwickelt, die sowohl die Ausbildung im Österreichischen Alpenverein als auch den Bergsport allgemein prägen. Welche erachtest du selbst als wichtig, als wegweisend?

Michael Larcher: Ein wichtiges Datum ist der 1. Juni 1992, da kam die erste Ausgabe des Magazins bergundsteigen heraus. 16 Seiten, die ich auf dem eigenen PC entworfen und geschrieben hatte, das Logo war mit der Computermaus handgemalt. 1.200 Exemplare haben wir per Rundbrief an ehrenamtliche Tourenführer des Alpenvereins verschickt. Danach war ich 16 Jahre lang Chefredakteur und habe mein „Baby“ nur schweren Herzens aus der Hand gegeben. Aber mein Nachfolger, Peter Plattner, machte das bestens und jetzt, mit Gebi Bendler, ist ein wahrer Meister am Werk. Und nach wie vor entsteht bergundsteigen in der Bergsportabteilung des Österreichischen Alpenvereins. Unser Magazin hat heute eine Auflage von 28.000 Exemplaren.

Bergauf: So viel zum Medium, und jetzt zu den Inhalten …

Michael Larcher: Der „Partnercheck“ für Kletterer, den wir 1997 der Öffentlichkeit vorgestellt haben, wurde eine internationale Erfolgsgeschichte, ebenso die Kletterscheine und die ersten „Kletterregeln“. Zwei Jahre später präsentierten mein Bergführerkollege Robert Purtscheller und ich mit „Stop or Go“ ein Entscheidungs- und Handlungskonzept für Skitourengeher, das bis heute Grundlage unseres Ausbildungskonzeptes ist. Mit „SicherAmBerg“ und der „Alpenverein-Akademie“ konnten wir Marken etablieren, die hochwertige Publikationen, Lehrvideos, Vortragstouren sowie ein einmaliges Kursangebot umfassen. Vereinsintern zählen wir heute knapp 7.000 Tourenführerinnen und Tourenführer, die in ihren Sektionen sehr agile und kompetente Alpinteams bilden, um unseren Mitgliedern ein attraktives Programm zu bieten. Dann noch die Innovationen durch das Internet, alpenvereinaktiv.com oder der Lawinenairbag, dessen Akzeptanz wir ganz wesentlich unterstützen, zuletzt Skitourenguru …

Bergauf: Hast du einen Favoriten?

Michael Larcher: Meine absolute Lieblings-App ist www.alpenvereinaktiv.com, deren Entwicklung ich als Projektleiter verantwortet habe und die 2012 online ging. Damit konnten wir zwei große Kompetenzfelder bündeln: Die Alpenvereine liefern die Inhalte, weil sie wissen, was Bergsteigerinnen und Bergsteiger wollen und brauchen. Und die Allgäuer Firma Outdooractive sorgt dafür, dass immer wieder neue Features und Funktionen auf technisch höchstem Niveau etabliert werden können – zum Beispiel die Einbindung der Lawinenbulletins, der Hangneigungslayer oder die Avalanche Terrain Hazard Map (ATHM). 2023 zählten wir auf alpenvereinaktiv 16 Millionen Sitzungen.

Bergauf: Du bist seit 1984 staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, seit 1999 „beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger“ für Alpinistik und Lawinenkunde. Haben die Erfahrungen aus dieser Aufgabe deine Hinwendung zum Lebensthema Sicherheit beeinflusst?

Michael Larcher: Ich glaube, ja. 2000 war ich Gerichtssachverständiger im „Jamtal-Unfall“ mit neun Toten. Drei Tiroler Bergführer waren damals angeklagt wegen des Verdachts auf „fahrlässige Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen“. Dieses Jahr erhielt ich vom Oberlandesgericht Innsbruck den Auftrag für das Gutachten zum Lawinenunfall am 11. April 2024 im Niedertal. Drei holländische Gäste starben beim Zustieg zur Martin-Busch-Hütte, drei Tiroler Bergführer wurden als Beschuldigte geführt. Durch diese Arbeit verändert sich der Blick auf die eigene Tätigkeit als Bergführer und Ausbilder. Ich glaube, ich wurde dadurch selbstkritischer und offener. Den offenen Umgang mit Fehlern, eine positive Fehlerkultur, machten wir dann auch zum Programm: sowohl in bergundsteigen als auch in der Ausbildung.

Bergauf: Kannst du diesen Zusammenhang näher erläutern?

Michael Larcher: Ein Gutachten zu einem Alpinunfall zwingt dich, ganz tief in das Geschehen einzutauchen. Du wirst selbst zum Akteur. Dann wechselst du wieder in die Rolle des externen Betrachters, der die Entscheidungen und Handlungen im Vorfeld des Unfalls aus bergsportlicher Sicht bewerten muss. Dieser stete Wechsel der Perspektiven beeinflusst natürlich auch das eigene Handeln am Berg.

Bergauf: An der gutachterlichen Aufgabe interessiert dich vermutlich weniger die Schuldfrage?

Michael Larcher: Die Schuldfrage muss außen vor bleiben. Das ist Sache eines Richters, einer Richterin. Als Gutachter vergleiche ich die Entscheidungen und Handlungen der Beschuldigten mit den Standards zur Risikominimierung, die heute allgemein anerkannt sind. Über Schuld, Teilschuld oder Unschuld zu entscheiden, obliegt der Justiz. Gutachten und Gerichtssäle sind nicht der Raum, um eine Fehlerkultur, den offenen und ehrlichen Umgang mit Fehlern, zu etablieren und zu fördern. Dazu braucht es Vorbilder, Bergführer, Trainer, Ausbilder, die diese Haltung vorleben. Mit dem Kursangebot der Alpenverein-Akademie können wir eine positive Fehlerkultur fördern. Denn das Gemeinsame an Bergsportunfällen – so meine Erkenntnis –ist die moralische Unschuld der Akteure.

Bergauf: Bei aller Sorge um die Sicherheit: Das Risiko bleibt ein elementarer Bestandteil des Bergsteigens –für den, der es sucht. Wärest du mit dieser Aussage d’accord?

Michael Larcher: Ja. Unsicherheit, und damit Risiko, ist ein elementarer Bestandteil des Bergsteigens. Unsicherheit schlägt die Brücke zum Wagnis, zum Abenteuer: Nicht zu wissen, ob ein Unternehmen gelingt, das Scheitern als reale Möglichkeit. Nicht einverstanden bin ich mit dem Sterben am Berg, das will ich nicht akzeptieren. Dagegen müssen wir uns auflehnen, auch wenn sich da ein Widerspruch auftut.

Bergauf: Geht Sicherheit auf Kosten der Freiheit, oder besteht die Gefahr, dass es so weit kommen könnte? Etwa wenn die Nichtdurchführung von Sicherheitsabwägungen mittels digitaler Hilfsmittel justiziabel wird?

Michael Larcher: Die meisten Alpinisten – besonders die alten, extremen Haudegen – haben eine sehr naive, unreflektierte Vorstellung von Freiheit. Wenn es um den Zusammenhang „Freiheit versus Sicherheit im Bergsport“ geht, kann ein Zitat von Viktor Frankl als ethische Grundlage dienen: „Freiheit ist nur die halbe Wahrheit, ist nur die eine Seite der Münze. Das komplette Phänomen der Sinnfrage inkludiert die Verantwortlichkeit.“ Auch den Verweis auf die Justiz kenne ich gut und damit verbunden die Sorge, dass unsere Empfehlungen zur Verkehrsnorm werden und vor Gericht einen Schuldspruch begründen könnten. Diese Sorge ist unbegründet. Das Recht auf Selbstgefährdung ist ein Menschenrecht und als solches gut geschützt. Ebenso ist klar, dass die Berge kein rechtsfreier Raum sind. Wenn ich im Bergsport Verantwortung übernehme –ob als Bergführer oder privat als „faktischer Führer“ – und ein Unfall passiert, dann ist es legitim, wenn ein Gericht die Sorgfalt meiner Handlungen und Entscheidungen überprüft.

Bergauf: Befürchtest du nicht, dass die Freiheit, die Regeln zu brechen, mit jeder neu aufgestellten Regel bzw. Entscheidungs- und Handlungsempfehlung eingeschränkt wird?

Michael Larcher: Nein, diese Befürchtung teile ich nicht. Wie schon gesagt: Das Recht auf Selbstgefährdung ist tief in unsere Verfassungen eingeschrieben. Unsere „Regeln“ sind immer Empfehlungen. Sie müssen sich bewähren, allgemein anerkannt und publiziert werden – dann erst, nach vielen Jahren, können sie eine Verkehrsnorm im juristischen Sinne werden. Zudem muss immer eine Kausalität gegeben sein, d. h. es muss ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Regelverstoß gegeben sein. Nicht die Lehrmeinung, nicht unsere Empfehlungen schränken ein. Grenzen setzen uns die Natur, Physik und Biologie sowie unser Wunsch, gesund nach Hause zu kommen!

Unsere Empfehlungen sind Antworten auf die Fragen interessierter Bergsportler: „Wie mache ich das richtig?“ Zum Beispiel: Abseilen, Seilschaften am Gletscher, Sichern in der Halle etc. Auf diese Fragen geben wir, gibt der Alpenverein Antworten. Die Summe dieser Antworten nennen wir Lehrmeinung. Die Schlüssel für unseren Erfolg sind Wissenschaft, Pädagogik, Erfahrung und Kommunikation.

Bergauf: Wenn du auf deine Arbeit zurückblickst, welches Resümee ziehst du?

Michael Larcher: Vieles ist gelungen, dafür bin ich dankbar. Trotzdem sehe ich das Glas nicht halb voll, sondern halb leer. Es liegen noch jede Menge Aufgaben und Herausforderungen, jede Menge Chancen vor uns. Das Sterben im Bergsport ist noch immer viel zu normal.

Bergauf: Und wie sieht deine Zukunftsplanung aus?

Michael Larcher: Mit 1. Oktober 2024 hat Jörg Randl, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Flugretter sowie Leiter einer Alpinen Einsatzgruppe der Polizei, meine Aufgaben im Alpenverein übernommen. Ich selbst bin dann mal weg – allerdings nicht ganz, denn mit dem „Lawinenupdate“ werde ich weiterhin auf Vortragsreise gehen. Und dann liegt ja noch mein ganzes Leben vor mir.

Wir danken für das Gespräch!

Michael Larcher unterwegs mit seinem Bergsport-Team.
Foto: Alpenverein/S. Schöpf

Info: Lawinenupdate

Die Vortragsreihe „Lawinenupdate“ mit Michael Larcher liefert geballtes Lawinenwissen für einen guten Einstieg in den Tourenwinter und tourt durch ganz Österreich.

Mehr Infos: www.alpenverein.at/lawinenupdate

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