
5 minute read
Abseilen: gefährlich einfach
from Bergauf #2.2024
Als Menschen zur „Eroberung des Unnützen“ das Klettern entdeckten, musste eine Technik her, um von den vertikalen Gebilden wieder herunterzukommen. Der kreative Mensch war gefordert und erfand das Abseilen, ein Kunststück, beinahe so alt wie der Klettersport selbst. Heute ist Abseilen einfacher als einst, gefährlich ist es immer noch. Ein Widerspruch?
von Michael Larcher
Dass immer wieder sehr erfahrene Kletterer in Abseilunfälle involviert sind, liefert einen ersten Hinweis auf die Unfallursache Nummer eins beim Abseilen. Nicht Materialversagen, nicht das Ausbrechen des Standplatzes, nicht „objektive“ Gefahren: Es ist der „Faktor Mensch“, der gerade für Experten häufig zur Falle wird. Denn: Für Menschen, die regelmäßig in Seilschaften klettern, ist Abseilen einfach, geradezu trivial, zumal die bewegungs- und seiltechnischen Fertigkeiten leicht und schnell erlernbar sind. Da Abseilen über mehrere Seillängen ein Manöver mit vielen Einzelmaßnahmen – und ebenso vielen Fehlerquellen – ist, bleibt es potenziell lebensgefährlich. Abseilen ist prädestiniert für die Entwicklung einer „gefährlichen Routine“!
Gefährliche Routine
Routinen zu entwickeln ist gut, auch im Bergsport. Routiniertes, scheinbar automatisches Tun, ermöglicht uns rasches, ökonomisches und zielgerichtetes Handeln, es entlastet unser Gehirn. Routinen haben aber ihren Preis. Zwei Aspekte erscheinen mir in Hinblick auf das Abseilen als besonders wichtig (und gefährlich): Wenn Handlungen wie ferngesteuert ausgeführt werden, quasi blind beherrscht werden, dann werden Fehler, die bei häufigen Wiederholungen zwangsläufig passieren müssen, nicht erkannt. Wir sprechen dann von einem „Blackout“.
Ein zweiter Ursprung der gefährlichen Routine liegt in der Tendenz (fast) aller Bergsportexperten, sich über allgemein anerkannte Regeln hinwegzusetzen, standardisierte Verfahren zu verkürzen. „Regeln und Standards sind für Anfänger gut, ich bin Experte und den Regeln entwachsen.“ So etablieren sich individuelle Verfahren, die auf vermeintlich übertriebene „Sicherungen“ verzichten, man verkürzt, spart ein, lässt weg. Das Berauschende an diesem Vorgang ist, dass man erfolgreich ist. Es geht immer gut. Nur einmal, da …
Merkmale einer soliden Abseiltechnik
Einstellung: Wenn wir heute, 2024, über eine sichere Abseiltechnik sprechen, dann kann es nicht genügen, nur die seiltechnischen Fertigkeiten zu vermitteln. Es muss auch gelingen, die Expertenfalle „gefährliche Routine“ sichtbar und bewusst zu machen. „Anfängergeist“ ist anzustreben. Ich meine damit die bewusste Rückkehr zur hochkonzentrierten Bewusstheit des Anfängers, der sich sowohl seiner Fehlbarkeit als auch der Exponiertheit der Situation (in der Steilwand) bewusst ist. Der Abseilexperte 2.0 gründet auf der Einsicht: „Gerade für mich, der ich mich sehr häufig in exponierten Situationen befinde, die keinen Fehler erlauben, ist der Verzicht auf ‚Standard‘-Maßnahmen besonders gefährlich. Erst das Festhalten an allgemein anerkannten Sicherheitsroutinen macht mich zum Experten.“
Partnercheck: Die Routine „Partnercheck“ auf den Punkt gebracht: „Vor dem Start werden wechselseitig alle Punkte in der Sicherungskette überprüft. Optisch und durch Angreifen – 4 Augen, 4 Hände!“ 1997 wurde im Sicherheitsmagazin der Alpenvereine – in bergundsteigen –der „Partnercheck“ erstmals vorgestellt. Heute ist er fester Bestandteil jeder Kletterausbildung, ein internationaler Standard. Der „Abseil-Partnercheck“, im Österreichischen Alpenverein seit mehr als zehn Jahren vermittelt, wartet noch auf seinen Durchbruch, sowohl national als auch international. Dabei ist die Situation oben am Start, bevor der Erste abseilt, um einiges komplexer und unübersichtlicher als beim Sportklettern. Das Einfallstor für Fehler ist weit offen.
Jüngeren Datums ist der „AbseilPartnercheck unten“. Mit „unten“ ist der nächste Standplatz gemeint, der Moment, wenn der Zweite (oder Dritte), der abseilt, unten ankommt. Er ist im Vergleich zum Abseil-Partnercheck oben weniger umfangreich: Beide Partner kontrollieren wechselseitig, ob die Selbstsicherungsschlinge korrekt angebracht und die Verschlusssicherung des Karabiners aktiv ist. Dann erst werden die Klemmknoten (Kurzprusiks) entfernt und der nächste Abseilvorgang wird vorbereitet.
Klemmknoten: So steht’s in der „Seiltechnik“: „Der Kurzprusik als Absturzsicherung ist eine unerlässliche Sicherheitsmaßnahme! Eine vorbereitete Kurzprusikschlinge (5 bis 6 mm Reepschnur, 1 m lang) muss in Mehrseillängen immer mitgeführt werden. Der mittels Schraubkarabiner im Anseilring fixierte Kurzprusik muss so kurz sein, dass unter Belastung ein Abstand von mindestens 10 cm zum Abseilgerät erhalten bleibt. Achtung: Wenn der Prusik am Abseilgerät ansteht, wird er mitgeschoben und ist wirkungslos!“
Der Verzicht auf den Kurzprusik (er ist in Österreich der bevorzugte Klemmknoten) gehört nach meiner Beobachtung zu den häufigsten „Einsparungen“ von Experten. Dabei ist der Aufwand minimal (20 Sekunden), der Gewinn enorm: Wenn ich – aus welchem Grund auch immer – die Hände loslasse, blockiert der Knoten und verhindert den Absturz. Die Einfachheit und Wirkungsweise sind derart überzeugend, dass man sich nur wundern kann, wenn Experten bis heute die Bedeutung dieser „Absturzsicherung“ relativieren oder Vereinfachungen vorschlagen wie diese: Nur der Erste seilt mit Kurzprusik ab, der oder die Partner ohne. Das ist Bullshit.
Seilenden verknoten: Kein freies Seilende! Was beim Sportklettern gilt, gilt auch beim Abseilen: Jeweils 50 cm vor dem Seilende wird ein Sackstichknoten oder ein doppelter Spierenstich eingeknotet. Das Übersehen des Seilendes gehört zu den hinterlistigsten Gefahren im Klettersport. Die Verweigerer dieser Endknoten verweisen gerne auf die Gefahr des Verklemmens, des Hängenbleibens oder beklagen den Aufwand, den Seilstrang erst aufzuziehen, um ihn abzuknoten. Diese Argumente kann man gelten lassen, doch bei Abwägung von Aufwand und Risiken sind die Knoten in den Seilenden zweifelsfrei die bessere Wahl.
Karabiner immer fixieren: Die 120-cmBandschlinge mit einem Mastwurf in den Karabiner (mit Verschlusssicherung) einzubinden – diese Anweisung findet man in allen Anleitungen zum Abseilen. Die Schlinge sitzt dadurch fest am Karabinerschenkel, ein unkontrolliertes Herumrutschen wird verhindert. Allerdings hatten wir bisher mehr das lästige Herumrutschen im Blick als das Risiko des ungewollten Aushängens, so zumindest meine Wahrnehmung. Heute wissen wir: Den Karabiner in Selbstsicherungsschlingen zu fixieren, ist ein elementarer Sicherheitsstandard, da dadurch auch das Risiko, dass sich Schlinge und Karabiner ungewollt trennen, stark reduziert wird.
Lernen, üben … und sich sowohl seiner Verletzlichkeit als auch seiner Fehleranfälligkeit (weil wir Menschen sind) bewusst bleiben – das klingt nach einem guten Rezept für den Klettersport allgemein, für das Abseilen ganz besonders.

Autor: Michael Larcher ist Leiter der Abteilung Bergsport im Österreichischen Alpenverein, Berg und Skiführer.