Die Lore E
in sonniger Spätsommernachmittag. In der Stube des Hotel Restaurants „Rose Wenzer“ sitzt am linken hinteren Tisch eine Gruppe von vier Damen. Sie spielen Watten. Es geht etwas hoch her, da der „Schlag“ nicht richtig gespielt wurde, wie eine Dame behauptet. Die andere schüttelt nur den Kopf und das gegnerische Duo freut sich über die Punkte. Die Karten werden neu gemischt. Da betritt eine Gruppe italienischer Wanderer das „Rose Wenzer“, ein älterer Herr sieht die Damen in der Stube und verkündet stolz in römischen Dialekt, dass sie vom Schlern zurück seien und er vor fünfzig Jahren zum ersten Mal oben war. Eine der Damen schaut kurz von ihrem Blatt auf, sagt „Buonasera“ (= Guten Nachmittag) und antwortet: „La prima volta che io sono stata sullo Sciliar era 74 anni fa!“ (Ich war das erste Mal vor 74 Jahren auf dem Schlern). Dann spielt sie eine Karte aus, steht auf und kümmert sich um die Gäste. Sie ist die Chefin des „Rose Wenzer“: Dora Baumgartner heißt sie, doch die Einheimischen nennen und kennen sie als „Die Lore“. Vor 74 Jahren befand sich Südtirol in der Zeit der sogenannten „Option“. Am 22. Mai 1939 hatten die beiden Diktatoren Adolf Hitler und Benito Mussolini den sogenannten Stahlpakt abgeschlossen. Darin wurde vorgesehen, dass die deutsch-italienische Grenze nicht angetastet werden sollte. Außerdem sollten die Südtiroler ausgesiedelt werden. Am 21. Oktober desselben Jahres wurde das Abkommen zur Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Südtirols und der „Zimbern“ ratifiziert. Und damit entstand eine bis heute noch nachwirkende Gespaltenheit zwischen den Südtirolern. Diejenigen, die dablieben, wurden als „Volksverräter“ verunglimpft, die „Optanten“ – also jene die auswanderten – waren die „Nazis“.
Text: André Bechtold Fotos: Helmuth Rier
26 ALPE | Winter
Der Vater von Lore musste sich für seine Frau Emma Atz und seine Familie auch dieser Frage stellen und anfangs waren seine Gedanken eher für das Auswandern. Und da sagte er der 10-jährigen Lore, dass sie mit ihm unbedingt mit auf den Schlern kommen müsse. Eduard Baumgartner wollte, dass die Tochter – sollte man wirklich optie-
Gastwirtin mit Leib und Seele: Dora Baumgartner
ren und auswandern – wenigstens einmal auf dem Symbolberg der Südtiroler und dem Hausberg der Völser gewesen war. Die Mutter Emma packte ein gebratenes Händl in den Rucksack und in aller Früh ging es über den Völser Weiher und den Prügelweg in der Teufelsschlucht hinauf auf den Schlern bis zu seiner höchsten Stelle, dem Monte Pez (2563 m). Übernachtet wurde im „Rifugio Bolzano“ (Schlernhaus bzw. Schlernhäuser), das vormals noch von den Völser Gastwirten vom Heubad, Kreuzwirt, (Rose) Wenzer und dem Dorfschmied Otto Egger in Pacht bewirtschaftet wurde. Bereits seit dem 24. Januar 1924 waren die Schlernhäuser Eigentum des C.A.I. (Club Alpino Italiano) – im Juni 1940 war die aus dem Fassatal stammende Gastwirtfamilie Micheluzzi Pächterin im „Rifugio Bolzano“, da kein Südtiroler mehr auf einer Schutzhütte als Pächter arbeiten durfte. Eduard Baumgartner führte seine Tochter auch mit einem sehr weinenden Auge hinauf auf den Schlern. Sein eigentliches Ziel war aber ein anderes: Er legte allergrößten Wert darauf, dass sie im Zimmer Nr. 6 schliefen. Noch heute erinnert sich Lore mit strahlenden Augen daran. Morgens in aller Früh, noch vor dem Sonnenaufgang, hatte der Vater sie geweckt. Das Zimmer hatte sein Fenster gen Osten. Und so blickten sie aus dem Fenster und Lore sah, wie die Sonne aufging. Fragt man sie danach, dann antwortet sie, dass es einer der schönsten Augenblicke in ihrem Leben war. Das Kartenspiel geht ohne Lore weiter. „Watten“ ist in der napoleonischen Zeit in Südtirol entstanden. Die verbündeten Bayern und Franzosen spielten in ihren Feldlagern Karten. Der letzte Trumpf heißt im Französischen „va tout“ und daraus leitete sich das Wort „Watten“ ab. Die Geberin wird nach „Schianere“ (= Schönere) gefragt, das heißt, dass die Karten weggelegt und neue ausgeteilt werden. Über den Kartenspielern hängt an der Stubenwand ein Gemälde, das die Büste einer hübschen jungen Frau mit gezopftem Haar und Tracht zeigt. Die typischen Ohrringe des Schlerngebiets sind zu sehen. Das Gemälde ist eingebettet in ein Passepartout. Der Rahmen ist schlicht. Kein richtiges Gemälde, eher eine mit bunten Bleistiften »