
6 minute read
Mein Bergretter versteht
Hilfe, mein Bergretter versteht mich nicht!
Text: Wolfgang Ladenbauer, Sandra Hinterlechner Foto: Wolfgang Ladenbauer
Advertisement
Im Umgang mit Verunfallten am Berg spielt neben der medizinischen Versorgung auch die psychische Betreuung eine große Rolle – was allerdings nicht allen Rettern bewusst ist. Wolfgang Ladenbauer lässt uns im folgenden Artikel an seiner langjährigen Erfahrung als Arzt und Bergretter teilhaben und erläutert uns die fünf Grundregeln der Psychischen Ersten Hilfe (PEH). Diese richten sich aber nicht nur an Rettungs-Profis, sondern an uns alle, und zeigen, wie wir mit einfachen Mitteln einer verunfallten Person psychisch beistehen können – sollten wir einmal zu Erstrettern werden.
Folgende Situation: Eine etwa 50-jährige Wanderin stürzt im alpinen Gelände und kullert ein gutes Stück eine felsdurchsetzte Grasflanke hinunter. Die Familie muss hilflos zusehen, kann selbst nicht helfen und verständigt sofort die Bergrettung, die auch zeitnah eintrifft. Was passiert? Der Hubschrauber nähert sich der Verletzten, der behandelnde Arzt steigt aus, fragt die Verunfallte nach ihrer Versicherungsnummer, steigt wieder zurück in den Hubschrauber und fliegt davon. Die Verunfallte liegt allein im Gelände und denkt, sie sei totgeweiht. In diesem Fall hatte die Frau durchaus Verletzungen, aber es herrschte keinerlei Lebensgefahr. Sie wusste nicht, dass die Retter nur noch einmal wegfliegen, um ihre Rettung vorzubereiten und fünfzehn Minuten später wieder zurückkehren würden, um sodann die Bergung durchzuführen und sie ins Spital zu fliegen.
„In diesem Fall wurde alles falsch gemacht, was man in einer Rettungssituation nur falsch machen kann“, so Bergrettungs-Profi Wolfgang Ladenbauer, „da mit der Verunfallten nicht kommuniziert wurde und sie unnötigerweise Todesangst ausstehen musste, da man sie in Unwissenheit über ihren Zustand und den Rettungsprozess gelassen hat.“
Deshalb hält Wolfgang Ladenbauer fest: Psychische Erste Hilfe (PEH) sollte ein integrierter Bestandteil jeder Ersten Hilfe sein und ist ein ganz zentrales Instrument im Rettungsprozess. PEH ist „alles, was wir mit einem in Not Geratenen, also Verunfallten, Erschöpften oder Verirrten tun und was nicht zu den rein medizinischen Verrichtungen gehört“.
Im Folgenden präsentiert uns Wolfgang die wichtigsten Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung der Bergrettung Niederösterreich, die festhält, was von Verunfallten als gewünscht oder störend erlebt worden war. Aus dieser Studie ergaben sich die folgenden 5 Grundregeln für die Psychische Erste Hilfe.
5 Grundregeln der (alpinen) PEH:
1. Sage, dass du da bist, wer du bist und was geschieht! 2. Suche oder biete vorsichtigen
Körperkontakt! 3. Sprich, informiere und höre zu! 4. Akzeptiere feinfühlig den Verunfallten in seinem Zustand! 5. Schirme den Verletzten vor Zuschauern ab!
Grundregel 1: Sage, dass du da bist, wer du bist und was geschieht!
Die Aufnahme und Aufrechterhaltung verbaler Kommunikation mit Information und Aufbau einer Beziehung sind am Anfang das Wichtigste. Allgemeine Informationen und im speziellen Informationen über die Helfer haben sich als besonders wichtig herausgestellt. Die Nennung der Namen der Helfer und wie der Verletzte

die Helfer ansprechen kann, ist sehr hilfreich. Der Erstkontakt sollte mit Begrüßung und Vorstellung erfolgen. Das Fragen nach der Anrede Du oder Sie wurde oft als störend empfunden. Immer wieder sollte man erklären, was genau geschieht, eventuell auch warum.
Grundregel 2: Suche oder biete vorsichtigen Körperkontakt!
Körperliche Behandlung und Berührung sind heikel und wurden sehr oft als störend erlebt, weil durch den Unfall die körperliche und seelische Integrität des Menschen verletzt worden war. Speziell eine zu nahe (mehr als Hand oder Arm) oder intime Berührung (z. B. streicheln) würden Kontrollverlust und eine weitere Bedrohung der Integrität bedeuten. Daher sollte man dem oder der Verletzten anbieten, sich anzuhalten: Der Helfer hält seine Hand hin und lädt das Unfallopfer ein, sich daran festzuhalten. Körperliches Berühren und Beruhigen soll der verletzten Person zeigen, dass jemand da ist, den Zustand ernst nimmt und ehrlich ist.
Wichtig ist natürlich auch schmerzarme und bequeme Lagerung, Schutz vor Kälte, Hitze oder direkter Sonneneinwirkung, ein Getränk oder eine Zigarette anzubieten. Letzteres ist ein Punkt, an den Nichtraucher wohl nicht denken, der aber von Rauchern genannt wurde. Folgendes gilt für Berührungen: » Am ehesten die Hand berühren, gefolgt von der Schulter, höchst selten mehr » Statisch ist besser als dynamisch (halten ist besser als streicheln) » Am besten: anhalten lassen » Am wenigsten und vorsichtigsten bei
Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren und bei Snowboardern » Am ehesten bei schweren Verletzungen
Grundregel 3: Sprich, informiere und höre zu!
Untersuchung und Behandlung sollen immer begleitet sein von Ankündigungen und Informationen über die Verletzungen, die nächsten Handlungen und Absichten mit Angaben über Art, Dauer, mögliche Schmerzen und Maßnahmen, wie Lagerung, Abtransport, Hubschrauber. Wie sollte kommuniziert werden? » Auf gleicher Ebene und nicht von oben herab – also bücken, hinknien oder neben den
Verletzten setzen. » Eine verständliche Sprache verwenden, ausreichend laut und deutlich artikuliert. » Auch wenn Sie vielleicht nicht verstanden werden: Sprechen Sie trotzdem mit Bewusstlosen oder mit fremdsprachigen Menschen.
Bewusstlose hören manchmal alles. Vorsicht bei Sterbenden, denn die letzte erhaltene
Fähigkeit ist oft noch das Hören!

» Vorsicht bei Gesprächen neben dem
Betroffenen, auch beim Funken. Keine
Diagnosen oder Prognosen nennen! Vor dem
Verletzten auch nicht über Dinge sprechen, die er missverstehen könnte. » Keine Schuldzuweisungen! Im Gegenteil:
Verständnis für das Vorgefallene zeigen. » Alles, was man sagt, muss wahr sein, aber man muss nicht alles Wahre sagen.
Grundregel 4: Akzeptiere feinfühlig den Verunfallten in seinem Zustand!
Ein Traumatisierter ist ein normaler Mensch mit normalen Bewältigungsstrategien in einer abnormalen, außergewöhnlichen Situation! Diese Sicht macht es möglich, uns ganz auf ihn in seiner momentanen Befindlichkeit, Verletzlichkeit und „Andersartigkeit" einzustellen. Verunfallte erscheinen oft auffällig, gereizt, paranoid oder verstummt, also „krank oder gestört". Dies ist aber eine normale Reaktion, und als Helfer sollte man sie akzeptieren und sich darauf einstellen.
Grundregel 5: Schirme den Verletzten vor Zuschauern ab!
Dieser Punkt spielt bei Unfällen mit vielen möglichen Zuschauern eine große Rolle, selten im alpinen Bereich, am ehesten noch auf der Piste.

Hubschrauberrettung – eine Besonderheit
Hier gilt als wichtige Erkenntnis, dass die Angst vor dem Hubschrauber deutlich größer ist, als wir angenommen hatten. In der Vorstellung der Bergrettung lag der Gedanke nahe, dass es für den Verletzten wünschenswert sein müsste, schnell und schmerzarm aus misslicher Lage in die Sicherheit eines Spitals geflogen zu werden. Die Angst vor dem Fliegen sollte dabei eine geringere Rolle spielen als die Angst und somit der Stress vor einer so schwerwiegenden Verletzung, die den Einsatz eines Hubschraubers nötig machte. Gezielte Information über die Verletzungen und die Vorzüge eines Hubschrauber-Abtransports kann dieses Unbehagen von vornherein verhindern. Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass ein Hubschrauber-Abtransport für alle Betroffenen großen Stress bedeutet. Daher ist auf sachliche Information vonseiten der Retter sowie auf Beruhigung zu achten! Und Vorsicht: Die Retter dürfen nicht durch ihre eigene Unsicherheit, Angst oder Nervosität den Verletzten „anstecken“.
Zusammenfassung
Am wichtigsten sind für die Verletzten eindeutig alle Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Schmerz sowie die Erkundigung danach und die vorsichtige, schmerzvermeidende Behandlung. Gleich gefolgt von den Aspekten der Kommunikation: Beziehung, Information und Sprache! Es zeigte sich, dass das Bedürfnis nach Beruhigung sehr stark ausgeprägt ist.
Oft sind Verunglückte auffällig, gereizt oder wirken paranoid. Die Bergretter müssen sich hier bewusst machen: Der / die Verunfallte ist ein normaler Mensch in Not mit normalen Reaktionen auf eine abnormale, außergewöhnliche Situation und kein psychiatrischer Patient. Das heißt: Einer der zentralen Punkte der PEH ist auch die Einstellung der Bergretter der manchmal „abnormalen“ Erscheinung des Unfallopfers gegenüber. Es gilt, diese zu akzeptieren und sich darauf einzustellen und die Patienten in Form der PEH bestmöglich zu unterstützen. „Wenn dies gut gelingt, dann ist die PEH auch eine Trauma-Prävention, was mir persönlich sehr wichtig ist“, schließt Wolfgang seine Ausführungen ab.
Wolfgang Ladenbauer ist Arzt der Allgemeinmedizin und Psychotherapeut und seit 1973 ehrenamtlicher Bergretter in Puchberg, davon 15 Jahre Landesleiter der Bergrettung Niederösterreich und Wien. Weiters sind er und seine Familie seit Generationen Mitglieder in der ASW, wo Wolfgang auch einige Jahre lang Bergrettungsreferent war.