CC: No 2, 2021 | Magazin

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18 Lokal, nicht provinziell

CC: NESRIN TANÇ ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Mitbegründerin von KuKstDu e.V. (Kunst- und Kulturstudien Duisburg). Sie rekonstruiert in ihrer Forschung die Kulturgeschichte der Einwanderungsgesellschaft. In ihrer Dissertation eruierte sie die Arbeit von Literat*innen, die in den 1970er- bis 1990er-Jahren aus der Türkei, Anatolien oder Mesopotamien nach Deutschland und insbesondere ins Ruhrgebiet emigriert sind. Ihre kreativen Arbeiten präsentiert sie unter den Labels Agentur Ausländerrauş und Anatolpolitan, womit sie 2020/2021 Teil der Ausstellung Geister, Spuren, Echos: Arbeiten in Schichten an der ADKDW war.

Mehr Liebe fürs Detail, bitte. Anatolpolitan. VATER Ach Tochter, mein Augenlicht. Da wohnt der Kyklop, der Riese mit einem Auge. Meine schöne Tochter, Odysseus hatte gesagt, er hieße ­ Niemand. Das rettete ihn, aber im Vergleich zum geistigen ­Riesenformat des Kyklopen ist er tatsächlich ein Nichts, ein Niemand. Der ­Kyklop ist ein Riese, weil sein Bewusstsein ­riesige Gebiete umfasst. Der Riese lebt in seiner Umgebung, hat Schafe, Lämmer und Ziegen, das ist sein Land. Odysseus ist aber auf seiner Irrfahrt in der Fremde beinahe zu einem Nichts, Niemand geschrumpft. Er will vom Honig und vom Lamm des einäugigen Riesen kosten. Tochter, wenn du in ein f­ remdes Land gehst, und wenn das Land ein einäugiger Riese ist, weil sein Bewusstsein riesige Gebiete umfasst, und jetzt kommst du und willst von seinem Honig und seinen Tieren kosten, wirst du auch zu einem Niemand schrumpfen. MIT DEM HURENZUG NACH EUROPA Perikızı kotzt. Fällt in Ohnmacht. Drei Huren kommen barfuß zu ihr, sie haben ihre Nylonstrümpfe bis unter die Knie gerollt. Emine Sevgi Özdamar

Die Ausstellung als Anatolpolitan an der Akademie der Künste der Welt durchzuführen war auf verschiedenen Ebenen eine besondere Praxis. Besonders, weil das literarische Wirken der mehrsprachigen (türkisch- und kurdischsprachigen) Autor*innen und Akteur*innen, Verleger*innen und Arbeiter*innen und ihrer Kinder aus dem ­Ruhrgebiet im Ruhrgebiet selbst keinen Ort hatte bzw. es bisher nicht möglich war, dieses Thema angemessen in den Orten der ­Literatur zu platzieren. Warum war das so? Zur Zeit der Anfrage aus Köln habe ich mit Akteur*innen aus dem Ruhrgebiet Kontakt ­aufgenommen, um die Literaturkarten zu den Werken von Fakir Baykurt in die laufenden Programme zu integrieren. Ich habe Interviews zum Thema geführt – dank der Vorarbeit der Kolleg*innen Johanna-Yasirra Kluhs und Eva Busch. Als Reaktion auf diese Interviews erhielt ich Glückwunschbekundungen, interessierte Anfragen, aber auch Mails mit Vorwürfen, dass wir „Türk*innen“ und „Migrant*innen“ dankbarer sein sollten, „sie“ täten ja so viel und überhaupt „könne ich ja selbst auch was machen“. Ja, was eigentlich? Selbst machen. Ich solle also die Lehrpläne der Germanistik öffnen für die Geschichten und die Sprachen dieses Landes, die Sammlungen der Archive und die Leitungen in den Kulturund Förderinstitutionen an die Bevölkerungsstruktur und Lebensrealität des Landes anpassen? Und bitte kostengünstig meine Expertise zur Verfügung stellen und sie kuratieren dann und gestalten das Programm den Förder*innen entsprechend. Ich könne das ja nicht wissen, was die Gesamtbevölkerung wünscht und für die Menschen

mit Migrationsdings sei es nicht hilfreich, eine Gruppe (also die ­türkisch- und kurdischsprachige) in den Vordergrund zu stellen. Ich und alle – besonders Frauen, die nicht nur schreiben, sondern solche Institutionen auch führen könnten, sollen also alles nebenbei und unsichtbar machen und vor allem dankbar sein und lernen, den ,anderen Anderen‘ ihren Platz einzuräumen. Was diese Kommentare zu bedeuten haben und ob es einen Zusammenhang gibt, dass immer noch und stets im Ruhrgebiet und in NRW die Kultur und Kulturförderinstitutionen nicht in der Lage sind, die Leitungen und Programmredaktionen mit Menschen aus der mehrsprachigen Bevölkerung zu besetzen, ist nicht klar. Es wird gemunkelt, in NRW gäbe es parteinahen Filz, der die sogenannten Gastarbeiter*innen aus der Türkei und ihre Kindeskinder nicht in der Kultur sieht bzw. ,wir‘ in der freien Szene gebraucht werden. Wir bekommen zwar erst seit einigen Jahren ein paar wenige Euro über Programme, die sich ,interkulturell‘ ­nennen, aber eine gezielte strukturelle Förderung oder Themenschwerpunkte werden nicht gesetzt. Also toxischer Gegenwind und gleichzeitig hohe Nachfrage. „Ja, wo sind sie denn, unsere Türken?“ Diese Frage musste ich mir oft anhören. Besonders in den Städten und Kulturräten des Ruhrgebiets ist es so, dass die Nachfrage nach „einer hochwertigen“ Kultur der „Türken“ stark ist, aber eine ­Differenzierung der Bedürfnisse und der Förderung der Akteur*innen nicht stattfindet. Die oben geschilderte Situation steht eher für eine Endstation der Kulturförderung als für eine Kulturförderung der Einwanderungsgesellschaft. Carolin Emcke macht darauf aufmerksam, dass die Merkmale von unterschiedlichen Lebensformen und kollektiven Identitäten im „Grad der Bewusstheit für die eigene Konstruktionsgeschichte“ verborgen sind und bezeugt, dass sich zum Aspekt des Vergessens marginalisierter Identitätskonstruktionen „niemals (sic) ein – auch nur halbwegs – kohärentes Set an Bedeutungen und Praktiken oder ein historisch-fiktives Narrativ durchsetzen konnte“.1 Bezeugt, weil es tatsächlich Zeug*innen braucht. So wie es Dokumente und ­Notizen und insgesamt Quellenmaterial braucht für eine faktenbasierte Recherche und Analyse. Um Umbrüche und Vorstöße – auch durch Black Lives Matter in Gang gesetzt – in Deutschland zu verstehen, ist es notwendig, dieser Quellensuche Zeit und Ressourcen zu bieten. Mit jeder Nennung der Existenz der türkisch- und kurdischsprachigen Literatur hoffe ich, eine Besserung der sozialen Gerechtigkeit und der individuellen Freiheit mit Veränderungsprozessen in der Wertehierarchie sowie Wertehierarchien implizierenden Bezeichnungen mitgestalten zu können. Dieses ‚darüber reden‘ ist bereits ein ‚In-Gang-Setzen‘ der Idee der sozialen und humanen Gerechtigkeit und ist an die Implementierung neuer Bezeichnungen und insbesondere an die Aufwertung bestehender Identitätsordnungen und ihrer Bezeichnungen gekoppelt. Also: Wer hat über wen geschrieben und was davon ist in den Köpfen und Herzen der Menschen geblieben? Ich habe während

© Anatolpolitan

Text: Nesrin Tanç


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