38 Members’ Corner
CC: Die Mitglieder der Akademie der Künste der Welt – nationale und internationale Künstler*innen, Kurator*innen, Autor*innen und Kulturwissenschaftler*innen – fungieren als Think-Tank und geben den Orientierungsrahmen für das künstlerische Programm der ADKDW vor. Im Members’ Corner gibt je ein Mitglied Einblick in ihre*seine aktuelle Arbeit: dieses Mal Olivier Marboeuf, Autor, Kritiker und unabhängiger Kurator. Von 2004 bis zur Schließung 2018 war er Direktor des Espace Khiasma, einem Kunstzentrum für Produktion und Ausstellung von Videos und Filmen in Les Lilas, Frankreich.
Plädoyer für eine Ästhetik der Störung: Anmerkungen zu künstlerischen Formen der Emanzipation Text: Olivier Marboeuf Übersetzung: Good&Cheap Translators
Worte des Erzählers: Da ist eine Welt, die zu sprechen beginnt. Hörst du sie? Das erste Sprechen ist lärmend, etwas ungeordnet. Man mahnt sie zur Ordnung. Man beschneidet das besondere Material ihrer kehlig-gutturalen Stimme. Es stimmt, dass sie sich in einem Ausbruch entlädt, nachdem sie zu lange zurückgehalten wurde. Man will wis sen, was das ist. Das Knacken eines Astes, der Schrei eines Vogels, das Seufzen von Pilzen? Man erinnert sie an den Kanon, die Kanäle, die Regeln einer Sprache, die nicht die ihre ist. Man stutzt sich das Chaotische zurecht, damit es mit den feinsinnigsten Philosophien an einem Tisch sitzen darf. Man macht daraus ein wohl gesetztes und glänzendes Spektakel. Denn was könnte die Schwarze Stimme anderes sein als ein strahlend leuchtendes Ding, das not wendigerweise ,amazing‘ ist, ,eine Neuheit‘, bekannt und elegant, ohne schmutziges Gesicht und ohne Lärm? Ohne jedes Wort, das fehl am Platz wäre. Und doch ist das Lärmende ein Wissen, eine besondere Form von Wissen, ein Raum, in dem sich Geschichten kreuz und quer anhäufen. So wissen es manche, und so spre chen sie. Und sie lernen in diesem Gewirr und Getöse, was sie bereits wissen, was sie auf eine andere Weise spüren, die sich lange still verhielt. Nun aber tut sie es nicht mehr.
In diesem Jahr der Pandemie begegnete ich bei verschiedenen Gelegenheiten – auf Zoom und manchmal auch persönlich – rassifizierten Künstler*innen und Student*innen, die aus der Diaspora stammen und in Europa oder in den Vereinigten Staaten leben. Es war eine sehr wertvolle Erfahrung für mich, die in gewisser Weise von einem Zustand der Verwirrung geprägt war. Ich halte es für notwendig, auf ihn hinzuweisen, und möchte den Versuch unternehmen, ihm nach zuspüren. Denn bei diesem emotionalen Zustand könnte es sich um eine der ästhetischen Formen handeln, die in einem historischen Augenblick zutage treten, wenn sich bestimmte Stimmen laut stark Gehör verschaffen oder bestimmte uner wünschte Bilder einen Ort finden, um unerwartet hochzukommen. Um diesen Gedankengang weiterzuverfolgen, müssen wir zunächst den Begriff ‚Verwirrung‘ von dem lösen, was er Abwertendes in sich trägt, ihn anders auffassen. Denn diese Verwirrung, die ich auch ‚Störung‘ nenne, versucht hier, eine Gesamtheit von Sprech- und Handlungsweisen, Seh- und Fühlweisen zu beschreiben. Ausgehend von einem Körper, der sich dem modernen Erbe der Vernunft widersetzt und somit auch der Vorstellung eines klaren und aufgeklärten, sich präzise aus drückenden Geistes, wie er eine würdige Menschheit auszeichnen sollte, die sich über das Dunkel in der Welt zu erheben vermag. Im Gegensatz zu diesem
modernen Körper, der sich von einer radikalen Trennung her von dem, was er nicht ist, denkt – sei es über eine Distanzierung von der ihn umgebenden Welt, über die Durchsetzung seiner Erzählmuster oder den Einsatz einer biopolitischen Polizei an seinen physischen Grenzen –, möchte ich den Blick darauf lenken, was diese Verwirrung, diese Störung, über einen anderen Körper erzählt, geformt von einer gesteigerten Aufmerksamkeit, einer radikalen Gastlichkeit, die er sich auferlegt hat, den Erzählungen mehrerer Welten – menschlicher ebenso wie nicht-menschlicher – entgegenzubringen. Einen Körper, der somit auch zwanghaften und mit aller Wucht auftretenden Intrusionen ausgesetzt ist, die ihn zu einem authentischen postkolonialen Material verschmelzen, bis an die Schwelle zum Wahnsinn. Einen Körper, der sich daraufhin der Kräfte der Raserei bemächtigt, sich für Halluzi nationen öffnet, um eine Welt zu erfinden und den giftigen Ufern der Vernunft zu entfliehen, hin zu einem Zustand der Verwirrung als künftiges Land, als erträgliches Leben. Mit dem hier eingeführten Begriff der ‚Störung‘ möchte ich mehrere Aspekte der stimmgewaltigen Intrusion ausdrücken, die mich interessiert. Auf einer ersten Ebene zeigt uns das Wort eine ver schlungene Welt auf, die die Beziehungen der Menschen untereinander ebenso wie die zwischen dem Menschen und nicht-menschlichen Existenzen in neue Vorstellungen fasst. In dem Wort ‚Störung‘
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ist aber auch der Gedanke des Verstört-Seins ent halten, als ein emotionaler Zustand, auf dessen Ursprung und besondere Natur ich später noch ein gehen werde. Und schließlich bezeichnet der Begriff auch das, was stört (,trouble-making‘), und entfaltet hier seinen ganzen Reiz. Diesem Gedankengang möchte ich weiter folgen, um zu verstehen, wie eine bestimmte verschlungene Welt verworrene Aus drücke hervorbringt und diese wiederum Körper, die stören und mitunter die ‚Stimmung trüben‘. Dies steht der coolen Vorstellung einer Kreolisie rung entgegen und greift wohl eher auf das Getöse der Chaos-Welt zurück, von dem Édouard Glissant sprach und das sich in den philosophischen Salons von heute zu einer süßen Konsensmusik gewandelt zu haben scheint. Der afroamerikanische Soziologe W. E. B. Du Bois führte 1903 in seinem berühmten Buch Die Seelen der Schwarzen den Begriff eines doppelten Bewusst seins ein, um so das besondere Selbstverständnis der aus der transatlantischen Sklaverei hervor gegangenen Schwarzen Diaspora zu beschreiben: nämlich das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zu Nationalstaaten ebenso wie zu afrikanischen Welten. Afrikanischen Welten, die wiederum durch eine Reihe radikaler, von der kolonialen Moderne verordneter Brüche zersplittert waren, weit entfernt, geisterhaft und teilweise verboten. Dieses doppelte Bewusstsein hat sich in fast 120 Jahren, so scheint mir, zu einem multiplen Bewusstsein weiter entwickelt und wird zusätzlich noch durch das Aufkommen des digitalen Zeitalters gespalten, das eine*n jede*n mit multiplen und fernen Reali täten in Verbindung setzt. Hieraus ergibt sich eine psychische Anspannung, die bis an die Grenze des Erträglichen geht. Um noch einmal auf die Künstler*innen der afrikanischen und afrokaribischen Diaspora zurückzukommen, denen ich in diesem Jahr der Gesundheitskrise überwiegend begegnet bin: Ich konnte spüren, wie sehr sie von einer wider sprüchlichen Spannung zerrissen waren von der Notwendigkeit, den Bruch in der Weitergabe ihrer Geschichte zu schließen und zugleich auf immer drängendere Forderungen reagieren zu müssen, ebendiese bruchstückhafte Geschichte der west lichen Kunstszene zu präsentieren. Denn es sei darauf hingewiesen, dass diese Künstler*innen ein zunehmend geschärftes Gespür dafür besitzen, was von ihnen erwartet wird. Sie haben ein fein aus gebildetes Sensorium für ihnen entgegenkommende ästhetische Dispositive entwickelt, mit denen sie arbeiten können und die nach ihren Worten, ihren Bildern und ihren Körpern verlangen. Dies ist die Folge einer erzwungenen Aufmerksamkeit für die Wünsche der Herrschenden, die sich zu einem Geschick der Antizipation gewandelt hat. Hierin simuliert sich eher eine Situation echter Gleichheit, als dass diese tatsächlich bestünde, und sie zeugt vor allem von einem Wissen darum, wie man sich den Gefahren des Todes entzieht:
das tut, was von einem erwartet wird, um am Leben zu bleiben, um sich zu schützen. Noch ist dies aber keine Situation, in der es möglich ist, mit eigenen Worten zu sprechen. Eine Situation, von der wir annehmen, dass sie sich nur in Lärm, Wut und Verwirrung herbeiführen lässt. In störender, unruhiger Weise also. Dieses Stimmengewirr und das gesättigte Bild – zusammengesetzt aus akku mulierten Schichten von Sichtweisen – zeichnen die Emanzipation aus. So sieht ein Wort aus, das nach langem Schweigen fällt, das spricht und nicht zustimmt. Der diasporische Körper ist ein solcher Raum der Akkumulation, gefangen zwischen zwei Welten, und was er in der Gegenwart sehr genau auszu drücken vermag, ist dieser Zustand der Verwirrung, der Überlagerung, des Getöses und der Unordnung. Denn was zum Schweigen gebracht wurde, kann nicht in aller Gelassenheit hervortreten. Geschich ten, Wissensformen und Stimmen steigen in diesem Körper auf und wählen ihren Weg, ergreifen über raschend Besitz von ihm, bewohnen ihn und ver stören ihn ‚bis an die Grenzen der Vernunft‘. Erfüllt von dieser Wut, von so vielen Dingen gleichzeitig sprechen zu müssen, von diesem Übermaß, das sich nicht zum bloßen Vergnügen eines Auges, das nun danach verlangt, entladen kann, bewegt sich der diasporische Körper auf einem Grat der Erschöpfung. Und er wird lernen müssen, zu über leben, tief durchzuatmen, im intensiven Bewusstsein dessen, was hier, auf den Bühnen des Westens, zu sagen und zu tun ist, und gleichzeitig steht er dort in der Verantwortung, sich für den lebendigen Strom jener zu öffnen, die bisher nicht sprechen konnten, für den Strom all der Toten, denen das Wort verweigert und jede Möglichkeit eines lebendigen Weitergebens genommen wurde, die zu einem negativen, gegen sich selbst gerichteten Leben ver urteilt waren. Während das politische Umfeld des globalen Nordens heute oszilliert zwischen den Forderungen nach einer Zwangsintegration – in Fortführung eines Bruches mit dem ‚dort drüben‘ – und nach einer Selbstexotisierung – als Weigerung, ‚hier‘ weiter in einem Zustand der Verwirrung zu ver bleiben –, zeugt die Ästhetik der Unruhe und Störung von einer wichtigen Übergangsphase für einen Teil der Menschheit. Diese Dynamik darf nicht mit einer abstrakten Kreolisierung verwechselt werden – denn sie vollzieht sich in einzelnen, von geisterhaften, aber auch heiteren Geschichten durchdrungenen Körpern, und in ihr kommt ein innerer Aufruhr zum Ausdruck, der bisweilen ungeheuerliche Formen annimmt. Was der diasporische Körper so schmerzhaft in sich vereint, ist eine Folge dessen, dass er am Sprechen, am Projizieren nach außen gehindert wurde. Er kündet vom langen Entzug der Fähigkeit, die Welt aus eigenem Empfinden und aus seinen besonderen Wissensformen heraus zu gestalten. Er vermittelt lautstark die Problematik, als ein zwei fach verfügbarer Körper zu leben: verfügbar für
gewalttätige oder begehrende Projektionen, für Diskurse und Wissensweisen des Westens ebenso wie für die unaufhaltsame Wiederkehr nicht ausgesprochener Geschichten, für die er in dringender Verantwortung steht. Er ist somit das herzzerreißende Theater der Verwirrung, der unruhige Hallraum, der fiebrige Erzähler eines ungeordneten Selbst. Als ich hörte, was die Menschen berichteten, denen ich während des pandemischen Winters in der seltsamen, schwebenden Welt der Monitore begegnete, als ich ihre visuellen, choreografischen, textuellen und oralen Arbeiten untersuchte und besprach, erkannte ich die Notwendigkeit, neue Formen der Akzeptanz für diese verwirrten Körper und bisweilen verworrenen Worte zu finden. Dass es nicht nur darum geht, sich ihrer annehmen zu wollen, ihnen dabei zu helfen, ‚ihre Gedanken zu klären‘, sondern vielmehr darum, das ungeheuer liche Land anzunehmen, auf das sie am Horizont verweisen, ein Land, für das wir noch keine Worte haben und in dem Geschichten unvermittelt her vordrängen. Wir müssen nun lernen, das Getöse zu hören, mit dem zerbricht, was diese Geschichten unter Schloss und Riegel gehalten hat, wir müssen lernen, die Unordnung dessen anzunehmen, was sich vom Schweigen emanzipiert und uns aufruft, sich dem Abenteuer des Lebendigen anzuschließen.