ZWÖLF #35

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März / April 2013

presse-ball beni & Reif  |  der «sport»  | fussball & radio túlio | die alpenliga | englische grätschen


(bwin inserat)

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singt mit ZWÖLF

G

ewisse Dinge schiebt man ja immer so vor sich her. Weil man sich gerade nicht drum kümmern will, weil man nicht dazu kommt oder weil man zuvor noch etwas anderes machen will. Die Idee, eine ZWÖLF-Medienausgabe zu machen, ist so ein Fall. Als dieser Vorschlag ein erstes Mal aufkam, kannten wir einen beachtlichen Teil unserer Leser noch persönlich und graue Haare nur vom Hörensagen. Erst sollte die Ausgabe 8 diesen Schwerpunkt haben, dann die 12, später die 20 … Mittlerweile sind wir – doch schon leicht angegraut – bei Nummer 35 angelangt. Die Liste der Themen, die wir behandeln wollten, ist in dieser Zeit länger geworden als diejenige der Vereine von Ex-Sion-Wanderarbeiter Túlio, aber: Wir haben es geschafft! Und deshalb blicken wir – bevor wir unser Augenmerk wieder auf die gebräunt aus der Winterpause zurückgekehrten Fussballprofis richten – in diesem Heft auf unsere Kollegen aus Print, Radio und Fernsehen und auf das, was sie mit unserem Lieblingssport anstellen. Wir trafen uns etwa beim überaus freundlichen Wladimir im Restaurant Hardhof in Zürich zu Interview und Suppe mit denjenigen beiden Herren, die wohl jeder unserer Leser mit unzähligen schönen Fussballerinnerungen verbindet: Marcel Reif und Beni Thurnheer. «Nie hätte ein zweiter Bregy dem Spiel so gutgetan», sozusagen. Erstaunlicherweise kamen wir zwischendurch auch mal zu Wort, obwohl das Gespräch von Lars Ricken über Ruedi Walter bis zu Immanuel Kant sprang. Springen musste übrigens auch der geschätzte ZWÖLF-Autor Lerch, der schmerzlich lernen musste, dass es in Zürich zwei Restaurants gleichen Namens gibt und sich auf einem verwaisten Sportplatz wiederfand. Weniger als von der reifen Kommentatorengilde erfährt man jeweils von den noch aktiven Spielern. Wir kennen die Phrasen vom «nächsten wichtigen Match» und der «tollen Mannschaftsleistung» aus den Après-Spiel-Intis zur Genüge. Nun wollten wir endlich mal wissen, welchen Lehrer die Profis haben, und stiessen dabei auf erstaunliche Verbindungen. Nicht ganz so geheim war die Verbandelung zwischen unserem ehemaligen Nationaltrainer Paul Wolfisberg und dem «Blick», der in den 1980erJahren keinen unwesentlichen Anteil daran hatte, dass der Bärtige zur Ikone wurde. Und weil wir schon mal im Archiv des Boulevardblatts waren, haben wir gleich noch die unvergesslichsten Kampagnen in dessen Geschichte durchgewühlt, bis unser Schnauzer nahezu portugiesische Ausmasse erreichte. Im gleichen Gebäude wie die «Blick»-Redaktion war übrigens auch mal diejenige des «Sports» untergebracht. Der ist schuld daran, dass dringend benötigter Speicherplatz in unserem Hirn immer noch mit völlig unsinnigen Resultaten und Mannschaftsaufstellungen aus grauer Vorzeit zugemüllt ist. Über den traurigen Untergang der Zeitung erzählt hier ein ehemaliger Redaktor. Lange sah es so aus, als würde der Fussball im Radio vollends von der Musik verdrängt werden. Doch in jüngster Zeit erlebt er dort dank innovativen Fans eine kaum für möglich gehaltene Wiederauferstehung. Als Ausgleich dafür bringen wir dafür in dieses Heft etwas Musik rein. Also bitte umblättern und einstimmen in den «Sportpanorama»-Chor! Immer voll im Takt Euer ZWÖLF

Cover: Pixathlon


Einlaufen 6

Planet Constantin: Der Walliser Sonnenkönig im O-Ton

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Wie gesagt, äh…: Fussballer reden

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Das Billett: Zittern im Espenmoos

7

Die Tabelle: Die Rückrundenkönige

8

Die Liste: Unvergessene «Blick»-Kampagnen

Rubriken 49

Hängen. 50

13

Der Cartoon: Remis bei Rangelov

14

Barbesuch: «Cim Bom Bom» in Zürich

Schweizerreise: Als sich Sandoz, Geigy und der Bankverein auf dem Fussballfeld duellierten

56

Auslandschweizer: Der Basler Mihael Kovacevic ist in den schottischen Highlands aktiv

10 Auswärtsfahrt: Frühstück in Devon 12 Turnier-Irrsinn: Pazifische Abenteuer

Das schwarze Brett: Zum Schauen, Lesen und

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Was wäre, wenn...: ...tatsächlich die Alpenliga eingeführt worden wäre

60

NLA-Legende: Aus Sion-Fehltransfer Túlio wurde später ein nomadischer Tausendsassa

64

Unser Mann in London: Peter Balzli über britische Grätschen

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Aus dem Newsroom

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Smalltalk und Impressum


18 «True legends never die» Die Kommentatoren-Grössen Marcel Reif und Beni Thurnheer im Gespräch 28 Schulung am Mikrofon Wenn Interviewer ihre Gegenüber unterrichten 30 Der Wolf und der «Blick» Rückblick auf eine unheilige Allianz 34 Drei Jahrzehnte Effretikon Heinz Minder berichtet seit einer halben Ewigkeit über die Amateure des Dorfklubs 38 Fussballer zum Diktat Jedem Kickerchen sein Kolümnchen Diese ZWÖLF-Ausgabe mit dem Schwerpunkt «Fussball und Medien» singen ein: Die ehrenwerten Herren des «Sportpanorama» im Jahre 1986. Von links: Heinz Pütz, Beni Thurnheer, Martin Masafret, Jan Hiermeyer.

40 Das Wort zum Tor Der Fussball im Radio erlebt ein kleines Revival 46 Der «Sport»: Ein Nachruf Ein ehemaliger Redaktor erinnert an den Niedergang des Qualitätsblatts


Planet Constantin «In der Schweiz sind wir halt Gartenzwerge. David aber ist ein Junge für die Städte und städtischen Gebiete.» Too much Folklore im Wallis: Laut Constantin der einzige Grund, weshalb David Beckham doch nicht zum FC Sion kam.

«Er kannte schon Verbier.» Es hätte laut Christian Constantin also ein echtes Killer-Argument gegeben für den Wechsel von Becks in die Walliser Berge.

«Wenn Gott mich gesund sein lässt, kümmere ich mich um den Rest.» Will wohl heissen: um den Rest der Welt. CC in «Le Matin» auf die Frage nach seinen Vorsätzen für 2013.

«Er begleitet mich, um einen Film zu machen: eine Art Biografie zwischen Dokumentation und Fiktion.» Die Fiktion: Sion holt einen Trainer auf Lebzeiten. Blockbuster-Kandidat CC erklärt im «Nouvelliste», weshalb ihm während der Rückrunden-Vorbereitung dauernd ein Kameramann über die Schultern schaute.

«Wir haben französisch gesprochen. Und ich gehe jetzt mal davon aus, dass wir uns auch verstanden haben.» Und wenn nicht: entlassen wegen Sprachproblemen. Constantin über die Art der Verständigung mit dem spanischen Trainer Victor Muñoz.

«Es nützt nichts, einen Einäugigen durch einen Blinden zu ersetzen.» CC erinnert daran, weshalb er sich bei einem Trainerwechsel laut eigenen Angaben immer so viel Zeit lässt.

«Bei einem Umsatz von 1,5 Millionen Franken bleiben mir 800 000 bis 900 000 Franken Nettogewinn.» CC sollte einfach mehr in Sauerkraut investieren. Das wirft wenigstens garantiert Gewinn ab. Constantin über die Bilanz des jährlichen SauerkrautSupporter-Anlasses in Sion – eines Top-Events im Walliser Gesellschaftsleben.

«Wir haben ihm eine Schnellausbildung verpasst, sodass er nach Rom gehen konnte.» Constantin erklärt, wie Barragetrainer Vladimir Petkovic in Sion in wenigen Tagen Serie-A-reif gemacht wurde.

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wie gesagt, äh . . . Nach dem Interview von Xherdan Shaqiri mit der «NZZ am Sonntag» wissen wir: Aus dem Kraftwürfel wird wohl doch nicht der nächste Immanuel Kant. Auf die Feststellung der Zeitung, es sehe aus, als würde er sich wie selbstverständlich in die neue Mannschaft integrieren, ohne sich gross Gedanken zu machen, erwiderte der Nationalspieler: «Ich mache mir grundsätzlich nicht viele Gedanken.» Der geborene Fussballer eben. Zu Höherem berufen fühlt sich FIFA-Präsident Sepp Blatter. Der 76-Jährige will später als TV-Experte oder -Kommentator arbeiten: «Ich würde aber nicht die Spielzüge kommentieren, das kann jeder am TV sehen, sondern meine Kommentare zu Taktik und Technik abgeben.» Gewünschte Urteile des rüstigen Rentners können jeweils in Couverts bis eine halbe Stunde vor Spielbeginn auf der Medientribüne abgegeben werden. Fachmännische Urteile fällt auch Luzern-Trainer Ryszard Komornicki in der «Neuen Luzerner Zeitung»: «Der Fussball von Barça langweilt mich.» Genau darum lässt er die Zentralschweizer das viel komplexere Tiki-Taka-Koko spielen. Die Folge: «Pep Guardiola würde mit meiner Mannschaft nach drei Tagen den Bettel hinwerfen.» Der kommende Bayern-Trainer wäre halt schlicht überfordert auf diesem Level. Keine atmosphärischen Störungen lässt dafür der andere grosse FCB zu – dank ausgeklügelter Transferpolitik. Wie sagte doch Zen-Buddhist Raúl Bobadilla über den anderen ren«ommmm»ierten Neuzugang Serey Die: «Ich bin froh, dass er nicht mein Gegenspieler ist.»

Raue Sitten herrschen dagegen bei GC. Es war eigentlich nur ein simples Trainingsmätschli zum Auftakt in Niederhasli, doch Uli Forte tobte: «So könnt ihr in der Badi kicken. Ferien-Chip raus, Arbeits-Chip rein!» Den Arbeits-Chip hat auch der mittlerweile 39-jährige Franco di Jorio drin. Er ist heute als Spielervermittler tätig – und lässt kein gutes Wort an seinem neuem Job. Etwa im Gespräch mit der «Zürichsee-Zeitung», das vom Interview zum Di-Jorio-Monolog wurde. Zuletzt empfahl Di Jorio dem Journalisten: «Schreib nur ein Drittel von dem, was ich dir erzählt habe.» Einen Spieler vom Kaliber David Beckhams sucht man in Di Jorios Portfolio vergeblich. Um dessen Dienste bemühten sich unzählige Vereine. Selbst der norwegische 8.-Ligist Ørn Kristiania aus dem Städtchen Horten wandte sich in einem Brief an Beckhams Agenten und bekräftigte, für den Flankengott gelte die Regel, dass die Spieler in Horten aufgewachsen sein müssen, selbstredend nicht. Darüber hinaus offerierte der Verein im Falle eines Transfers «eine Ørn-Kristiania-Sporttasche, einen Ørn-KristianiaAnsteckbutton sowie eine vergünstige Mitgliedschaft von nur 2500 Kronen (rund 420 Franken)». Der Blonde schlug dieses Angebot unverständlicherweise aus und läuft nun für PSG auf.


das billeTt Wie gewohnt waren in der Transferperiode auch die englischen Vereine besonders fleissig. Doch nicht alle Klubs verfielen der Shopping-Wut. Deshalb machte dieses Jahr folgender Spruch die Runde: «Today is transfer deadline day. Or as Arsenal fans call it: Thursday.» Andere bemühten sich intensiver um einen Transfer, etwa West Bromwichs nigerianischer Flügel Peter Odemwingie. Er reichte bei den Vereinsbossen ein Transferbegehren ein und wollte zu den Queens Park Rangers wechseln, was an aus seiner Sicht überrissenen Ablöseforderungen scheiterte. Im Zorn zog Odemwingie via Twitter über die Vereinsführung her und klagte sie an, «mir in die Taschen zu greifen». Am letzten Tag der Transferperiode verabschiedete er sich ohne Freigabe von Staff und Mitspielern und fuhr zum Trainingsgelände von QPR, wo ihm allerdings vor laufenden Kameras kein Einlass gewährt wurde. Keine zwei Stunden später war der Wikipedia-Eintrag des 31-Jährigen schon aktualisiert: «Peter Osaze Odemwingie (born 15 July 1981) is a footballer and a complete Moron.» Und mit dieser schmeichelhaften Bezeichnung ist nicht der gleichnamige Bergrücken mit Aussichtsturm im Schweizer Jura gemeint. Ausser in England wird im Winter bekanntlich nirgends Fussball gespielt. Jedenfalls nicht richtig, will man Mätschli gegen türkische Viertligisten nicht ernsthaft in diese Wertung einbeziehen. Zum Glück gibts da für den «Blick», der täglich ganz nah dabei sein will, die sagenumwobenen Trainingslager. Hier eine Auswahl der knackigsten «Breaking News»: Der Titel:

Der Titel:

FCZ – vom Winde verweht. Präsi Canepa reist aus Trainingslager ab.

Da staunt Da Costa: Freakshow im FCZ-Camp!

Die Geschichte: Es windete während des Trainingsspiels.

Die Geschichte: Mitten während des Kurz-Inti des «Blicks» mit Goalie Da Costa liefen zwei Verkleidete vorbei.

Der Titel:

Der Titel:

Thun-Krach bei Abreise: Mannschaftsbus crasht Auto. Die Geschichte: Der Car touchierte ein parkiertes Auto. Der Titel:

«Today is my birthday»: Kellner Bauer verschenkt Kuchen. Die Geschichte: GC-Akteur Moritz Bauer hatte im Trainingslager Geburtstag und verteilte Hotelgästen Schokoladekuchen. Der Titel:

Hai-Alarm im GC-Camp! Keeper Bürki: «Ich will da runter!» Die Geschichte: Das Team ging tauchen.

FCL: Kleine und grosse Missgeschicke. Die Geschichte: Luzern hatte vor dem ersten Testspiel gegen Cluj die Taktiktafel vergessen. Der Titel:

Traurige Überraschung im GC-Camp Die Geschichte: Frank Feltscher joggte am Strand an einer toten Robbe vorbei. Und zum Schluss die «Blick»-Breaking-News aus dem Sion-Camp:

Vanczak und Vanins baden im Hotelteich

Text: Pascal Claude

FC St. Gallen - FC Wil 1:2 Stadion Espenmoos 4. März 2004 Es war ein Abend, an dem sich das alte Espenmoos von seiner allerhärtesten Seite zeigte. Regen fiel vom Himmel, es zog durch jedes Stahlrohr, und im Matsch hinter den Tribünen hätten sie Freilandschweine halten können. Im ersten Cup-Heimspiel seit sechs Jahren wollten sich die Platzherren keine Blösse geben und im Windschatten des vorabendlichen, beispiellosen Zürcher Derby-Halbfinals ohne viel Aufhebens den Final erreichen. Es kam natürlich anders. Die St. Galler veloren das Spiel und Menschen aus der Mitte der Gesellschaft die Fassung. Unschuldige Getränkeverkäufer wurden angebrüllt, Harassen umgetreten, Tod und Verderben herbeigesehnt. Ein paar Wochen später gewann Wil auch den Final.

Die Tabelle Rang

Klub

ZWÖLF präsentiert den Tabellenstand der Super League. % PUNKTE

1. 2.

Lausanne FC Zürich

63,33 51,72

3.

FC Thun

51,47

4.

Young Boys

51,25

5.

FC Basel

50,14

6.

FC St.Gallen

50,13

7.

GCZ

49,78

8. 9. 10.

FC Luzern FC Sion* Servette FC

48,89 47,90 45,19

Diesmal: die RückrundenKönige der Liga. In der Winterpause ändert sich einiges. Die Tabelle gibt Aufschluss darüber, welche Vereine seit 2003 prozentual die meisten ihrer Punkte in der Rückrunde holten.

* ohne Punktabzüge 2011/12

7


Die Liste

SCHMUTZIGE SEITEN Angeschnauzt Als Artur Jorge im Mai 1996 bekannt gibt, für die anstehende EM auf Adrian Knup und Alain Sutter zu verzichten, passiert etwas, was in der Schweiz eigentlich nie passiert, wenn es um Sport geht: Die Volksseele kocht. Der «Blick» ist natürlich

lich ausschlachtete. Beigefügt war der «Saga» zudem ein Talon mit dem Titel «FussballFans, wehrt Euch!»; die empörte Nati-Anhänger brauchten bloss noch ihr Kreuzchen zu machen neben dem Satz «Ich protestiere gegen den Rauswurf von Knup und Sutter». Trotzdem und trotz folgenden Schlagzeilen wie «Er muss weg!» und «Wahnsinn!» liess sich der Schnauz nicht rasieren. Jorge blieb für die EM im Amt und sogar noch kurz darüber hinaus – was den «Blick» dann nur noch mit «Hoppla Jorge» zu kommentieren wusste.

Sie thun es

prompt zur Stelle und befeuert den kollektiven Zorn noch mit den passenden und bisweilen auch recht unpassenden Worten: «Jetzt spinnt er!», titelt das Revolverblatt am 29. Mai. Es ist der Start zu einer Hetzkampagne, wie man sie hierzulande noch kaum je erlebt hat. Die NZZ fragte im Nachgang gar, ob nicht «auch rechtliche Grenzen überschritten» worden seien. In der Tat war es Mobbing reinsten Wassers, was der «Blick» mit dem portugiesischen Intellektuellen betrieb: Am Tag nach dem sicherlich unsinnigen Entscheid lancierte er die «Jorge-Saga», in der sämtliche früheren Misserfolge des Nati-Trainers genüss-

8

«Alle wussten alles!», so der anonyme Informant im November 2007. Alle wussten, dass ein 15-jähriges Mädchen von der halben A-Mannschaft des FC Thun «seit 10 Monaten immer wieder missbraucht» wurde, dass sie sich beim Sex mit dem Handy filmten, dass das Mädchen unter den Spielern «für 100 Franken weitergereicht» wurde. Eine Woche standen sämtliche Thun-Profis

für den «Blick» nicht nur unter Verdacht, die Geständnisse sollten bloss noch Formsache sein. Schliesslich sahen selbst die Nachbarn «sehr junge Mädchen» im Treppenhaus eines Thun-Spielers. Der Verein gab zwar bald eine Liste der Unschuldigen heraus, der «Blick» konterte aber mit unzensierten Porträtbildern der Übrigen mit sinnigerweise anonymisierten Namen wie «Marco H.». Die Untersuchungen zogen sich dahin, die Anschuldigungen wurden immer weniger, und als im Juli 2008 wenigstens «Kind mit Wodka abgefüllt und missbraucht» getitelt werden konnte, betrafen die Urteile gerade mal zwei U21-Spieler, die mit der damals 15,5 Jahre alten Schülerin geschlafen hatten. Sie kamen mit Geldstrafen davon.

posse mit parfüm «Haha! GC wurde zur Lachnummer», jubilierte der «Blick», nachdem der angeblich schwerreiche Hochstapler Volker Eckel aufgeflogen war. Der 300-Millionen-Franken-Deal kam nie zustande. «GC, dümmer gehts nicht.» Aber wie lief die Geschichte nochmals? Mittelsleute aus dem Umfeld von Eckel meldeten sich bei der Sportredaktion des «Blicks» und luden einen Reporter dazu ein, bei der Vertragsunterzeichnung mit GC am kommenden Tag undercover dabei zu sein – gegen ein vertraglich zugesichertes Wochenende in den Bergen, einen Blumenstrauss und ein Parfüm. Der

«Blick» sagt zu, und tatsächlich sitzt ein Reporter mit am Tisch, als Heinz Spross und Erich Vogel den Vertrag mit dem «Investor» signieren. Dem gefällt die Kooperation mit dem Blatt und plant für den nächsten Abend gleich den nächsten Streich: Die Limousine von Eckel soll von einem Fotografen gestoppt werden, worauf dieser aussteigen und den Geheimvertrag präsentieren werde. Das ging dann selbst dem «Blick» zu weit. Als die Posse am folgenden Tag aufflog, lachte der «Blick» am lautesten über die Geschichte mit GC und dem Hochstapler, auf den er selber reingefallen war. Roger Berbig war fassungslos: «Sie können mir das als Naivität auslegen, aber ich hätte nie, nie gedacht, dass in der Schweiz journalistisch mit solchen Methoden gearbeitet wird.»

«Blick» am Grill Als «Köbi national» feierte der «Blick» Nati-Trainer Kuhn für die EM-Quali 2004 und das Erreichen der Achtelfinals an der WM 2006. Doch man fällt schnell in der Gunst der Redaktoren an der Zürcher Dufourstrasse. Ein verlorenes Testspiel vor der Heim-EM gegen Titelaspirant Deutschland (0:4) reichte für einen sofortigen Sympathieentzug. Aus «Köbi national» wurde «Köbi, du Wurst!», und das Blatt wusste auch, was nicht stimmt: «Falsches System. Kein Chef. Köbi nur noch hilflos.» Das Resultat: Die Nati sei ein


Rubrik

Immer hart am Mann: unvergessene «Blick»-Kampagnen mit Schnurrbart, Wurst und Mittelfinger.

«Trümmerhaufen», die Spieler «ein aufgescheuchter Hühnerhaufen» und der Zustand der Mannschaft sowieso «desolat». Natürlich weiss der «Blick» auch gleich, wie es klappen würde. Mit einem «anderen» System, Patrick Müller brauche eine Wunderheilung von seinem Kreuzband­riss, und Frei solle in Form kommen. Geht doch.

sie vergessen nie «So sollte geschröpft werden», titelte der «Blick» am 18. Dezember 2002 über die zwielichtige YB-Affäre, die wenige Tage später im Rücktritt von Präsident Heinz Fischer und Sportchef Fredy Bickel gipfeln sollte. Schon zuvor hatte der «Blick» aus allen Rohren geschossen: Unter Berufung auf YB-Verwaltungsrat Peter Jauch hatte er über einen angeblich «fahrlässig vereitelten» Millionendeal mit den an Johan Vonlanthen interessierten Bayern und Bickels dreieinhalbstündiges Verhör bei der Kantonspolizei gepoltert. Für YB war die Sache zehn Jahre später vergessen – nicht so für den «Blick». Als Bickel unlängst

seine zweite Dienstzeit in Bern antrat, holte man die alten Geschichten hervor. Mit täglich neuen Details dazu kratzte man hartnäckig am Image des alten neuen Sportchefs. Das wiederum liess man sich bei YB nicht bieten und verbot den Spielern jeglichen Kontakt zu «Blick»-Reportern. Rigoros zog man die Sache dann durch – bis an die Grenzen zum Grotesken. So durfte Scott Sutter im Trainingslager dem verdutzten Ringier-Mann nicht einmal seine Golftricks vorführen.

Klappe, Zubi! Die Szene war in der Tat pure Comedy. Im WM-Qualispiel 2005 auf Zypern wurde Pascal Zuberbühler von einem Ball aus 80 Meter überrascht, der ihn trotz seiner 1,97 Meter nach dem Aufspringen übersprang, und der «Blick» hatte fast zehn Jahre nach der «Flopolo»-Kampagne wieder Stoff für ein Goalie-Bashing. Den Sieg auf der Insel feierte die Zeitung mit dem Titel: «Schweiz - Zubi 3:1» und vermerkte bei den Spielernoten: «Aus Rücksicht auf Zubis an-

geschlagene Psyche keine Note». Weil sich der Frauenfelder gegen die Anfeindungen wehrte («Der Goalie fühlte sich als Mensch verletzt, drohte zwei Blick-Reportern und verschickte üble SMS»), kriegte er am Folgetag – «noch immer mit zittrigen Fingern», wie das Blatt wusste – gleich nochmals auf den Deckel. «Klappe zu und Bälle halten!», riet man dem Keeper. Denn: «Zubi schob die Schuld an seinem Mega-Flop den Medien im Allgemeinen und dem ‹Blick› im Speziellen in die Schuhe.» Ganz sicher, dass man den Machtkampf gewonnen hatte, war man derweil erst, als man die Titelseite des Sportteils nochmals mit Einzelbildern des Zubi-Missgeschicks übersäte und forderte: «Solche Bilder wollen wir nie mehr sehen!»

Fingerspiele Der Fotograf war im entscheidenden Moment parat. In der Cup-Partie Baden - YB im November 2009 reagierte Schiedsrichter Busacca auf die Schmährufe der Gästefans mit erhobenem Mittelfinger, und die Schweiz hatte ihren «Stinkefinger-Skandal!» («SonntagsBlick»): «Mit Verlaub, Herr Referee: Das was bu-sackschwach!» Und Walter De Gregorio trat nach: «Bei allem Verständnis für diese menschliche Schwäche, sein Ausraster bleibt unverzeihlich!» Für die Entschuldigungen des Unparteiischen («Die Provokation ist in der Regel schlimmer als die Reaktion») hatte der «Blick» kein Ohr: «Darf

sich ein Trainer, der an der Linie gegen den Schiri tobt, zukünftig auch auf so was berufen?» Darf er, musste man drei Jahre später feststellen. Zumindest als Ringier-Mitarbeiter. Als nämlich «Blick»-Kolumnist Ottmar Hitzfeld im Qualispiel gegen Norweger dem Schiri seinen Digitus medius gleich in doppelter Ausführung präsentierte, spielte das Blatt den Vorfall klein: Es war ja schliesslich nur «auf Kniehöhe», und der Coach habe lediglich das gemacht, «was alle Schweizer gerne gemacht hätten». Und überhaupt sei doch Hitzfeld sonst ein Vorbild schlechthin, «betet täglich, um seinen Hals trägt er eine Kette mit einem Jesus-Kreuz, und seine Biografie schrieb Pfarrer Josef Hochstrasser». Nachsichtig verzichtete der «Blick» deshalb auf eine ähnliche Kampagne wie bei Busacca und berichtete stattdessen, wie sich der Nationaltrainer in Freienbach bei älteren Damen nach deren Gesundheit erkundete. «Gott beschütze Sie!»

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Die Auswärtsfahrt

Exeter City FC Plymouth Argyle FC

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npower Football League 2, 15.12.2012 St. James’ Park, Exeter – 6447 Zuschauer

Text&Bild: Peter Horath

«There’s only one team in Devon!»

Während hierzulande für Fussballreisen zu Premier-LeagueSpielen in London oder Manchester geworben wird, sitzen wir im Barwagen eines britischen Fernverkehrszuges auf dem Weg nach Exeter im Südwesten der Insel. Uns erwarten vier Tage voller englischer Fussball- und Pubkultur – rund um das Viertligaderby zwischen dem Exeter City FC und dem Plymouth Argyle FC aus der Grafschaft Devon. Land und Leute schliessen wir alsbald ins Herz. So treffen wir in einem Pub auf einen 58-jährigen Man-United-Hool, der uns profund von wildesten Prügeleien gegen Millwall, Sheffield United oder die AS Roma erzählt und über die Kommerzialisierung sowie die überteuerten Preise flucht. Ein paar Pubs und Pints später schleppen wir uns weiter in einen Club, wo wir den Abend vor der Partie ausklingen lassen wollen. Ist es postpubertäre Entdeckungslust, gar Schicksal oder schlussendlich doch nur das Bier? Auf jeden Fall diskutiere ich an der Bar plötzlich mit einem Mitglied eines ECFCFanclubs aus Trondheim. Verblüfft darüber, dass es noch andere Verrückte gibt, die extra für Viertligafussball nach England reisen, holen wir unsere Freunde dazu, ehe wir nach dem Zapfenstreich ins Hotel zurückgehen. Nach gefühlten zwanzig Minuten Schlaf sitzen wir um etwa halb neun Uhr schon wieder vor unseren Frühstückstellern und nehmen zur Kenntnis, dass unsere englischen Freunde in

alter Frische schon wieder die ersten Pints herüberbringen. So wird halt erneut angestossen, bevor man kurz vor Mittag zum Stadion marschiert. Auffallend auf der ganzen Route ist das massive Polizeiaufgebot mit berittenen Polizisten aus Wales sowie einem Helikopter zur Überwachung des PlymouthMobs. Das «Devon Derby», als Hochrisikospiel eingestuft, startet um genau zwölf Uhr im über hundertjährigen St. James‘ Park, der knapp 9000 Zuschauern Platz bietet, aber mit 6447 Fans etwas enttäuschend besetzt ist. Das Spiel selbst war typisch britisch. Viel Kampf und keine Weicheier. Das Ballgefühl der Akteure lässt jedoch zu wünschen übrig. Die Partie hat etwa 1.-Liga-PromotionCharakter. Nach einer guten halben Stunde gehen die «Grecians» verdient in Front, was im Stadion für Gänsehautatmosphäre sorgt. «There’s only one team in Devon!», skandieren sie alle in Richtung Gästesektor. Als Stimmungsdämpfer hingegen entpuppt sich dann der Ausgleichstreffer des Rivalen in der zweiten Hälfte, der auch den Endstand markiert. Ein für beide Teams nicht befriedigendes Resultat. Nach dem Spiel geht es weiter in die Pubs des Stadtzentrums, wo wir den Ausflug mit Bier und Karaoke ausklingen lassen, ehe wir uns am Sonntagmorgen etwas angeschlagen auf den Heimweg machen.


Die neuen Sendungen im SSF

Weekflash Der sportliche Wochenrückblick. Montags ab 18 Uhr

Zwölf Die Fussballbar. Mittwochs ab 18 Uhr

Seitenwechsel Die ultimative Challenge. Donnerstags ab 18 Uhr www.ssfmedia.ch


turniersinn Heute: Ozeanien

kurz vor Beginn erklärt hatte, das Turnier Inselhüpfen im Pazifik – ebenfalls aus finanziellen Gründen – Die Mitglieder der Oceania Football Connun doch nicht ausrichten zu können. federation (OFC), vor allem die kleineren Die Hoffnungen ruhten also auf dem Nationen, haben grosse Mühe, ErfahrunTurnier im September, als Papua-Neuguigen in Länderspielen zu sammeln. In der nea Gastgeber sein sollte. Diesmal wollWM-Qualifikation scheitern die meisten ten sich aber die Salomonen – vielleicht schon in der Vorausscheidung, und kaum aus Trotz – die Anreise nicht leisten, und jemand von einem anderen Kontinent auch auf Vanuatu wartete man in Port will gegen die Inselzwerge antreten. Da Moresby vergeblich. Nach diesem schlechbieten sich regionale Turniere natürlich an. ten Start beschloss man, das Turnier im daDer «Melanesia Cup» war so ein Turnier, rauffolgenden Jahr ausfallen zu lassen. das allerdings im Jahre 2000 zum letzten Ein neuer Versuch wurde 2010 unterMal ausgetragen wurde. Als Nachfolger nommen. Die Salomonen bereiteten sich wurde 2008 der «Wantok Cup» präsentiert, intensiv auf die Spiele in Vanuatu vor, in dem die Salomonen, Papua-Neuguinea doch wieder machte Papua-Neuguinea und Vanuatu jeweils um den jeweiligen kurzfristig einen Rückzieher. Diesmal Nationalfeiertag gegeneinander antreten hiess es, man sei «mit anderen Fussballsollten – also drei Austragungen jährlich. Programmen beschäftigt». In der Tat hatte Internationale Spiele zu verhältnismässig das Nationalteam ein dichtes Programm: geringen Kosten, so der Sprecher des Verbands der Salomonen, seien essenziell für die Entwicklung der Nationalteams und als Vorbereitung auf die Pflichtspiele. Die Vorfreude war insbesondere beim ersten Gastgeber, den Salomonen, gross: Zwei Wochen vor dem Kick-off wurde ein Kader von 64 (!) Spielern bekannt gegeben. Schliesslich hatte man die Schmach Die fleissigsten Gegentoresammler Ozaniens: Das zu tilgen, als man 1994 als amtierenNationalteam von Guam. der Melanesia-Cup-Sieger Nauru in dessen einzigem Länderspiel In den sechs Jahren zuvor absolvierte überhaupt mit 1:2 unterlegen war. Vier man gerade mal ein einziges LänderTage vor dem Eröffnungsspiel sagte aber spiel. Alles erwartete nun zumindest ein Papua-Neuguinea seine Teilnahme aus Spiel zwischen Gastgeber Vanuatu und finanziellen Gründen ab, worauf die Saloden Salomonen, doch kurz vor dem Tag monen als Ersatz ein U23-Team auflaufen X zog sich der Gastgeber auch noch zuliessen – das auch prompt das Turnier rück. Und um gegen das eigene B-Team gewann. zu spielen, brauchten die Salomonen nun Keinen Monat später sollte die Fortsetwirklich nicht nach Vanuatu zu reisen. zung in Vanuatu stattfinden. Papua-NeuDie ambitionierte Turnierform wurde guinea suchte derweil vergeblich nach in der Folge stark revidiert. 2011 wurde einem Sponsor für die Flugtickets, die Papua-Neuguinea gar nicht erst eingelamotivierten Salomonen boten vorsorgden, die Salomonen und Vanuatu spielten lich schon mal an, wiederum zwei Teams im Juli je zwei Spiele in jedem Land. Den mitzubringen. Doch diese Austragung fiel «Wantok Cup» – der Name stammt übrigänzlich ins Wasser, nachdem Vanuatu

gens vom englischen «one talk» und soll bedeuten, dass «man die gleiche Sprache spricht, zur gleichen Kultur gehört, befreundet ist und einander aushilft» – gibt es seither nicht mehr. Torfestival in Tahiti Auch bei den Pazifikspielen sind die Salomonen Stammgast beim Fussballturnier. Schon bei der ersten Austragung 1963 liessen sie sich von mangelnder Ausrüstung nicht abhalten und überfuhren die Neuen Hebriden (heute: Vanuatu) gleich mit 6:3 – und dies barfuss! Die ruppige Spielweise forderte aber ihren Tribut: Im Spiel um den 3. Platz kassierten sie 18 Gegentore. Noch schlimmer erging es Französisch-Polynesien sechs Jahre später trotz Schuhen. Für das letzte und entscheidende Spiel um den Gruppensieg gegen Neukaledonien mussten sie Forfait erklären, weil 11 ihrer 19 Spieler verletzt waren. 1971 fanden die Spiele in Tahiti statt. Sechs Teams waren dabei, zum ersten Mal auch die Cookinseln. Und die sorgten gleich für Furore. Die Partie gegen den Gastgeber war ihre Länderspiel-Premiere, dabei bekamen sie gleich 30 Tore eingeschenkt und blieben selbst ohne Zählbares. Gegen Papua-Neuguinea konnte man immerhin den ersten Torerfolg feiern, verlor aber dennoch mit 1:16. Und weil auch das Klassierungsspiel gegen Fidschi eine Klatsche (1:15) brachte, hatten die Cookinseln vorerst genug vom Fussball und bestritten in der Folge 24 Jahre lang kein einziges Spiel mehr. Nicht nur die Spiele mit Beteiligung der Cookinseln waren torreich. Die zehn Partien, die bis zum 7:1-Finalsieg von Neukaledonien über die Neuen Hebriden nötig waren, brachten einen Schnitt von 10,3 Toren pro Spiel. Nie gab es in der ganzen Fussballgeschichte einen Wettbewerb für Nationalmannschaften mit einem höheren Torschnitt.


ZWÖLF – Die Fussballbar ZWÖLF goes Fernsehen Wir wissen: Der Weg zur Weltherrschaft führt nur über die Medien. Deshalb missbrauchen wir neu auch das Fernsehen für unsere Zwecke. Einige haben es wahrscheinlich schon bemerkt, uns gibt es seit Ende Januar auch als Fussballsendung. «ZWÖLF – die Fussballbar» wird jeden Mittwoch um 18 Uhr im neu lancierten SSF ausgestrahlt und danach völlig zu Recht stündlich wiederholt. Und wer selbst das verpasst, kann die halbstündige Sendung immer noch im Internet schauen. Unser werter Chefredaktor Mämä Sykora zieht sich dafür wöchentlich sein

Der Cartoon

bestes Fussballshirt an und empfängt illustre Gäste und Nebendarsteller aus dem Schweizer Fussball. Beim gemeinsamen Bier plaudern sie – wenig überraschend – über Fussball; über Karrieren, Erinnerungen, Fans und Würste. Sie tun dies dort, wo man nun mal am besten über Fussball parlieren kann: in einer Bar. In der «Kaiser Franz»-Bar in Zürich genauer gesagt. Abgerundet wird jede Ausstrahlung von den lieblichen Klängen der Band Mani Porno, die zusammen mit Hans-Erich Binggeli einen Song zum Thema des Tages zum Besten geben. Kamera läuft und... Prost.

Von: Konrad Beck, Christian Wipfli www.konradbeck.ch

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Text: Silvan Kämpfen / Bilder: Anina Lehmann ******************************************** GALATASARAY CLUB ZÜRICH GALATASARAY ISTANBUL –

BESIKTAS ISTANBUL, 27.1.2013

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Im Ali-Sami-Yen-Stadion hing jeweils ein Banner mit der Aufschrift «Welcome to hell». Das Vereinslokal des Galatasaray Club Zürich aber hat mit dem Motto aus der früheren Heimstätte nichts gemein. Ohne in Stereotype verfallen zu wollen: Sie glänzen wie immer mit ihrer Gastfreundschaft und empfangen uns äusserst herzlich, die Türken. Alles ausser der männlichen Pluralform wäre hier etwas übertrieben. Im Saal sitzen rund hundert Herren jeden Alters, während eine gute weibliche Seele Getränke von Ülker und Gazi sowie reich-

Fussball schaut man im Stadion. Für viele Zugewanderte ist dies bei ihren Lieblingsklubs aber oft nicht möglich. So wird der Barbesuch zum wöchentlichen Highlight. ZWÖLF besucht fortan an Spieltagen Lokale, in denen Fans ausländischer Mannschaften die Partien verfolgen.

lich Kaffee und Tee serviert. Die letzte Schaulustige trifft eben ein und Emre Çolak schon das Tor von Besiktas. «Golün Adı Huawei»: Auch ohne Torerfolg flattern bei LigTV alle dreissig Sekunden solche Werbebalken für Kaffee, Pizza oder Mobiltelefonie über das halbe Feld. Ein bisschen wie FIFA und Tetris gleichzeitig. Richtig gamen und jöggelen kann man zwar auch, doch bis auf ein paar Kartenspieler verfolgen alle den Match. Und das ist kein feuchtfröhliches Public Viewing, sondern eine ernste Geschichte. Trotzdem hält die erbitterte Rivalität der Istanbuler Vereine hier kaum Einzug. Wimpel und Uhren mit allen drei Klublogos zieren die Wände. Als RotGelb doch noch ein Tor kassiert, macht sich eine Minderheit von Fenerbahçeund Besiktas-Fans denn auch lautstark bemerkbar. Es wird gejubelt, geflucht, gebangt. Das Spiel bietet auch genügend Anlass dazu: temporeich und dem Namen Süperlig würdig. Die Liga scheint allgemein ein Tummelfeld zu sein für Spieler, die man von früher her kennt, aber längst verschollen geglaubt hat. Felipe Melo spuckt um sich (oder doch nicht?), Hilbert fährt Snejider von hinten in die Beine. Die heftige Empörung auf den Rängen erfasst auch den vierten Stock im Altstetter Bürogebäude. Gemetzeltes gibts auch hinter der Bar bei Herrn Dereli. Zum Essen sind nur wenige gekommen, aber unser Gegenüber verspeist gerade ein Kavurma: gehacktes Lammfleisch mit Peperoni zwischen zwei Brotdeckeln. Ich entscheide mich für dasselbe und werde es nicht bereuen. Die Stimmung ist auch im Vereinslokal ausgezeichnet, aber nicht ganz so überbordend wie im Stadion. Der übergrosse Flachbildschirm tut seinen Dienst. Flimmern erzeugt einzig das Istanbuler Schneegestöber, das den Hitzigkeiten auf dem Platz allerdings keinen Abbruch tut. Nach Spielschluss und dem 2:1-Sieg der Truppe von Imperator Terim sitzt bald einmal nur noch die Hälfte da. Draussen in Zürich-Altstetten prasselt der Regen nieder. Es ist hier fast wie am Bosporus. Nur ein paar Grad machen den Unterschied.


Fussball und die Medien Jeder betrachtet sich gerne im Spiegel, wir natürlich auch. Und deshalb machen wir hier uns selbst zum Thema – oder vielmehr: unsere Journi-Kollegen aus TV, Radio und Print. Einige, wie Beni Thurnheer und Marcel Reif, lassen wir ausführlich zu Wort kommen; andernorts schauen wir weit zurück: zu den Anfängen der Fussball-Radioreportage oder zum Ende des «Sports»; und unbedingt wissen wollten wir, was einen 60-Jährigen seit 35 Jahren dazu motiviert, Mammutberichte über einen Zürcher Provinzverein zu schreiben.



«Wir sind wie Filmmusik» «Noch nie hätte ein Tor dem Spiel so gutgetan» versus «Es gibt keinen Zweiten wie Bregy»: Die Herren Fussball-Kommentatoren Marcel Reif und Beni Thurnheer servieren köstliche Geschichten aus ihrem Alltag. Es ist angerichtet. Interview: Silvan Lerch / Mämä Sykora Bild: Florian Kalotay


blacky-story


Marcel Reif: Warum holt ihr überhaupt uns Alten zum InterviewTermin? Doch nicht etwa, weil die Jungen keine Ahnung haben? (lacht) Beni Thurnheer: Die haben halt alles im Smartphone abgespeichert, wir dagegen im Kopf. Dafür bräuchten wir Senioren-Handys. (beide lachen) ZWÖLF: Ist das etwa eine Kritik an den Jungjournalisten? Thurnheer: Nein, überhaupt nicht! Wir nehmen uns halt gerne selber auf den Arm. Denkt ihr, die Jüngeren müssen sich weniger Dinge merken als ihr? Thurnheer: Es ist ein Phänomen: Alles, was du zwischen 15 und 25 Jahren erlebst, speicherst du ohne Selektion ab. In dieser Zeit hats noch viel Platz auf der Festplatte. Erst ab 40 beginnt man zu selektieren. Deshalb kann ich dir die Mannschaftsaufstellungen des FC Winterthur von 1968 herunterleiern, aber jene von vor drei Wochen weiss ich schon nicht mehr. Reif: Selektieren ist wichtig. Meine Söhne zum Beispiel kennen die Torhüter

«Ich wurde vom Buchhalter zum Künstler.» Beni Thurnheer

von Portsmouth. Ich weiss aber mittlerweile: Das werde ich mir nicht merken. Das schlage ich nach, falls ich es je brauche. Denn auch meine Festplatte ist schon

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mit so vielen Dingen aus der Jugend voll, und die kann man nicht mehr löschen.

dies seit Jahren gebetsbühlenartig wiederholen.

Ist es nicht einfach so, dass der Fussball zwar als Spiel immer besser wird, aber durch seine Kommerzialisierung einiges an Faszination verloren hat und ihr deshalb nicht mehr alles speichert? Thurnheer: Nein, das würde ich nicht sagen. Gerade bei uns Kommentatoren war es früher so, dass derjenige, der mehr wusste, nun mal besser war. Informationen waren schwer zugänglich, und es gab längst nicht zu allen Spielern welche. Heute wissen alle alles, und ein guter Kommentator ist derjenige, der das Richtige zum passenden Zeitpunkt sagt… Reif: ... und der auch weglassen kann. Mir hat mal jemand gesagt: «Wissen Sie, warum wir Sie mögen? Weil Sie schweigen können.» Das fand ich zuerst ein seltsames Kompliment und ein tolles Geschäftsmodell – dafür bezahlt zu werden, nichts zu sagen. Nun aber kann ich diese Aussage gut nachvollziehen.

Wie kann man sich denn heute noch profilieren? Reif: Mit Sicherheit nicht, wenn man sich genau eine solche Profilierung vornimmt. Bei einigen jüngeren Kollegen merkt man manchmal, dass sie das tun. Auch ich war auf diesem Trip. Im Laufe der Jahre produziert man sich allerdings nicht mehr so. Zum Beispiel die vorbereiteten Witze: Ich kann dir genau sagen, wenn so einer eingestreut wird. Das merkt man. Auch ich freue mich noch immer über einen gelungenen Spruch, aber er muss spontan sein. Ich bin vom Ziel abgekommen, allen gefallen zu wollen.

Nimmt es denn etwas vom Reiz des Kommentatorenjobs, wenn alle schon alles wissen? Thurnheer: Einen Primeur kann man kaum mehr bringen, das stimmt. Das Höchste, was man noch erreichen kann, ist, eine eher unkonventionelle Meinung zu vertreten, von der man dann die meisten überzeugen kann. Auch das war früher noch einfacher. Nur schon, wenn es um die defensiven Mittelfeldspieler ging wie Christophe Ohrel oder Marcel Koller: Die hatten jeweils nur kurz den Ball und wurden deshalb kaum je erwähnt. Wenn man solche Spieler lobte und damit dem Zuschauer ihre Wichtigkeit aufzeigen konnte, war das schon ein Highlight. Heute weiss jeder um ihre Bedeutung, weil Trainer und Experten

Welches Ziel verfolgst du dann? Reif: Rudi Michel, einer der ganz grossen Kommentatoren und vielleicht mein einziges Vorbild, sagte mir mal: «Du kannst höchstens 50 Prozent der Zuschauer auf deine Seite ziehen. Die andere Hälfte kriegt schon Vögel, wenn du nur schon atmest. Da kannst du machen, was du willst. Dafür sagen von deinen 50 Prozent 30 selbst bei einem Huster: ‹Das macht ihm keiner nach.›» Nur 20 Prozent ist also Laufkundschaft. Wenn du die überzeugst, dann hast du alles richtig gemacht. Mit diesem Bewusstsein wirst du schon mal deutlich demütiger. Hinzu kommt: Ich war in meiner Karriere ein einziges Mal krank. Und obwohl ich nicht kommentieren konnte, haben die Teams gespielt. Da merkt man, die Fussballwelt dreht sich auch ohne einen weiter. Kratzte diese Erkenntnis an deinem Ego? Reif: Nein, es braucht eine gewisse Demut vor dem, was auf dem Rasen


interview reif/Thurnheer

passiert. Eitelkeit ist schön und gut – die habe ich sogar erfunden –, aber es geht um das Spiel, nicht um den Kommentator. Der sollte also besser merken, wenn sich die Taktik verändert, als unbedingt einen guten Spruch platzieren zu wollen. Doch nicht alle jüngeren Kollegen setzen die Prioritäten auch so. Thurnheer: Die Aufgabe von uns Kommentatoren hat sich stark gewandelt. Früher war ich etwa bei Auswärtsspielen der Nationalmannschaft alleine. Ich machte die Interviews vor dem Spiel, berichtete über die Verletzten des Gegners, gab dessen Aufstellung bekannt und schilderte die Beschaffenheit des Terrains. Heute gibt es die Vorberichterstattung, Experten und Analysen. Die decken nun diesen Teil ab. Da ist bis zum Anpfiff alles schon gesagt. Eure Rolle hat sich verändert… Thurnheer: Ja, etwas provokativ formuliert, wurde ich vom Buchhalter zum Künstler. Wir sind wie die Filmmusik. Es ist vor allem wichtig, dass man den Rhythmus des Spiels aufnimmt. Nur: Aus einem miserablen Match kann auch ein Kommentator keine Klassepartie machen. Gewisse Kommentatoren haben immerhin schon mal ein Spiel zum Highlight gemacht, in dem gar nicht gekickt wurde, weil das Tor zusammengekracht war. Thurnheer: Das war vielleicht das Highlight in der Fussballkommentatoren-Geschichte. «Noch nie hätte ein Tor dem Spiel so gutgetan» – da juble ich noch heute. Reif: Ja, das war ein gelungener Satz. Das habe ich gemerkt. Um aber den Wandel des Kommentators nochmals aufzugreifen: Ich würde das Gegenteil behaupten,

Beni. Ich bin eher vom Darsteller zum Dienstleister geworden. Thurnheer: Das kann doch nicht das Ziel sein. Niemand will einen Kommentator wie in einem Computerspiel, der zwar keine Fehler macht, aber nur die Namen der Ballführenden aufzuzählt. Einer wie ZDF-Legende Dieter Kürten tat aber in den 80er-Jahren kaum mehr als eben den Namen des Ballführenden zu nennen. Seither hat sich die Kommentatorensprache doch merklich gewandelt. Sie wurde elaborierter. Reif: Elaboriert ist schon positiv besetzt. Vorsicht! (Gelächter) Ich halte zudem Kürten für einen der Grossen. Aber es ist schon so: Früher war der Zugang zum Fussball schlichter. Das war in einer Welt, in der die Trainer der Ansicht waren, es bringe gar nichts, mit uns zu reden, weil wir ihre Aussagen ja doch nicht verstehen würden. Rehhagel war von diesem Schlag. Das hat sich massiv geändert. Zum Positiven hin… Reif: Jein. Dank des besseren Austausches mit den Trainern können Kommentatoren viel tiefer gehen heute. Allerdings man muss aufpassen, dass es nicht kippt mit all diesen neuen Begriffen wie «Doppelsechs», «Schnittstelle» oder «Zugriff» und «Anlaufen». Mit ihnen schliesst du viele Zuschauer aus, die nicht gerade den Trainerschein machen wollen. Die Tendenz, den Fussball ernster zu nehmen, finde ich aber keineswegs schlecht. Thurnheer: In der Formel 1 lautet die Gretchenfrage: Kommentiere ich für meinen Garagisten oder für meine Grossmutter? Die Antwort lautet meist: für den Garagisten, obwohl 95 von 100 Zuschauern Grossmütter sind. Gleichzeitig muss man sagen, auch eine Gross-

mutter, die 10 Jahre lang Formel 1 schaut, eignet sich ein beachtliches Wissen an.

«Ich bin vom Darsteller zum Dienstleister geworden.» Marcel Reif

Zudem darfst du im Volkssport Fussball mehr voraussetzen. Wir müssen niemandem erklären, was ein Elfmeter ist. Das sollte euch entgegenkommen. Reif: Sicherlich, doch ich will niemandem etwas beweisen. Mir reicht es, wenn ich bei Spielschluss sagen kann: «Doch, das war sinnhaft, was du heute gemacht hast.» Aber es gibt Abende, da passt kein Satz, da gibst du nur Schrott von dir. Dann musst du noch während des Spiels beginnen, dich zurückzuhalten und darauf zu beschränken, die Namen richtig zu treffen. Aber auch das ist nicht immer einfach. Teilweise ruft mich nach dem Spiel mein Sohn an und sagt nur: «Gell, Papa, heute waren aber viele grossgewachsene dunkelhäutige Spieler auf dem Platz.» (Gelächter) Was sind denn die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem Schweizer Kommentatorenstil? Thurnheer: Schon bevor ich angefangen habe, lautete die grösste Kritik an den Schweizer Kommentatoren, sie würden viel zu viel reden. Die deutschen Kommentatoren dagegen galten damals weltweit als diejenigen, die am wenigsten sagten. Untersuchungen erkannten darin eine Folge des Zweiten Weltkriegs: Die Deutschen hätten keinesfalls auffallen, aggressiv oder gar nationalistisch

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interview reif/Thurnheer

Marcel Reif Geboren am 27. November 1949 Nach der Geburt in Polen und einem Aufenthalt in Tel Aviv kam Marcel Reif mit seiner Familie im Alter von 8 Jahren nach Deutschland. Als Jugendlicher spielte er für den 1. FC Kaiserslautern. Er studierte Publizistik, Politologie und Amerikanistik. 1972 wurde Reif freier Mitarbeiter für das ZDF. 1984 wechselte er von der Politik zum Sport, 1994 ging er zu RTL, wo er vor allem Champions-League-Partien kommentierte. Seit 1999 ist er bei Premiere (heute Sky) angestellt. Er wurde mehrfach zum besten Sportkommentator Deutschlands ausgezeichnet. Reif hat drei Söhne und lebt mit seiner dritten Frau in der Nähe von Zürich. (syk)

wirken wollen. Deshalb nahmen sie sich bewusst zurück – sicher auch, weil es nichts Besonderes war, wenn Deutschland ein Tor erzielte oder ein Spiel gewann. Für die Schweizer indes waren Erfolge rar. Da konnten die Kommentatoren schon mal lauter werden oder ins Plaudern geraten, wenn die Partie positiv verlief. Das mündete dann in den wenig schmeichelhaften Titel «Schnurri der Nation», Beni... Thurnheer: Mit diesem Vorurteil kann ich hier gleich mal aufräumen. Seit der WM 1990 werden Statistiken erstellt, wer von den Schweizer Kommentatoren am meisten redet. Damals lag ich auf

«Es gibt Abende, da gibst du nur Schrott von dir.» Marcel Reif

dem zweitletzten Platz, und seit 1998 bin ich derjenige, der am wenigsten sagt! Reif: Ihr Schweizer meint ja immer,

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wir Deutschen hätten die klarere Sprache und deshalb beim Kommentieren einen Vorteil. Das isch dumms Züüg. Hört mal einem englischen Reporter zu! Englisch ist viel präziser. Im Endspiel 1966 rannten beim Stand von 3:2 für England schon Zuschauer auf den Platz. Der Kommentator sagte dazu: «They think, it’s all over.» Genau in dem Moment haute Geoff Hurst den Ball zum 4:2 in den Winkel, und der Reporter ergänzte: «It is now.» Das löst bei mir noch heute Gänsehaut aus. So was kriegen wir auch im Deutschen nicht hin. Da bin ich neidisch. Schweizer Fussball-Kommentatoren wird immer wieder vorgeworfen, Matchzusammenfassungen nicht annähernd so attraktiv zu gestalten wie ihre deutschen Kollegen. Was sagst du dazu, Beni? Thurnheer: Die Berichterstattung in der Schweiz finde ich im Grossen und Ganzen absolut in Ordnung. Natürlich möchte der Fan immer noch mehr, noch längere Zusammenschnitte, noch mehr Interviews. Aber die Super League besteht nun mal bloss aus fünf Spielen pro Runde. Die ganzen Unterschiede laufen also auf einen Vergleich Bundesliga - Super League oder gar Deutschland - Schweiz hinaus. In einem Punkt haben wir Schweizer sogar die Nase vorn: Unsere Berichte werden oft zeitlich näher am Schlusspfiff gesendet als diejenigen der Deutschen, und das ist eine ziemliche Kunst! Würdest du denn auch im deutschen Fernsehen «funktionieren», Beni? Thurnheer: Lasst mich einen Vergleich ziehen. Es hiess immer, wäre Ruedi Walter in den USA geboren worden, hätte er eine Weltkarriere gemacht wie beispiels-

weise Orson Welles. Meine Antwort darauf war jeweils: vielleicht. Vielleicht hätte es Walter aber nicht einmal zum Schauspieler geschafft. Das gilt genauso für mich in Deutschland. Vielleicht wäre ich ein zweiter Marcel Reif geworden, vielleicht aber auch schon in Nachwuchswettbewerben rausgeflogen, weil die Konkurrenz viel grösser ist. Und der umgekehrte Fall: Ginge das, Marcel Reif im Schweizer Fernsehen? Thurnheer: Auf jeden Fall. Und das nicht nur, weil er gut ist, sondern weil er eine Legende ist. Er könnte wohl sagen, was er will, und die Leute wären begeistert. Reif: Das ist Unsinn. Oder war das soeben ein Angebot? (lacht) Man würde bestimmt sagen: «Endlich kommt mal einer, der unseren Kommentatoren sagt, wo es langgeht!» Aber das würde nicht funktionieren. Ich bin zwar schon seit 1997 im Land, bin Schweizer Bürger und habe mich in die Mentalität ziemlich gut eingelebt, aber doch bleibe ich auch Deutscher. Ich würde mir das nicht zutrauen, das würde nicht passen. Denn jedes Land hat seine eigene Fernsehkultur. Gott sei Dank! Zur Schweizer Fernsehkultur gehörte vorübergehend, dass du, Beni, bei Nationalmannschaftspartien mit Günter Netzer ein Duo bildetest. Thurnheer: Dass Günter Netzer überhaupt mein Co-Kommentator wurde, war reiner Zufall. Nach der Auslosung der WM-Gruppen 1994 wartete ich in Las Vegas auf den Rückflug, zusammen mit Heribert Fassbender, Karl-Heinz Rummenigge und Günther Netzer. Netzer und ich hatten noch ein paar Dollars übrig, die wir an den einarmigen Banditen durchliessen. Dabei begann



interview reif/Thurnheer

Beni Thurnheer Geboren am 11. Juli 1949 Der Winterthurer studierte Jura an der Uni Zürich und wurde in seinem Abschlussjahr an einem Nachwuchswettbewerb für Sportreporter von Radio und Fernsehen DRS entdeckt und angestellt. 1975 hatte er als Präsentator des «Sportkalenders» seinen ersten Auftritt im TV und moderierte bald alle Sportsendungen des Senders. Von 1980 bis 1991 wurde zudem seine Quiz-Sendung «Tell-Star» ausgestrahlt, 1992 bis letztes Jahr «Benissimo». Er ist geschieden, hat zwei Söhne und wohnt in Seuzach. (syk)

Günter, die anderen beiden, die brav auf ihren Stühlen sassen, leicht zu provozieren. Zu mir sagte er: «Was die können, könnten wir schon lange.» Da machte es bei mir «Bling», und Netzer wurde zu meinem Partner während der WM. Ihr erhieltet viel Lob. Gleichzeitig scheint der Prophet im eigenen Land oft wenig zu zählen. Thurnheer: Das ist weltweit so. Die Italiener ziehen über ihre Kommentatoren her, die Franzosen über die ihrigen und so weiter. Dahinter verbirgt sich vielleicht auch etwas Neid. Reif: Genau. Viele fragen sich wohl: Warum darf der da kommentieren und ich nicht? Das ist gerade bei der schreibenden Zunft verbreitet. Thurnheer: Dann wird explizit nach Fehlern gesucht, wie das kürzlich der

«Ich bin der Schweizer Kommentator, der am wenigsten sagt!» Beni Thurnheer

«Blick» bei mir getan hat. Wenn es dann flächendeckend auf den Kiosk-Aushängen heisst: «Beni, hör auf!», ist das schon

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nicht lustig. Da kann ich nicht einfach sagen, das gehe mir am Arsch vorbei. Wechseln wir zu Erfreulicherem: Was waren die Sternstunden eurer Karriere? Thurnheer: Was ein Höhepunkt war oder nicht, bestimmt viel eher das Spiel selbst als meine persönliche Leistung. Qualitativ hochwertige Partien sind natürlich angenehmer zu kommentieren als wirre mit vielen Fehlern. Wenn man das Spiel lesen kann und die Pässe auch tatsächlich ankommen, ist das dankbarer. Als meinen besten Match würde ich wohl das Champions-League-Spiel zwischen Basel und Liverpool 2002 bezeichnen, der 3:3 endete. Er beinhaltete einfach alles. Und mit meiner Darbietung war ich auch sehr zufrieden. Mein Tiefpunkt liegt zum Glück schon lange zurück. An der EM 1984 nannte ich beim Spiel Spanien gegen Deutschland ausgerechnet für den einzigen Torschützen, Maceda, einen falschen Namen. Reif: Ich kann mich nicht auf eine Begegnung festlegen. In jeder gibt es mehrere Highlights. Ich sage mal ganz salopp: Mein bestes Spiel kommt erst noch. Wenn ich das nicht zu wissen glaubte, würde ich aufhören. Nebst dem schon erwähnten Zitat beim Torfall von Madrid ist ja noch ein zweites von dir, Marcel, in die Geschichte eingegangen… Thurnheer: Daran erinnere auch ich mich bestens. Wir bekamen den entsprechenden Ausschnitt sogar in einem Ausbildungskurs zu hören. Da war ein Steilpass, der Torhüter kommt raus, und du sagst nur: «Lupfen, jetzt!» Und genau das macht der Spieler. Reif: Das war Lars Ricken im Champions-League-Final gegen Juventus 1997.

Dieser Satz steht sogar im BorussiaDortmund-Museum. Aber ob es deswegen ein Highlight war? Ich weiss nicht mal mehr, ob auch der Rest dieses Spiels von meiner Seite aus gut war. Wie es bei jedem Einsatz Höhepunkte gibt, gibt es immer auch einige Dinge, die völlig in die Hose gehen: unpassende Formulierungen oder natürlich das Verwechseln eines Spielers. Aber das finde ich mittlerweile überhaupt nicht mehr schlimm. Dann korrigiert man sich eben. Ist doch so was von wurst. Mich haben sie übrigens nach der Meinung gefragt, als du, Beni, Iker Casillas und Joe Hart verwechselt hattest. Da hab ich gesagt: «Euch muss es ja wirklich gut gehen hier, dass ihr einen Kommentator danach beurteilt.» Natürlich weiss der Beni, wer in welchem Tor steht, auch wenn er es in dem Moment falsch gesagt hat. Thurnheer: Diese Kampagne traf mich völlig unvorbereitet. Ich war mir gar nicht bewusst gewesen, solche Fehler gemacht zu haben. Interessant ist allerdings, dass nicht jede meiner Leistungen, mit der ich nicht zufrieden war, auch von aussen so wahrgenommen wird. Ich hatte an der letzten EM einen Einsatz, der war aus meiner Sicht katastrophal. Doch ausgerechnet und nur in diesem Spiel gab mir der «Blick» die Note 5. Marcel, du hast in einer vorhergehenden Antwort die Demut vor dem Spiel angesprochen. Diejenige vor den Akteuren geht indes vielen Fans mittlerweile ab. Sie vermissen bei der heutigen Spielergeneration die Typen und stören sich daran, dass wegen der Medientrainings nur noch Plattitüden zu hören sind. Reif: Das ist nicht nur die Medienschulung. Da muss man fair bleiben. Die Spieler müssen heute nach dem Spiel


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noch einen riesigen Interviewmarathon absolvieren, bis sie endlich im Bus sind. Selbst nach den Trainings müssen sie zur Verfügung stehen. Dieser Aufwand ist Wahnsinn. Da kann man nicht die grossen Weisheiten erwarten. Thurnheer: Für die Medien gilt heute ganz nach dem Philosophen Erich Fromm: «Haben statt Sein.» Wenn einer drei Tore geschossen hat, dann muss man den als TV-Anstalt vor dem Mikrofon haben. Was er dann sagt, ist sekundär. Zudem muss man auch die Journalisten in die Pflicht nehmen. Bei einigen Kommentatoren vermisse ich den Respekt vor den Spielern. Wörter wie «kläglich» oder «Versager» würde ich nie benutzen. Kritik muss ein Kommentator aber anbringen können. Thurnheer: Natürlich, aber nur in der richtigen Form und wenn sie berechtigt ist. Ich habe in meiner Karriere zweimal Spieler zu Unrecht verurteilt. Der erste war Marco Pascolo. An der WM 1994 gegen Spanien kritisierte ich ihn dafür, dass er die Bälle immer nur weit nach vorne drosch. Nach der Partie sagte mir Roy Hodgson, das sei seine Vorgabe gewesen, weil die Spanier im Mittelfeld so überlegen waren. Und an der EM 2004 warf ich Bernt Haas vor, er lasse

«Mein bestes Spiel kommt erst noch.» Marcel Reif dem kroatischen Flügel auf seiner Seite immer viel zu viel Platz. Danach sagte mir Köbi Kuhn, das habe er ihm so aufgetragen, weil er alle Kräfte im Strafraum bündeln wollte. Seither frage ich vor dem Anpfiff immer den Trainer, ob es irgendetwas gebe, das ich wissen

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müsse. Denn man muss schon aufpassen als Kommentator. Eine gewisse Macht hast du, und wenn es plausibel klingt, was du sagst, dann nehmen viele Zuschauer diese Meinung auf. Wie gehst du vor, Marcel? Reif: Das Angebot des Austauschs mache ich den Trainern auch. Gehen sie darauf ein, können sie Spieler vor einem Urteil schützen, das ich sonst vielleicht mangels besseren Wissens gefällt hätte. Einige nützen dies, andere nicht. Von José Mourinho gibts eine wunderbare Geschichte: Vor einigen Jahren fragte ihn eine Journalistin an der Pressekonferenz, wie er Inter spielen lassen werde. Mourinho forderte sie auf, die Aufstellung selber festzulegen, und versprach, diese Elf auch tatsächlich auf den Platz zu schicken. Die Journalistin bedankte sich für das Angebot, wies aber darauf hin, dass er mit einem Verdienst von 9 Millionen Euro schon selbst die Aufstellung machen solle. Mourinho lächelte und sagte: «Es sind 10 Millionen.» Man kann ja über Mourinho denken, was man will. Eines ist sicher: Er hat Ecken und Kanten – im Gegensatz zu vielen Fussballern heute, die sozusagen austauschbar geworden sind. Stört euch das nicht? Reif: Ein kluger Mann, der Trainer Adi Preissler, sagte mal: «Entscheidend ist aufm Platz.» Was ein Fussballer denkt oder wie er kommuniziert, ist bestenfalls zweitrangig. Um ein guter Fussballer zu sein, braucht es zwar eine gewisse Intelligenz, dafür muss man aber nicht Kant zitieren können. Ich bewerte einen Fussballer nicht danach, was er nach einem Spiel, kaputt und testosterongeschwängert, von sich gibt. WM, EM oder auch die Champions League wirken mit ihrer alles normierenden Verpackung «klinisch sauber». Da ist genauso eine

«Weichspül-Tendenz» zu beobachten, wie wenn Sponsoren bei Länderspielen kollektives Fähnchenschwingen organisieren. Durch solche Inszenierungen entfernt sich doch der Fussball meilenweit von seiner «wahren», ursprünglichen Form … Reif: Ooooh... Kilchberg-Rüschlikon, D-Junioren, sonntags. Da hol ich mir meine Emotionen, meinen «wahren» Fussball. Da kann ich so wütend werden, dass mir meine Söhne sagen, es sei wohl besser, wenn ich das nächste Mal nicht mehr komme. Nein, im Ernst: Egal wie das Drumherum ist, um 20:45 pfeift der da unten an, und darauf freue ich mich jedes Mal. Den ganzen Rest brauche ich persönlich nicht – und muss ihn auch nicht wahrnehmen. So furchtbar wichtig ist er ja nicht. In welche Richtung entwickelt sich denn die Fussball-Berichterstattung, die das ganze Drumherum wahrnehmen muss? Reif: Ich denke, viel mehr geht nicht. Bei der Ski-WM haben sie mitterweile Kameras an der Skibrille. Ich hoffe nicht, dass es im Fussball vergleichbar weit geht. Für mich sind schon Kamerabesuche in den Kabinen grenzwertig. Ich bewahre gerne etwas Mystisches. In der Rezeption könnte sich aber noch einiges ändern. Wenn die Kommerzialisierung weiter voranschreitet, dann sagen meine Söhne vielleicht irgendwann mal: «Wir spielen lieber auf der Playstation, das ist ‹richtigerer› Fussball.» Für Fussballprofis ist sehr wichtig, zum richtigen Zeitpunkt abzutreten. Macht ihr euch auch Gedanken, wann ihr Abschied nehmen werdet? Reif: Der Zeitpunkt ist dann gekommen, wenn ich zwar noch ins Stadion gehen, aber nicht mehr darüber plaudern will. Ich habe keine Angst davor, aber ich kann jungen Menschen noch keine Hoffnung machen. (lacht)


interview reif/Thurnheer

Thurnheer: Wie fast überall wird man auch als Fussballkommentator im Alter nicht besser. Die Sicht, das Reaktionsvermögen, die Energie: Das alles lässt nach, dafür nimmt die Gefahr zu, Spieler zu verwechseln. Das kann man nicht abstreiten. Folglich kannst du in einem gewissen Alter nicht mehr in einer so hohen Kadenz Spiele gut kommentieren wie früher, als du teilweise mehrere pro Woche begleitet hast. Aber mit geschickter Dosierung sind gute Leistungen immer noch kein Problem. Ernest Hemingway hat es so formuliert: «Wenn einem Champion in einer Zeit, in der die guten Tage weniger werden, ein sehr guter Tag gelingt, so sollte ein Champion abtreten.» Reif: Aber es heisst auch: «The real legends never die. They just fade away.»

Thurnheer: Das passt zu mir, ich bin für die gleitende Pensionierung. Was müssen denn eure Nachfolger mitbringen? Thurnheer: Für sie ist es nicht so einfach. Wenn man lange dabei ist, haben sich die Zuschauer an den Kommentator gewöhnt. Wir sind fast schon ein Stück Heimat. Und wie sagt man beim Fernsehen: «Alles, was gut ist, ist nicht neu. Und alles, was neu ist, ist nicht gut.» (lacht) Es reicht nicht, einen Aufruf zu starten für potenzielle Nachfolger. Bei der Castingshow «Einer wie Thurnheer» habe ich erkannt, dass die meisten denken, ein guter Kommentator sei möglichst emotional mit viel Geschrei.

Reif: Kommentator ist ein Beruf, und wie überall steckt da ein Lernprozess dahinter. Es braucht Talent, Fachwissen und man muss an der Sprache arbeiten. Dann könnte es funktionieren, muss es allerdings nicht. In Ordnung, wir lassen es sein, danken euch aber trotzdem herzlich für das Gespräch. Reif: «They think it’s all over. It is now.» Thurnheer: Meine Uhr läuft eh ab. (Gelächter) Meine Parkuhr, meine ich!

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Text: Wolf Röcken / Illustration: BRAINFART

«Was fühlt ein Hakan Yakin?» Fussballer werden in Medientrainings auf Interviews vorbereitet. Es gibt Gründe, weshalb das nicht vor Floskeln und Mätzchen schützt.

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a hinten muss was Spannendes zu sehen sein. Nur was? Wenn nichts wäre, würde Ciriaco Sforza doch nicht den Hals so drehen und konsequent im fast rechten Winkel von der Kamera wegschauen. Da am Ohrläppchen muss was sein. Ein Schmerz, ein Jucken? Wenn nichts wäre, würde Eren Derdiyok doch nicht immer daran zupfen, wenn ihm das Fernsehen Fragen stellt. Da an der Schläfe muss was sein. Schweissspuren, ein Stich? Wenn nichts wäre, müsste Marco Streller doch nicht ständig mit den Fingern dort kratzen. Da müssen wir das Vorspiel verpasst haben. Wenn nicht, warum sagte Köbi Kuhn dann so oft «Wie gsait», wenn es doch die erste Antwort auf die allererste Frage im Interview war. Und warum schiebt Hakan Yakin Dutzenden seiner Antworten ein sinnloses «I sag itz» voraus und würzt beinahe jeden Satz mit «I dängg»? Ja, sagt das den Fussballern eigentlich niemand? Sagt und zeigt ihnen niemand, wie ihre Mätzchen und Floskeln vor der Kamera wirken? Doch. Es gibt kaum

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einen Verein aus der Super League, der nicht ein mehr oder weniger ausführliches Medientraining für seine Akteure durchführt. Manchmal sind es die Pressechefs, welche die Spieler coachen. Oft ziehen die Vereine aber auch Experten bei. Reto Gafner von Schweizer Radio und Fernsehen ist ein solcher, der etwa bei YB schon Medientrainings durchgeführt hat. Er sagt: «Das Problem ist, dass sich die Spieler ihrer Mätzchen wirklich nicht bewusst sind und selber staunen, wenn sie sich dann am Bildschirm sehen.» Nicht in der Nase bohren! Gelernt und ausprobiert haben sie es schon. Gafner spricht mit den Spielern in seinem Medientraining über die «No-Gos» bei Interviews. Über zu vermeidende Floskeln wie «Wie gsait», «I säge itz mau» oder «I dänke», Phrasen wie «Der nächste Match ist der wichtigste» oder unglaubwürdige Allgemeinplätze wie «Entscheidend war nicht mein Hattrick, sondern die drei Punkte». Gafner weist die Spieler auch darauf hin, dass sie nicht in der Nase bohren dürfen, den Kaugummi vor dem Interview entsorgen müssen und sich nicht ständig durch die Haare

fahren, sondern Präsenz markieren, zum Interviewer schauen und eine Körperhaltung einnehmen sollen, die in etwa zu ihrer Aussage passt. Es sind Grundlagen, die Gafner in einer rund eineinhalbstündigen Einheit anspricht und üben lässt. Er erklärt den Spielern auch, dass der Interviewer sie auf eine Szene ansprechen wird, wenn es eine gab, in der sie eine Hauptrolle spielten. «Das ist absehbar, und deshalb ist es besser, ein Spieler überlegt sich vorher kurz, was er da antworten will.» Und er erzählt den Fussballern, dass es interessanter sei, wenn sie anschaulich redeten. «Wir müssen viel mehr über die Flügel spielen» wirkt bereits ein Mü interessanter als «Wir müssen mehr Gas geben». Gelernt ist gelernt. Theoretisch. Aber ein Grundproblem beseitigt auch ein Medientraining nicht. Es gebe Spieler, die sich nicht gerne am Bildschirm sähen, denen nicht wohl sei, sagt Gafner. Denen könne man sagen, dass eine Kamera keine Killermaschine sei. «Viele sagen zudem, man könne sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es sei, direkt ab dem ‹Bitz› zu kommen und dann sofort Hochkarätiges von sich zu geben.» Dies


medientraining

erklärt die Floskeln. Denn die verschaffen erst einmal Zeit, um sich eine Antwort zu überlegen. Das Du ist tabu Gafner führt fürs Schweizer Fernsehen Kurzinterviews in der Pause oder nach Spielschluss. Und er coacht Fussballer, wie sie sich in Interviews verhalten sollen. Natürlich, sie muss kommen, die Frage nach der Unabhängigkeit. Spielern erzählen, was sie später ins Mikrofon sagen sollen, ist das professionell? «Die Frage liegt auf der Hand», sagt Gafner. Er hört sie nicht zum ersten Mal. Aber: Was er mache, sei lediglich ein Wissenstransfer. «Es geht darum, Grundregeln zu vermitteln. Wir trimmen die Spieler auf Fernsehinterviews, auf ein Verhalten vor der Kamera. Was sie dann wirklich sagen, können wir ja nicht beeinflussen. Und auch kritische Fragen für eine künftige, reale Interviewsituation behalten wir uns ausdrücklich vor.» Der Arbeitgeber SRF hat die Engagements bewilligt. Professionalität soll auch garantieren, dass beim SRF wie bei anderen Sendern vorgeschrieben ist, die Spieler zu siezen. Dabei ist ein Interviewer, der länger als

ein paar Wochen dabei ist, mit allergrösster Wahrscheinlichkeit mit den allermeisten Spielern per Du. Weil das «Du» vor der Kamera aber nicht über die Zunge gehen soll und das «Sie» umständlich ist, flüchten Interviewer so oft in die dritte Person. «Was fühlt ein Hakan Yakin?» Ein bekannter Basler spielt das Spiel seit Jahren mit – allerdings unbewusst, wie wir vermuten. Wir sagen nur: «Ein Alex Frei gibt nie auf.» Bei Arrivierten und Funktionären geht Gafner in seinem Medientraining einen Schritt über die Grundlagen hinaus. Er fordert sie mit fiktiven, perfiden Fragen. Beispiel: David Degen, unvorbereitet, Frage: «David Degen, Sie wurden am frühen Morgen in der Disco gesehen. Erklären solche Aktivitäten Ihre Leistung auf dem Platz?» Oder: Klubfunktionär, unvorbereitet, Frage: «Ein Spieler hat Geld erhalten, damit er ein Eigentor schiesst. Wann entlassen Sie ihn?» Mit fiktiven Beispielen sollen die Fussballer auf Kampagnen vorbereitet werden. Gafner räumt ein, dass es in Deutschland bei FussballerInterviews viel härter zur Sache geht als in der Deutschschweiz, «fadegrad». Es sei nicht so, dass SRF keine kritischen Inter-

views wolle, nur müsse man sich bewusst sein, was ein solcher Schlagabtausch nach sich ziehen könne. Amüsant werde es, wenn das Interview einen unerwarteten Lauf nehme. Nach dem 3:0-Sieg der Schweiz gegen Luxemburg gratulierte SRF-Mann Reto Gafner Benjamin Huggel. Er sei sich sicher bewusst, dass er Fussball-Geschichte geschrieben habe. Huggel: «Ehrlich? Nein, ist mir nicht bewusst.» Gafner: «Das 1000. Tor der Schweizer Nati.» Huggel: «Habe ich heute geschossen? Nein, das ist nicht wahr, oder?» Gafner: «Sie wissen es wirklich nicht, oder spielen Sie jetzt?» Huggel: «Ich dachte, ich hätte das 999. Tor gemacht.» Gafner: «Nein, ein Spiel ging vergessen, es war das 1000.» «Okay, dann freuts mich.» Und dann fügte ein Beni Huggel noch an: «Aber mehr freut mich, dass wir drei Punkte gewonnen haben.»

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Der WolfPakt

Text: Jürg Ackermann / Bilder: Aus dem Buch «Der Wolf»

Was für eine Lobby! Paul Wolfisberg liess in seiner Zeit als Nati-Trainer den «Blick» ganz nah ran – und hatte damit eine Garantie auf eine wohlwollende Berichterstattung selbst bei unehrenvollen Niederlagen.

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er Vollbart von Paul Wolfisberg war nicht nur für den «Blick» ein Glücksfall. Er verlieh in seiner Ähnlichkeit mit der Bartpracht von Wilhelm Tell auch den Spielern Selbstvertrauen und Kampfgeist. «Mit Wolfisberg am Seitenrand fühlen wir uns so kampfbereit wie die alten Eidgenossen», sagte Heinz Hermann. Und Andy Egli meinte nach Karriereende: «Wolfisberg war für mich wie Wilhelm Tell. Er verkörperte das Zuverlässige, Positive, aber auch das Mürrische und Verchnorzte. Er strahlte eine grosse innere Kraft aus.» Anspielungen auf den Nationalhelden waren in Zeiten des Kalten Krieges auch ein politisches Statement, das dem rechtsbürgerlichen Zeitgeist, für den der «Blick» damals noch als Echoraum und Verstärker funktionierte, entsprach. Die Zeit war eine andere: Militär-Defilees lockten noch 1982 120 000 Zuschauer nach Emmen; Zehntausende Schweizer Soldaten übten Krieg in grossräumigen Manövern im Mittelland; der Borkenkäfer drohte

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die Wälder abzufressen; einige Kantone wie St.  Gallen hatten das Zusammenleben von unverheirateten Paaren noch nicht legalisiert – und der FC Nordstern spielte ein letztes Mal in der NLA. Signale der Journaille Dass die Medien in seiner Arbeit eine wichtige Rolle spielen würden, war Paul Wolfisberg von Anfang an klar. Ehe er im Februar 1981 als Nati-Coach zusagte, konsultierte er die beiden einflussreichsten Sportjournalisten des Landes. Trauten sie es ihm zu? Wie standen seine Aktien? «Sport»-Chefredaktor Walter Lutz und vor allem «Blick»-Reporter Mario Widmer sandten positive Signale. Wolfisberg hätte aber wohl auch bei weniger Zuspruch zugesagt. Von widrigen Umständen hatte er sich noch nie abschrecken lassen. Dass damals einige Vereinspräsidenten meinten, nur ein Wahnsinniger würde den Job übernehmen, liess ihn kalt. Wolfisberg sagte in einem Gespräch 2006 für das Buch «Die Nati», dass ihn die Aufgabe umso mehr gereizt habe, je negativer über die Nationalmannschaft berichtet

worden sei. Nach der Ära des erfolglosen Leon Walker konnte es nur noch aufwärtsgehen. Die Erfolge liessen nicht lange auf sich warten. Zwar verpasste die Schweizer Nationalmannschaft auch unter Wolfisberg die Qualifikation für eine Endrunde, doch sie entfachte Freude und Begeisterung, angefeuert von überraschenden Siegen gegen England oder Italien und vor allem der äusserst wohlwollenden Berichterstattung des «Blicks». So einseitig hatte das Boulevardblatt weder vorher noch nachher über einen Nationalmannschaftstrainer geschrieben: Während fünf Jahren liess Mario Widmer kaum ein negatives Wort über Wolfisberg fallen. An Niederlagen waren stets die widrigen Umstände, der überragende Gegner, die eigenen Spieler oder der Schiedsrichter schuld. An Wolfisbergs Aufstellung oder Taktik hatte es nie gelegen. Der «Blick» stilisierte den vollbärtigen Coach zum «sympathischen Anführer» eines «Wolfsrudels». Dank dieser äusserst positiven Darstellung in der wichtigsten und damals noch mit Abstand auflagestärksten Zeitung wurde Wolfisberg bald einer der populärsten Schweizer, für den sich in schwierigen Zeiten selbst Parlamentarier einsetzten. So forderten 22 National- und Ständeräte wie Adolf Ogi oder Monika Weber mit der Petition «Wir wollen Wolfisberg» die Rückkehr des Nationaltrainers, der nach dem Auftaktspiel zur


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Die Geburt des Wolfsrudels: Paul Wolfisberg bei seinem Amtsamtritt als Nationaltrainer 1981. (Bild: Keystone)

WM-Qualifikation im September 1984 in Norwegen genug hatte – vor allem vom schwierigen Verhältnis zum damals noch amateurhaft organisierten Fussballverband und der kritischen Berichterstattung in Westschweizer Medien. Wolfisberg, der Mario Widmer vom «Blick» als Einzigen über seine Rücktrittspläne vorgängig eingeweiht hatte, liess sich von der grossen Solidaritätskundgebung beeindrucken und kehrte für nochmals fast zwei Jahre an die Seitenlinie zurück. 62 Artikel für ein Spiel 1989, nach drei erfolglosen Jahren unter Daniel Jeandupeux, liess sich Wolfisberg von seinem Vertrauensmann beim Boulevardblatt ein zweites Mal zu einer Rückkehr überreden, diesmal allerdings nur für ein Spiel. In der beispiellosen Kampagne «Der Wolf muss wieder her» forderte der «Blick» mit 62 Artikeln in nur drei Monaten die Rückkehr des Luzerners. Jeandupeux war in der Berichterstattung längst zu einem negativen Spiegelbild seines vom Boulevard geliebten Vorgängers geworden. Der Jurassier, der zuvor als 32-jähriger Fussballtrainer den FC Zürich zum Meistertitel geführt hatte, war Widmer zu intellektuell, zu sehr Westschweizer, zu wenig Identifikationsfigur für eine breite Masse. Ein Dorn im Auge war dem einflussreichen «Blick»-Reporter auch die Tatsache, dass die von Romands dominierte Verbands-

spitze mit der Wahl Jeandupeux' ein Signal gegen die zunehmende Machtfülle des «Blicks» ausgesandt hatte. Dass Wolfisberg Widmer mit intimen Details aus dem Innenleben der Mannschaft fütterte und sich von ihm zuweilen auch beraten liess, war längst bis an den Verbandssitz in Bern vorgedrungen. Der Graben zwischen Deutschschweiz und Romandie wurde durch die polarisierte Berichterstattung noch künstlich verstärkt. Während der «Blick» die legendäre «Abbruch GmbH» um die Verteidiger Zappa, Egli, Lüdi, In-Albon, Wehrli und Herbert Hermann zum neuen Bollwerk und Herzstück der Nationalmannschaft hochstilisierte, schworen die

Romands und vor allem auch der «Sport» auf Platini-ähnliche Typen wie Lucien Favre oder Umberto Barberis, die beim «Blick» wiederum als «Schönspieler» und «Selbstdarsteller» verschrien waren. Es kam in der Mannschaft immer wieder zu Spannungen, insbesondere zwischen Egli und Favre. Das Bild, das der «Blick» in dieser Frage vom Nationaltrainer zeichnete, entsprach jedoch nicht ganz der Realität: Wolfisberg hegte – obwohl er sich aufgrund der verfügbaren Spieler für ein Konzept des Kampffussballs entschieden hatte – durchaus Sympathien für die welsche Mentalität. Er führte als Trainer mit lockeren Zügeln, zudem hatte ihm das Spielerische und Technische auch

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als Aktiv-Fussballer nähergelegen. Nicht als Haudegen in der Innenverteidigung, sondern als filigraner Mittelfeldregisseur führte Wolfisberg den FC Luzern 1960 zum Cupsieg. Reisen auf «Blick»-Kosten Auch wenn Mario Widmer in der Berichterstattung über die Nati viele Kriterien des objektiven Journalismus ignorierte, profitierte der Schweizer Fussball letztlich von der engen Bande zwischen Boulevardjournalist und Nationalmannschaftstrainer. Denn sosehr Widmer für Wolfisberg Partei ergriff, so heftig kritisierte er immer wieder die Verbandsfunktionäre, die meist ehrenamtlich arbeiteten und der Zeit hinterherhinkten. Das Misstrauen war teilweise so gross, dass einzelne Nati-Sponsoren das Geld direkt Wolfisberg überwiesen und nicht dem Verband. Die ständige Kritik von Wolfisberg und Widmer an der mangelhaften Arbeit der Amateurfunktionäre führte dazu, dass der Verband – wenn auch vorerst nur widerwillig – spätestens ab der Qualifikationsphase für die WM 1986 in Mexiko professionellere Strukturen schuf, den Spielkalender den Bedürfnissen des Nationalteams unterordnete und diesem eine geordnete Vorbereitung ermöglichte. Wie eng die Zusammenarbeit zwischen «Blick» und dem Trainer war, zeigte ins-

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besondere die Afrika-Reise im Dezember 1983, die auch darum in die Geschichte einging, weil Wolfisberg später zugab, mit den Spielern einen Joint geraucht zu haben. Lange vor der Vereinheitlichung der internationalen Spielkalender gelang es Wolfisberg, die Spieler vor Weihnachten für eine zehntägige Reise auf den Schwarzen Kontinent freizubekommen. Zu den Matches in Algerien, der Elfenbeinküste, Simbabwe und Kenia reiste die Mannschaft in einer gecharterten Grossraummaschine der Swissair mit 240 Fans (vorab «Blick»-Lesern) und fünf «Blick»-Reportern an Bord. Das Boulevardblatt hatte die Reise zusammen mit Wolfisberg und Erich Vogel organisiert und auch mitfinanziert. Die enge Verbindung zwischen «Blick» und Nationaltrainer manifestierte sich aber nicht nur auf der Afrika-Reise. An die Auslosung der Qualifikationsgruppen für die EM 1984 reiste Wolfisberg ebenfalls auf Einladung des Boulevardblatts nach Paris, an die WM 1986 in Mexiko durfte der «Wolf» trotz verpasster Qualifikation mit den «Blick»-Journalisten mitreisen. Schon nach dem ersten gemeinsamen Abend machten Geschichten die Runde, die neben Wolfisberg und Widmer einige hübsche Mexikanerinnen und einen komplett entleerten Feuerlöscher auf dem Hotelflur beinhalteten. Überhaupt gab es in den 1980erJahren noch kaum Mauern zwischen Nationalspielern und Journalisten. Anders als heute, wo die hoch bezahlten Stars wie Staatschefs bewacht werden, trank man abends nach einem Spiel auch mal ein Bier an der gleichen Bar. So sang TVKommentator Jan Hiermeyer 1982 am Abend vor dem Qualifikationsspiel gegen Rumänien als qualifizierter Alleinunterhalter vor der versammelten Mannschaft gar Seemannslieder. Wolfisberg bedankte sich im Namen des Teams mit einem Fanion. Bei Freundschaftsspielen kam es auch vor, dass der «Blick» die Geschenke für die Gästemannschaft sponserte. Hilfe auch im Privaten Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Boulevardblatt und dem Nati-Coach

ging über dessen (erste) Amtszeit hinaus: Widmer stand Wolfisberg auch zur Seite, als dieser im Dezember 1986 seine bisher schwersten Tage erlebte. Wolfisbergs Sohn Eric war zu einer Abenteuerreise auf die Philippinen aufgebrochen, von der er nie mehr zurückkommen sollte. Widmer reiste mit Wolfisberg auf die Philippinen und half mit seinen Englischkenntnissen bei der Suche. Gleichzeitig kam er dadurch zu Stoff für exklusive Geschichten im «Blick», wie die beiden Wolfisberg-Biografen Markus Föhn und Christian Wandeler schreiben. So titelte der «Blick» am 10. Februar 1987: «Wolfisberg: Mein Sohn wurde von Piraten verschleppt». Diese Theorie liess sich jedoch nie verifizieren. Mit grösster Wahrscheinlichkeit ertrank Eric Wolfisberg zusammen mit weiteren Passagieren auf einer Bootsfahrt. Ihre Leichen wurden jedoch nie gefunden. Eine hervorragende Beziehung unterhielt Wolfisberg stets auch zum Journalisten Miklos Szvirscsev, der für verschiedene Luzerner Zeitungen arbeitete, ein enger Freund und Berater war und auch Ottmar Hitzfeld nahestand. So organisierte der gebürtige Ungar vor der letzten Qualifikationsrunde für die WM 1982 in Spanien ein Treffen mit dem ungarischen Nationaltrainer Kalman Meszöly in einer Beiz in Bern. Mit dabei war auch Mario Widmer. Zusammen mit Wolfisberg wollten sie die bereits für die Endrunde qualifizierten Ungarn davon überzeugen, dass sie auch im letzten Spiel gegen England noch alles gaben. Nur so konnte sich die Schweiz eine kleine Chance ausrechnen, ebenfalls nach Spanien zu fahren. Im Buch «Der Wolf» plaudert Wolfisberg auch in dieser Beziehung äusserst freimütig. Er gehe davon aus, dass man den Ungarn eine schöne Stange Geld geboten habe. Genützt hat es nichts. Die Ungarn verloren in England 0:1, und die Schweizer waren – trotz Wilhelm Tell an der Seitenlinie – an einer wichtigen Endrunde einmal mehr nur Zuschauer.


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▲ Suchte schon früh die Nähe zur Trainergilde: «Blick»-Reporter Mario Widmer 1977 mit FCZ-Coach Timo Konietzka. (Bild: RDB) Der Wolf posiert in Ballonseide der Schweizer Nationalmannschaft für eine Autogrammkarte, die in den frühen 80ern in wohl jedem Bubenzimmer hing. (Bild: zvg)

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Spieler kommen, Fans gehen, Heinz Minder bleibt. Seit 35 Jahren schreibt er für Zeitungen Spielberichte über den Zürcher Zweitliga-Klub Effretikon. Erlebt hat er einiges: Bombendrohungen in Wil, Multikulti-Klagen aus Schwamendingen. Einen Vertrag als Berichterstatter hat er nicht – doch der läuft weiter. Text: Nikolas Lütjens / Bilder: Frank Blaser

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ie Worte des Trainers hat Heinz Minder noch im Ohr: «Ascona cha gar nüt. Die ziehmer im Schilf ume.» Und dann? «Achtung, fertig, los, schon lag Effretikon 0:5 hinten.» Minder sitzt an einem Restauranttisch und hält Rückschau. Seine Brille sieht aus wie diejenige von Gilbert Gress, seine Sätze machen keine Umwege. 60 Jahre alt ist Minder im September geworden. Er hat in seinen Worten «die Schallmauer durchbrochen». Gleiches ist ihm als Korrespondent gelungen. Seit 1977 hat er weit über 1000 Spielberichte geschrieben. Zu Beginn noch auf einer Schreibmaschine. «Die Texte lieferte ich danach mit dem Auto auf den Redaktionen in Effretikon, Wetzikon und Winterthur ab.» Unterdessen schreibt er längst auf einem Laptop. Vor Kurzem stürzte sein alter ab – unwiderruflich. «Wahrscheinlich waren meine Texte zu lang», scherzt Minder. Der Mann der vielen Sätze Seine Matchberichte ähneln in der Tat eher Epen. Unter zwei Word-Seiten macht es Minder im Normalfall nicht. Dafür weiss er zu viel über die regionalen Fussballklubs, dafür flicht er zu gerne vor dem Anpfiff gemachte Aussagen der Trainer ein. Auch seine Spieltelegramme zeugen von einer grossen Freude am Detail. «Was andere in zwei Sätzen abhandeln, kann bei Heinz mehrere Seiten lang sein», sagte einst FC-EffretikonTrainer Marcel Erismann. Schreibstau kennt Minder auch nach 35 Korrespondentenjahren nicht. «Es schreibt einfach», sagt er lapidar. «Schliesslich passiert im Fussball immer etwas.» Jeweils 90 Minuten vor Spielbeginn ist Minder auf dem Platz und lässt sich von den Effretiker Verantwortlichen aufdatieren. «Ins Training gehe ich nicht», sagt Minder. Es tönt fast entschuldigend. Der frühere Reserveteam-Spieler war über 30 Jahre im Vorstand des FC Effretikon. Dem Klub fühlt er sich in der Berichterstattung dennoch nicht verpflichtet. «Ich schreibe, was Sache ist», will er festgehalten haben. Das bringt ihm schon

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mal Ärger ein. Die Verantwortlichen des Zürcher Quartiervereins Schwamendingen drohten ihm mit einer Klage, weil Minder – aus ihrer Sicht offenbar rassistisch – von einer «überhart einsteigenden Multikulti-Truppe» schrieb. Schiedsrichter fühlen sich wiederholt angegriffen, und von Effretiker Seite muss er sich des Öfteren anhören: «Du warst wohl an einem anderen Match.» Das Natel im Platz eingegraben Dass er nicht am Spiel war, können sie ihm hingegen nur sehr selten vorwerfen. Der als Exportfachmann für die Überseetransporte des Sauber-Formel-1-Teams verantwortliche Minder richtet seine Ferien zwar nicht mehr nach dem Spielplan des Zweitligisten aus. Er deckt aber fast alle Effretiker Partien ab – und darüber hinaus noch andere: Für die Zeitung «Der Landbote» schreibt Minder für die Montagsausgabe die Zweitliga-Zusammenfassung. Früher war er auch noch für die der Interregio und der 3. Liga verantwortlich. «Da war ich dann von Samstag um 14 Uhr bis Sonntag um 20 Uhr nur mit Regionalfussball beschäftigt.» Ein Pensum, für das es Leidenschaft braucht, Pflichtbewusstsein – und Masochismus. Schliesslich sind es die immer gleichen Trainer, die nach einer Niederlage «ihr Natel wieder irgendwo im Platz eingraben und nicht erreichbar sind». Die Frage drängt sich auf: Warum tut er sich das an? «Sicher nicht wegen des Geldes.» In der Deutschschweiz zahlt kaum eine Regionalzeitung mehr als 80 Franken für einen 2.-Liga-Bericht. Die Gründe für sein Engagement sind andere: «Ich kann schlecht Nein sagen. Und es gibt einem Genugtuung, wenn man weiss: Jetzt habe ich trotz widriger Umstände wieder etwas zusammengebracht.» Einmal bewarb sich Minder als Sportjournalist bei einer Zeitung. Ein Engagement kam nicht zustande. «Wieso, weiss ich nicht.» Die FussballBerichterstattung bleibt für Minder ein zeitintensives Hobby. Allein ist er damit nicht: Die meisten Schweizer Regionalzeitungen arbeiten mit fixen Klubkorrespondenten und räumen den

Spielberichten der lokalen Vereine Platz ein. «Nähe ist unser wichtigster Nachrichtenwert», sagt Christian Müller, Chefredaktor des «Zürcher Oberländer» und ehemals Sportchef, dazu. Der «Tages-Anzeiger», der von den Zeitungen mit nationaler Ausstrahlung am meisten über Amateurfussball berichtete und Minders Texte ebenfalls verwendete, hat sein Engagement nach Aufgabe der Regionalsplit-Strategie hingegen reduziert. «Wie ein Drogenkranker» Minder interessiert nicht, was die Zeitungen aus seinen Texten machen. Massive Kürzungen, umgeschriebene Berichte – egal. «Ich habe keine Zeit, das zu kontrollieren.» Am Montag sitzt er bereits um 6 Uhr wieder im Büro, Ermüdungserscheinungen kennt er offenbar nicht. «Immer auf 180, Vollgas», lautet seine Job-Devise. Auch für den «grossen Fussball» hat er keine Zeit. «Ich war seit Jahren nicht mehr im Letzigrund.» Dafür unzählige Male auf dem Eselriet, dem Zelgli und wie die lokalen Plätze alle heissen. Die Freude am Amateurfussball ist ihm dabei nicht abhandengekommen. «Ich bin hier viel näher dran, als ich es im Spitzensport sein könnte. Es ist familiärer – und es läuft immer etwas.» So einfach ist das manchmal mit den Erklärungen. Nick Hornby braucht nur mehr Worte. Der Fussball zieht sich durch Minders Leben. «Du bist wie ein Drogenkranker, du kannst nicht ohne», hat er des Öfteren Trainern nach deren Wiedereinstieg gesagt. «Aber ich», sinniert der 60-Jährige, «bin wahrscheinlich genauso.» Und der FC Effretikon liefert guten Stoff – wenn auch nicht für Herzinfarktgefährdete. Letztes Jahr schaffte der Klub am letzten Spieltag mit einem Tor in der 90. Minute den Klassenerhalt. 2010 stieg er bloss nicht aus der 2. Liga ab, weil ein Spieler des direkten Konkurrenten in der allerletzten Spielminute der Saison Gelb sah und sein Team deshalb in der entscheidenden Fairplay-Wertung hinter die punktgleichen Effretiker zurückfiel. Grosse Emotionen zeigt Minder selbst


in solchen Momenten nicht. «Ich bin keiner, der ‹Tor› schreit.» 12 Stunden für einen Bericht Und was macht Heinz Minder in der fussballfreien Winterpause? Er deckt die Partien des Eishockey-Zweitligisten Illnau-Effretikon ab. Das heisst zum Beispiel: Samstagmorgen, 11 Uhr, Abfahrt mit dem Car nach St. Moritz, Rückkehr um 23 Uhr und dann den Matchbericht schreiben. Minder erinnert sich an eine Fahrt nach Arosa, als der Speaker im zweiten Drittel

«noch eine freudige Nachricht für die Gäste aus Zürich durchgab». Die Polizei hatte wegen Neuschnees die Strasse nach Chur gesperrt. «Für uns hiess es Decken fassen und in der Zivilschutzanlage in der Eishallen-Garage übernachten.» Dass auch der Amateursport seine Risiken birgt, erfuhr Minder in Wil. Wegen einer Bombendrohung wurde die ganze Halle geräumt. «Ich blieb natürlich drin, ich musste schliesslich wissen, was passiert.» Und weil immer irgendetwas passiert, denkt er nicht ans Aufhören. «Ich habe

keinen Vertrag – doch der läuft weiter», sagt er. Die Folge: Seine freien Wochenenden im Jahr lassen sich an zwei Händen abzählen. «Ich bin ledig, habe keine Kinder. Sonst ginge das nicht.» Was entgegnet er Leuten, die ihn angesichts seines zeitintensiven Hobbys als Verrückten bezeichnen? «So hat mich noch niemand genannt», sagt Minder, ehrlich erstaunt. Dann schiebt er nach einer kleinen Pause nach: «Gut, die wenigsten wissen, wie gross mein Aufwand ist.»

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Text: Matthias Dubach

Bei Anruf: Warum schmücken sich Zeitungen mit Fussballern als Kolumnisten? Weil es aus verschiedenen Gründen gelesen wird. Eine Bestandesaufnahme in einem merkwürdigen Bereich des Sportjournalismus.

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eitungen haben ein Problem. Die angestellten Schreiberlinge müssen sich an die journalistischen Gepflogenheiten halten. Neutral, ausgewogen, richtig gewichtet und fair sollen die Artikel sein. Nicht bewiesene Schlagzeilen wie «Sepp Blatter ist korrupt» oder «Ottmar Hitzfeld ging fremd» würden den Verkauf kräftig ankurbeln – aber würden umgehend das berufliche Abseits und Verleumdungsklagen nach sich ziehen. Klare Meinungsäusserungen sind nur in einem Kommentar erlaubt. Doch auch da gibt es ein paar Regeln zu beachten. Eine Ehrverletzung oder ungeprüfte Behauptungen liegen in einem Kommentar ebenso wenig drin wie in einem Bericht oder einer Analyse. Die Lösung lautet: Geben wir einem Promi eine Kolumne und animieren ihn dazu, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Längst legendär sind Bundesliga-Kolumnen des mehrfachen Meistertrainers Max Merkel, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der «Bild»-Zeitung schonungslos über alles und jeden lästerte. «Mario Basler ist die teuerste Parkuhr der Welt – er steht rum, und die Bayern stopfen das Geld rein», ist einer der vielen Klassiker des Grantlers. «Früher

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hatte er Mühe, Omelett von Hamlet zu unterscheiden», schrieb er über Otto Rehhagel, oder «der Udo sollte nicht so viel auf Sieg wetten, sondern lieber seinen geliebten Aquavit herunterspülen» über Udo Lattek. Durch die Merkel-Kolumne konnte die «Bild»-Zeitung geharnischte, schlagzeilenträchtige Sätze abdrucken, die einen Redaktor womöglich vor Gericht gebracht hätten. Aber Merkel als prominentem Namen und Experten wurden die verbalen Pöbeleien, die bei der «Bild» dankbar von einem Ghostwriter noch zugespitzt wurden, stets durchgelassen. Und sie sorgten für Gesprächsstoff. Logischerweise war «der Merkel» in den besten Zeiten ein Verkaufsschlager für die deutsche Boulevardzeitung. Mit den Jahren wurde Merkel zahmer, seine Rolle in der «Bild» unbedeutender. Das Konzept der Fussballer-Kolumne blieb aber ewig jung. Johann Cruyffs wöchentliche Kolumne in der katalonischen Zeitung «El Periodico» über Fussball und den FC Barcelona hat in der Stadt zuweilen die Wirkung einer Papstrede im Vatikan. In Grossbritannien unterhält jede Zeitung eine Reihe von Kolumnisten aus Fussballerkreisen. Ehemalige Spieler oder Trainer dürfen ihre Sicht der Dinge dar-

legen, eine pointierte Meinung ist dabei wichtiger als das während der Karriere erarbeitete Renommee. Die BBC hält sich etwa den Ex-Kicker Robbie Savage als Experte und Taktik-Kolumnisten – obwohl der langhaarige Blondschopf weder die ganz grosse Karriere gemacht noch je eine Mannschaft trainiert hat. Viel wichtiger: Savage liess während seiner Aktivzeit keinen Fan kalt, war als Schwalbenkönig verschrien. Nun wird seine Kolumne auch von denen angeklickt, die ihn verabscheuen, nur um zu sehen, «welchen Mist er heute wieder schreibt». «Ein kleiner, bösartiger Intrigant» Die Schweizer Version von Robbie Savage heisst Kubilay Türkyilmaz. Der Tessiner ist seit Jahren beim «Blick» Kolumnist und geht gerne, von der Redaktion animiert, mit dem Zweihänder ans Werk. Der Inhalt ist sekundär. Dass der einstige NatiKnipser nicht selten grandios danebenliegt (2012: «Luzern holt gegen Basel den Cup», «Spanien fliegt bei der EM raus»), ist egal: Kubi und damit der «Blick» geben in der zuweilen einfach gestrickten Fussballszene zu reden. Am TrainerStammtisch dürfte Kubi kaum als Ehrengast auftauchen. Martin Rueda, Ottmar


kolumnen

: Kolumne Hitzfeld, Murat Yakin und Konsorten dürfen regelmässig im «Blick» lesen, was sie falsch machen – Türkyilmaz gibt gerne Ratschläge, obwohl auch er noch nie eine Mannschaft trainierte. Hitzfeld ist mittlerweile beim «Blick» Kolumnistenkollege, auch Yakin trat einst selber als Schreiber auf. Die Gratiszeitung «heute», die Vorgängerin des «Blick am Abend», druckte 2007 eine Kolumne ab, die sich gewaschen hatte. Yakin schrieb über den kurz zuvor aus der Nationalmannschaft geschmissenen Johann Vogel: «Ich habe ja schon immer davor gewarnt: Johann ist keine Integrations-Figur, sondern bloss ein kleiner, bösartiger Intrigant, ein Egoist, wie er im Buche steht. Kuhn hat vor dem Problem Vogel schon viel zu lange die Augen verschlossen. (...) Auch sportlich brachte Vogel überhaupt nichts mehr. Der Querulant der Nation spielte nämlich nur noch Alibi-Fussball und quer.» Einfacher Geld verdienen geht nicht Selbstverständlich hatte «heute» den «kleinen, bösartigen Intriganten» wirksam in die Schlagzeile gepackt, die Kolumne wurde überall zitiert. Der Wirbel um die Zeilen des damaligen

Concordia-Basel-Trainers nahm noch grössere Ausmasse an, als Murat Yakin auf seinen Text angesprochen wurde: «Ich weiss nicht, was drinsteht. Ich habe die Kolumne noch nicht gelesen.» Das Eingeständnis, nicht selber der Autor seiner Zeilen zu sein, mag überraschend wirken, ist es aber nicht. Schliesslich schreibt kaum ein Promi selber. Über­ raschender ist eher, dass Yakin sein Werk nicht gegengelesen hat. Für gewöhnlich ruft ein Redaktor den Kolumnisten an, das Thema wird besprochen und vom Journalisten niedergeschrieben. Eine Mail mit der Kolumne wird zum Gegenlesen verschickt, diese wird abgenickt oder noch korrigiert – viel einfacher kann man nicht ein nettes, sicher dreistelliges Taschengeld verdienen. Bei Stars wie Ottmar Hitzfeld, der für den Grossverlag Ringier den Kolumnisten gibt und damit beim «Blick» kaum je in die Schusslinie geraten wird, kann von einer deutlich höheren Entschädigung ausgegangen werden. Wer würde da bei einem Angebot, ein bisschen Kolumnist zu spielen, schon Nein sagen? Problematischer «Brief aus der Wüste» Auch Murats Bruder Hakan war einst unter die Kolumnisten gegangen – die Gratiszeitung «.ch» hatte 2008 den damaligen Nationalspieler verpflichtet. Der Zeitpunkt schien verlockend, Yakin war eben zum katarischen Verein Al-Gharafa gegangen und sollte bei «.ch» wöchentlich und exklusiv aus dem Mittleren Osten berichten. Für die Abwicklung war Donato Blasucci zuständig. Der

Yakin-Manager war Ansprechperson für die «.ch»-Redaktion. Er teilte mit, wann der Katar-Söldner am besten an den Draht zu bekommen war, und hatte in seinen eigenen Telefongesprächen mit Hakan auch bereits herausgefunden, welches Thema man behandeln könnte. Zunächst war Yakins «Brief aus der Wüste» eine nette Sache, weil Yakin tatsächlich allerlei interessante Details aus der exotischen Liga berichten konnte. Irgendwann glichen sich die Wochen aber immer mehr, im Winter wurde es grotesk. Während andere Schweizer Zeitungen über Yakins angeblichen Wechsel zu Xamax berichteten, liessen Blasucci und Yakin in der «.ch»-Kolumne alles dementieren. Der Schaden war aber angerichtet, der Schweizer wurde von den Scheichs abgestraft und in den goldenen Käfig gesteckt. In der Kolumne gab es nur noch Belanglosigkeiten zu vermelden, wegen des bestehenden Vertrags musste sie aber weitergeführt werden. Das Problem erledigte sich dann mit der Einstellung der Pendlerzeitung. Doch so einfach lassen sich die wenigsten Kolumnisten loswerden. Denn freiwillig verzichtet niemand auf diesen Schoggi-Job.

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Ballon d’Ohr Text: Mämä Sykora / Bilder: zvg, Corbis

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enry Blythe Thornhill Wakelam, geboren 1893, war ein stämmiger Bursche mit breiten Schultern. In seiner Zeit als Rugby-Spieler für Harlequin F.C. bekam er deswegen den Übernamen «Teddy». Mit 21 Jahren wurde er für den Dienst am Vaterland im Ersten Weltkrieg eingezogen und erarbeite sich dabei den Rang des Captains. Zurück bei den Harlequins, nahm er dieses Amt auch auf dem Rugby-Feld ein. Er war ein zuverlässiger,

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aber kein überragender Spieler. Dass Teddy Wakelam dennoch in die Geschichte einging, hatte andere Gründe. Am 1. Januar 1927 wurde der BBC das Recht zugesprochen, Sportveranstaltungen zu übertragen. Wenige Tage später klingelte bei Teddy Wakelam das Telefon. Er wurde gefragt, ob er jener Teddy Wakelam sei, der für die Harlequins gespielt habe. BBC-Produzent Lance Sieveking machte ihn mit der Idee vertraut, ein Rugby-Spiel live im Radio zu übertragen. Kurz darauf durfte sich Wakelam bei

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einer Partie der Schülermeisterschaft darin üben, und am 15. Januar sass der Quereinsteiger tatsächlich im TwickenhamStadion in London am Mikrofon beim Länderspiel zwischen England und Wales. Weil es für ihn sehr ungewohnt war, keinen Gesprächspartner vor sich zu haben, wurde ihm ein blinder Mann gegenüber platziert, der ihm auch anzeigte, ob er sich die geschilderte Situation vorstellen konnte. Und weil die BBC sich vor allfälligen Aussetzern des rauen RugbyGesellen fürchtete, hing an der Wand ein


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Es schien nur eine Frage der Zeit, bis das Radio den Fussball ganz an das Fernsehen abtreten müsste. Doch das Medium hat – nicht zuletzt dank Eigeniniativen von Fans – den Sport wieder für sich entdeckt.

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grosses Poster mit der Aufschrift «Don’t swear!» («Nicht fluchen!»). Zahlensalat im Highbury Die Technik funktionierte, das Experiment gelang. Und die BBC hatte schon die nächsten Ideen bereit. Schon in der folgenden Woche sollte erstmals ein Fussballspiel landesweit übertragen werden. Bei Premieren im Fussball ist Sheffield irgendwie immer dabei. Der F.C. Sheffield wurde als erster Fussballklub gegründet, der erste Match unter Flut-

licht wurde in Sheffield ausgetragen, und so kam auch der Gast an jenem 22. Januar 1927 im Highbury aus Sheffield. Die Programmzeitschrift «Radio Times» kündigte am Sonntagnachmittag «Gemeinschaftssingen und Arsenal gegen Sheffield United übertragen aus dem Highbury, London» an. Zudem fand sich darin eine Abbildung eines Fussballfelds, aufgeteilt in acht Rechtecke. Eine weitere revolutionäre Idee von Lance Sieveking: Während Wakelam das Geschehen beschrieb, sollte sein Sidekick C. A.

Lewis im Hintergrund jeweils die Nummer des Feldes rufen, in dem sich der Ball gerade befand. Hier soll der Ausdruck «Zurück auf Feld 1» seinen Ursprung haben. Für BBC-Hörer klang es an jenem Nachmittag so: « Oh! Pretty work, very pretty (section 5). Now up field (7), a pretty (5, 8) pass. Come on Mercer! Now then Mercer. Hello! Noble's got it (1, 2).» Die Übertragung des 1:1-Remis war ein voller Erfolg. Die «Times» lobte die «lebendige und beeindruckende

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Beschreibung des Spiels», Experten Wakelams «natürliche Sprache und sein angemessenes Vokabular», und der «Spectator» schloss: «Diese Art der Übertragungen wird uns sicherlich erhalten bleiben.» In Deutschland kam es schon ab 1925 vor, dass bei Fussballspielen ein Reporter mit dem Mikrofon neben dem Tor stand, der jedoch mehr von den Eindrücken denn vom Spiel selber berichtete. Die Zahl der Zuhörer war zu Beginn dieser Reportagen noch überschaubar. Ein Röhrenradio kostete damals 400 Reichsmark, was etwa drei Monatslöhnen eines gelernten Arbeiters entsprach. Bald konnte man deshalb in Gaststätten gegen 20 Pfennig Eintritt die Übertragungen hören. Besonders beliebt waren natürlich die Endspiele um die deutsche Fussballmeisterschaft: Innerhalb von zwei Jahren nach der ersten Liveberichterstattung stieg die Zahl der Hörer von 10 000 auf 800 000 an. «Emotionen funktionieren immer» Für solche Übertragungen musste noch ein ganzer Van voller Equipment angekarrt werden. Wenn Brian Ruchti

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und Simon Klopfenstein heute für ihr «Radio Gelb-Schwarz» (RGS) von einem Auswärtsspiel berichten, reicht dafür ein Aktenkoffer mit Mischpult, Mikrofon und Laptops. «Uns muss man nur einen Stromanschluss zur Verfügung stellen», so Brian. 2009 hat er zusammen mit «Simu» das YB-Fanradio lanciert. Seitdem überträgt RGS jedes Spiel der Young Boys über das Internet – und als auditive Unterstützung für Blinde und Sehbehinderte in und ums Heimstadion über UKW. «Sportradio.ch wurde eingestellt, fortan konnte man die YB-Matches nur noch über Teleclub verfolgen. Und das konnten oder wollten sich nicht alle leisten», erläutert Brian die Beweggründe für die Lancierung. Das Angebot stiess auf reges Interesse: Schon beim ersten Spiel schalteten 2500 Leute ein. Heute sind es im Schnitt gegen 7000, darunter viele Auslandschweizer, wenn YB in Zürich, Genf oder Sion antritt. Dabei bleiben die beiden Initianten und ihre Kollegen Dario Hitz und Gabriel Haldimann freilich nicht neutral, sondern leiden wie ihre Hörer mit, fluchen und feiern, jammern und jubeln. Genau darin sieht Brian den Grund

für den Erfolg: «Emotionen funktionieren immer. Und RGS transportiert diese.» Während ein neutraler Reporter es allen recht machen muss und dabei zu oft die Leidenschaft vermissen lässt, nutzt RGS die gebotenen Freiheiten ideal aus. Gerade in jenen Momenten, in denen das Kommentatoren-Duo mit überraschenden Assoziationen und in seiner humorvollen Art vom Geschehen auf dem Rasen abdriftet, nur um sich kurz darauf wieder mit einer starken Analyse zurückzumelden, offenbart sich die Qualität des Senders. «Das Radio lässt auch deutlich mehr Freiraum als das Fernsehen», meint Brian. «Ein Bild erschlägt dich fast, da bleibt kein Platz für eigenen Senf.» Dennoch schätzen viele Hörer die Kombination aus TV-Bild und RGS-Kommentar. «Die Schwäche der Teleclub-Kommentatoren ist sicher auch unsere Stärke», vermutet Brian. Bitte immer recht parteiisch Nicht nur die YB-Spiele werden in dieser Form abgedeckt, auch für den FCB, den FCZ, St. Gallen, Lausanne und Sion – auch schon mit CC am Mikrofon – existieren ähnliche Angebote. Der Markt


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der Fanradios boomt. Ein parteiischer Reporter schafft ein Gemeinschaftsgefühl beim Zuhören, und das zählt mehr als nüchternes Berichten. Brian will mit RGS aber noch mehr erreichen: «Uns hören viele junge Fans. Denen wollen wir auch gewisse Werte vermitteln, wie zum Beispiel – bei aller Parteinahme für YB – Respekt vor dem Gegner und dessen Anhängern.» Weil die Einführung eines Web-Radios mit praktisch keinen Kosten verbunden ist, Kreativität erfordert und gleichzeitig auch mit Zuhörern interagiert werden kann, ist sich Brian sicher, dass die Anzahl solcher Angebote auch weiterhin wachsen wird. Kürzlich hat denn auch GC-Sprecher Adrian Fetscherin, damaliger Gründer von Sportradio.ch, die Einführung eines GC-Radios «von und für Fans» bekannt gegeben. Christoph Sterchi, Redkationsleiter Sport von Radio SRF, sieht die prosperierenden Fanradios dennoch nicht als Konkurrenz: «Wer gesamthaft informiert sein will und eine nationale und objektive Berichterstattung wünscht, der kommt nur bei uns auf seine Kosten.» Zudem ist er mittlerweile davon überzeugt, dass beide

Seiten eine genug grosse Hörerschaft finden. Noch vor sieben Jahren hätte er prophezeit, dass zum heutigen Zeitpunkt von den Schweizer Meisterschaftspartien nur mehr das Resultat und ein paar Reaktionen nach dem Schlusspfiff über den Äther gehen würden. Doch mit der Einführung von DRS 4 News gab es plötzlich eine viel grössere Fläche, der Kampf um Sendeplätze fiel weg, und der Fussball fand wieder vermehrt Eingang ins Programm. Auch die anderen Sender merkten bald, dass Fussball im Radio nach wie vor gut klingen kann und auf grosses Interesse stösst, worauf dem Rasensport wieder mehr Platz eingeräumt wurde. Radio SRF überträgt die Pflichtspiele der Nati live über 90 Minuten, von den Super-League-Partien gibt es auf Radio SRF 1 und SRF 3 Einschaltungen fast im Viertelstundentakt. «Das kommt bei den Hörern gut an, und die Einschaltquoten sind sehr zufriedenstellend», versichert Christoph Sterchi. Spielplan verhindert Konferenz Ob diese steigende Tendenz anhält, kann Sterchi hingegen nicht garantieren.

«Einen ganzen Match der Super League integral zu begleiten, ist für uns kaum möglich.» Bei fünf Spielen pro Runde und drei verschiedenen Anspielzeiten fehlt etwa die Möglichkeit einer Konferenzschaltung, für die das Radio sich nach Ansicht Sterchis viel besser eignet als das Fernsehen. «Als nationales Unternehmen können wir natürlich nicht 90 Minuten GC gegen YB übertragen, ausser es ist das entscheidende Spiel. Sonst würden wir die Hörer aus Basel oder Luzern vergraulen.» Ein Meisterschaftsspiel in voller Länge gab es ohnehin noch kaum im öffentlich-rechtlichen Radio der Schweiz. Bis in die 1950er-Jahre gab es die originelle Zwischenlösung, dass von jeder Runde eine Halbzeit einer Partie live übertragen wurde. «Wenn es Kollisionen mit anderen Programmen gab, dann war das auch mal die erste Halbzeit», wie sich Radiolegende Sepp Renggli erinnert. Erst danach initiierte der heute 88-Jährige die Konferenzschaltung nach deutschem Vorbild in der Sendung «Sport und Musik». «Das Radio ist am Fussball gewachsen und umgekehrt», urteilt er über die Anfangszeit der Berichterstat-

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Der Übertragungswagen der BBC im Einsatz für die Partie Corinthian F.C. gegen Newcastle im Februar 1927.

tung. Als er in den 1940er-Jahren beim Studio Zürich begann, gab es dort noch kein Sportressort, und die Kollegen von Politik und Kultur schauten verächtlich auf die Sportkommentatoren herab. Aufgrund der Beliebtheit namentlich der Fussballländerspiele und der Tour de Suisse musste das Sportangebot aber wohl oder übel ausgebaut werden. «Gody, bleib ruhig!» Die Stimmen, die bei Fussballpartien über den Äther in Schweizer Wohnzimmer drangen, gehörten Hans Suter, JeanPierre Gerwig oder Gody Baumberger. Die Sprache, die sie dabei benutzten, war eine sehr sachliche, aus heutiger Sicht sogar trockene. Nur bei ganz ausserge-

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wöhnlichen Spielen gehen die Emotionen mal etwas hoch. Als Gody Baumberger 1967 den sensationellen 7:1-Sieg über Rumänien in der EM-Qualifikation kommentiert, klingt es so: «Künzli im Strafraum. Flankt weit nach links. Von hinten kommt Dürr! Und dann Blättler! 5:0! Ungl... ! Gody Baumberger, bleib ruhig! Es ist 5:0. Überschlag dich nicht! Meine Mutter hat mir immer gesagt, wenn ich mich aufrege, soll ich bis 10 zählen. Ich habe das innerlich getan, obwohl ich mir ehrlicherweise Zwang antun musste.» Solche Ausbrüche waren aber die absolute Ausnahme. Eine ruhige, sachliche Berichterstattung war indes keine Auflage des Senders, wie Renggli versichert, «aber das passt nun mal besser

zum Charakter von uns Schweizern. Wir haben halt auch länger, bis wir das richtige Wort gefunden haben.» Einen guten Kommentator macht für ihn natürlich eine feine Sprache aus, gepaart mit einem guten Fussballverständnis und einer Portion Schlagfertigkeit. Lobend erwähnt er dabei Jean-Pierre Gerwig, einen ausgebildeten Schauspieler, der auch mal einen lockeren Spruch einfliessen liess. Wie etwa jene Bemerkung in einer NLA-Partie der Young Fellows, nachdem ihr Spieler Markus Hösli verletzt vom Platz hatte gehen müssen: «Young Fellows spielt ohne Hösli.» Sepp Renggli, der diesen Match im Studio begleitete, musste daraufhin einen Anruf einer besorgten Hörerin entgegennehmen, die den Spruch etwas zu wörtlich auffasste. Es waren diese Momente der unkontrollierten emotionalen Ausbrüche, die für die Zuhörer zu magischen Radiomomenten wurden. Von Herbert Zimmermanns Kommentar zum WM-Endspiel in Bern 1954 können noch heute


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So leiden Kommentatoren bei YB-Spielen: Brian Ruchti (l.) und Simon Klopfenstein, die Initianten von «Radio Gelb-Schwarz.

viele Deutsche lange Passagen auswendig nachsprechen. «Turek, du bist ein Teufelskerl!», schrie er über den deutschen Keeper ins Mikrofon, «Turek, du bist ein Fussballgott!» Und als er sich wieder gefangen hatte: «Entschuldigen Sie die Begeisterung, die Fussballlaien werden uns für verrückt erklären, aber bedenken Sie bitte: Heute ist nun mal Deutschlands Fussballtag!» Für derartige Eruptionen braucht sich heute niemand mehr bei den Hörern zu entschuldigen. Bei der WM 2010 schrien, litten und plauderten für Radio SRF Reto Held, Peter Schnyder und Co-Kommentator Hanspeter Latour gleich zu dritt während der Spiele der Schweizer – und das selbtsverständlich auf Schweizerdeutsch. Ein fremdsprachiger Zeitreisender aus den 1950er-Jahren hätte selbst nach der Partie Schweiz gegen Honduras den Eindruck gehabt, soeben das grösste Fussballspiel aller Zeiten mitverfolgt zu haben. Herbert Zimmermanns Pendant, der Ungar Györgi Szepesi, verfiel im besagten Endspiel hingegen in einen singenden

Jammerton, der einem beim Zuhören noch heute trotz der fremden Laute das Herz zerreisst. Hunderte Tode in einer Atempause Ein Fussballkommentator am Radio hat eine viel grössere Macht als sein TVKollege. Der Zuhörer ist ihm gänzlich ausgeliefert, denn er kann nicht überprüfen, ob die Reaktionen des Sprechers zum Geschehen auf dem Platz passen. Schriftsteller Ronald Reng beschrieb in seinem Buch «Der Traumhüter» über Torwart Lars Leese, wie er dessen Partien in England verfolgte: «Die Radioreportage war eine einzige Qual. Barnsley verteidigte, und der Reporter sagte natürlich nicht: ‹Ein Schuss von Berger, aber ich bin mir sicher, Leese wird ihn halten.› Nein, der Reporter, dieser Höllenhund, schrie: ‹Ein Schuss von Berger, gefährlich, und ...›, und dann macht er eine kunstvolle Pause, ‹gehalten von Leese›, sagt er dann dramatisch, aber in der Atempause davor war ich natürlich schon Hunderte Tode gestorben.»

Ende der 1990er-Jahre, als Leese in England spielte, hatte der Fussball im Radio nur mehr eine kleine Nebenrolle. Nur wer die Partie nicht am Fernsehen schauen konnte – weil sie nicht übertragen wurde oder weil man gerade unterwegs war –, vertraute noch dem Radiokommentator. Den Niedergang des Mediums besangen Queen in ihrem Heuler «Radio Ga Ga»: «Let's hope you'll never leave old friend / like all good things on you we depend.» Als der Song 1984 erschien, stimmte die Textzeile «Everything I had to know / I heard it on my radio» in Bezug auf Fussball schon nicht mehr. Noch bis kurz zuvor war das Fernsehen gemäss Sepp Renggli für den Radio-Fussball hierzulande keine Konkurrenz, doch dann setzte sich die Journalistenweisheit «Bild schlägt Ton» auch bei den Konsumenten durch. Das Fernsehen wurde zum unangefochten Nummer-eins-Medium für die Fussball-Berichterstattung. «Zu Recht», findet Sepp Renggli. Eine Einschätzung, die heute weniger Leute teilen als zu Freddie Mercurys Zeit.

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AZ

Die Zeitschrift für den FussballLiebhaber von heute.

Nr. 147

50. Jahrgang

Zürich

15. Februar 2013

50 Rp.

Erscheint Montag, Mittwoch, Freitag Tel. 031 30 40 50 Druck: Offset – Buchdruckerei AG, Zürich

50 Rp.

Text: Peter Hartmann / Bild: zvg

Heute Er spielte in der ersten Liga, der Zürcher «Sport». Und seine Journalisten fühlten sich wie im Paradies. Doch publizistische Fehler und der Zeitgeist rafften das Qualitätsblatt schliesslich dahin. Ein einstiger Redaktor blickt zurück.

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ie konnte diese prallgefüllte Wundertüte des Sports eines Tages einfach verschwinden? Gibt es eine Schuldfrage? Wahrscheinlich hat das Fernsehen dem Lesevergnügen den Garaus gemacht und das Interesse abgetötet. Die Flut von Bildern und Palavern auf immer neuen Kanälen. Die Konkurrenz der Tageszeitungen. Diese Bulimie von Skandalen, Stars, Sensationen. Die Sonntagsblätter, die das Wochenende mit dem Staubsauger aufarbeiteten, und niemand musste mehr bis Montag warten, bis ihm jemand den Samstag erklärte. Kurzsichtige, risikoscheue Verleger. Oder einfach der Zeitenwandel. Es fährt auch niemand mehr Hickory-Ski, und Fussballschuhe sind so leicht wie früher

Die verschwundene Wundertüte

Handschuhe. Zeitungen sind gratis und stehen Tag und Nacht neu im Internet. Andererseits ist die rosafarbene «Gazzetta dello Sport», erstmals 1896 gedruckt, die meistgelesene Zeitung Italiens. Jedes Exemplar wird von zehn Neugierigen durchgeblättert. In Japan wird «Tokyo Sports» von 2,2 Millionen Menschen genutzt. Und das US-Hochglanzmagazin «Sports Illustrated» verkauft sich 3 Millionen Mal. Bei den ganz Grossen Es gab aber diese Zeitung in der kleinen Schweiz, «Sport» hiess sie, mit dem unverkennbaren Logo, dem auffälligsten «Kauf-mich!»-Signal am Kiosk. Der typografisch geniale «Sport»-Balken

war gleichermassen Inhaltsversprechen wie Markenzeichen der Zuverlässigkeit. Stand schlicht für Glaubwürdigkeit. (Im Sport müssen, was bei Banken nicht mehr so sicher ist, die Zahlen und Fakten stimmen, die Meinungen sind frei.) Das Blatt wurde von allen gelesen. Als Fachblatt von Sportlern und Trainern und Verbandsbüffeln, die sich Lob oder Tadel abholten, von den Fans vom Schüler bis zum Bundesrat (Furgler, Gnägi, Ogi), vom grossen Publikum sowieso und den Besserwissern der Konkurrenz, die sich am Füllhorn mit Ideen bedienten. In der Abokartei schlummerte wie eine Ehrenmeldung mit Goldrand jahrzehntelang der Eintrag von Maximilian Schell, dem Oscar-Preisträger und ehemaligen


GC-Fussballjunior, der sich auch in Hollywood oder Wien oder München über seinen Heimatklub und die weite Welt des Sports auf dem Laufenden hielt. Korrespondenten aus den wichtigen Sportnationen garantierten authentische Information. Der «Sport» spielte prestigemässig in der gleichen Liga wie die «Gazzetta» oder «L’Equipe». In den Glanzzeiten der Siebzigerjahre erreichte er montags eine Auflage von 120 000 Exemplaren und mehr als 300 000 Leser hauptsächlich in der Deutschschweiz. Seine Sternstunde schlug am 4. Juni 1938, in der Nacht nach dem Triumph der Schweizer Fussballer im Pariser Parc des Princes, als die Druckmaschinen die Schlagzeile «Unser schönster Sieg: Deutschland 4:2 geschlagen» hämmerten, die auch heute noch Gültigkeit hätte. Tausende von euphorischen Patrioten belagerten die Redaktion in der Nähe des Bellevue, um sich ein Exemplar zu sichern. Während der Kriegsjahre hingegen segelte der «Sport» mehrmals knapp am Bankrott vorbei. Das universale Fachblatt – mit der Titel-Unterzeile «Organ für alle Sportzweige» – auferstand mit den sagenhaften Husarenritten der «Giganten der Landstrasse» (Originalwortschöpfung «Sport») – Ferdi Kübler und Hugo Koblet – im Giro d’Italia und in der Tour de France, die dazu führten, dass jeweils die ganze Nation bei der Tour de Suisse den Helden Spalier stand. Die grosse Popularität des Radsports kam dem «Sport» sehr entgegen. Heute würde ein neues Projekt mit einer ähnlich traumhaften Akzeptanz im Handumdrehen auf den Markt geworfen. Der «Sport» jedoch ist längst von der Konkurrenz überrundet worden, war auch in der Magazinform nicht überlebensfähig und starb unbeachtet – Ist es schon zwanzig Jahre her? War Xherdan Shaqiri schon auf der Welt? – den Tod allen Zeitungspapiers. Nur der elegantdynamische «Sport»-Schriftzug lebt in unzähligen Designvarianten weiter, als

rezykliertes Signet etwa auf dem Schutzblech von Vespa-Rollern. Ein journalistisches Paradies Gegründet hatten das am 20. Dezember 1920 erstmals erschienene Sportblatt der Herausgeber Julius Wagner, Chefredaktor Hanns Buchli und Verleger Max Fenner, der schon nach drei Jahren das Handtuch warf und den Titel an den Drucker Jean Frey verkaufte. Im St. Moritzer Olympiajahr 1928 übernahm der Berner Oberländer Lehrer, Skipionier und Offizier Fritz Erb, der legendäre «Pickel-Fritz», die Redaktionsleitung. Sein Sohn Karl Erb schrieb in den Fünfziger- und Sechzigerjahren über Ski- und Autorennen für das Blatt, ehe er zum neuen Medium Fernsehen überwechselte. Krisen suchten den «Sport» so sicher heim, wie im Schweizer Sport Erfolgszyklen sich mit Absturzphasen abwechselten. Die Olympischen Winterspiele 1964 in Innsbruck wurden zum Marignano, ohne einzige Medaille. Danach erfand sich auch der «Sport» neu. Der Berner Sportjournalist Walter Lutz, der führende Meinungsmacher der Branche, verwandelte die bleilastigen Spalten in eine moderne Zeitung mit Rubriken wie dem «Porträt der Woche», den nostalgischen Albumblättern «Wer sie waren – was sie wurden», AutorenKolumnen, Enquêten zur Dopingszene und Sportgeschichten aus den wichtigsten Schweizer Städten, wo die Lokalblätter noch schliefen. Selbst in Zürich moralisierte der damalige Sportredaktor des «Tages-Anzeigers» in einem selbstgerechten Kommentar: «Weshalb wir Cassius Clay kurz halten.» Walter Lutz, heute 91, erinnert sich, wie er «über Carte blanche» verfügte wie wahrscheinlich nie ein anderer Schweizer Chefredaktor vor oder nach ihm. «Ich hatte nicht mal ein Budget. Der Verleger Max Frey hat alle Spesen abgesegnet. Wir lebten in einem journalistischen Paradies.»

«Sport»-Leser konnten, ein halbes Jahrhundert vor Twitter und Facebook, per Postkarte ihre persönlichen Fragen an die damaligen Lichtgestalten richten. Der Jungkaiser Franz Beckenbauer ergriff die Flucht, als der Reporter und der Fotograf aus Zürich an der Münchner Säbenerstrasse einen Postsack mit Hunderten von Zuschriften vor ihm ausschütteten, und musste von seinem Manager zurückgepfiffen werden. Er antwortete dann 90 Minuten lang brav und gewährte sogar eine Verlängerung. Der Feind unter demselben Dach Der ursprüngliche Platzhirsch «Sport», der dreimal wöchentlich erschien – montags, mittwochs und freitags –, hatte lange nur einen einzigen natürlichen Feind: den «Blick», der seit 1959 als Kopie der deutschen «Bild»-Zeitung täglich die Kioske mit Klatsch und Sensationen aufmischte. «Sport» und «Blick» arbeiteten pikanterweise unter dem gleichen Dach des Jean-Frey-Verlags, der auch das Boulevardblatt druckte, waren sich aber spinnefeind, besonders nachdem der «Blick» in der Druckerei einen Primeur aus der Jubiläumsausgabe «50 Jahre Sport» abgestaubt und mit einem Tag Vorsprung die Wahl Ferdi Küblers zum «Sportler des Jahrhunderts» verkündet hatte. Die beiden Blätter schaukelten sich gegenseitig hoch. Der journalistische Rohstoff lag herum wie Goldklumpen in den Zeiten der Abfahrtsduelle Russi gegen Collombin, der populären Autorennfahrer Siffert und Regazzoni, der Skiflieger Walter Steiner und Hans Schmid, der Alphatiere Köbi Kuhn beim FC Zürich und Karli Odermatt beim FC Basel, der Gastspiele des Trainers Weisweiler und des langen Blonden Günter Netzer bei den Grasshoppers, der Glaubenskriege über den Röstigraben hinweg zwischen den Verfechtern des deutsch geprägten Kampffussballs in Basel und Zürich und den Predigern des französisch inspirierten Faire-circuler-le-Ballon von Servette


und Lausanne-Sports. (Wir ahnten noch nichts vom Tiki-Taka.) Als der «Blick»-Sportchef Peter A. Frei, genannt «PAF», Mitte der Achtzigerjahre überraschend das Lager wechselte, war der «Sport» verlegerisch heruntergewirtschaftet und hatte die rasante Kommerzialisierung und Professionalisierung des Showsports mehr kritisiert als verstanden. Frei schwebte eine Sonntagausgabe als rettender Schritt nach vorne vor, doch als Tamedia ihre «SonntagsZeitung» als Konkurrenz zum bisherigen Monopolisten «SonntagsBlick» lancierte, «war dieser Zug abgefahren, zumal der neue Jean-Frey-Besitzer, der Finanzabenteurer Werner K. Rey, am eigentlichen Zeitungsgeschäft wenig interessiert war, sondern eine Grossüberbauung auf dem Firmenareal an der Sihltalbahnstrecke beim Zürcher Bahnhof Giesshübel plante». Das letzte Aufbäumen Frei trommelte nochmals eine hervorragende, aber intern zerstrittene Redaktion zusammen mit Diven wie Klaus Zaugg und Markus Siegler, dem späteren FIFAZampano. Die Auflage am Montag erreichte immer noch 80 000 Sportfreunde, «aber das Inserategeschäft verlief trotz oder gerade wegen der Koppelung mit der damals hervorragend rentierenden ‹Weltwoche› im gleichen Verlag äusserst schleppend». Wohl auch, weil für den «Sport» gar kein eigener Inse-

rateverkauf existierte; das erledigten die Aussendienst-Mitarbeiter der «Weltwoche» nur nebenbei. Ausserdem waren die vom «Blick» nicht mehr benutzten Offset-Druckmaschinen in ausgeleiertem Zustand. Frei, heute 69, erinnert sich, wie er «der Verzweiflung nahe stand und wegen der häufigen Papierrisse nie sicher war, ob die Zeitung erscheinen würde». Er ging von Bord. Der Verlag, geblendet vom Erfolg der «Weltwoche», entschied sich für eine halbherzige Fortführung des serbelnden Verlustbringers «Sport» als Wochenblatt. Eine sozial korrekte Form von Sterbehilfe. Die Alternative wäre die sofortige Einstellung gewesen. Oder eine neue Sporttageszeitung mit der Tour de Suisse als Standbein wie die «Gazzetta dello Sport» mit dem Giro und «L’Equipe» mit der Tour de France sowie andern festen kommerziellen Partnerschaften. Eine Druckerei war rasch gefunden, sogar das farbige Mantelpapier, ein Kanariengelb, das den schwarzen Schriftzug «Sport» wunderbar zur Geltung gebracht hätte. Der Tour-de-Suisse-Boss Sepp Voegeli zeigte sich begeistert von diesem neuerlichen Versuch, nachdem ein erster, von Patrick A. Frey unternommener Anlauf an der Trägheit der Verlagsleute gescheitert war. Wiederum kam die Idee aus der Redaktion. Aber sie kam spät, zu spät. Im wöchentlichen Rhythmus sah der Verlag indes weiterhin grosses Potenzial. Dafür brauchte es einen Imagewandel, denn Beat Curti, der 1991 den defizitären Jean-Frey-Verlag gekauft hatte, war der Ansicht, dass das Blatt «mit seinem kargen Auftritt und seiner Ernsthaftigkeit von der Werbung offensichtlich assoziiert wird mit dem Bergler, der die roten Socken anzieht, Proviant in den Rucksack packt und zwei Tage ins Maderanertal wandern geht – also mit einer Leserschaft, die kaum konsumiert». Aber auch als Wochenblatt vegetierte der «Sport» unbeachtet seiner Agonie entgegen. Sieben Jahre lang

wird er trotz jährlich über 5 Millionen Franken Verlust mitgeschleppt, dann wird er ein weiteres Mal neu positioniert. Als bunte Illustrierte, die sich gemäss Editorial auch der Themen Lifestyle, Mode, Wellness und Gesundheit annehmen will. Es ist nicht mehr als ein letztes Zucken. Am 18. Oktober 1999 erscheint der «Sport» zum letzten Mal. «Wir konzentrieren unsere Kräfte», sagt der Verwaltungsrat dazu. «Die Basler Mediengruppe opfert den ‹Sport›, um die ‹Weltwoche› zu retten», urteilt das «Facts». Zwei Monate später liegt in Zürich erstmals «20 Minuten» auf. In dieser neu gestalteten Medienwelt war für den einst so stolzen «Sport» kein Platz mehr. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.

Peter Hartmann, 74, arbeitete von 1961 bis 1964 als Praktikant und Jungredaktor, von 1970 bis 1979 als Reporter und 1989 als interimistischer Chefredaktor beim «Sport».


Das schwarze Brett LAUTES BASEL ar klingen, Für Basler mag es unvorstellb Scham che fals e ohn es aber wir können r ere uns rere meh ch Glei zugeben: Bündnern Redaktoren – von Bernern bis dem aus fft, cha – haben es nicht ges en Ohr n ihre in as etw » rgg Titel «Lutsta Und ehe en. bild zu des gen Klin voll sinn ch geht, das einigen unserer Lesern glei heisst rk» tsta «lau l: ma übersetzen wir bestens st pas l Tite Der rk. Sta t. das. Lau zum Werk. drängen Eine DVD einer Fankurve? Da n nde Stu ei Zw . auf ile urte sich Vor weihräuchestbe Selb , ung nier sze stin Selb men unkritisch zum Abwinken. Alles vollkom rung, Pyros und Choreos bis t der «neuen Doch «Lutstargg» ist ein Produk natürlich. Ein PR-Film eben. en sind. ord gew von solchen, die älter Generation» Fans. Oder einfach nach ere d Bal chi; Sue t: «Immer uff dr So steht es auch im Klappentex ndwo dört irge Und l. Idea e ihrn sälber und Konfrontation, bald nach sich Kurz: Bim e. leer und bim Prozäss, druss z setzt dr Film aa: Bi de Fähler Älterwärde.» Basler Szene «Inferno» bildet das Leben der Der Film der Fangruppierung ktakuläre h gibt es auch haufenweise spe von 2005 bis 2012 ab. Natürlic r werden abe n che wis und Feuerwerk, daz Choreografien, laute Gesänge selbst ve Kur die für ohl sow gegriffen, die Geschichten und Vorfälle auf en. war Der 13. rnehmung richtungsweisend wie auch für die Aussenwah Kessel von der e, antisemitischen Gesäng Mai 2006, die Fackelwürfe, die ei in eine dab e ohn , iert atis alles wird them Altstetten, Mladen Petric – das » erklärt, rgg tsta «Lu n. falle ver zu g tun nde Hal verteidigende, schuldabweise Am . gen rän zud chauer eine Wertung auf . Mit versucht aber nicht, dem Zus dnis stän Ver h nac he er DVD auf der Suc ehesten sind die Macher dies Erfolg. Gerne mehr davon! uttenzerkurve.ch . Verkaufsstellen auf www.m Lutstargg. DVD, 120 Minuten Preis: «Me gitt was me wott»

HEULER AUS DEN USA Die Veränderungen in der Medienlandschaft hatten zur Folge, dass unzählige PrintErzeugnisse eingestellt werden mussten. Neue Magazine erscheinen meist nur noch online. Wer dennoch unbedingt auf Papier drucken will, den erklärt man für wahnsinnig. Die Redaktion des «Howler» aus den USA verrät denn auch im Editorial ihrer ersten Ausgabe: «Erzähle jemanden, du willst ein Fussballmagazin für amerikanische Fussballfans starten. Das bekommst du zu hören: Mach es online. Mach es in Spanisch. Mach es für Kinder. Hast du daran gedacht, es online zu machen? Du solltest es wirklich online machen.» Zum Glück fanden die Ratschläge kein Gehör. «Howler» ist jetzt schon das mit Sicherheit schönste und am spektakulärsten gestaltete Fussballmagazin weltweit und aller Zeiten. 112 Seiten, alle ein Kunstwerk. Jeder Artikel hat dank liebevollen Illustrationen, spielerischer Typografie und perfekt eingebundenen und sorgfältig ausgesuchten Fotos seine eigene Bildsprache. «Howler» wäre selbst dann eine Freude, wenn es darin um Hutschnüre oder Fertigungstechnik ginge. «Howler» berichtet natürlich in erster Linie vom US-amerikanischen Fussball, erfreulicherweise aber nicht nur über die nationalen Stars. Das Magazin geht auch viele internationale Themen in beeindruckender Tiefe an und leistet es sich, verschmitzt an Vergangenes und Nebensächliches zu erinnern. Obwohl die Zielgruppe klar der stark wachsende einheimische Markt ist, dürften auch Europäer bei der breiten Palette an Themen auf ihre Kosten kommen. Doch – und das ist ein Luxusproblem – es braucht Konzentration, um sich durch die Texte zu ackern. Der Blick schweift so oft von den Buchstaben auf die bunten Illustrationen und Grafiken ab, dass man immer mal wieder den Faden verliert. Man muss sich wohl erst an die neue Pracht gewöhnen. Wenn «Howler» für den neuen US-Fussball steht, dann ist für ihre Nation jedenfalls ein Platz im nächsten WM-Finale reserviert. Wenn da bloss nicht Taktikfuchs Jürgen Klinsmann wäre. Howler Magazine. Erscheint vier Mal jährlich. Jahresabo für $50 (plus Porto). www.howlermagazine.com

Street Art Für die einen ist und bleibt Zürich «Downtown Switzerland«, für die anderen stellt es schlicht eine Insel der Arroganten dar. So oder so: Kulturell gibt die Stadt einiges her. Davon anstecken liessen sich auch zugewanderte Herren aus Hamburg. Die St. Paulianer vom Lichtspielhaus in Zürich machten sich auf die Suche nach fotogenen Alltagssujets, die sie als Stadt(an-)sichten auf Kunststoff und Aluminium gezogen haben. Die Bilder zeigen Ausschnitte von Fassaden, Reklamen oder Schildern, auf denen sich immer wieder auch Spuren der beiden lokalen Fussballklubs finden lassen – den nimmermüden, mit Stickern bewaffneten Anhängern beider Lager sei Dank. Während die GC-Fans unabhängig davon in dieser Saison das eine oder andere Schmankerl bestaunen durften, kommen so nun auch die zuletzt wenig verwöhnten FCZler in den Genuss einer gewissen Fussballkultur. StadtSichten Zürich. Erhältlich in unterschiedlichen Grössen ab 22 Franken. Zu bestellen unter www.licht-spiel-haus.com

Rubrik


FC FABRIKHOF


firmenfussball

Am Gängelband der Teppichetage

Text: Christian Koller / Illustration: André Bex Bilder: Stadtarchiv Schaffhausen, Christian Pfander

Der Schweizer Firmenfussball war vieles: Trainerstation für Xam Abegglen, «Schädling einer gesunden Sportbewegung» und Mittel gegen gesellschaftlichen Aufruhr. Nun darbt er. Rückblick auf eine bewegte, (fast) 100-jährige Geschichte.

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as Schicksal des Zentrums Guggach auf dem Zürcher Käferberg hat in den letzten Jahren wiederholt Öffentlichkeit und Kommunalpolitik beschäftigt. Auf dem rund zwei Hektaren grossen Areal hatte in den 80er-Jahren der damalige Bankverein eine grosszügige Kongress-, Sport- und Freizeitanlage ausgebaut. Ihr Angebot reichte vom Fussballfeld über Squashplätze, Kegelbahnen und Saunen bis zu Kraftraum, Schiessanlage oder Solarien – unter

anderem. Doch die aus Bankverein und SBG hervorgegangene UBS versuchte, den Stammsitz des firmeneigenen Sportbetriebs loszuwerden. Seit 2009 verfolgt die mit Bundeshilfe gerettete Bank die Strategie, nicht mit dem «Kerngeschäft» verbundene Immobilien und Grundstücke zu veräussern. Dadurch sah sich der FC UBS in seiner Existenz bedroht, der Schweizer Firmenfussballmeister von 2006, 2007, 2009, 2010 und 2012! Im Saisonrückblick 2010 beklagte er denn

auch die «Einstellung unserer Bank zum Firmensport». Vergeblich: Ein Teil der Sportstätte wurde 2011 veräussert, der Rest im folgenden Jahr zum Verkauf ausgeschrieben. Die Episode weist auf einen gewandelten Stellenwert des schweizerischen Firmensports hin. Und sie lädt ein zu einer Retrospektive auf die bald hundertjährige Geschichte seines Flaggschiffs, des Firmenfussballs. Dessen Entwicklung war eng verknüpft mit gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Prozessen. Sie zerfällt in eine Pionierphase bis in die 1940erJahre, die Goldene Zeit von den 50er- bis in die 80er-Jahre und eine danach einsetzende Periode des Niedergangs. Premiere unter Chemieriesen In der Zwischenkriegszeit konzentrierte sich der Firmenfussball auf die Metropolen

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Trotz Blütezeit: Der Zuschaueraufmarsch bei der Partie zwischen dem FC Wildberger Ing. und dem FC Schaffhauser Nachrichten im Jahr 1963 hielt sich in Grenzen.

Zürich, Basel, Bern und Genf. Dort hatte die politische Linke eine starke Position und, mit der Ausnahme Berns, zeitweilig die Regierungsmehrheit. Die «roten Städte» bemühten sich um einen Ausbau der öffentlichen Sportinfrastruktur. Dass sich hier der Firmensport am frühesten etablierte, hing mit der Furcht bürgerlicher Kreise vor einer Vereinnahmung des Sports durch die Arbeiterbewegung zusammen. Diese Arbeiterbewegung verfügte in Gestalt des Arbeitersportverbandes Satus über eine eigene, ausdrücklich klassenkämpferisch ausgerichtete Sportorganisation. Bei den Basler Chemiefirmen Ciba und Geigy wurde bereits in den 1910erJahren im informellen Rahmen gekickt. Als erstes Firmenfussballspiel der Schweiz gilt eine Partie zwischen den Mannschaften von Geigy und Sandoz 1920. Acht Jahre später gründete sich der «Verband der Geschäftsmannschaften von Basel» mit zunächst elf Vereinen, kurz darauf startete die erste Basler Firmenfussballmeisterschaft. Auch in Zürich und Bern wurde wenig später der Meisterschaftsbetrieb aufgenommen. Das erste Firmenfussball-Städteturnier zwischen Basel, Bern und Zürich wurde 1938 ausgetragen. Den Pokal hatte der

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Direktor der Chemiefabrik HoffmannLa Roche gestiftet. Er wollte damit den Anstoss zur Bildung eines nationalen Firmensportverbandes geben, der im November 1941 auch tatsächlich aus der Taufe gehoben wurde. Erster Präsident des Schweizerischen Firmensportverbandes (SFS) wurde ein Direktor der Geigy AG, erster offizieller Meister 1943 der FC Bertrams Basel. Der bezwang auf dem Letzigrund den FC Nationalregistrierkassen Zürich im Endspiel mit 2:1. Von so viel Aufmerksamkeit können die derzeit aktiven Firmenfussballer nur träumen. Das letztjährige Finale zwischen dem FC UBS und dem FC Karton Deisswil wurde auf dem Sportplatz Ringstrasse in Chur bei prächtigem Wetter nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen. Nicht einmal das Resultat war irgendeiner Schweizer Zeitung den Platz wert. Am Niveau kann es nicht liegen. Für Sandro Fiesolani, mittlerweile bei den Senioren des FC UBS aktiv, sind die besten Teams im Firmenfussball «nahe an den 2.-LigaVereinen» dran. Doch der Meisterschaft fehlt es an Spannung. In den sechs regionalen Meisterschaften, deren Sieger sich für das Turnier um die Schweizer Meisterschaft qualifizieren, sind die

Unterschiede zwischen den Spitzenteams und dem Rest eklatant. «Diese Begegnungen verkommen beinahe zuTrainingsspielchen», beklagt sich Fiesolani. Selbst mit angezogener Handbremse überfuhr der FC UBS letztes Jahr den bemitleidenswerten und abgeschlagenen Gruppenletzten FC Bell zwei Mal. Man kann sich denken, dass die Sprüche mit den Würsten ziemlich überstrapaziert worden sind. Dabei ist der Firmenfussball bierernst. Zumindest wenn es um die Reglemente geht. Zwar muss längst nicht mehr jeder Aktive für die jeweilige Firma arbeiten, aber anders als in den Alternativen Ligen braucht jeder eine Lizenz, die Partien werden von offiziellen Schiedsrichtern geleitet und die Organisation der Meisterschaften obliegt den jeweiligen Regionalverbänden. Richtiger Fussball eben. Doch während selbst Vereine aus den Niederungen des «normalen» Ligafussballs zumindest das Interesse von Freunden, Familien und des Regionalblatts auf sich ziehen, schaut kaum jemand hin, wenn sich Firmenteams duellieren. Für René Rindlisbachers sechs Tore in dieser Liga gibt es kaum Zeugen. Den Firmenfussballvereinen kann auch nicht vorgeworfen werden, eine zu offensive Kom-


firmenfussball

Firmenfussball zwischen Einfamilienhäusern anno 1990: SC Avo gegen den FC Kantonalbank. Letztere – ganz zeitgemäss – in schicken Blacky-Trikots.

munikationspolitik zu verfolgen: Von den 33 Vereinen der Region Zürich haben 12 eine eigene Website angegeben. Gerade mal drei davon sind noch online. Ist der Firmenfussball tot? «Kraft durch Freude» In der Anfangszeit des des Firmensports war der deutsche Betriebssport das Vorbild. In der Weimarer Republik hatte sich eine organisatorisch vielgestaltige Betriebs- und Behördensportbewegung herausgebildet. Sie war in Konzeptionen betrieblicher Sozialpolitik eingebunden, die den Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch die Herstellung einer «Betriebsgemeinschaft» zu überwinden trachteten. In der Nazi-Zeit wurde der Betriebssport im Rahmen der «Deutschen Arbeitsfront» und des «Kraft durch Freude»Programms enorm ausgebaut. Während des Zweiten Weltkrieges publizierte die «Schweizerische Arbeitgeber-Zeitung» regelmässig ausführliche Artikel zum Thema Firmensport und betonte, dass dieser bestens zur Betriebsgemeinschaftsidee passe. Hatte man 1942 unter dem Titel «Volkstumsarbeit im Betrieb» noch grosses Interesse an den Aktivitäten von «Kraft durch Freude» gezeigt, so setzte

man sich in der zweiten Kriegshälfte von dieser Volkstümelei ab, ohne jedoch die Idee der «Betriebsgemeinschaft» aufzugeben. Die Gründung des SFS nahmen die etablierten Sportverbänden mit Unbehagen zur Kenntnis. Im «Sport» schrieb ein Funktionär, es sei «höchste Zeit», dass der Fussballverband zum Rechten sehe. Die Firmensportbewegung habe Ausmasse angenommen, «die wir im Interesse eines wirklich gesunden Sportbetriebes weder dulden können noch wollen». Besonders beunruhigte ihn, dass teilweise auch Spitzenspieler gegen gute Bezahlung im Firmenfussball mittaten, nachdem der Professionalismus in der FussballNationalliga soeben verboten worden war. Diese Position setzte sich wenig später mit der sogenannten Spielertrennung zwischen Fussballverband und SFS durch, die mit einer Übertrittsregelung und Kooperationen in der Trainerausbildung, im Schiedsrichter- und Juniorenwesen verbunden war. Noch schärfer reagierte der Schweizerische ArbeiterTurn- und Sportverband (Satus) auf das Wachstum des Firmenfussballs. Schon 1943 beschloss der Arbeitersportverband, alle Mitglieder, die an einer Firmensportveranstaltung teilnahmen,

für die laufende Saison vom eigenen Sportbetrieb zu suspendieren. Die Verbandsleitung rief zur Abwehr «auf breitester Front» gegen diesen «Schädling einer gesunden Turn- und Sportbewegung» auf. Sie bezeichnete die Firmensportmannschaften als «Prätorianergarde des Unternehmertums». Trotzdem erlebte der Firmenfussball nach dem Kriegsende einen rasanten Aufschwung. Im ganzen Land waren die Unternehmer nun bereit, Sportvereine ihrer Belegschaften zu unterstützen. Teilweise richteten sie sogar eigene Infrastrukturen ein. Dieser Popularitätsgewinn ist Resultat der politischen und sozialen Entwicklung in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg. In der zweiten Hälfte des Krieges hatten sich in der ArbeiterInnenschaft grosse Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Neuordnung aufgebaut. Die SP wurde zur mit Abstand stärksten Fraktion im Nationalrat und erstmals an der Landesregierung beteiligt, die neu gegründete PdA feierte bei verschiedenen Wahlen spektakuläre Erfolge. Als auch noch eine grosse Streikwelle über das Land schwappte und der sozialdemokratische Satus eine eigene Fussball-Landesliga einrichtete, bedurfte es aus Unterneh-

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Ein letzter Blick auf den Firmenfussball: Sportclub Telegraf gegen Post 22/Ruag war 2009 das letzte Spiel auf dem Ittiger Eyfeld. Die Swisscom hat die Unterstützung eingestellt.

mersicht dringend einer Restabilisierung. Als ein Mittel dazu erschien der Firmensport. Prestigeanlass für die Herren Direktoren So wurden die Goldenen Fünfziger auch für den Firmensport zur Goldenen Zeit. Einerseits stand sie für stetiges Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und einen raschen Ausbau des Sozialstaates sowie der institutionalisierten Partnerschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. Andererseits aber war sie auch geprägt von der BunkerMentalität des Kalten Krieges und der Ausbeutung, ja zunehmenden Anfeindung der zahlreich aus Südeuropa ins Land geholten FremdarbeiterInnen. Die Zahl der dem SFS angeschlossenen Sektionen sprang innerhalb von 15 Jahren von 83 im Gründungsjahr auf 330, die Mitgliederzahlen vervierfachten sich. Die entscheidenden Initiativen kamen überall vom Fussball her. In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre erreichte die Anzahl Mannschaften mit rund 350 einen Höchststand. An den Grundmerkmalen des Firmen-sports änderte sich wenig. Er wurde zwar nicht mehr mit der Betriebsgemeinschaftsideologie in Verbindung

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gebracht, sondern je nach aktueller Mode mit der helvetischen Sozialpartnerschaft oder später mit amerikanischen und japanischen Managementkonzepten. Die Initiative zur Bildung von Firmenfussballteams ging indes weiter häufig von Sportfreunden in den Belegschaften aus. Nur: Abhängig waren sie dabei vom Wohlwollen der Geschäftsleitung. So vermerkten beispielsweise die Gründer des Sportclubs SIG Neuhausen 1949: «Das Tenue wurde uns von der Direktion der SIG in grosszügiger Weise zur Verfügung gestellt, was wir hiermit nochmals bestens verdanken.» Auch in der Folgezeit versäumten es die Klubverantwortlichen nicht, immer wieder die Unterstützung durch ihre Geschäftsleitungen hervorzuheben. Anlässlich der Herbstsporttage 1949 der Standard Telephon & Radio AG Zürich etwa verstanden es die Direktoren glänzend, sich als Wohltäter in Szene zu setzen, was dann in der Personalzeitung seinen Niederschlag fand: «Ein Spezialdank gebührt einmal mehr unserer sportfreundlichen Direktion, die sich nicht nur unter die Zuschauer einreihte, sondern auch durch die Spende des Ehrenweins und der Verpflegung dem Standardsporttag die würdige Krone aufsetzte.»

Die Mitglieder des oberen Kaders traten als Wohltäter auf – und setzten sich bei wichtigen sportlichen Ereignissen auch bestens in Szene. So überreichte in der Frühphase des Schaffhauser Firmen­ fussballs jeweils ein Kadermitglied der SIG den von der Firma gestifteten Pokal. Als sich im Final von 1952 die Teams der SIG und der Georg-FischerWerke gegenüberstanden, hielten bei der Pokalübergabe Direktoren beider Unternehmen kurze Reden. Die wichtigen firmensportlichen Anlässe waren eine Bühne, auf der die bestehenden Hierarchien symbolisch reproduziert und damit gefestigt wurden. Die Angehörigen der Geschäftsleitung und des gehobenen Kaders konnten sich als gute Patrons inszenieren. Der Belegschaft wurde vor Augen geführt, dass auch in einer sozialpartnerschaftlichen Betriebsordnung die Geschäftsleitung die ausschlaggebende Instanz blieb. Zudem stärkte der Firmensport die Identifikation der Belegschaft mit dem Unternehmen. In verschiedenen Berichten ist die Rede davon, dass die Firmenmannschaften mit Rufen wie «Hopp SIG» angefeuert wurden. Indem die Vereine den Namen ihrer Unternehmung trugen, wurden sie automatisch zu einem


firmenfussball

FC FABRIKHOF

Bestandteil der «corporate identity». Siege des Firmenteams waren Siege der Firma. Das Wirgefühl triumphierte, und auch die Aussendarstellung profitierte anscheinend enorm. Entsprechend bemühten sich die Geschäftsleitungen und Klubfunktionäre, durch den Einsatz talentierter Kräfte Erfolge herbeizuführen. Nach Möglichkeit griffen sie gar auf die fussballerische Spitze zurück. So trainierte etwa Xam Abegglen, der Topskorer der Schweizer Nationalmannschaft in der Zwischenkriegszeit, von 1941 bis 1947 den Fussballklub der Maschinenfabrik Oerlikon. Eine eigene Sportinfrastruktur wurde zumindest für Grossunternehmen zu einer Prestigeangelegenheit. Die Sandoz AG eröffnete 1968 eine Sportanlage in Hüningen, die Geigy AG investierte 1970 vier Millionen Franken in die Renovierung des firmeneigenen Sportplatzes, und der Bankverein baute in den 80er-Jahren das eingangs erwähnte Sportzentrum Guggach luxuriös aus. Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei. Für die Swisscom waren vor einigen Jahren selbst die 50 000 Franken zu viel, die sie jährlich in den Sportplatz Eyfeld in Ittingen steckte, wo 14 Firmenfussballteams ihre Spiele austrugen. Nicht alle davon fanden eine neue Heimat.

«Älter werdende Firmenkicker abseits der Fernsehkameras sind vielleicht einfach zu wenig trendy und nicht werbewirksam genug», meinte der «Bund» dazu. Neben den Millionen für die Ski-Asse und andere Leistungssportler blieben für die im Namen des Unternehmens antretenden Kicker nicht mal mehr Brosamen. Auf dem Eyfeld entsteht demnächst ein neues Bürogebäude. Profisport-Sponsoring statt Firmenfussball Der Niedergang setzte Ende der 80erJahre ein. Die Zahl der Firmenfussballklubs ging bis heute auf 112 zurück, weniger als ein Drittel der Anzahl auf dem Höhepunkt. So sanken zum Beispiel die Mitgliederzahlen der Firmensportklubs von Novartis beziehungsweise ihrer Vorgängerfirmen zwischen 1980 und 2010 um etwa die Hälfte. Dies hatte mehrere Gründe. Die gesellschaftliche Individualisierung liess den Firmensport und insbesondere dessen Teamsportarten zunehmend unattraktiv erscheinen; postmoderne ArbeitnehmerInnen wollten sich in ihrer Freizeit nicht mehr vom Arbeitgeber gängeln lassen. Zudem können die Firmenteams anders als jeder Dorfverein nicht auf Spielernachschub

aus den eigenen Jugendmannschaften zählen, denn solche erlaubt der Fussballverband nicht. Und zuletzt brachen die Sozialpartnerschaften immer mehr auseinander und viele Unternehmen zogen sich aus dem Engagement für den Firmensport zurück. Hatten Erfolge des eigenen Fussballteams früher als Prestigefaktor der Firma gegolten, so konzentrierte man sich nunmehr lieber auf das Sponsoring des medialisierten Spitzensports. Sportliche Aktivitäten der eigenen MitarbeiterInnen gehören, nicht nur bei der UBS, heute für viele Unternehmen offensichtlich nicht mehr zum «Kerngeschäft».

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AUSLAN Auslandschweizer

Text: Matthias Dubach / Bild: zvg

Highlander aus Basel Schon mit 17 verabschiedete sich der Basler Mihael Kovacevic (23) Richtung Kroatien. Doch glücklich wurde der Abwehr­hüne erst in Schottland.

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or drei Jahren war beim schottischen Rekordmeister Glasgow Rangers die Welt noch in Ordnung. Die schweren Zeiten, die den Verein nach dem Zwangsabstieg in die vierthöchste Liga erschüttern, sind am 10. Februar 2010 noch weit weg. An diesem Tag gastiert Dundee United im Ibrox Park, vor 24 000 Zuschauern ist der Heimklub in diesem Cup-Viertelfinale klarer Favorit. Nach der Pause fällt das 3:1 für die Rangers. Aber Dundee schöpft nach einem Eigentor wieder Mut, in der 80. Minute fällt sogar der Ausgleich. Der Schütze heisst Mihael Kovacevic, spielt in der Innenverteidigung der United und stammt aus der Nachwuchsabteilung des BSC Old Boys, wo er mit Eren Derdiyok und Timm Klose gespielt hat. Kovacevic ist damals noch nicht ganz 22 Jahre alt, hat nie in der Super League gespielt und ist in der Mannschaft von Dundee ein Fixpunkt. Das Team ist stark, es beendet die Saison 2009/10 auf Rang 3 hinter den Rangers und Celtic Glasgow. Und Dundee wird schottischer Cupsieger. Nach dem 3:3 im Ibrox Park wird ein Wiederholungsspiel gegen die Rangers fällig, das 1:0 fällt in der 90. Minute. Im Halbfinale sind die unterklassigen Raith Rovers kein Hindernis, im Endspiel wollen im Nationalstadion Hampden Park 47 000 Zuschauer das Duell zwischen Dundee und dem zweitklassigen Ross County sehen. Dundee gewinnt 3:0 und ist zum zweiten Mal in der Klubgeschichte nach 1994 Cupsieger. «In dieser Phase ist es gut gelaufen, ich fühlte mich sehr wohl in Dundee. Ich war

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22-jährig, wir hatten den Cup gewonnen, und ich hätte in der Saison darauf in der Europa League spielen können», erzählt Kovacevic, der für das schweizerische und das kroatische U21-Nationalteam spielte. Der Basler riss sich aber das Kreuzband, es folgten die obligate monatelange Pause sowie eine weitere Verletzung nach dem Comeback. «Ich hatte mir in Schottland einen Namen gemacht, aber ich musste nach den Verletzungen wieder bei null beginnen», bedauert der 1,93 m grosse Hüne, der trotz seiner Grösse die Schnelligkeit zu seinen Stärken zählt. Dundee offerierte keinen neuen Vertrag mehr. Stippvisite in Slowenien Der Verteidiger fand erst nach einer Phase ohne Vertrag und nach Beginn der Saison 2011/12 einen neuen Arbeitgeber. Kovacevic stiess zum kroatischen Klub NK Zadar. In der Heimat seiner Eltern fand der Basler aber auch im zweiten Anlauf sein Glück nicht. «Beim ersten Mal war ich mit 17 Jahren zu Dinamo Zagreb gegangen. Ich konnte ein Probetraining absolvieren und wurde aufgenommen. Zagreb hat eine sehr gute Nachwuchsschule», erklärt er. Über den Nachwuchs wollte er es bei Dinamo nach ganz oben schaffen. «Der Sprung in die erste Mannschaft stellte sich als sehr schwierig heraus.» Also wechselt Kovacevic aus dem U19Team des Zagreber Grossklubs über die Grenze nach Slowenien zum kleinen Verein FC Luka Koper. Glücklich wird er in der schmucken Hafenstadt aber nicht. Nur gerade beim Sieg über Maribor steht

er auf dem Platz. Dennoch träumt er weiter von einer grossen Liga – von der englischen Premier League insbesondere. Zumindest geografisch rückt er seinem Traum im Winter 2007/08 ein bisschen näher. «Ein Bekannter aus Basel konnte mir das Probetraining bei Dundee vermitteln», berichtet er. Und Kovacevic kann die Verantwortlichen überzeugen. «Mein Vertrag in Slowenien wäre noch ein halbes Jahr gelaufen. Deshalb bezahlte Dundee 100 000 Euro Transfersumme, und ich reiste mit einem 3-Jahres-Vertrag nach Schottland.» Es kam zum internen Aufstieg als Stammspieler, zum Tor gegen die Rangers, zum umjubelten Cupsieg, zum Seuchenjahr mit den Verletzungen und zum zweiten Engagement in Kroatien bei Zadar, das aber nur eine Notlösung war. «Ich hatte zu viel von meinem damaligen Berater erwartet. Er hat mir Mist erzählt. Am Ende hatte ich gar kein Angebot. Ich ging dann nach Kroatien zurück, weil ich mich dort auskannte. Aber in Zadar hat es mir nicht gefallen. Dort spielt die Politik eine grosse Rolle, vieles läuft über Beziehungen. Der Lohn kam selten pünktlich. Ich habe bis heute nicht alles Geld bekommen, es läuft deswegen noch ein Gerichtsverfahren», hält Kovacevic fest. Mehr Sitzplätze als Einwohner Doch in Schottland hatte man Kovacevic noch nicht vergessen. Ross County, das der Basler zwei Jahre zuvor im Cupfinal mit Dundee besiegt hatte, war im vergangenen Sommer mit grossem Vorsprung in die Scottish Premier League aufgestiegen und suchte nach Verstärkungen. Kovacevic griff zu und ging ein zweites Mal nach Grossbritannien. Ross County ist ein Verein aus der Region Ross-shire in den Highlands und im 5000-SeelenDorf Dingwall beheimatet. Sein Stadion fasst 6310 Zuschauer – Kovacevic grinst:


auslandschweizer Mihael Kovacevic (links) klärt für Aufsteiger Ross County.

nicht oft, aber spielen häufig unentschieden. Unsere Stürmer treffen das Tor einfach nicht.» Die Stärken des Underdogs liegen – ganz nach schottischer Tradition – in der Kampfbereitschaft. Der erst 37-jährige Coach Derek Adams, Sohn des Sportchefs von Ross County, lässt für gewöhnlich zweieinviertel Stunden trainieren. «Das Training ist sehr physisch, wir sind topfit.», stellt Kovacevic fest. «In Kroatien wird zwar häufiger trainiert, aber es ist nicht derart intensiv.»

«Es kommen 90 Prozent der Einwohner an unsere Spiele! Die Menschen lieben den Fussball, sie sind sehr freundlich. Wir Spieler gehen ab und zu auch in den Pub nach einem Spiel, das gehört in Schottland einfach dazu.» Der bald 24-Jährige wohnt in der rund 20 km entfernten Highlands-Hauptstadt Inverness. «Dort ist mehr los, aber man lebt trotzdem sehr gemütlich», versichert der Söldner. Kovacevic lebt alleine, seine kroatische Freundin studiert in Wien. Seine Eltern leben in Basel, Besuche gibt es aber regelmässig. «Vor allem mein Vater kommt gerne für die wichtigeren Spiele rüber.» Mit dem Aufstieg von Ross County gibt es nun das Highland-Derby gegen Inverness Caledonian Thistle im Oberhaus. «Das Derby gab es diese Saison schon drei Mal, weil wir auch im Cup gegen Inverness gespielt haben. Das sind grosse Spiele, es herrscht eine tolle Atmosphäre, und die Spiele werden im Fernsehen übertragen.» Die finanziellen Sorgen, die viele schottische Vereine plagen, haben die «Staggies» nicht. Selbst nach dem erstmaligen Aufstieg in die oberste Liga wird vernünftig gewirtschaftet. Obwohl Präsident Roy

MacGregor mit grösserer Kelle anrühren könnte; immerhin führt ihn die «Sunday Times» auf Rang 56 der reichsten Personen Schottlands. Doch MacGregor sieht seine Rolle anders: «Mir geht es nicht um Ruhm oder Gewinn. Was ich an Geld in den Verein stecke, bekomme ich mit der Freude zurück, die ich empfinde, wenn die Leute aus der Region ins Stadion kommen und die Spiele geniessen.» Zum Cupfinal gegen Kovacevics Dundee United lud er 800 Angestellte seiner Global Energy Group nach Glasgow ein. Natürlich ist es auch MacGregors Ziel, in der Premier League zu bleiben. Einige Verstärkungen kamen in der Winterpause, allesamt Schnäppchen von Vereinen wie Wehen Wiesbaden oder Atromitos Athen. Ross County steht derzeit auf Rang 10, der Vorsprung auf den Abstiegsplatz ist aber bereits beträchtlich. «Wir werden nicht absteigen», ist sich Kovacevic sicher, der in der Vorrunde der einzige Nicht-Brite im Team war. Vor ihm spielt seit Kurzem im zentralen Mittelfeld Mark Fotheringham, der vor einigen Jahren beim FC Aarau bei seinem Intermezzo nicht überzeugen konnte. «Wir verlieren

Rückkehr in die Nati? Der Vertrag läuft im Sommer aus, Kovacevic wiegelt ab: «Der Verein ist mit mir zufrieden. Aber man weiss nie, was passiert.» Der Traum von der Premier League ist aktueller denn je. Schottland ist seit je ein Selbstbedienungsladen für die englischen Vereine. «Man muss einfach an sich glauben und hart arbeiten.» Diese Floskel gilt beim Basler auch in Bezug auf die Nationalmannschaft. Als Dundee-Stammspieler hatte er ein erneutes Aufgebot der Schweizer U21 ausgeschlagen. «Damals galt noch die alte Regel, dass man sich bis 21 Jahren für ein Land entschieden haben muss», erzählt der Doppelbürger. Vor dieser Deadline hatte Kovacevic für beide U21-Auswahlen gespielt, im Februar 2009 trat er unter U21-Coach Pierre-Andre Schürmann mit Fabian Frei, Yann Sommer und Valentin Stocker gegen Portugal an. Das Schweizer Angebot nach seinem 21. Geburtstag schlug Kovacevic aus, weil er auf den Durchbruch in Kroatien hoffte. Heute sagt er: «Mein Ziel ist es weiterhin, für Kroatien oder die Schweiz zu spielen. Ich fühle mich in beiden Ländern zu Hause. Nach allem, was passiert ist, würde ich jetzt lieber für die Schweiz spielen. Es wäre super, mit meinen alten Teamkollegen Derdiyok und Klose zu spielen», hofft der Schottland-Legionär auf einen Anruf Ottmar Hitzfelds. Schliesslich klingelte der Nati-Trainer auch schon bei Gaetano Berardi und Jonathan Rossini durch – die beiden Tessiner waren in der U21 Teamkollegen von Kovacevic.

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Was wäre, wenn... Im Fussball entscheiden nicht selten einzelne Aktionen über den weiteren Verlauf einer Karriere. ZWÖLF wagt sich in die Welt der Konjunktive und denkt die Fussballwelt weiter. Es darf wild spekuliert werden.

Zusammen stark oder gemeinsam einsam? Text: Remo Vogel

Wir behaupten mal: Die nie eingeführte Alpenliga mit Schweizer und österreichischen Klubs hätte zunächst zwar eine Euphoriewelle und einen Dominoeffekt ausgelöst – letztlich aber nichts geändert an der Tristesse. Die Ausgangslage Nie hat die Schweizer Liga den Namen «Super League» weniger verdient als zum Zeitpunkt seiner Einführung. 2002 wurden Lugano, Sion und Lausanne nach Liasons mit dubiosen Investoren zwangsrelegiert, kurz darauf mussten Wil und Luzern wegen Lizenzvergehen Punkte abgezogen werden, und der Zuschauerschnitt wäre ohne den FC Basel bei erschreckenden 5600 Zuschauer gelegen. Zu allem Übel schlitterten Servette und Wil in den Konkurs. An den Vereinsspitzen herrschte munteres Köpferollen, kaum ein Präsident hielt sich länger als ein paar Saisons im Amt. Auf der europäischen Bühne war Basels magische Champions-LeagueKampagne das einsame Highlight nach jahrelanger Durststrecke. In der 5-JahresWertung der UEFA war die Schweiz so schlecht klassiert wie seit 1985 nicht mehr. Super ist wahrlich anders.

Ein ähnliches Bild bot der Blick über die östliche Grenze. Sturm Graz bezahlte für den Erfolg mit drei Teilnahmen in der Champions League einen hohen Tribut: Unter dem zwielichtigen Hannes Kartnig folgte erst der sportliche Absturz, dann arge finanzielle Nöte. Das Heimstadion wurde verhökert, und dennoch musste Sturm einen Konkursantrag stellen. Noch schlimmer erging es Tirol Innsbruck: Der Verein ging als amtierender Meister in Konkurs. Überhaupt kamen die Zeitungen in jener Zeit kaum nach mit Berichten über untergehende Fussballklubs: Vorwärts Steyr, Bregenz, Grazer AK, Pasching, FC Kärnten, Admira Wacker, FC Linz... Und Austria Salzburg stand erst nach dem Einstieg von Red Bull wieder auf sicheren Beinen, wobei der neue Eigentümer den Fans unmissverständlich klar machte: «Das ist ein neuer Klub. Es gibt keine Tra-

dition, es gibt keine Geschichte, es gibt kein Archiv.» Bei all diesen Querelen mag es nicht verwundern, dass die Ligaspiele im Schnitt kaum von 6000 Menschen besucht wurden. Kein Geld für Studie Zwei angrenzende Länder, zwei kriselnde Ligen. Da lag der Ruf nach einer Reform nahe. Also grub Bundesliga-Vorstand Peter Westenthaler, Ex-Fraktionschef von Jörg Haiders FPÖ, eine alte Idee aus: die Alpenliga. Im Eishockey gab es eine solche mit Teilnehmern aus Österreich, Italien und Slowenien schon von 1991 bis 1999. Nach anfänglichem Zuspruch nahmen das Interesse und das Niveau jedoch ab, was schliesslich zur Einstellung des Wettbewerbs führte. Doch im Fussball sollte es gemäss Westenthaler klappen: «Wir haben zwei kleine Fussball-Wirtschaftsräume,


was wäre, wenn ...

zwei kleine TV-Märkte. Daraus möchten wir einen grösseren machen.» Erstaunlicherweise stiess er mit dieser Idee bei den Schweizer Vereinsführungen auf offene Ohren. Basels CEO Roger Hegi meinte dazu: «Der Markt ist im Umbruch. Da benötigt es kreative und innovative Veränderungen. Auf die Dauer kann man für Spiele gegen Mannschaften, die ich jetzt nicht nennen will, keine 25 000 Saisonkarten verkaufen.» Und selbst der UEFA-Sprecher signalisierte Offenheit für das Anliegen Westenthalers: «Wenn zwei

Länder ihre Meisterschaft gemeinsam organisieren wollen, dann werden wir die Sache prüfen.» Also trafen sich im April 2003 Vertreter von Basel, GC, St. Gallen und Servette mit den österreichischen Klubverantwortlichen in Oberwaltersdorf bei Wien und beschlossen, eine Machbarkeitsstudie in Auftrag zu geben. Thomas Müller, Präsident des FCSG, sagte nach dem Treffen: «Die Grundstimmung ist gut – vor allem in Österreich. Die Österreicher wären sehr schnell bereit, die beiden Ligen zusam-

menzulegen.» Es war das Letzte, was man von der Alpenliga hörte. Die Studie ist nie zustande gekommen. Der Kostenvoranschlag sei zu hoch gewesen. Zudem war die Zeit schon zu knapp, schliesslich wollte man die neue Liga schon zur gemeinsamen EM einführen. Und weil in beiden Ländern viele der interessierten Vereinspräsidenten in der Zwischenzeit ihr Amt abgegeben hatten, fehlten plötzlich die Fürsprecher. So entschlummerte die Idee der Alpenliga, bevor sie überhaupt ausgearbeitet wurde.

Das Schoggi-Leben Was wäre passiert, hätte man die Idee der Alpenliga mit etwas mehr Konsequenz verfolgt? Das zum Beispiel: Die weniger ausführliche Machbarkeitsstudie zeigt – wie erwartet – sowohl Möglichkeiten als auch Hindernisse. Also erstellt eine von beiden Ligen damit beauftragte Kommission eine mögliche Form der Zusammenlegung, die eine Vierzehnerliga vorsieht, in welcher sich die Vereine nach wie vor getrennt nach Ländern für den Europacup qualifizieren können. Den ersten Entwurf lehnt die UEFA als «ungenügend» ab, erst eine ausführliche Version akzeptiert sie zur genauen Prüfung. Derweil weibeln einige Schweizer Vereinsbosse für die neue Liga. Namentlich der neue GC-Präsident Thomas Gulich leistet Überzeugungsarbeit und sieht in der Fusion die grosse Chance auf die Rettung des verblassenden Glanzes seines Klubs. Unterstützt wird er dabei von FCB-Präsident Werner Edelmann, der von einer kompetitiven Liga träumt, die Mehreinnahmen generiert und damit regelmässige Champions-League-Auftritte ermöglichen soll. Engagierte Gegner treten derweil kaum auf, vor allem weil das aktuelle Format der Super League vier Partien gegen jeden Gegner verlangt, was den Klubs mit grösserem Renommee bei Vereinen wie Schaffhausen, Wil, Yverdon oder Thun nicht attraktiv genug erscheint. Für die vorgeschlagene Vierzehnerliga könnten sich überdies fast alle Super-League-Vereine qualifizieren, was den Mittelfeldklubs die Angst vor dem Abstieg nimmt.

Die positive Grundhaltung trügt nicht: An der Delegiertenversammlung im Mai 2005 nimmt die Delegiertenversammlung des SFV die Alpenliga mit der benötigten Zweidrittelmehrheit knapp an. Gleichzeitig wird der Vorschlag in Österreich nahezu ohne Gegenstimmen durchgewinkt. Nur die UEFA kann die Alpenliga nun noch zu Fall bringen. Im Dezember 2005 gibts vom europäischen Verband grünes Licht. Somit ist klar: Ab der Saison 2007/08 tragen die beiden Länder eine gemeinsame Liga aus. Zwar kündigt die Axpo ihren Rückzug als Hauptsponsor an, doch Milka sichert sich umgehend die Namensrechte an der Alpenliga. Der Zeitpunkt mit der bevorstehenden gemeinsamen Europameisterschaft erweist sich als perfekt, um Sponsoren zu finden. Die Euphorie ist gross, die Vereine greifen vor der wegweisenden Spielzeit tief in die Tasche, um dank Verstärkungen die Qualifikation für die erste Alpenliga zu schaffen. Im Mai 2007 ist klar, dass die Besetzung nahezu ideal ist. Sämtliche grossen Vereine aus beiden Ländern sind dabei. Aus der Schweiz schaffen es St. Gallen, Xamax und Thun nicht, aus Österreich Altach, Kärnten und Wacker Innsbruck. Sie bilden zusammen mit den vier bestklassierten aus der Challenge League und der Ersten Liga die neue 2. Alpenliga. Die ersten Runden der neuen Saison übertreffen den erwarteten Zuschaueraufmarsch bei weitem. Der Spielplan sieht vor, dass jede Mannschaft jeweils zwei Heimspiele nacheinander austrägt, um die Reisestrapazen zu minimieren. Vor allem die

Schweizer Vereine mobilisieren erstaunlich viele Fans für die Auswärtsspiele, denen sie mit gecharterten Flugzeugen und Busreisen erschwingliche KombiPakete anbieten können. Und auch sportlich überzeugt die neue Liga. Bis zwei Runden vor Schluss haben Basel, der FCZ, Rapid und die roten Bullen aus Salzburg noch Chancen auf den Titel, Letztere machen schliesslich das Rennen. Der Domino-Effekt Obwohl die zweite Saison nicht mehr ganz so erfolgreich ist – der Reiz des Neuen ist schon etwas verblasst, und nur wenige Fans leisten sich noch Wochenaufenthalte im Nachbarland –, löst sie grundlegende Veränderungen im europäischen Fussball aus. Belgien und Holland, die baltischen Staaten, Tschechien und die Slowakei sowie Skandinavien reichen bei der UEFA Gesuche um eine Zusammenlegung der Meisterschaften ein. Michel Platini begrüsst diese Vorschläge: «Europa wächst zusammen. Wieso soll sich der Fussball an Landesgrenzen orientieren?» In der Alpenliga verflüchtigt sich die Euphorie indes bald. In der dritten Saison schon pendeln sich die Zuschauerzahlen auf dem Niveau von vor der Fusion ein, die fetten TV- oder Sponsoring-Deals bleiben Wunschdenken. Nur an der Spitze ist es enger geworden, was der Spannung zuträglich ist. Zwar hat die Alpenliga ganz Fussball-Europa umgekrempelt, hierzulande bleibt aber ansonsten alles wie zuvor. Nur mit Mattersburg statt Thun.



NLA-Legende

Text: Mämä Sykora / Illustration: Sascha Török

Zählen auf Brasilianisch Bei Sion brachte er CC auf die Palme, später wurde er zum Wandervogel mit 37 Vereinen und erfand eine eigene Art, Torerfolge zu zählen. Heute hechelt Túlio verzweifelt seinem 1000. Treffer nach.

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ur wenige Fussballer haben einen Trick, der nach ihnen benannt ist. Túlio Humberto Pereira Costa, genannt Túlio oder gar Túlio Maravilha, hat so einen. Im März 1996 spielte der Stürmer mit Botafogo in der Copa Libertadores gegen Universitad Católica aus Chile. Dem Mann mit dem Torinstinkt fiel der Ball im Strafraum vor die Füsse, Keeper und Verteidiger lagen geschlagen am Boden. Doch für Túlio war es nicht genug, den Ball einfach über die Linie zu schieben. Er vollzog eine 180-Grad-Drehung, klemmte sich den Ball zwischen die Füsse, zog ihn nach oben und schoss ihn aus einem Meter Entfernung mit der Hacke in die Maschen. Die «Tuleta» war geboren, sie wurde ein Teil der Legende Túlio. 27 Jahre alt war er damals, war amtierender Torschützenkönig der brasilianischen Série A und Nationalspieler. Bis zu diesem Zeitpunkt war seine Karriere eine ganz gewöhnliche, wie sie Dutzende von brasilianischen Profis erleben. Gute Leistungen in einem kleinen Verein – in seinem Fall bei Goiás – brachten ihm

einen Transfer nach Europa ein. Túlio landete beim FC Sion. Der Klub feierte 1992 seinen ersten Meistertitel, und auf dem Höhepunkt traten gleich mehrere Hauptakteure ab. Trainer Enzo Trossero ging zurück nach Argentinien, Jean-Paul Brigger beendete seine Aktivkarriere und übernahm gleich als Trainer, und Patron André Luisier überliess sein Präsidentenamt einem jungen aufstrebenden Architekten namens Christian Constantin. Und der machte sich gleich daran, sein Team für die bevorstehende Champions-League-Qualifikation aufzurüsten. Sieben neue Spieler stiessen zum Verein, darunter gleich ein Quartett aus Brasilien. «Man sagte uns, einer sei ein Nationalspieler», erinnert sich Dominique Herr. «Wir wussten sofort welcher. Denn nur einer trug eine Sonnenbrille.» Túlio wurde begleitet von Luis Carlos, Marcio und Roberto Assis, welcher auch gleich seinen kleinen Bruder Ronaldinho mitbrachte, der für die C-Junioren des Vereins spielte. Túlio war der teuerste – man sprach von 1,25 Millionen Franken –

In der letzten Ausgabe fragten wir: Welcher ehemalige Schweiz-Legionär weist die beeindruckende Bilanz von 13 Toren in 15 Spielen für die Nationalmannschaft des Rekord-Weltmeisters auf? Die Antwort: der ehemalige Sion-Spieler Túlio. Alle Tore für die Seleção erzielte er im Jahr 1995.

und vielversprechendste der Neuzuzüge. Entdeckt worden war er vom späteren Weltmeistertrainer Felipe Scolari, der ihn bei Goiás zum Stammspieler und Serientorschützen machte. Extravagant, faul, unbeliebt Die neu formierte Sion-Truppe legte einen tollen Start hin. In den ersten vier Partien wurde nur ein Punkt abgegeben, und auch Túlio zeigte bereits seine Torjägerqualitäten. Doch danach schlitterte die Mannschaft in eine kleine Krise. Bis zum Champions-League-Showdown gegen den FC Porto gab es Siege nur noch gegen die Winzlinge aus Chiasso und Bulle. Túlios Extravaganzen stiessen den Klubverantwortlichen da schon sauer auf. Seine Haarfarbe wechselte von Spieltag zu Spieltag, und im Sittener Freibad präsentierte er stolz seine Badehose mit der Aufschrift «Túlio». Den Draht zur Mannschaft fand er aber kaum. «Er wirkte sehr zurückhaltend und verstand die Sprache nicht», so Dominique Herr. «Allerdings leistete er im Gegensatz zu den anderen drei Brasilianern auch keinen Effort, daran etwas zu ändern. Und er hatte seine Frau dabei und war deshalb kaum dabei, wenn die Mannschaft mal ausging.» Und weil Túlios Leistungen «weder im Training noch im Spiel» stimmten, fehlte ihm bald auch der Rückhalt der Mitspieler. Die Wende zum Guten brachten auch die wichtigen Partien gegen Porto nicht. Im Hinspiel schenkten die Walliser einen 2:0-

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Vorsprung in den letzten 10 Minuten noch her, in Portugal war man beim 0:4 chancenlos. Da durfte der lauffaule Brasilianer mit der Nummer 9 nur noch die letzte halbe Stunde mittun. Auf dem Platz standen damals neben Dominique Herr auch Stephan Lehmann, Alain Geiger, Marc Hottiger oder Yvan Quentin. Sie alle haben ihre Karrieren längst beendet, doch Túlio kann einfach nicht aufhören. Jedenfalls nicht, bevor er sein Ziel erreicht hat, von dem er besessen ist: 1000 Tore will er erzielen. 1000 – wie Pelé, Romário und Arthur Friedenreich vor ihm. «Meine Mission», nennt Túlio dies. In seinem Haus hat er einen Zähler installiert, den er bei jedem Torerfolg einen Schritt weiter stellt. In jüngster Zeit ist das nicht mehr so oft gewesen. Sein Projekt ist ins Stocken geraten. Bei 996 Toren in seiner Profikarriere ist er mittlerweile angelangt. Zumindest nach seiner originellen Zählweise. Als er vorletztes Jahr verlauten liess, es fehlten ihm nun noch 50 Tore, wurde die Zeitung «O Globo» stutzig und kam beim Nachrechnen auf 516 Treffer. «Ich habe auch in Freundschaftsspielen getroffen!», konterte Túlio. Für sein Sion-Abenteuer berechnet Túlio deshalb grosszügig 40 Tore, tatsächlich waren es gerade mal 18 in 41 Spielen. Kein Meer im Wallis Sion bezeichnete Túlio denn auch als «grössten Fehler seiner Karriere». Auf-

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grund der bescheidenen Darbietungen wurde der oft eigensinnige Stürmer bald selbst vom eigenen Anhang ausgepfiffen. «Für die Walliser sollte einer kämpfen und sich auf dem Platz zerreissen. Túlio hingegen stand einfach vorne rum», erklärt Herr die Unmutsbekundungen. Obwohl er der Protegé von Constantin war, beschwerte sich der neue Präsident im Winter: «Túlio ist zu wenig konstant. Ich verliere langsam die Geduld!» Auch zwischen ihm und Brigger schwelte ein Konflikt, der darin gipfelte, dass der Trainer seinem Präsidenten ein Kabinenverbot erteilte. Dass Túlio mit seiner Spielweise bei Brigger einen schweren Stand hatte, erstaunte Dominique Herr nicht: «Es gibt keinen typischeren Walliser als Brigger. Ihm passte der faule Stürmer überhaupt nicht ins Konzept.» In der Winterpause musste Trainer Brigger trotz Rang 3 in der Qualifikation die Koffer packen. Doch auch unter Didi Andrey und später Umberto Barberis sitzt er oft nur auf der Bank, manchmal sogar auf der Tribüne. Oder er muss im Nachwuchs ran. Trotzdem vergeht im Jahre 1993 kaum eine Woche ohne Gerüchte um interessierte Abnehmer. Im Winter ist dann mit Botafogo auch endlich ein Verein bereit, die 2 Millionen Franken Ablöse zu bezahlen, wovon die Hälfte freilich an Goiás weiterzuleiten ist. Es ist für alle Beteiligten eine Erlösung. «Ich brauche das Meer, die Sonne, meine Familie und meine Freunde. Das alles fehlte mir in der Schweiz, deshalb bin ich dort nicht zurechtgekommen», erklärte Túlio bei der Abreise. Wie er in der Heimat auftaut, davon konnte sich auch Dominique Herr ein Bild machen. «Im Trainingslager in Brasilien blühte er richtig auf. Dort kannte ihn jeder, er wurde von TV-Kameras empfangen, und die Leute haben sofort alles für ihn organisiert.» Doch auch wenn das Umfeld gestimmt hätte, darf bezweifelt werden, dass Túlio in der Schweiz der Durchbruch gelungen wäre. Seine Abschiedsworte waren: «Hier musste ich viel mehr laufen als in Brasilien. Das ist nicht meine Welt.»

Und sei es aus 40 Metern Das mit dem Laufen hat Túlio mittlerweile ganz aufgegeben, wie man in aktuellen Videos seiner Spiele unschwer erkennen kann. Der Bezeichnung «Strafraumstürmer» verleiht er eine ganz neue Dimension. Er wartet, bis ihm der Ball genau in die Füsse gespielt wird, und sucht dann direkt den Abschluss. Denn jeder Pass nimmt ihm eine Chance auf ein Tor. So wenige braucht er doch nur noch, dann kann er endlich aufhören. Läppische vier Treffer noch. So nah am Ziel, nutzt Túlio jede Gelegenheit. Selbst bei Freistössen aus 40 Metern versucht er es direkt, während seine Mitspieler ihm mitleidig zuschauen. Eingreifen würde freilich niemand, denn der alte verzweifelte Mann ist eine Klubikone. Wie angekündigt ist er nach seinem 993. Tor zu seinem Herzensverein Botafogo zurückgekehrt. Die letzten sieben Tore – 7 ist die Glückszahl, die Rückennummer des legendären Garrincha, die auch er trägt – sollten hier fallen, begleitet von einer grossen PR-Aktion. Denn hier feierte er seine grössten Erfolge, hier wurde er zur Legende, zur Ikone eben. 1995 schoss er Botafogo mit 23 Toren zum einzigen nationalen Meistertitel, stritt sich dabei in einem von den Medien aufgebauschten Kampf mit den Stürmern Renato Gaucho (Fluminense) und Romário (Flamengo) um den Titel «König von Rio». Die Botafoguenses lieben ihre schrillen Spielerpersönlichkeiten. Und Túlio reihte sich nahtlos in diese Tradition ein. Vor ihm waren es Heleno und Garrincha, zuletzt der Uruguayer Sebastián «Loco» Abreu. «Das Image des Vereins basiert auf Verspieltheit, Unverantwortlichkeit, gemischt mit einer Prise Aberglauben», sagt der Anthropologe Martin Curi*, der seit zehn Jahren in Rio lebt. Es passt also, dass Túlio gar ins Botafogo-Dreamteam aller Zeiten gewählt wurde. Im Dress der «Estrela Solitária» brachte er es auch zum Nationalspieler. 15 Mal lief er für die Seleção auf, 13 Tore erzielte er dabei. Eines davon sorgte für einen Eklat. Im Viertelfinale der Copa


Rubrik NLA-Legende

America, für die er mit Spielern wie Roberto Carlos, Dunga, Leonardo oder Ronaldo im Kader stand, holte er eine Flanke mit der Hand runter – erst noch klar im Abseits stehend – und schob sodann zum 2:2 ein. Die Folge war eine stattliche Anzahl Morddrohungen aus Argentinien. Ausgleichende Gerechtigkeit: Im Elfmeterschiessen des Endspiels gegen Uruguay war Túlio der einzige Versager. Dafür übertrumpfte er in seiner kurzen Nationalmannschaftskarriere den grossen Garrincha. Der hatte in 60 Spielen für Brasilien nur einmal, in seinem letzten Spiel, verloren; Túlio hingegen blieb in der regulären Spielzeit ungeschlagen. Nie länger als eine Saison Den Vereinsbossen von Botafogo blieb also kaum etwas anderes übrig, als die Klublegende trotz seiner 42 Lenze wieder an Bord zu lassen – wohl wissend, dass Túlio für seine verbleibenden 7 Tore keine Pflichtspiele in der ersten Mannschaft braucht. Und so ist er seit letztem

August zurück in Rio und hechelt in Freundschaftsspielen des U23-Teams verzweifelt dieser verflixten Marke nach, die er doch schon vor drei Jahren hatte erreichen wollen. Es ist sein vierter Aufenthalt bei Botafogo, sein 37. Verein insgesamt. Denn nach seiner Abreise aus dem Wallis wurde er zum Vagabunden. Nirgends blieb er länger als eine Saison, tingelte auf und ab durch Brasiliens Ligafussball und machte sich dabei zum ersten Spieler, der in den drei höchsten Divisionen Torschützenkönig wurde. Über die Landesgrenze wagte er sich nur noch drei Mal. Zehn Jahre nach seinem Abenteuer im Wallis heuerte er für ein paar Monate bei Ujpest Budapest an, länger hielt er es auch bei Al Shabab in den Emiraten und Jorge Wilstermann in Bolivien nicht aus. Für letzteres Engagement notierte sich Túlio grosszügig 24 Tore. Der bolivianische Verband weiss indes nur von 4. Seine originelle Zählweise sehen ihm seine Fans nach. «Man muss im Fussball halt auch Spass verstehen», sagt ein

langjähriger Botafogo-Fan. Túlio meint es indes ernster: «Der Name Túlio soll als Nummer zwei hinter Pelé stehen.» Davon wird er ausserhalb seines Herzensvereins weit entfernt bleiben. Der Rest der Bevölkerung hält seine Zählweise für lächerlich und pathetisch, für sie wird er nie zu den grössten Spielern des Landes zählen – wiewohl er selbst nach klassischer Zählweise schon Spieler wie Alfredo di Stéfano, Sandor Kocsis oder Henrik Larsson überholt hat. Auch sein 1000. Tor wird nichts daran ändern. Für diesen letzten Treffer hat er bereits Pläne gemacht: In einem Showspiel mit den Profis von Botafogo will er wie seine ganze Karriere schon im Strafraum lauern und am allerliebsten mit einer «Tuleta» vollstrecken.

*Im April erscheint Martin Curis Buch «Brasilien: Land des Fussballs» im Werkstatt-Verlag

Das grosse adidas-Quiz ZWÖLF präsentiert in jeder Ausgabe das etwas anspruchsvollere Quiz. Zusammen mit adidas stellen wir euch jeweils eine Frage, für die einschlägige Internetsuchportale mit einer einfachen Abfrage keine brauchbaren Resultate liefern. Wer hier reüssiert, darf sich mit Recht zum erlauchten Kreis der Fussballkenner zählen. Stellt ihr euch der Herausforderung?

FRAGE: Wie heisst der Mann, der als Vereinstrainer einst einen späteren Weltmeistertrainer im Kader hatte und auch einen Schweizer Klub zum Meistertitel führte? Mitmachen geht so: Email mit der richtigen Lösung an wettbewerb@zwoelf.ch. Einsendeschluss ist der 25. März 2013.

Wer die richtige Antwort auf diese Frage weiss, gewinnt dieses Mal mit etwas Glück einen «Adidas Cafusa», den offiziellen Matchball des Confederations Cup 2013.

Der Gewinner des letztmaligen Wettbewerbs ist Tim Zimmermann aus Wettingen.

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unser mann in london

Ohne Hackebeil keine Seele Seit Kurzem bestrafen auch die englischen Schiedsrichter gefährliche Tacklings mit Roten Karten. Damit verliere der englische Fussball seine Seele, klagen viele Fachleute im Mutterland des Fussballs.

E

s lief die 75. Minute. Arsenal lag daheim gegen Manchester City 0:2 zurück. Jack Wilshere, nach einer langen Verletzungspause wieder zurück im Team von Arsenal, setzte zum Sturmlauf Richtung Tor an. City-Captain Vincent Kompany grätschte. Dabei sprang er nicht etwa mit beiden Füssen gleichzeitig Richtung Ball, wie es früher auf englischen Fussballfeldern gang und gäbe war, seine Beine waren vielmehr leicht gespreizt. Doch beide Füsse waren in der Luft. Kompany traf erst den Ball, dann den Fuss von Wilshere. Dieser fiel wie ein gemähter Grashalm. Schiedsrichter Mike Dean zog sofort die Rote Karte. Selten wurde ein Tackling in England so kontrovers diskutiert wie dieses. «Ein klarer Fehlentscheid» nannte ManCityTrainer Roberto Mancini den Platzverweis. Und er war nicht der einzige. ExSpieler und TV-Experte Alan Hansen schrieb: «Wenn diese Rote Karte nicht aufgehoben wird, dann sind Tacklings auf englischen Fussballplätzen Geschichte.» Kompanys Verteidigerkollege Pablo Zabaleta sprach vielen Spielern aus dem Herzen, als er sagte: «Wir Verteidiger wissen nicht mehr, was wir

machen sollen. Wir gehen bei jedem Tackling das Risiko ein, vom Platz zu fliegen.» Und Nationalspieler Phil Jagielka ergänzte: «Ich glaube, wir werden das Tackling vermissen, wenn es nicht mehr erlaubt ist.» Immer wieder Arsenal Auch viele Fans kritisierten die Rote Karte. «Fussball ist ein Kampfsport. Wenn so ein Tackling verboten ist, dann verliert der Fussball seine Seele», schrieb ein Fan in einem Internet-Forum. Tatsächlich ist für viele Supporter der alten Schule das Tackling ein Kernstück des englischen Fussballs. Der ChelseaVerteidiger Ron Harris war in den Siebzigerjahren vor allem dank seiner harten Tacklings ein Star. Seinen Spitznamen «Chopper» (Hackebeil) trägt er bis heute stolz wie einen Adelstitel. Leeds-Verteidiger und Weltmeister Norman Hunter (Spitzname «Bite yer legs», zu Deutsch: beiss ihnen in die Beine) ist bis heute ein Idol, weil er so viele Bälle mit beidfüssigen – und oft für seine Gegner sehr gefährlichen – Tacklings erkämpfte. Trotzdem: Mehrere Kommentatoren erinnerten nach der Roten Karte für Kom-

Text: Peter Balzli Bild: Imago

pany an die regeltechnischen Fakten. Rory Smith etwa schrieb in der «Times»: «Wer diese Rote Karte kritisiert, verfehlt den Punkt. Gemäss der derzeitigen Interpretation der Fussballregeln war dieser Platzverweis korrekt.» Tatsache ist, dass Tacklings für schlimmste Verletzungen im englischen Fussball verantwortlich sind. Gleich dreimal waren in den letzten Jahren Arsenal-Spieler die Opfer. Die «Gunners» mit ihrem französischen Trainer Arsène Wenger waren die Ersten, die in England das schnelle Kurzpass-Spiel praktizierten. Und sie verloren in den letzten Jahren erst Eduardo, dann Abou Diaby und schliesslich Aaron Ramsey durch brutalste Tacklings. Alle drei Fouls waren so schrecklich anzusehen, dass es auch für abgebrühte Fans kaum zu ertragen war. Bei jedem dieser Verletzungen ertönte jeweils der Ruf nach besserem Schutz für die Spieler. «Wo soll das alles enden?» Nach einem ähnlich umstrittenen Platzverweis im letzten Jahr – ebenfalls gegen Vincent Kompany – handelten die Verantwortlichen: Der Schiedsrichterverband (Professional Game Match Officials), die Spielergewerkschaft (Professional Footballers Association) und der Trainerverband (League Managers Association) produzierten gemeinsam ein Video, das genau definiert, welche Tacklings erlaubt sind und welche verboten. Dieses Video wurde vor der Saison an jeden Verein verschickt und dort mit den Spielern studiert. Verboten sind gemäss Video jene Tack-


lings, bei welchem der verteidigende Spieler mit Tempo Richtung Beine des Gegners springt und mit keinem seiner beiden Füsse mehr den Boden berührt. Manch einer tut sich jetzt schwer mit den Konsequenzen dieser neuen Regelauslegung. Waren die Spieler früher zu wenig gut geschützt, so glauben heute viele, dass die Regeln jetzt zu streng seien, dass «alle ins Gefängnis gesteckt wurden, obwohl nur einige wenige am Einbruch beteiligt waren», wie es Rory Smith in der «Times» blumig ausdrückte. «Wo soll das alles enden?», klagte Matt Barlow im «Daily Mail». «Soll Fussball ein Sport ohne Körperkontakt werden? Ist es wirklich das höchste Ziel im Fussball, dass keiner mehr verletzt wird?»

Verlorenes Heldenpotenzial Tatsächlich verändert das partielle Tackling-Verbot das Gesicht des Fussballs. Traditionell war der Vorstopper (centreback) eine der Schlüsselfiguren fast jeder englischen Mannschaft, häufig war er auch der Captain. Doch der moderne Fussball ist geprägt vom Pressing. Einen eigentlichen Vorstopper gibt es nicht mehr. Heroische Abwehraktionen von Einzelspielern sind selten. Verteidiger machen kollektiv die Räume eng. Sie versuchen eher den Ball beim Passspiel abzufangen, als ihn mit einem Sprung Richtung Gegner zu erkämpfen. Wenn nun auch noch ein grosser Teil der Tacklings verboten ist, dann wird es für einen Abwehrspieler fast unmöglich, in einem Spiel mit einer spektakulären Aktion zu

brillieren oder auch als Aggressivleader aufzutreten. Die Folge: Es gibt zwar weniger brutale Fouls, aber der Abwehrspieler verliert einen guten Teil seines Heldenpotenzials. Er wird austauschbar. Doch die Faszination des Fussballs bestand auch immer darin, dass es verschiedene Stile und Philosophien gab: verschiedene Wege zum Sieg. Für viele englische Fussballfans und -experten führt die härtere Bestrafung von gefährlichen Tacklings zur Verarmung des Fussballs – zu weniger Vielfalt. Vielleicht haben sie sogar recht. Doch das Rad der Zeit dürften sie nicht mehr zurückdrehen können.


ZWÖLF WAR DABEI

Überlebenskampf im newsroom Aus der Sportredaktion eines grossen Online-Portals wurden uns diese aufschlussreichen Tagebuchauszüge eines Redaktors zugespielt. Natürlich frei erfunden und deshalb nichts als die Wahrheit. Montag

Donnerstag

Gestern lief bei Basel gegen Luzern anscheinend ein Hund aufs Spielfeld. Das fahren wir gross. Habe gleich bei Netzer und Stiel durchgeklingelt und ihre Zitate zu einer Top-Story zusammengeschustert. Experten kommen immer gut an. So startet man gerne in die Woche!

Tami! Ich müsste um 12 meinen Artikel zum Spiel fertig haben, aber weder Netzer noch Stiel noch Yakin noch Schällibaum sind erreichbar! Kacke! Habe stattdessen beim Kafi versucht, den Kollegen vom Print einen Artikel abzuschwatzen. Ohne Erfolg. Verdammte Neider. Nur weil deren Zeugs niemand mehr liest! Danach kurz versucht, selbst was zu schreiben. Habs aber bald aufgegeben und mich mit Migräne entschuldigt.

Dienstag Was für ein lauer Tag! Heute kamen nur Meldungen rein, die einige Recherche erfordert hätten. Geht aber nicht, der Praktikant hat ja noch Ferien. Also konnten wir nur Fotostrecken produzieren. Fans oder Spielerfrauen – wir haben eine Münze geworfen. Von den Zeuslis in den Kurven haben wir noch jede Menge Material aus dem In- und Ausland. Habe dazu noch ein paar Kracher getextet mit ein bisschen «bürgerkriegsähnliche Zustände» und «lebensgefährlich». Aus Versehen sogar eine Werbung mit Bildunterschrift versehen. Halb so schlimm.

Mittwoch Pressekonferenz der Nati war stinklangweilig. Wie soll man so arbeiten können? Zum Glück haben wir so ein geiles Team. Ich hab Shaqiris Floskeln aneinandergereiht, P. hat dazu im Teaser eine Grossaufnahme einer adretten Blondine mit beachtlichem Vorbau gebastelt. Zusammen kamen wir auf den Titel: «Warum Shaqiri Bälle mag». Genial! Die User klicken wilder als beim MoorhuhnSpielen! Wieder mal Platz 1 bei den «Meistgelesenen». Mit P. zur Feier des Tages um die Häuser gezogen, deswegen das Länderspiel verpasst.

Freitag Endlich mal wieder gemütlicher. Habe einen Link zu einer super Story über Balotelli zugeschickt erhalten. Den habe ich auf drei Artikel verteilt und einen um 9, einen um 13 Uhr und einen um 17 Uhr gebracht. Einfach ein geiler Siech, dieser Mario! Von dem will ich dann doch irgendwann mal noch ein Spiel sehen. Der ist ja jetzt beim Berlusconi-Klub. Hab deshalb schon mal eine coole Bunga-Bunga-Story auf Vorrat gestrickt. Das passt dann ja sicher irgendwann.

Samstag Stiel hat angerufen, ob ich heute nix zu Favre und Gladbach brauchte. Fuck, voll vergessen! Hab aber natürlich dennoch was hingekriegt. Der Mann von Sylvie van der Vaart hat ja gestern noch ein Tor geschossen – das kann man immer als Anlass für die neuste Sylvie-Fotostrecke bringen. Und der Praktikant, der Publizistik-Student, ist zurück aus den Ferien. Verstrickte mich beim Zmittag in ein Gespräch über Nachrichtenwert und Medienethik oder so. Haha, voll der Freak! Der wirds nicht weit bringen. He nu, selber schuld. Ich düs jetzt mal ins Weekend. Ab Montag wirds ja wieder anstrengend.


Fussball-Smalltalk Das Stadion Rankhof in Basel, Heimstätte des FC Nordstern, war bis zum Umbau 1993 mit 110 Metern Länge und 75 Metern Breite das grösste Spielfeld Europas. Für das Vorrundenspiel der Gruppe 1 der WM 1978 in Argentinien zwischen Frankreich und Ungarn brachten beide Teams nur ihre weissen Heimtrikots mit. Deshalb musste der Anpfiff verschoben werden, bis man die zumindest grünweiss gestreiften Trikots des lokalen Vereins Club Atlético Kimberley aufgetrieben hatte, in denen dann Platini & Co. Antreten mussten. S. S. Lazio Rom unterhält Sektionen in 48 verschiedenen Sportarten, darunter Tauchen, Bridge, Kanu-Polo, Wandern, Fallschirmspringen, Indoorcycling, Ultraleichtflugzeug-Fliegen und RollstuhlBasketball. Luciano Re Cecconi, genannt «l’angelo biondo» (der blonde Engel), Teil der Lazio-Meistermannschaft von 1974 und WM-Teilnehmer im selben Jahr, wurde 1977 vom Besitzer eines Juwelierladens erschossen, nachdem er beim Betreten in Begleitung eines Freundes scherzhaft «Dies ist ein Raubüberfall!» gerufen hatte. Erst zwei Vereine, Real Madrid als erfolgreichster und der FC Sheffield als ältester Klub, haben schon die «FIFA Oder of Merit» (FIFA-Verdienstorden) erhalten, aber schon 15 Funktionäre und 4 Unternehmen. Der FC Bury hat auf jedem Level des englischen «League Football» mindestens 1000 Tore erzielt. 1926 schaffte man diese Marke in der ersten Division, 1953 in der zweiten und 2005 in der dritten. Der Übername des deutschen Oberligisten FK Pirmasens ist «Die Klub». Der wohl bekannteste ehemalige Spieler des Vereins ist Horst Nussbaum, besser bekannt unter dem Namen Jack White, einer der erfolgreichsten Musikproduzenten Deutschlands. Er wurde nach seiner Pirmasenser Zeit erst Vizemeister mit dem PSV Eindhoven, schrieb dann Hits für Tony Marschall, Roberto Blanco oder Lena Valaitis und landete später als Produzent Nummer-eins-Erfolge mit Paul Anka, David Hasselhoff, Laura Branigan und Pia Zadora. Der Brasilianer Garrincha flog im Halbfinale der WM 1962 nach einer Tätlichkeit vom Feld. Dennoch durfte er im Finale gegen die Tschechoslowakei auflaufen, weil sich die Funktionäre nicht trauten, den überragenden Spieler des Turniers zu sperren. 2009 holte Barcelona sechs Titel in einer einzigen Saison, was aber dennoch kein Rekord war. Der nordirische Verein Linfield FC holte in der Saison 1921/22 sieben von sieben möglichen Pokalen: Meisterschaft, irischer Cup, County Antrim Shield,

Intermediate Cup, New Charity Cup, Gold Cup und City Cup. Der heutige deutsche Nationalspieler Benedikt Höwedes war 1997 Einlaufkind beim deutschen WM-Qualifikationsspiel gegen Armenien. Im Ligaspiel 1960 zwischen den dänischen Vereinen Nørager und Ebeltoft stand es nach 90 Minuten 4:3 für das Heimteam, als Schiedsrichter Henning Erikstrup abpfeifen wollte. Die Gastmannschaft startete noch einen letzten Konter, als dem Schiedsrichter beim Luftholen für den Abpfiff sein Gebiss rausfiel. Sofort bückte er sich danach – «Ich musste sie ja wieder aufheben, bevor noch einer drauftrat!» – und verpasste so den Ausgleich von Ebeltoft. Weil er das Tor nicht gesehen hatte, konnte er es nicht anerkennen und beendete das Spiel. Ebeltofts Beschwerde beim dänischen Fussballverband blieb erfolglos.

«ZWÖLF – Fussball-Geschichten aus der Schweiz» wird von ZWÖLF – Verein für Fussball-Kultur mit Sitz in Bern herausgegeben. ZWÖLF erscheint sechs Mal pro Jahr. Verein und Magazin sind unabhängig. Meinungen von Autoren müssen sich nicht mit jenen der Redaktion decken. Kontakt: www.zwoelf.ch ZWÖLF auf facebook.com info@zwoelf.ch leserbriefe@zwoelf.ch Herausgegeben von: ZWÖLF – Verein für Fussballkultur Postfach 8951 3001 Bern PC 60-668720-9 Gian-Andri Casutt, Präsident Abonnemente: ZWÖLF – Das Fussball Magazin. E-Mail: abo@zwoelf.ch Jahresabo (6 Ausgaben/39.– CHF) Chefredaktor: Mämä Sykora

Craig Johnston, australischer Mittelfeldspieler in Diensten Liverpools, trat 1988 im Alter von 28 Jahren überraschend zurück. In der Folge kreierte er den Prototyp für den Adidas-Schuh «Predator» sowie einen zweiten innovativen Schuh namens «The Pig» und die noch immer verbreitete TraxionSohle. Zudem entwarf er die Software-Kühlschrank-Lösung «The Butler», die den Verbrauch von Waren aus der Hotel-Minibar berechnet, und später die Gameshow «The Main Event», die drei Jahre im australischen Fernsehen lief. 2004 ging er bankrott und war zeitweise auch obdachlos, heute ist er Fotograf.

Stv. Chefredaktor: Sandro Danilo Spadini

Snoop Dogg – mittlerweile als Snoop Lion bekannt – würde laut eigenen Angaben gerne bei Celtic Glasgow als Investor einsteigen, weil ihm beim 2:1-Sieg der Schotten über Barcelona die Leidenschaft von Spielern und Fans so gefallen habe. Weitere Fussballtrikots, in denen sich Snoop in jüngster Zeit ablichten liess: Barcelona, Manchester United, Chelsea, Liverpool, QPR, Birmingham, Brighton & Hove Albion, Cardiff City, Ajax, Chivas, Juventus, AC Milan, Deutschland, Holland, Spanien und Kroatien.

Anzeigen: Kilian Gasser Medienvermarktung GmbH Hellgasse 12, 6460 Altdorf, Tel. 041 871 24 46 kg@kiliangasser.ch

1990, im Alter von 14 Jahren, war Clarence Seedorf zusammen mit seiner Familie Kandidat in der holländischen TV-Gameshow «Ted’s familiespelshow» und gewann dort einen Farbfernseher mit Fernbedienung und Teletext.

Auflage: 10 000 Exemplare

ZWÖLF, Postfach 8951, 3001 Bern Redaktion: Silvan Kämpfen, Silvan Lerch, Wolf Röcken. Autoren dieser Ausgabe: Jürg Ackermann, Peter Balzli, Matthias Dubach, Peter Hartmann, Peter Horath, Silvan Kämpfen, Christian Koller, Silvan Lerch, Nikolas Luetjens, Wolf Röcken, Mämä Sykora, Remo Vogel. Bild: André Bex (Bildchef), Frank Blaser, Brainfart, Florian Kalotay (Cover), Anina Lehmann, Sascha Török.

Marco Durisch, durisch@zwoelf.ch, Tel. 079 221 11 12 Gestaltungskonzept, Art Direction: bex.fm, Badenerstrasse 415, 8003 Zürich André Bex, Visueller Gestalter (FH) www.bex.fm Druck: BULU – Buchdruckerei Lustenau GmbH, Millennium Park 10, A-6890 Lustenau

ISSN Nummer: 1662-2456

Das nächste Heft erscheint Im APRIL 2013.

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