ZWÖLF #70 (Jan/Feb 2019)

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70

#70

JANUAR/FEBRUAR 2019

CHF 8.50 EUR 8.50

BEI DER BORUSSIA UND IHREN ALLZWECKSCHWEIZERN

TRANSFERS

Notwendige Revolution

FC BABEL

Wie die Liga spricht

SEPP BLATTER

Seine FIFA-Anfänge



E d i to r i a l

Impressum ZWÖLF – Fussball-Geschichten aus der Schweiz wird von ZWÖLF – Verein für Fussballkultur herausgegeben. Es erscheint sechs Mal pro Jahr. Verein und M ­ agazin sind unabhängig. Meinungen von Autoren müssen sich nicht mit jenen der Redaktion decken. Herausgegeber ZWÖLF – Verein für Fussballkultur 3000 Bern info@zwoelf.ch Präsident: Sandro Danilo Spadini Redaktion Chefredaktor: Mämä Sykora (syk) stv. Chefredaktor: Silvan Kämpfen (skä) Silvan Lerch (sle), Wolf Röcken (wro), Sandro Danilo Spadini (sds). Gestaltung und Art Direction Sascha Török – Wirksame Gestaltung www.torok.ch Autoren dieser Ausgabe Pascal Claude, Paolo Galli, Silvan Kämpfen, Silvan Lerch, Veni Pasucci, Philipp Schrämmli, Jens Seffner, Diego Stocker, Mämä Sykora, Gabriel Vetter, Claudio Zemp. Bild/Illustration Christina Baeriswyl, Stefan Bohrer, Ralph Diemer, Claudia Herzog, Zoran Lucić, Matthias Muff, Pascale Osterwalder, Jens Seffner, Sascha Török. Anzeigen Nico Pfäffli, pfaeffli@zwoelf.ch, Tel. +41 79 420 15 96 Druck FO-Fotorotar Gewerbestrasse 18 8132 Egg bei Zürich Gedruckt in der Schweiz. imprimé en SuiSSe. Stampa in Svizzera. Stampato in Svizzera.

Auflage 11 100 Exemplare ISSN-Nummer 1662-2456 Abonnemente www.zwoelf.ch/abo Jahresabo: 51 Franken 2-Jahresabo inkl. Smalltalk-Booklet: 98 Franken Kontakt www.zwoelf.ch info@zwoelf.ch www.facebook.com/zwoelfmagazin

Schenkkreis Mit der Lohngleichheit ist das so eine Sache, besonders in einem grossen Fussballklub. Während die Profis auf dem Rasen gewiss Aussergewöhnliches leisten und dafür Millionen verdienen, schaut für viele Angestellten, die im Hintergrund das Ihrige zum Gelingen des Spek­ takels beitragen, ein Bruchteil raus. Für sie müsse jetzt dann schon auch mal mehr abfallen, klagte eine Mit­ arbeiterin des Stadionpersonals bei Borussia Mönchen­ gladbach in unsere Richtung. Vielleicht liest der 25.-reichste Klub Europas ja diese Zeilen und hat für sie zumindest einen Weihnachtsbatzen übrig. Stets sehr spendabel gab sich zu seiner Zeit als FIFAPräsi­dent Sepp Blatter. Dabei verfolgte der Walliser aber stets auch seine eigene Agenda. In diese Falle wollten wir beim Treffen mit ihm nicht tappen und bezahlten die Konsumation wie immer selber. Denn wie sagte Josephs, äh, Gottes Sohn noch gleich: Geben ist seliger denn Nehmen. Das dachte sich auch der FC Basel, der uns nach ewiger Warterei für ein Kurzgespräch mit Marcel Koller ein Mineralwasserfläschli mit auf den Weg gab. Da sagten wir dann doch nicht Nein. Genauso wenig wie der FC Bavois, dem der Lokalrivale gleich eine ganze ­Tribüne überreichte.

@zwoelf_mag

Bild: © Scanrail | Dreamstime.com

Sämtliche Texte, Bilder und Illustrationen sind urheber­ rechtlich geschützt. Jegliche Weiter­verbreitung ist nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet. Die nächste Ausgabe erscheint Anfang März 2019.

Gönnt allen eine reiche Bescherung und viel Liebe Euer ZWÖLF


I n h a lt s v e r z e i c h n i s

#70

6

Einlaufen   Unsere Antipasti

8 St artaufst el lu n g  Wintermärchen

10

V ett ers Flo hmi   Prost, liebe Kinder

12

LEGENDENS PIEL   Claudio Zemp deutet Fussballbilder

29 S chwarz es B r ett

65

Auswärtsfahrt   Gourmet in Guatemala

65

Das grosse ZW ÖL F- qu i z   Wo der Modefan scheitert

66 ­ Knapp dan eb en

66

Erlesenes und Empfehlenswertes

Fischers frische Fans

Smal ltalk   Damit gibt man am Wurststand an


14 Zurück

in die Zukunft  In Mönchengladbach gibt es nichts ausser der Borussia. Dieser Tage träumen sie am Niederrhein noch mehr vom früheren Glanz. Reportage aus einer wahren Fussballstadt.

20 Schweizerische

Rückversicherung  Yann Sommer und Nico Elvedi bilden das Herzstück der Gladbach-Defensive. Ein ­Gespräch mit den Natispielern über den Nutzen von Aussetzern, das Stahlbad Challenge League und den Schatten von Weisweiler.

26 Die

ewige Pfeife  Unzählige Partien hat Andreas Schluchter als Schiedsrichter geleitet. Auch mit 61 Jahren hat er noch lange nicht genug.

30 Ruf

nach Revolution  Einseitige Geldverteilung, un­ ausgeglichene Ligen: Raffaele Poli vom CIES hat die Lösung. Das Transfer­wesen muss radikal verändert werden.

34 Züglete

Was nicht mehr gebraucht wird, verschenkt man am ­besten weiter. Der FC Baulmes spendierte gleich eine ganze ­Tribüne.

36 Der

zwölfte Mann  Als Sepp Blatter zur FIFA stiess, gab es für ihn nicht einmal ein Büro. Mehr aus seiner Anfangszeit erzählte er uns im Gespräch.

44 FC

Babel  Dass Fussballer verstehen, was Trainer und ­ itspieler verlangen, ist essenziell. Erschwert wird dies dadurch, M dass in einem Klub oft viele Sprachen gesprochen werden. NLA -L e g e nd e

50 Der

bescheidene Bomber  Wo auch immer Peter Risi auf­ lief, er traf. Unfassbare 217 Tore gelangen ihm in der Nationalliga A, die verdiente Anerkennung blieb ihm verwehrt.

54 Liga-Wiedersehen

Nach 20 Jahren treffen sich die SuperLeague-Klubs zur Klassenzusammenkunft. Das Ergebnis: ein grosses Theater.

58 Verrückte

Volten  Eine unglaublichere Saison als die Aus­gabe 2010/11 der Challenge League findet man kaum. Sagenhafte Sieges­ serien, unerklärliche Kanterniederlagen und bleibende Skepsis. Au s la nd s c h w e iz e r

62 Philippinischer

Rebell  Der Zürcher Martin Steuble spielt im Heimatland seiner Mutter – und kämpft dort gegen Widrigkeiten und den Verband.


W i e ge sa g t, äh … Zwischen zwei ZWÖLF-Num­ mern passiert so einiges in der schnelllebigen Fussballwelt. St.-Gallen-Trainer Peter Zeidler verkündete noch in der letzten Ausgabe: «Gepfiffen haben die Fans zum Glück noch nie, und sie werden es auch nicht tun, obwohl wir auch Spiele verlieren. Davon bin ich überzeugt.» Wenn Zeidler damit lediglich meinte, er sei überzeugt, dass Niederlagen kommen würden, dann hat der Mann recht behal­ ten. Das mit dem Pfeifen indes musste er nach einem 0:2 gegen Thun im «Blick» revidieren: «Ich verstehe, dass uns unsere Fans ausge­pfiffen haben.» Auch wenn es sportlich nicht viel zu feiern gibt bei den Grass­ hoppers, so konnten sie doch wenigstens in der Sta­dionfrage einen Triumph verbuchen. Einen gewissen Anteil am Ab­ stimmungserfolg hatte wohl auch der Stadionspeaker eines Zürcher Quartiervereins. Der verkündete nämlich im Vorfeld über die Anlage: «Geht abstimmen, sonst bekommen wir nie ein Stadion, und die Drecksbrache im Hardturm bleibt uns für immer erhalten.» Zu hören war dies übrigens aus­ gerechnet auf dem Platz des SV Höngg, also jenes Quartiers, das als einziges Nein zum Pro­ jekt Ensemble gesagt hat. Bereits nächstes Jahr soll das Stade de la Tuillère in Lausanne bezugsbereit sein. «Das neue Stadion wird wieder nach Fussball schmecken», kün­ digte Trainer Giorgio ­Contini im «Landboten» an und entdeckte damit offenbar olfaktorische Qualitäten in der Architektur.

6

Für die Stadionquerelen aller­ orts hat einer überhaupt kein Verständnis: Rolf Fringer. Der Mann mit dem Hang zu je nach Lesart unbedachten oder ein­ fach nur dummen Aussagen verriet auf Teleclub Zoom: «Manchmal wünsche ich mir einen sportfreundlichen Diktator.» Dazu führte er eine Anekdote an von einer Reise durch Gambia, wo er mit dem FC Schaffhausen im National­ stadion trainierte. «Die hatten nichts zu essen, haben dort

aber etwas hingebaut. Natür­ lich haben sie keine Abstim­ mung gemacht mit den SlumBewohnern.» Wozu auch? Ist ja sonnenklar, dass sie nichts zu essen brauchen, wenn sie so ein tolles Stadion haben. Noch gar kein Schweizer Sta­ dion gesehen hat Adi Hütter. Zumindest wenn es nach dem «Kicker» geht. Das Fachblatt hielt in einem Porträt über den YB-Meistercoach fest: «Frankfurt ist sein erstes Abenteuer im Ausland.» Oder vielleicht verorten sie in Bern einfach zu wenig Action. Auch unter Gerardo Seoane setzt YB sein Dauerhoch fort. Da konnte sich der Trainer vor dem Spitzenspiel – wenn man es überhaupt noch so nennen

kann – beim FCB gegenüber SRF grosszügig geben: «Ich gönne es Michel Aebischer, dass er von Beginn an spielt.» Vielleicht sollte jemand Seoane daran erinnern, dass er die Aufstellung macht. Nicht überall ist die Kompe­ tenzentrennung ähnlich scharf. Oft sass Pajtim Kasami in Sion nur auf der Bank, gegen den FCZ war er plötzlich wieder dabei. Auf die Frage des «Blicks» nach den Gründen für

sein Comeback antwortete Kasami: «Ich glaube, das war der Präsident …» Was passieren kann, wenn man zu lange dem Sprachenwirr­ warr im Wallis ausgesetzt ist – siehe dazu unseren Artikel auf Seite 44 –, demonstrierte ebenjener Kasami auf Teleclub, als er sich über das Sittener Publikum äusserte: «Es sind kaltblütige Fans, die immer Erfolg haben wollen, und wenn wir zu Hause spielen, müssen wir sie halt auch amüsieren.» Kommt es zu Nickligkeiten und fiesen Vergehen, ist es wichtig, dass der Fehlbare nach dem Spiel hinsteht und die Wogen zu glätten versucht. Wie etwa Taulant Xhaka, der gegen den

FC Luzern als letzter Mann Shkelqim Demhasaj umriss, aber um einen Platzverweis herumkam. Er diktierte nach dem Schlusspfiff in die Mikro­ fone: «Es ist mir scheissegal, was die Luzerner meinen, der Schiedsrichter hat Gelb ­gezeigt.» Das zweite berüchtigte Raubein auf hiesigen Plätzen ist YBMittelfeldmotor Sékou Sanogo. Sein Einsteigen mit gestrecktem Bein gegen Fabian Frei sorgte indes bei dessen Mit­spielern weniger für Unmut. Stürmer Albian Ajeti jedenfalls meinte im SRF-Pauseninterview: «Das sind die Szenen, die es braucht in so einem Spiel.» Angriffig gibt sich auch stets Lugano-Präsident Angelo ­Renzetti. Im «Blick» plädiert er nicht nur dafür, Probleme stets auf den Tisch zu bringen («Wenn Sie Liebe machen, zie­ hen Sie Ihre Kleider auch aus!»), sondern liess es sich auch nicht nehmen, einige Giftpfeile in die Ostschweiz abzufeuern: «Alain Sutter und Matthias Hüppi denken, sie seien in der Schweiz zwei Fussballpäpste, nur weil sie beim TV gewesen sind.» Folgerichtig ist auch Sascha Rufer ein künftiger Fussball­ papst. Er hatte die Ehre, den glanzvollen Sieg der Nati über Belgien kommentieren zu dürfen. Nach dem Schlusspfiff konstatierte er in ekstatischer Freude: «Und damit ist die Schweiz qualifiziert für das Final-Four-Turnier mit England, Portugal und weiteren grossen Mannschaften.»


GEZ ÜCKTES

Text PASCAL CLAUDE

Z ähl bar es

Stadio dei Pini «Torquato Bresciani», Viareggio Ed. Ginocchio R., La Spezia

DER TABELLENSTAND DER SUPER LEAGUE. DIESMAL: ANZAHL SPRACHEN DES WIKIPEDIA-ARTIKELS

Was aussieht wie ein Screenshot aus dem Horrorfilm «Attack of the Killer-Broccoli» ist in Tat und Wahrheit nichts anderes als die Heimat des toskanischen Fussballklubs S.S.D. Viareggio 2014. Als Sportplatz genutzt seit 1945, wurde die Anlage am Rande eines Pinienwäldchens und in unmittelbarer Nähe des Hafens 1959 zu einem Stadion erweitert. Heute ist der Baumbestand rund um das Oval auf ein weniger bedroh­ liches Mass zurückgestutzt, sodass den maximal 5000 Stadiongängern keine Pinienzapfen mehr in das Pausenpepsi plumpsen. Plumpsen würden, muss man sagen, weil das baufällige «Pini» seit Sommer 2018 aus Sicherheitsgründen gesperrt ist und der Viertligist seine Heim­ spiele bis auf weiteres in Nachbarsorten austragen muss.

In wie vielen Sprachen ein Wikipedia-Artikel zu einem Klub existiert, ist ja auch ein Indi­ kator dafür, wie bekannt er auf der Welt ist. Natürlich ist der FCB da gut ab­gedeckt: Auf Afrikaans, Javanisch oder Kasachisch kann man sich über ihn informieren. Nachhol­ bedarf hat Xamax, wohl weil dessen inter­ nationaler Glanz in eine Zeit fiel, wo es noch kein Wikipedia gab – und auch noch kaum Computer. Wer polyglott ist und seinem Klub zu Punkten verhelfen will: Luxemburgisch und Mongolisch sind stark untervertreten. Rang Klub

Sprachen

1

FC Basel

55

2

Grasshoppers

47

BSC Young Boys

47

4

FC Zürich

45

5

FC Sion

41

6

FC Luzern

37

7

FC Lugano

36

8

FC St. Gallen

35

FC Thun

35

10 Neuchâtel Xamax

33

Zufa llstreff er

G efühlt e Wahr hei t

«I Don’t Want to Miss a Thing» krächzten Aerosmith 1998 zum Katastrophen-Blockbuster «Armageddon», wo die Helden um Bruce Willis ähnlich cool übers Rollfeld schritten wie hier die U19 der Young Boys auf dem Weg zur UEFA Youth League nach Manchester. Nun wissen wir endlich, was mit diesem nicht zu missen wollenden Ding gemeint ist: das Spielgerät.

Was sich Fussballer zu weihnachten wünschen

Weniger oft auf die

Auf dem Platz endlich diesen Trick hinkriegen, der nur auf der

Den neusten

kriegen.

funktioniert.

in der Garage.

Socken

Spielkonsole

Schlitten

7


Sta rtaufstellun g

DETEKTIV BICKEL

Schneeball

Andy Mueller/freshfocus

SKIRRIÈRE

In einer Zeit, in der die kürzlich vom Stimmvolk beschlossene Einführung von Sozialdetek­ tiven noch nicht mal ein Thema war, machte sich einer im Schweizer Fussball gleich sel­ ber daran, angebliche Schwind­ ler zu überführen: Fredy ­Bickel. Und das kam so: Im Vorfeld der Partie gegen seinen FCZ brach beim FC Thun die Grippe aus. Gemäss Reglement kann bei «nachgewiesener infektiö­ser an­ steckender ­Krankheit von min­ destens sechs ­Spielern» eine Spielverschiebung beantragt werden, diese ­Option ­zogen die Berner Ober­länder denn auch. Doch FCZ-Sportchef ­Bickel misstraute der plötz­ lichen Krankheitswelle und beauftragte seine ­Spieler Nef und ­Schneider, sich bei ­ihren ­Thuner Kollegen nach ­deren Befinden zu er­kunden. Tat­ sächlich seien mindestens drei der Grippe­opfer putz­munter gewesen. ­Bickel tobte: «Was die Thuner erzählen, stimmt doch nicht. Es ist zum ­Kotzen. Wir haben lange Rücksicht auf andere genommen. Jetzt ist es ­genug!» Doch die Absage hatte Bestand. Und so wurde in jener Runde lediglich ein Spiel ausgetragen. Bei Xamax und Schaffhausen lag zu viel Schnee, in Thun zu viel Spieler­ personal im Bett, und Basels ­Gegner ­Servette war in Konkurs ge­gangen.

8

Liegen die Plätze unter einer weissen Decke, wird es im Schweizer Fussball erst richtig heiss. Wir blicken zurück auf Geschichten, die nur der Winter schreiben konnte.

HALLE-LUJAH

Mit «höherer Gewalt» in Form von weissen Flocken hatte sich Xamax besonders oft herum­ zuschlagen, als man während des Baus der neuen Maladière zweieinhalb Jahre die Heim­ spiele in La Chaux-de-Fonds, fast 1000 Meter über Meer, aus­ trug. Gleich in der ersten Sai­ son im Exil mussten bis in den Mai sechs (!) Spiele in Folge ab­ gesagt werden. In der Folge­ saison war im November die Markierungsmaschine ein­ gefroren, und der FC Basel musste unverrichteter Dinge wieder abreisen. Wenige Mo­ nate später, wieder sollten die Basler antreten, lag im Stade de la Charrière eine dicke w ­ eisse Decke, obwohl es zehn Tage nicht mehr geschneit hatte. «Die nahmen keine Schaufel in die Hand», ereiferte sich LigaDirektor Edmond Isoz. Der FCB verlangte einen Forfait-Sieg, Xamax verwies darauf, dass die Stadt La Chaux-de-Fonds für die Schneeräumung zu­ ständig wäre. Es gab eine Neu­ ansetzung, dem FCB bescherte dies eine anstrengende eng­ lische Woche mitten im Saison­ endspurt, der mit zwei Nieder­ lagen endete: eine in Bern und jene fatale am 13. Mai 2006 im Joggeli.

In der Schweiz dauert ­vieles ­etwas länger. Manches gar ­etwas zu lang. In Deutschland gab es Mitte der 90er-Jahre e­ inen kur­ zen Hype um Hallenfussball, 1997 erklärte ihn Uli Hoeness aber schon für tot. Im gleichen Jahr erst startete die Schweiz in der Schnee­saison ihre offi­ zielle Hallenmeisterschaft. ­Wenig Freude daran ­hatten die Trainer, die ihre Vorberei­ tung gestört ­sahen und Verlet­ zungen fürchteten. Die Stars der Liga sah man denn auch öfter auf der Tribüne als auf dem ­Teppich. Die Organisato­ ren for­derten Buden­zauber und ­Spektakel statt verbissenen Ehr­ geizes. Doch damit war es spä­ testens mit der Erhöhung der Preis­gelder vorbei. Oder wie es FCZ-Präsident Hotz formu­ lierte: «Die Mannschaft muss sich über die Hallenturniere das Trainingslager finanzieren.» Die taktischen Spiele ­waren Gift für die Stimmung, die Zu­ schauerzahlen sanken rapide. Nach drei Jahren fehlten Gelder, Sponsoren und Interesse, nun war Hallenfussball auch in der Schweiz tot.

WEISS UND SCHULDIG

Es sollte ein äusserst einträg­ liches Geschäft werden für den Zürcher Sportantiquar ­Grégory Germond. Schliesslich hortete er einen Sensations­ fund: 1935 wurde die Adolf-­ Hitler-Kampfbahn in Stuttgart mit ­einem 4:0-Sieg des Deut­ schen Reichs über die Nati er­ öffnet, ein Schweizer Fan hatte den Einlauf der Spieler, der hochrangigen Tribünengäste und ­etwas vom Geschehen auf Film festgehalten. Für die ein­ minütige Sequenz offerierte der Sender SWR eine statt­liche Summe, bedingte sich aber aus, das Mate­rial zuvor zu sichten. ­Leider war an jenem 27. ­Januar ein Schneegestöber über den Platz gefegt, und die ­Deutschen hatten natürlich ihre ­stolzen weissen Trikots getragen. Mit dem Resultat, dass auf der Aufnahme ausser schwarzen ­Socken und Schuhen praktisch nichts zu erkennen ist. Das Ge­ schäft platzte, das Zeitdoku­ ment wartet weiterhin im Zür­ cher Sportantiquariat auf einen Käufer. Vielleicht weckt es der­ einst zumindest das Interesse von Meteorologen.


PISTENDIENST KLIMASCHOCK

«Scheiss-Fussball. So kann man doch nicht Fussball spielen. Das gibt es nur in der Schweiz», fluchte Stéphane Chapuisat 1999 nach einer Niederlage mit GC im tief verschneiten Espen­ moos. Wenn schon Einhei­ mische mit der weissen Pracht und der Kälte ihre liebe Mühe haben, wie ist das dann erst für die Legionäre aus dem Süden? Legendär ist etwa das erste Training von S ­ habani Nonda beim FCZ bei minus 5 Grad, als er Trainer Ponte anflehte: «Du musst mich auswechseln! ­Alles ist eingefroren. Schau her, ­sogar meine Augen!» XamaxNigerianer Ideye Brown verfiel in Panik, als er plötzlich seine Hände nicht mehr be­wegen konnte, und wäre am ­liebsten umgehend wieder abgereist. Gar um sein Leben fürchtete Giovane Élber, als während ­seiner GC-Zeit der erste Schnee fiel: «Das war grausam. Ich dachte: Das überlebe ich nie­ mals.» Jeder hatte seinen eige­ nen Umgang mit dem fiesen Klima: Der St. Galler Brasilianer Luiz Milton etwa stopfte sich Plastiksäcke in die Schuhe und gab als Rezept heraus: «Hand­ schuhe, Strumpfhose und viel, viel laufen» – worauf sein Trai­ ner Uwe Rapolder den Wunsch äusserte, es möge doch immer so kalt sein.

SHAQ IM SCHNEE FARBLOS

Don Quijote führte einen ver­ zweifelten Kampf gegen Wind­ mühlen. Ebenso machtlos ­waren schon öfters die Schwei­ zer Vereine, wenn der Him­ mel im Winter seine Schleu­ sen öffnete. Obwohl da schon alle Regis­ter gezogen wur­ den: In Bern bot man auch schon Stellen­lose eines Beschäftigungs­programms zum Schneeräumen auf. In ­Luzern war Ex-Präsident A ­ lbert ­Koller, Hauptmann im M ­ ilitär, einst kurz davor, eine Kom­ panie zur Pistenpräparierung auf die Allmend zu befehlen. Der FC Schaff­h ausen suchte vor ­einigen Jahren in e­ inem Massenmail «dringend leis­ tungsstarke Schnee­fräsen, auch solche, die an einen Traktor montiert werden m ­ üssen». Am meisten verliess man sich na­ türlich auf die Fans, die man ­öfters mal über das R ­ adio zum freiwilligen Schneedienst auf­ rief. Nicht überall war dies so erfolglos wie in Aarau, wo einst nur ein einziger Frei­williger zum «Schaufel­plausch» er­ schien. Christian Constantin dagegen verstand die ganze Aufregung um den Schnee nie. Als ein Schneesturm 2006 auf der Luzerner Allmend für un­ mögliche Bedingungen sorgte, meinte der Sion-Präsident nur: «Linien wischen und weiter­ machen.»

Die Erfindung des Brasilianers Heine Allemagne kennt heute die ganze Fussballwelt: den Freistossspray. 2014 hatte dieser seine Premiere auf der grössten Bühne, der Weltmeisterschaft. Und gleich im Anschluss führ­ ten fast alle Ligen diese Neue­ rung ein. Nur die Schweiz nicht. Nicht etwa wegen gesundheit­ licher Bedenken, sondern weil man der Ansicht war, ein weis­ ser Schaum sei auf winterlich weissen Plätzen von mässigem Nutzen. Schiri-Chef Bertolini wurde deshalb beim Hersteller vorstellig und versicherte: «In absehbarer Zeit kommt ein far­ biges Produkt auf den Markt.» Nach ­einem ­halben Jahr war allerdings noch immer keine bunte Version erhältlich. «Die Produktion ­einer so ge­ringen Menge lohnt sich nicht», hiess es, schliesslich spielen die meisten kalten Länder eine Sommer­meisterschaft. Die SFL vertraute deshalb auf den Klima­wandel und führte den weissen Spray in der Winter­ pause dennoch ein – in der Hoffnung wohl, dass La Chauxde-Fonds nie mehr aufsteigen wird.

Secondos wagen sich hierzu­ lande nur dann auf den Schnee, wenn dieser auf einem Fuss­ ballplatz liegt. Zumindest ver­ mutete das Schweiz Touris­ mus als Grund dafür, dass die hie­sigen Skilifte immer weni­ger ausgelastet sind. Die ­Lösung? Ganz einfach: Einen Secondo-­Helden als Botschaf­ ter anheuern, und schon wür­ den die Balkan-Jugend­lichen vom ­Rasen auf die Piste wech­ seln. Und weil Shaqiri nicht nur beliebt ist, sondern sich auch für jegliche Werbe­aktionen hergibt, sollte er dieser Bot­ schafter sein. 2013 verpflich­ tete er sich, auf Facebook Ski­ fahren, Langlauf, Curling & Co anzupreisen und so Jugend­ liche mit Migrationshinter­ grund zum Wintersport zu animieren. Dass dem Fussbal­ ler Shaqiri die Pisten aus ver­ sicherungstechnischen Grün­ den verboten sind – geschenkt. Und ob die Aus­sagen des Kraft­ würfels in ­einem ­Video die Lust auf Winter­plausch wirk­ lich deutlich steigern konnten, ist umstritten. Er sagte näm­ lich: «Das ist schon gefährlich. Eine dumme Be­wegung reicht schon, um sich eine grobe Ver­ letzung zuzuziehen.» Derzeit wirbt der ­Basler übrigens für die «Shaqiri ­Winter Days» in Arosa, die Schul­klassen in den Pulverschnee ­locken sollen.

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VE TT ERS F LOHMI

Gabriel Vetter Der Satiriker wühlt sich durch das riesige Angebot an ­Fussballdevotionalien und präsentiert seinen aktuellen Lieblingsfund. @gabrielvetter

Gefunden auf Ricardo.ch:

1 Flasche Original-FC-Basel-Kinderparty-Getränk, abgelaufen 2005

Dieses Produkt ist ein Teil für den FC ­Basel im kommenden Jahr. Denn die Frage ist ja: FC Basel im Jahre 2019 – Flasche leer? Die Antwort ist rot-blau, hat Zapfen und lautet: Im Gegenteil! Flasche voll! Flasche rand­ voll – und vor allem noch ungeöffnet! Denn, hey, für die einen ist es nur ein Softdrink, für die anderen eine Soda. Wir sagen schlicht: Hello und welcome, Go-Go-Gadgeto-kohlen­ säurehaltiges Tafelgetränk! Ich meine: Wer kennt und liebt es nicht, das FCB-Kinder­ party-Getränk aus 2005? Parker-Punkte? 1893, mindestens. Dies ist mit Sicherheit eines der ei­ gentümlichsten Angebote, die derzeit auf dem Transfermarkt der Fussball-Memora­ bilia zu haben sind. Es ist quasi der Ivan Ergić von Ricardo.ch: Die Flasche – es muss sich dabei um eine Art Nordwestschweizer Zauber­trank oder Traubenbrunz mit Pfir­ sich-Aroma handeln – ziert ein komischer Vogel, der wahrscheinlich den berühm­ ten Basler Basilisk-Drachen darstellen soll, der aber irgendwie an eine Mischung aus ­Taulant Xhaka und dem dümmeren Bruder von ­Peter Maffays Tabaluga erinnert. (Als die ­Flasche produziert wurde, war T ­ aulant Xhaka übrigens 13 Jahre alt. Frage: ­Warum hast du die Flasche nicht ausgesoffen, Tau­ lant, warum? Du hast die Kinderpartys schleifen lassen, nur um 14 Jahre später auf

10

der Maladière von ­Xamax auf die Kappe zu kriegen?) Wo waren wir? Ah ja. Fussball. Sekt. Party. Ich sage immer: Rot-blau ist die Hasel­nuss. Der Inhalt der Flasche, so lernen wir von der Etikette, wurde in Deutschland hergestellt. Oder wie die SBB sagen würden: Schuld da­ ran ist ein Ereignis im Ausland. (Tusch!)

den Prozentsatz ­eines Panachés, und wenn der Spund die 20 erreicht hat, dann schlum­ mert in der knalli­gen Kinder­flasche ein rich­ tig ein­fahrendes Gebräu. Mit etwas Glück gärt sich das Zeugs noch bis zum Schier­ lingsbecher, sodass es dem ganzen Elend ein Ende zu bereiten imstande wäre. Aber so weit soll es nicht kommen.

Warum man es kaufen sollte

Stilkritik und Zustand

Mit etwas Glück ist diese eigentlich für den Nachwuchs erfundene und abgefüllte Plörre mittlerweile dermassen gegärt, dass sie den Alkoholgehalt eines regelrechten Baselbieter Kirsch-Schnaps erreicht hat. Man kriegt also womöglich für unter zehn Stutz einen Drei­ viertelliter im Kinderschämpis-Fläschli ge­ reiftes Hochprozentiges. Und seien wir mal ehrlich: Als Anhänger des FC Basel hat man dergleichen bitter nötig in diesen Zeiten. Ja, es ist fast so, als ob diese holde Flasche die letzten Jahre als Seismograf der hiesi­ gen Natio­nalliga funktioniert hat: das Fest­ getränk aus gloriosen Basler Fussball-Zeiten als anti­zyklische langfristige Investition, auf dass es sich den schlimmen folgenden Zeiten anpasse und zu tröstendem Alkohol werde. Oder anders gesagt: Der Kinder­sekt wächst mit dem Kunden mit. Wenn der Kunde Kind ist, handelt es sich noch um Pfirsich-Blöterli­ wasser; in der Pubertät dann hat er bereits

Mindestens haltbar bis Ende: siehe Kapsel.

Fazit Es ist ein Produkt, das in Basel alt geworden ist. Es entstammt also quasi dem ­eigenen Basler Nachwuchs und entspricht dem Gedanken des Basler Wegs. Falls das Eigengewächs trotzdem nicht das verspricht, was man sich davon erhofft, kann man immer noch einen 35-jährigen Russen kaufen. In diesem Sinne: Prosit!

Vier Jahre lang, versuchte sich an dieser Stelle Gabriel Vetter mit ernsthaften Texten – zuerst mit Nachrufen auf nie Verstorbene, dann mit seinem Flohmi. Jetzt hat er selber eingesehen, dass seine Schreibe stets zu lustig war. Für seinen Einsatz danken wir ihm trotzdem. Ab März stellt sich jemand Neues der Herausforderung.

ricardo.ch / mavo

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L eg e nde nspiel

mit Claudio Zemp Der Autor mag alte Fotos und macht sich seinen eigenen Reim drauf. @postkartenfranz

zw รถ l f


Samichlaus bei GC – FC Zürich 1968 / RDB by Dukas

Der Exhibitionist trat unerwartet in Erschei­ nung. Kurz vor dem Anpfiff war er auf dem Feld und entblösste sich. Der Captain wurde zu ihm geschickt, um die Sache zu regeln. Damals gab es ja weder Sicherheitsleute noch böse Buben. 13


Fohlen in Love Mönchengladbach ist vor allem eines: Borussia. Im aktuellen Höhenflug leben die goldenen 70er von Hennes Weisweiler mehr auf denn je. Das ist auch einer Schweizer Kolonie zu verdanken.

Text Silvan Kämpfen Bilder Matthias Muff

www.mattphotography.ch



E

rzähl mir nichts von Gladbach, Jung. Ich bin hier geboren.» Trotz klarem Sieg ist die Lage am Tresen ernst. Sich von einem Schwaben sagen zu lassen, er solle doch lieber zum HSV, wenn er schon in Hamburg lebe, nein, das lässt sich Udo nicht bieten. Seit vier Jahrzehnten fliegt der Mitt­ sechziger jedes zweite Wochenende hierher, um sich seine Borussia anzusehen – «mit der Erlaubnis meiner Frau». Jetzt will er an die­ sem Sonntagabend in der rustikalen Hotel­ lobby eigentlich liebend gerne bei ­einem Bier die Höhepunkte des 4:1 über Hanno­ ver noch einmal über sich ergehen lassen, die über den Bildschirm flimmern. «Schö­ nes Tor!», nickt das gute Dutzend Fans an­ erkennend zu Thorgan Hazards Schlenzer. Der flapsige Spruch des Gegenübers scheint Udo indes noch in den Knochen zu sitzen. Er setzt zum einstudierten Gegenangriff an, und zwar auf höchstem Niveau: «Sag mal, die Aufstiegsspiele 65, hast du die auch mitgemacht? Reutlingen. Kiel. Worms. Na, warst du da?» Der deutlich jüngere Fan aus Süddeutschland rettet die Stimmung mit ­Humor: «Nein, da war ich verletzt.» Aus dem ganzen Land strömen die Fans an die Heimspiele ihrer Borussia Verein für Leibesübungen 1900 e. V. Jeder Zweite nehme dafür mehr als 200 Kilometer Weg auf sich, sagen uns Fanvertreter. Es ist der Klub für diejenigen, die in den 70ern angefixt wurden, mitsamt deren Nachkommen. Günter Netzer als Taktgeber, Berti Vogts als Terrier, Jupp Heynckes als Spitze, Hacki Wimmer, Rainer Bonhof und viele andere: Mit diesem Gros an jungen Spielern aus der Region stürmte die Borussia 1965 in die Bundesliga und in

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den 70er-Jahren zu fünf Meistertiteln und in Europacupfinals. Auf dem ganzen Kontinent dominierten die wirtschaftlich sonst unterle­ genen Arbeiterstädte wie Manchester, SaintÉtienne oder eben Mönchengladbach den Fussball. Heute haben sich die Kräfteverhält­ nisse in die grossen Metropolen verschoben. «So eine Mannschaft wie damals wird es nie mehr geben», sagte Jupp Heynckes kürz­ lich bei einem der regelmässigen LegendenTreffen zu Gisela Weisweiler. Ihr verstorbe­ ner Mann Hennes prägte die erfolgreichste Zeit der Fohlen, wie die Elf damals wegen ­ihrer schnell vorgetragenen Angriffe über die Flügel getauft wurde. Die Ära schwebt noch immer über allem. Und nun heisst es, die Borussia spiele wieder wie damals: die höchste Weihe, die ein Team am Nieder­ rhein erfahren kann. Gisela Weisweiler, die seit Hennes’ GC-Engagement in den frühen Achtzigern in Uitikon bei Zürich lebt und den Fussball noch immer eng verfolgt, ist ob den aktuellen Erfolgen ebenso verzückt. Am Telefon sagt sie: «Ich bin ja inzwischen sel­ ber Schweizerin. Da macht es auch mich ein ­wenig stolz, zu sehen, wie dieser Klub heute von Schweizer Fussballern geprägt wird.» Eberl gibt, was niemand hat: Zeit Sommer, Elvedi, Lang, Zakaria, Drmic: Dass ein Kern von Nati-Spielern einem Bundes­ liga-Spitzenteam den Stempel auf­drücken, schien bis vor kurzem noch völlig unwirk­ lich. Doch spätestens seit ­Lucien Favre ist der Klub eng mit der Schweiz verwoben. Nach seinem Amts­antritt 2011 rette­te der Waadt­ länder den Klub vor dem Abstieg und hievte ihn sogleich in ganz neue Tabellenregionen,

mit Granit Xhaka als zentraler Figur. Zuvor hatten die Fohlen über ein Jahrzehnt lang keinen einstelligen Schlussrang mehr be­ legt – oder gar in der 2. Liga gespielt. Sport­ chef Max Eberl spart nicht mit Dankeswor­ ten für Favre. Er betont aber: «Wir haben ihm auch viel geboten: ein ruhi­ges, vertrauens­ volles Umfeld, wo er seine Ideen perfekt umsetzen konnte.» Eberl steht für den Auf­ schwung und die Kontinui­tät, die die­ sen Verein im Bundesliga-Zirkus so einzig­ artig macht. Seit zehn Jahren ist der frühere Aussenverteidiger nun Sportdirektor. Seinen Trainern gibt er viel Zeit und Kredit, so auch Dieter Hecking, der in der durch­zogenen letzten Saison unter Beschuss stand und sei­ nen Vertrag nun gerade wieder verlängerte. Weiterverkäufe wie jene von Xhaka, J­ annik Vestergaard oder Marco Reus katapultier­ ten den Klub unter Eberl auch finanziell in neue Sphären. Eigengewächse wie Marc-­ André ter Stegen lösten nie da ge­wesene Be­ träge ein. In puncto Kaderzusammenstellung hat Max Eberl offensichtlich einen ­Narren an Schweizern gefressen, er lobt artig die hie­ sige Ausbildung und Mentalität. Auf die An­ frage von ZWÖLF, ob ein Block mit gleich fünf Ausländern gleicher Herkunft nicht auch Risiken berge, lässt der Bayer aus­ richten: «Das gäbe es vielleicht, wenn diese Spieler aus einer Nation eine fremde Spra­ che sprächen und sich innerhalb der Mann­ schaft abkapseln würden. Bei Spielern aus der Schweiz, im Speziellen bei unseren, sehe ich das gar nicht.» Jörg Stiel war der Erste hier, er spielte noch mit Eberl zusammen und erklärt sich


die Existenz der Schweizer Enklave deshalb auf seine Weise. «Wahrscheinlich hat Max einfach mit mir als Goalie so gute Erfahrun­ gen gemacht», witzelt er. Für Stiel sind die Schweizer «nachhaltige Fussballer, die Kon­ stanz bringen», was so viel heisst wie: Man kann sich auf sie verlassen. Auch für ihn macht das Familiäre diesen Verein aus, das seit der Weisweiler-Ära gepflegt wird, die er, seine Eltern stammen aus Nordrhein-West­ falen, als Kind selber mitbekam. Der frühere Natispieler erzählt die Anekdote, wie er Jahre nach seiner Aktivzeit bei einem Podiums­ gespräch in Zürich auf ­Günter Netzer traf. Er habe diesen anständig mit Herrn N ­ etzer be­ grüsst, worauf dieser erwiderte: «Aber Junge! Wir haben doch im selben Verein gespielt.» Besonders in Erinnerung bleibt Publikums­ liebling Stiel auch das letzte Spiel auf dem Bökelberg. Das inzwischen weggesprengte Stadion lag zentral, mitten in einem schönen Wohnquartier, getreu dem Namen 61 Meter über Meer. Steile Stehrampen und nur eine Tribüne rahmten das Feld ein, 35 000 kamen zum Abschied gegen 1860 München. Jörg Stiel machte zehn Minuten vor Spielschluss der Klublegende Uwe Kamps Platz und über­ gab ihm die Kapitänsbinde. Das Publikum feierte jede Ballberührung des 39-Jährigen. Stiel: «Wenn du wissen möchtest, was Glad­ bach bedeutet: ­genau das!» Wer von Mönchengladbach nur den Fussballverein von Weltruhm kennt, würde wohl etwas anderes erwarten als das, was man an einem Sonntag im Stadtzentrum zu sehen bekommt. Die Geschäfte sind ge­ schlossen, die Strassen leer gefegt, das triste Wetter trägt den Rest dazu bei. «Da ist ja bei

Jeder zweite GladbachFan legt für ein ­Heimspiel mehr als 200 Kilometer zurück.

uns auf dem Dorf noch mehr los», klagt ein jugendlicher Trikotträger vor dem zuge­ sperrten Weihnachtsmarkt. Früher, als der Ort noch München Gladbach hiess, war hier die Textilindustrie ansässig, heute ist da­ von kaum mehr etwas übrig. Im Gegensatz zu Manchester, das einen ähnlichen Struk­ turwandel durchlebte, hat die Stadt die Moderni­sierung verpasst. Sie bietet nur noch einen, dafür ganz grossen Anziehungspunkt: den Borussia-Park. Die neue Arena steht gut fünf Kilome­ ter ausserhalb. Am Spieltag haben selbst die breiten Überlandstrassen Mühe, den Ver­ kehr zu schlucken, weil die von weit her angereisten Matchbesucher das Privatauto

bevor­zugen. In dieser weitläufigen Gegend werden laufend moderne Bürogebäude hochgezogen. Im Umland haben Amazon und Zalando Standorte eröffnet, Arbeits­ plätze für den Billiglohnsektor – immerhin, sind manche geneigt zu sagen. Die Borussia selber eröffnet neben dem Stadion ein eige­ nes Viersternehotel, eine Rehazentrum, ein Museum. Der Verein, so bescheiden er sich gerne gibt, hat sich in dieser strukturschwa­ chen Region zu einem wirtschaftlich äusserst wichtigen Faktor entwickelt. Mit seinem Um­ satz von knapp 200 Millionen Franken steht er gemäss Deloitte auf Platz 25 auf der Liste der reichsten Klubs Europas. Es lebe die Bierstandszene Im Fanhaus, nur wenige Hundert Meter weiter, versammeln sich schon Stunden vor dem Anpfiff Hunderte von Fans. Schals von den jüngsten Europacup-Ausflügen zieren die Decke, Rauten säumen den Holzboden. Auch Unterhaltungen auf Holländisch und Französisch sind in diesem Saloon-artigen Lokal zu vernehmen, von der Niederlande und Belgien ist man in weniger als einer Auto­stunde hier. Andere wie Dirk K ­ ramer «pendelten» acht Jahre von Berlin hierher. Der grau melierte Endvierziger vertritt den Fan-Dachverband FPMG. Genau darum gehe es hier, sagt er uns beim Pils: dass die Borussia regelmässig Menschen zusammen­ bringe, die sich sonst aufgrund beruflicher und geografischer Neuorientierung womög­ lich auseinandergelebt hätten. Besonders ausgeprägt sei Gladbachs sogenannte Bier­ standszene. Viele suchen die deutschen Sta­ dien nicht nur der Fussballspiele wegen auf,

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sondern weil sie einfach die altbekannten Gesichter wöchentlich sehen möchten. Im Gespräch mit den Fans wird einem vor Augen geführt, in welchem Spannungs­ feld sich jeder typische Bundesliga-Verein, der einen Hauch Tradition in sich weiss, derzeit wiederfindet. Sie alle suchen nach der Balance, im In- und Ausland – Stich­ wort Premier League – wettbewerbsfähig zu bleiben und dabei die eigenen Werte – ein im Fussball manchmal etwas gar hoch­ gegriffener Begriff – nicht zu verleugnen. Dass man mit der Zeit ein Stück weit mit­ gehen muss, ist den meisten hier bewusst. «Ohne Kommerz würde es das alles nicht geben», gesteht K ­ ramer ein, flankiert vom früheren Capo Sven Körber vom Fanclub «Kleine Arschlöcher 1998». Die Nähe der An­ hänger zum Verein ist in Mönchengladbach ausgeprägter als in den meisten BundesligaKlubs. Konstanten bei den Fohlen wie Max Eberl und das familiäre Umfeld sowie die breite, traditionsempfindliche, aber nicht radikale Fanbasis lassen es zu, dass die Mit­ glieder unliebsamen Tendenzen früh Ein­ halt gebieten können. Das beginnt bei der gelb-schwarzen Jack-Wolfskin-Werbebande, die schliesslich weichen musste, weil sie an den unliebsamen Namensvetter aus Dort­ mund gemahnte. Es geht über Spiele am Montagabend, welche die von weit her an­ reisenden Gladbach-Fans stark einschrän­ ken. Und es endet in Schanghai, wo der Ver­ ein seit Oktober ein Standbein hat. «So etwas schürt Ängste», sagen die Fanvertreter. Wich­ tig sei ihnen gewesen, dass der Verein dort nicht nur einen neuen Markt sehe, sondern auch gesellschaftspolitische Werte vorlebe.

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In ­Suqian, einer x-beliebigen Millionenstadt, hat man ein Programm für Kinderfussball und Trainer­ausbildung lanciert. Max Eberl lässt dazu relativ überzeugt ausrichten, das Projekt entspreche «zu hundert Prozent der Philosophie des Vereins». Beide Fanlager sind sich einig Die fussballphilosophische Debatte domi­ niert in Deutschland aber weiterhin die 50+1-Regel. Im Kern geht es darum, ob In­ vestoren oder Unternehmen die Kontrolle über Fussballvereine übernehmen können. Von der Regel ausgenommen: die Werks­ klubs aus Leverkusen und Wolfsburg sowie Hoffen­heim. Borussia Mönchengladbach steht als Klub hinter 50+1, der Präsiden­ ten des heutigen Gladbach-Gastes Hanno­ ver 96 gilt als grösster Gegner. Martin Kind, Chef des gleichnamigen Hörgeräteherstel­ lers, hält zwar sämtliche Aktien an der Pro­ fiabteilung, die Stimmmehrheit wurde ihm aufgrund der Regel jedoch verwehrt. Mit sei­ nem Angriff auf einen der Grundpfeiler der Bundesliga hat sich Kind zum Feindbild der Fans gemacht. Im Stadion demonstrieren die beiden Lager Einigkeit. Sowohl die Gladba­ cher als auch die Hannoveraner Kurve ent­ rollen während der ersten Halbzeit ein Ban­ ner: «Kind muss weg!» Ansonsten erlebt man die Bundesliga auch im Borussia-Park wie gehabt: eine Mi­ schung aus Fasnachtsfeier und Grossdisco. Die Eintrittspreise sind erschwinglich, Stim­ mung und Akustik tadellos, die Liga hat die Nähe zu den Menschen nie verloren. Und doch ist da auch viel unnötiger Lärm, eine Übertünchung des eigentlich Wesentlichen,

dem Geschehen auf dem Rasen und im Pub­ likum. Von der Vereinshymne, die gut auch von Plüsch stammen könnte, über Verdis Triumphmarsch bis zu Scooter scheppert alles durch die Boxen, in der Pause brüllt der Stadionspeaker in Manier eines Game­ show-Moderators Ankündigungen ins Mik­ rofon, und während der Partie übernehmen die Werbedurchsagen: Noch 10 Minuten in der ersten Halbzeit mit TAG Heuer, 50 Liter Freibier pro Tor von Bitburger, noch 5 Mi­ nuten in der ersten Halbzeit mit TAG Heuer. Gehüllt ist die Szenerie permanent in neon­ grünes Licht. Paradox: Gerade in dem als so kommerziell verschrienen England, wo die Millionen eben einfach so über den TVMarkt reinfliessen, lassen die Klubs den Sta­ dionbesuch von einer solchen Eventisierung verschont. Der sonst kritische deutsche Fan zeigt sich dafür aber offenbar tolerant genug, ja, vielleicht trifft es gar ein bisschen seinen Geschmack. Aus ihrem seit Monaten andauernden Delirium geraten die 48 000 an diesem Sonn­ tagabend nur einmal. Schon nach 20 Sekun­ den kassiert die Borussia ein Gegen­tor, ­etwas, was die Schweizer Defensive bereits in der Woche zuvor gegen Belgien erlebt hat. Damit ist der Arbeitstag von Nico ­Elvedi und Yann Sommer aber auch schon zu Ende. Hanno­ ver, ohne den verletzten ­Pirmin Schwegler, kommt kaum mehr aus der eige­nen Hälfte. Die Elf von Dieter ­Hecking siegt mit 4:1, aber­ mals souverän. Im Angriff geht es schnörkel­ los geradeaus, die Mannschaft hat sich vom einstigen Favre-Fussball emanzipiert, wo sie den Ball oft ins Tor tragen wollte. Michael Lang steht sinnbildlich für diesen neuen Stil,


Auch hier ist die Bundes­ liga eine Mischung aus Fasnachtsfeier und Grossraumdisco.

er ist schnell in die Mannschaft reingewach­ sen, prescht unentwegt nach vorne, wird da­ für mit seinem ersten Saisontor belohnt. Natigoalie Sommer hat im Borussia-­ Park einen persönlichen Fan. Mathieu heisst er, ist Schweiz-Belgier und steht hin­ ter einem übergrossen Poster seines Idols. Er kommt zu jedem Match aus Wallonien und besitzt je ein Dutzend Sommer-Trikots und -Handschuhe. Auch der Gladbach-Fanclub aus dem Toggenburg ist vor Ort. Seine Mit­ glieder reisen seit 25 Jahren zu jedem Spiel mit dem Auto an. Sogar ein David-DegenTrikot, ja, auch er stand mal hier unter Ver­ trag, ist zu sehen. In der zweiten Halbzeit darf auch der hibbelige Denis Zakaria, kurz zuvor

eingewechselt, einen Ball ins Netz stochern und danach die Reporter in der Mixed Zone mit seinen antrainierten Deutsch-Floskeln beglücken. Einzig Josip Drmic kann schlecht in den allgemeinen Rausch einstimmen. Un­ beachtet von den Medienleuten schleicht er in Richtung Ausgang. Wie immer an Spiel­ tagen trägt er Privatkleider. An der WM im­ merhin noch Torschütze, stand er diese Saison noch nie im Kader, seine Konterqua­ litäten sind nicht gefragt. Karsten Keller­ mann von der «Rheinischen Post» klärt über Drmics Situa­tion auf: «Das ist durch mit ihm. Der Klub legt ihm keine Steine in den Weg, aber er war zuletzt auch wählerisch. Ein Wechsel im Winter ist wahrscheinlich.» Horst Heldts Krisensitzung im Zug In den Katakomben ebenfalls erklären muss sich der Hannover-Japaner ­Haraguchi. Er starrt vor Scham Löcher in den Boden, wäh­ rend ihn gleich sechs Landsleute mit Mikro­ fon und Kamera belagern. Nach Argumen­ ten sucht auch Horst Heldt, Sportchef des abstiegsbedrohten Kind-Klubs, als wir am nächsten Tag neben ihm im ICE sitzen. Er muss während der ganzen Fahrt am Handy einem Vorgesetzten darlegen, warum die Abwehr so schlecht stand und ob Trainer Breiten­reiter daran irgendeine Schuld trägt. Die Bundesliga bewegt pausenlos. Wer als deutscher Boulevardjournalist allerdings den Musterklub aus Mönchen­ gladbach zugeteilt bekommt, hat es nicht leicht. Unruhe, wie sie auf Schalke, Köln oder woanders ständig herrscht, kann hier nicht entstehen. Zu viel Kontinuität gibt es in den leitenden Positionen, zu wenig

Angriffs­fläche bieten diese, zu weit weg sind die meisten Fans unter der Woche. Am Tag nach dem diskussionslosen Sieg hofft das be­ dauernswerte Team von Sky am Trainings­ platz bei Eiseskälte auf irgendetwas Be­ richtenswertes: eine knackige Aussage, ein Skandälchen, ein Primeur. Nichts geschieht. Die Borussia dagegen ist sorgenfrei. Dank Max Eberl flitzt hier Weltformat na­ mens Hazard oder Pléa die Flügel entlang. In der zweiten Reihe warten zahlreiche Nach­ wuchstalente. Die Königsklasse lockt. Viele Anhänger haben Lust auf mehr bekommen. Die Jüngeren haben sich in der Favre-Ära nicht nur an Erfolg, sondern auch an schö­ nen Fussball gewöhnt, die Älteren träumen von der ersten Schale seit 1977. Eberl will des­ wegen den Pfad der Bescheidenheit nicht verlassen: «Wir sind nicht der Meinung, dass es zielführend ist, offensiver zu kommuni­ zieren. Man kommt nicht in die Champions League, indem man dies als Ziel formuliert.» Doch wenn der Sportdirektor weiterhin so gut arbeitet, kann auch er sich der Sehn­ sucht nach Weisweilers Erfolgen, ja gar nach etwas Blechernem, nicht weiter verwehren. «Ah, Sie waren gerade beim deutschen Meis­ ter?», fragt uns der Taxifahrer zum Antritt der Fahrt vom Stadion ins Hotel. Dort ruft Udo seinen letzten Trinkspruch aus, auch dem Schwaben prostet er nun zu: «Deut­ scher Meister!» Im Januar fliege er zum Trai­ ningslager nach nach «Hiärretz», gemeint ist Jerez in Spanien. Und auch wenn es im Mai mit dem Titel nichts wird, kann ihm eines niemand mehr nehmen. Denn Udo war da: 1965. Gegen Reutlingen. Gegen Kiel. ­Gegen Worms.•

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«Titel holen müssen wir hier nicht» Interview Mämä Sykora und Silvan Kämpfen Bilder Matthias Muff www.mattphotography.ch

Die zweite Spielminute gegen Belgien. Nico verspringt der Ball, Yann kommt nicht mehr ran, euer Gladbach-Kollege Thorgan Hazard trifft. Was geht einem in diesem Moment durch den Kopf? Sommer: Das sind ja dieselben Fragen wie beim Fernsehen (schmunzelt). Elvedi: Ich bin einer, der einen solchen Fehler relativ schnell abhakt und sich gleich wieder auf das Spiel konzent­rieren kann. In einem Fussballspiel hat man zum Glück auch nicht so viel Zeit zum Nachdenken. Sommer: Es gibt Spieler, denen merkt man die Unsicherheit an nach solchen Situatio­ nen. Denen redet man als Führungsspieler dann auch mal zu. Bei Nico ist das aber gar nicht nötig, er geht sehr gut um damit. Wir machen alle Fehler, sie sind ärgerlich, aber nun mal Teil des Business. Und vor allem hast du ja nachher dann ein wichtiges Tor geschossen. Elvedi: Ja, es nahm alles ein schönes Ende. Deswegen wird mir dieses Belgien-Spiel auch noch sehr lange in Erinnerung bleiben.

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Auf Yann Sommer und Nico Elvedi ist in «Glappach» Verlass. Ein Gespräch über den Druck der Tradition, die Krux mit dem ­Rückpass und Referenzen aus dem Liegestuhl.

Zieht man Positives daraus, wenn man mal einen Bock schiesst? Elvedi: Wichtig ist, dass man in einer sol­ chen Phase genügend Vertrauen in sich selber und in die Mannschaft hat. Auch bei Gladbach haben wir in der Anfangs­ phase einige Tore bekommen in dieser Sai­ son. Das müssen wir abstellen, man kann nicht in jedem Spiel ein 0:1 aufholen. Aber wenn man seine Qualitäten kennt, weiss man, dass man jederzeit ein Tor machen kann. So lassen sich Fehler auch viel besser wegstecken. Sommer: In der Karriere bringen sie einen natürlich weiter. Aber das sagt sich so leicht. Wer einmal einen entscheidenden Fehler begangen hat und nachher deswegen ver­ loren hat oder ausgeschieden ist, der wird sich nie positiv daran erinnern. Du hast dir doch mal einen Mental­ trainer genommen. Sommer: Ich glaube einfach, dass der Kopf ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist

und wir ihn ähnlich trainieren sollten wie ­unseren Körper. Da wollte ich daran arbei­ ten. Auch damit ich besser mit ­Fehlern um­ gehen kann. Ihr seid beide auf einer Position, wo ­Fehler richtig viel kosten. Sommer: Gut, er hat ja noch mich hinter sich. (lacht) Wie sehr spielt es für einen Verteidiger eine Rolle, mit welchem Torhüter man zusammenspielt? Elvedi: Die Qualität des Goalies mit den Füssen ist da entscheidend. Bei Yann weiss ich, dass er den Ball verarbeiten kann, egal wie man ihn anspielt. Und auch unter Druck kann er selber wieder einen guten Pass spielen. Ich bin also schon froh, dass ich so einen habe. Sommer: Das hast du jetzt aber fein ge­ sagt (Sommer klopft Elvedi auf die ­Schulter). Er ist 22 und hat jetzt dann schon bald 100 Bundesliga-Spiele!




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Und trotzdem: So richtig Notiz genommen hatte die breite Öffentlichkeit von dir noch nicht – jedenfalls nicht bis zum Belgien-Spiel. Woran liegt das? Elvedi: Nun, ich bin nicht unbedingt einer, der auf dem Platz gross auffällt. Ich dribble nicht mal einfach so übers halbe Feld oder mache sonst verrückte Dinge. Aber das hat für mich auch nicht Priorität. Als Innenver­ teidiger ist es doch vor allem wichtig, dass ich eine souveräne Leistung bringe und auf mich Verlass ist. Aber die Trainer müssen schon noch ­etwas mehr in dir sehen. Elvedi: Ich denke, ich spiele relativ clever. Ich bin kein Riesenapparat, aber gewinne doch sehr viele Zweikämpfe, weil ich mich taktisch stets geschickt positioniere. An EM und WM warst du als Ersatz dabei, jetzt habt ihr auch in der Nati mehr miteinander das Vergnügen. Elvedi: Es ist schön, dass ich jetzt auch dort öfter zum Zug komme, wie eben g ­ egen ­Belgien. Klar, Akanji und Schär fehlten, aber auch wenn die beiden in Zukunft fit sind, möchte ich natürlich spielen. Irgend­ wann will ich einen fixen Stammplatz in der Nati haben. Ist es eine grosse Umstellung, ob ihr in der Nati oder in Gladbach zusammenspielt? Elvedi: Es wäre übertrieben, das zu be­ haupten. Klar, die Mitspieler sind andere, und in der Offensive pflegen wir ein an­ deres System. Aber die Grundidee, hinten rausspielen zu wollen, die verfolgen wir an beiden Orten. Sommer: Aus Torhütersicht finde ich es sehr interessant, zu beobachten, wie ab­ hängig man vom Spielstil einer Mannschaft ist. Das unterschätzen viele Leute. Sie glau­ ben, ein guter Goalie funktioniere überall. Aber das stimmt nicht. Ich bin überzeugt: Viele Spiele in der Bundesliga würden völ­ lig ­anders ablaufen, wenn man vor dem Anpfiff die beiden Torhüter austauschen würde. Auch wenn beide auf ihre Art super sind. Ein Goalie kann den Stil seiner Mann­ schaft prägen. Wenn ich jetzt zum Beispiel nicht ordentlich Fussball spielen könnte, ginge unser Stil hier bei Gladbach nicht auf. Erklär uns mal, was du bei einem Rückpass überlegst. Sommer: Ich nehme ständig alle Informati­ onen auf. Die Orientierung ist sehr wichtig:

Wo stehe ich auf dem Feld? Wo ergibt sich ein Raum? Wenn sich dann eine Möglich­ keit bietet, so nutze ich die. Ich bin aber da­ rauf angewiesen, dass meine Mitspieler gute Laufwege machen und sich freilaufen. Elvedi: Yann ist unser elfter Feldspieler. Bei anderen Goalies sagt man das einfach so, bei ihm stimmt es. Dann machst du im Prinzip dasselbe wie Xavi oder Iniesta? Lücken suchen. Sommer: Ähnlich (schmunzelt). Man hat halt niemanden, der einem von hinten den Ball wegnehmen kann, das macht es etwas einfacher.

«Ich bin kein Riesen­ apparat. Aber ich spiele relativ clever.»

Es ist trotzdem hoch riskant, wenn die Gegner auf einen zurasen. Früher ­droschen Torhüter da den Ball einfach mal weg. Sommer: Lang spielen kann man immer. Aber wenn wir von hinten aufbauen, wer­ den wir sehr unberechenbar. Das kann den Gegner destabilisieren. Es ist ein schma­ ler Grat, ein Risiko, aber wenn es sich für die Mannschaft lohnt, gehe ich es gerne ein. Von 20 Mal läufst du vielleicht 2 Mal in ­einen Konter. Und bei den anderen 18 Mal geht dir das Herz auf? Sommer: Vielleicht sehe ich als Goalie da­ bei nicht so spektakulär aus wie bei ­einer Parade, aber es ist viel wert. Wenn ich ­einen guten Ball spiele und der angespielte Team­ kollege vorne vielleicht gerade noch ein ­gutes Kommando von uns kriegt, dann kann er sich drehen, und schon haben wir e­inen Spielzug. Resultiert daraus ein Tor, sagt kein Zuschauer: super, wie die da hin­ ten das gemacht haben. Aber man legt mit solchen Pässen die Basis für die Offensive. An der WM rückten die Serben und die Schweden bei fast jedem Schweizer Abstoss weit vor und stellten die Anspielstationen zu. Da war nichts mehr mit

Spielaufbau. Können Gegner einen heute noch überraschen? Elvedi: Nein. Man wird heutzutage vor ­jedem Spiel so genau auf den Gegner ein­ gestellt, dass man weiss, was auf einen ­zukommen könnte. Dass der Gegner uns dann plötzlich zustellt, ist einfach ein ­Szenario, das es geben kann. Sommer: Natürlich: Wenn du ein entschei­ dendes Spiel mit der Schweizer Nati an ­einer WM bestreitest, dann überlegst du dir vielleicht schon noch etwas mehr, wie viel Risiko du eingehen willst. In Mönchengladbach harzte es letzte ­Saison ziemlich, nun spielt ihr ganz oben mit. Warum? Sommer: Wir haben uns vorgenommen, in unseren Leistungen konstanter zu sein als in der letzten Saison. Bisher funktioniert das sehr gut. Und mit den Erfolgen wächst natürlich auch das Selbstvertrauen. Elvedi: Ein Grund ist sicher auch, dass wir weniger Verletzte haben. Der Trainer hat dadurch sehr viele Möglichkeiten. Von die­ sem ständigen Konkurrenzkampf profi­ tiert jeder. Was ist daran so toll, wenn drei andere deinen Platz wollen? Elvedi: Toll ist es natürlich nicht. Aber es bringt dich weiter, weil du automatisch mehr gibst. Im letzten Jahr hatten wir in dieser Frage weniger Druck, weil sich die Mannschaft in einigen Phasen von ­alleine aufgestellt hat. Aber so wirst du nicht besser. Die Fans waren letzte Saison auch nicht gerade zufrieden. Du, Yann, hattest ­sogar Reibereien mit ihnen. Sommer: Na ja, eher sie mit mir. Du wurdest von einer Gruppe beschimpft. Hast du mittlerweile das Standing hier, um auf so etwas zu reagieren? Sommer: Ich hätte das auch früher nicht akzeptiert. Fussballbusiness hin oder her, Respekt sollte immer da sein. Es ist nun immer­hin schon meine fünfte Saison in diesem Klub. Ich bin halt auch derjenige, der am nächsten bei der Kurve steht und sich in einer nicht so guten Phase die un­ schönen Dinge als Erster anhören muss. Ich habe mit den Fans danach gesprochen. Es hat sich alles geklärt. Nico, du hattest vor drei Jahren ein Angebot von Gladbach auf dem Tisch liegen.

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Yann Sommer

* 17. Dezember 1988 in Morges Spiele Tore 2005–2007 FC Basel U21 36 0 2006–2014 FC Basel 168 0 2007–2009 FC Vaduz (Leihe) 54 0 2009–2010 Grasshoppers (Leihe) 33 0 2014– Mönchengladbach 187 0

Länderspiele 2011– Schweiz

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Wie informiert man sich da, ob ein Wechsel eine gute Idee wäre? Elvedi: Wir haben in der Familie eine ­Pro-Kontra-Liste zusammengestellt. Dann habe ich mich natürlich mit Sportchef Max Eberl ausgetauscht und konnte viele Ein­ drücke sammeln. Und Yann habe ich noch angerufen. Sommer: Ich kann mich gut erinnern. Da lag ich nämlich gerade in Los Angeles am Pool. Was hast du ihm erzählt? Sommer: Natürlich nur Gutes (­schmunzelt). Es ist ein sehr familiärer Klub, der es neuen Spielern sehr einfach macht, sich zu integrieren. Elvedi: Das kann ich bestätigen, sie h ­ aben mich super aufgenommen. Da haben ­natürlich auch die anderen Schweizer viel beigetragen. Sommer: Gerade wenn es sich bei neuen Spielern, wie jetzt zuletzt mit Michi Lang, um Schweizer handelt, fühle ich mich na­ türlich auch ein wenig verantwortlich. Auf dem Feld kann ich sie ohnehin gut führen, weil ich sie als Verteidiger ja gleich in der Nähe habe. Und auch sonst, ich kenne den Klub und kann deshalb … (Sommer will sich auf einer Stuhllehne neben ihm abstützen, nur hat es dort gar keine solche, und er fällt beinahe herunter) Ups! Das wäre dann eine der dümmeren ­Verletzungen gewesen.

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Sommer: (lacht) Ich kann den neuen ­ pielern sicher helfen, das wollte ich sagen. S Wie kommuniziert ihr beiden und ­Michi Lang eigentlich auf dem Platz miteinander? Elvedi: Auf Schweizerdeutsch. Mit den an­ deren dann Hochdeutsch, sonst müssten die sich ziemlich konzentrieren, damit sie irgendwas verstehen. Sommer: Nicht dass wir eine geschlossene Gruppe wären, aber wir kennen uns halt. Was stand denn damals als Kontra auf deiner Liste, Nico? Elvedi: Mein Alter. Ich war ja erst 18. Klar hatte ich ein paar Spiele in der Super League gemacht, aber ich besass deswe­ gen keine riesige Erfahrung. Dass ich den Schritt doch gemacht habe, hat sich nun aber ausbezahlt. Zunächst sah es aber nicht so gut aus. Wenige Wochen nach deiner Ankunft im Sommer 2015 verliess Lucien Favre den Klub Knall auf Fall. Dabei hatte er dich ja geholt. Elvedi: Das klingt jetzt hart, weil Favre ja wirklich ein super Trainer ist und man von ihm enorm profitiert: Aber für mich war es ehrlich gesagt ein Glück, dass er ging. Ich hatte zuvor in der U23 unter ­André ­Schubert ein paar Spiele gemacht. Als er die erste Mannschaft übernahm, liess er mich dann schon bald regelmässig ran. Du galtest beim FCZ als grosses Talent aus dem eigenen Nachwuchs. Wurde es dir übel genommen, dass du schon nach einem Jahr in der ersten Mannschaft weiter­gezogen bist? Elvedi: Nein, gar nicht. Präsident Canepa fand es zwar mutig, stand aber voll hinter mir. Sie sagten mir, ich könne immer wie­ der zurückkommen. So etwas ist sehr schön zu hören. Und natürlich hat der FCZ mit dem Transfer auch Geld verdient. Sonst hätten sie mich ja nicht ziehen lassen. Dein Vater spielte doch einst bei GC im Nachwuchs.

Elvedi: Ja, ich war aber immer FCZ-Fan. Im Gegensatz zu meinem Zwillingsbruder Jan, der ist für GC. Das müssen lebhafte Derbys gewesen sein bei euch zu Hause … Wie hat eigentlich Kriens gespielt gestern? Elvedi: 3:3 gegen Chiasso. Schon wieder Unentschieden! Nach dem Match schau ich in der Regel gleich auf meiner App, was in den anderen Ligen passiert, vor allem bei Kriens. Ich freue mich mit meinem Bruder, dass es ihm dort gut läuft. Sommer: In der Challenge League war ich auch mal.

«Es macht Spass hier. Und das ist schon sehr viel wert im Fussball.»

Du hattest einen relativ mühsamen Weg hierher. Heute gibt es auch viele junge Goalies, die schon früh direkt ins Ausland wechseln. Sommer: Es muss jeder selber entschei­ den, welchen Weg er gehen will. Für mich war das überhaupt nicht mühsam, denn ich wollte einfach immer spielen. Ich war mit 17 bei Basel in der U21, als mich Heinz ­Hermann fragte, ob ich nach Vaduz mit­ komme. Beim FCB hatte ich damals noch keine Chance auf Spielpraxis. Vaduz war wohl eine andere Welt. Sommer: Komplett. Es war für mich der Schritt von der Jugend zum Er­wachsenen. Ich wurde selbstständig, wohnte allein, musste mich beweisen.


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Nico Elvedi

Elvedi: Bei mir war das natürlich anders, ich kam beim FCZ von der U21 in die erste Mannschaft. Aber glaubt mir, auch das ist eine harte Umstellung. Plötzlich hast du ­alles richtige Männer um dich herum. Sommer: So nahm ich das in Vaduz auch wahr. Dann nahm alles seinen Lauf. Wir stiegen auf, ich sammelte Super-League-­ Erfahrung. Und als ich zurück im FCB war, bekam ich meine Chance, nachdem sich Costanzo verletzt hatte. Ich würde alles ­wieder genau so machen. Mittlerweile wirst du als Weltklasse­ goalie gehandelt. Wärs da auch mal an der Zeit für einen Weltklasseklub? Sommer: Die Leute reden viel. Ich mache mir gar keine Gedanken über so etwas. Ich bin bereits in einem tollen Klub mit Ambi­ tionen. Schaut euch diese Stimmung an bei uns und wie wir spielen! Das macht Spass. Und das ist schon sehr viel wert im Fussball. Wenn mal eine Anfrage kommt, was man ja nicht beeinflussen kann, dann schaust du dir die vielleicht an. Aber im Moment ist das kein Thema. Nico, dein Vorbild spielt bei Real. Ist dir wirklich niemand Anständigeres eingefallen als Sergio Ramos? Elvedi: (schmunzelt) Ich meine damit vor allem seine fussballerische Qualität: sein Zweikampfverhalten, und er ist auch sehr gut am Ball. Aber vom Rest schaust du dir schon auch etwas ab? Elvedi: Er ist natürlich ein sehr mühsamer Gegenspieler, steht den anderen auch mal auf die Füsse. Das gehört dazu. Es muss auch mein Ziel sein, dass niemand gerne gegen mich spielt. Brauchts dazu auch Trash-Talk? Elvedi: Bei mir jedenfalls nicht, nein. Yann, du bist 2014 hier in grosse Fussstapfen getreten, jene von Marc-André ter Stegen. Sommer: Ich habe mir viele Spiele von ihm angeschaut, als er noch hier war. Es nahm

* 30. September 1996 in Zürich Spiele Tore 2013–2014 FC Zürich U21 24 0 2014–2015 FC Zürich 25 1 2015– Mönchengladbach 107 3 Länderspiele 2016– Schweiz

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mich wunder, wie er spielt. Ganz ehrlich: Mit den Füssen gibt es keinen Besseren als ter Stegen. Mein Ziel ist es, dort näher an ihn heranzukommen. Wo kannst du denn noch zulegen? Sommer: Es ist zum Beispiel entscheidend, wie mit welcher Geschwindigkeit und wel­ chem Winkel ein weiter Ball gespielt wird. Ich finde meine langen Pässe eigentlich sehr gut. Aber ich arbeite daran, dass die mehr Zug draufhaben. Und wo willst du dich verbessern, Nico? Elvedi: Sicher in der Kommunikation. Als Innenverteidiger ist das sehr wichtig, dass man Anweisungen gibt, mit den Mit­ spielern redet. Warst du schon immer so ein ruhiger Zeitgenosse? Elvedi: Man glaubt es kaum, aber als Kind war ich fast hyperaktiv, fast nur am Reden. Da hast du dann alle Wörter schon verbraucht. Elvedi: (lacht) Mit den Jahren wurde ich immer ruhiger, keine Ahnung, warum. Mein Bruder dagegen ist genau das Gegen­ teil. Aber es nützt auch nichts, immer nur laut zu sein. Gerade im Fussball geht am Ende nichts über die Leistung. Ihr habt vorhin die Ambitionen angesprochen. Dass Gladbach richtig gross

war, darum kommt man hier nicht herum. Elvedi: Ja, was das mit der Weisweiler-Elf auf sich hat und warum das hier so eine Bedeutung hat, das wird einem schnell eingebläut. Bei vielen Klubs mit grosser Vergangenheit kommt schnell Unruhe auf, weil man endlich wieder Titel holen will. Beim letzten, dem Pokalsieg von 1995, war Nico ja noch nicht mal auf der Welt. Sommer: Man spürt schon, dass die An­ sprüche wieder steigen. Aber Verein wie Fans sind doch realistisch. Es wird nicht verlangt, dass wir Titel holen. Wir wollen einfach Spiele gewinnen und möglichst weit oben landen. Wir haben nun viel über das auf dem ­Rasen gesprochen. Was unternehmt ihr in eurer freien Zeit? Elvedi: Hauptsache, ich kann abschalten, mit jemandem nicht über Fussball reden. Damit ich dann morgen wieder voll parat dafür bin, wenn ich ins Training komme. Über die Festtage mache ich nun zwei Städtetrips, erst mit Kollegen nach Buda­ pest, dann mit der Freundin nach Paris. Als Fussballer reist man zwar viel, aber be­ kommt am Ende doch nur wenig zu sehen. Und du Yann, gehst du jetzt erst mal was kochen? Sommer: Genau, und dann spiele ich noch etwas Gitarre und singe … (lacht) Im Ernst: Man investiert als Sportler so viel in seinen Körper. Wenn man mal wirklich freihat, ist es wichtig, dass man sich auch richtig aus­ ruht. Ich wohne in Düsseldorf, eine halbe Stunde von hier. Da gehe ich auch einfach mal einen Kaffee trinken. Wie ist das Leben in der Öffentlichkeit als bekannter Bundesliga-Profi? Sommer: Sehr angenehm. So locker, wie ich mich gebe, nehmen mich auch die Leute. In Köln haben sie mir mal das Auto mit Stickern zugeklebt. «Werde ­FC-Mitglied» stand da drauf. Ich fand das lustig.•

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Text Philipp Schrämmli @schraemmli_

Bild Stefan Bohrer

www.stefanbohrer.com

Nachspielzeit: zwei ­Jahrzehnte Andreas Schluchter war in den 1990er-Jahren einer der besten Schiedsrichter der Schweiz, war FIFA-Schiri, ­leitete den Schweizer Cupfinal. Heute ist Schluchter 61 Jahre alt. Und er pfeift noch immer.


E

s gibt unzählige Anekdoten, die man über Andreas Schluchter erzählen könnte. Beginnen wir mit dieser: Es war irgendwann in den späten 1980er-Jah­ ren, bei einem Zusammenzug der 1.-LigaSchiedsrichter. Die aufstrebenden Unpar­ teiischen wurden vom Ausbildner gefragt, was sie in ihrer Karriere erreichen w ­ ollen. Sie antworteten schweizerisch zurück­ haltend. Dass sie immer möglichst gut pfei­ fen möchten, dass sie keine Fehler machen wollen. «Mir ist fast das Gesicht eingeschla­ fen», sagt Schluchter. Dann kam er an die Reihe. Und er riskierte: «Im Jahr 2000, da wird der 75. Schweizer Cupfinal ausgetra­ gen. Den werde ich pfeifen, und ich suche noch zwei Assistenten.» Es ist eine Episode, die einiges über Schluchter aussagt. Er ist witzig, einer, der kaum je um einen Spruch verlegen ist. Wenn man mit ihm redet, fühlt man sich auch nach zwei Stunden noch bestens unterhalten. Gleichzeitig war und ist er – auch das dringt bei der erwähnten Anekdote durch – durch­ aus ehrgeizig. Aber vor allem ist er e­ines: fussballverrückt. 61 Jahre alt ist er heute, noch immer steht er mit der Pfeife auf dem Platz, derzeit allerdings «nur noch» Senioren Ü30 und Ü40. Um bessere Ligen zu erhalten, müsste er wieder einmal einen Konditions­ test absolvieren, 2000 Meter unter zwölf Mi­ nuten laufen. Schluchter würde das schaffen, und es reizt ihn auch. «Wer weiss, vielleicht nehme ich 2019 nochmals einen Anlauf, ich mache es einfach so gerne.» Damit ist er ein Unikum. Fast jeder Verein kämpft damit, die erforderliche Anzahl Schiedsrichter zu stel­ len, nicht selten landen in den Kursen eher schlechte Neinsager als echte Interessenten. Der Schiedsrichterverband startete kürz­ lich sogar eine aufwendige Kampagne, um Nachwuchs zu gewinnen. Schluchter hin­ gegen hat ein anderes Problem: Spätestens mit 68 Jahren, so will es das Reglement, ist für ihn auch im Nordwestschweizer Fuss­ ballverband Schluss. Wobei, Schluchter hat sich bereits erkundigt, der Verband kann auch Ausnahmen bewilligen, bei erfahre­ nen Schiedsrichtern, die konditionell noch auf der Höhe sind. Aber sieht er sich mit 70 Jahren wirklich noch als Schiri auf dem Platz stehen? Schluchter lächelt und antwor­ tet: «Man weiss es nicht.» Die Geschichte mit Andreas Schluch­ ter und dem Fussball, die begann in Klein­ hüningen, einem Basler Aussenquartier, dem im Prinzip einzig richtigen Arbeiter­ viertel der Stadt. In jeder freien Minute war der kleine Andreas mit einem Ball

unterwegs. Von seinem älteren Bruder, der beim SC Klein­hüningen spielte, führte er Statistiken. Später schnürte Schluchter sel­ ber die Schuhe, beim FC Concordia ­Basel war er Spieler­trainer der 4.-Liga-Mannschaft. Er war L ­ ibero, weil er ein Auge für das Spiel hatte und auch die für diese Position ge­ fragte Physis. Schluchter war ein Energiebündel. Mit 24 Jahren stand er praktisch jeden Abend auf einem Fussballplatz, leitete Trainings, trai­ nierte selber, beobachtete Gegner. Zu dieser Zeit arbeitete er bereits Vollzeit als Mittel­ schullehrer. Und weil ihm das noch nicht ausreichte, weil die Leidenschaft für den Sport so gross war, schrieb er nebenbei noch für die «Basler Zeitung» als freier Mitarbeiter. «Es konnte vorkommen, dass ich an ­einem Sonntagmorgen selber ein Spiel hatte, nach­ mittags dann nach Genf fuhr, um über eine Partie des EHC Basel zu berichten, und am Montagmorgen stand ich wieder vor ­einer Schulklasse.» Die «Basler Zeitung» pflegte zu jener Zeit eine Rubrik, die sich dem Amateur­ sport widmete. Sie hiess simpel und eingän­ gig: «Fussball in den unteren Ligen». Eines Tages rief eine junge Frau auf der Redaktion an. Sie sei Schiedsrichterin, eine Pionierin, über sie könnte man in dieser Rubrik doch auch einmal berichten. Schluchter besuchte die junge Frau, sie hiess Vroni – und ver­ liebte sich. Inzwischen sind die beiden seit 30 Jahren verheiratet. Vroni brachte Andi zu den Schiris. «Ich wollte es selber ausprobieren. Und es hat mir von Anfang an Spass gemacht», sagt Schluchter. Er habe gemerkt, dass ihm diese Aufgabe liegt. Menschenführung, Kom­ munikation, man ist auf dem Platz, man schmeckt das Gras. Dass es auch Hitzköpfe gibt, die kaum einen Ball treffen, aber glau­ ben, sie gehörten in die Champions League: Schluchter machte das nichts aus. Im Gegen­ teil, er mochte diese Typen. Der FCA als Philharmoniker Schluchter hängte seine Fussballschuhe an den Nagel und konzentrierte sich als Spät­ berufener ganz aufs Arbitrieren. Gemein­ sam mit seiner Frau stieg er auf. 1992, mit 35 Jahren, kam er in die NLA. «Der Mann, der schneller zieht als John Wayne», nannte ihn der «Blick» und spielte damit auf die vie­ len Gelben Karten an, die er verteilte. Zu die­ ser Zeit arbeitete er haupt­beruflich als Re­ daktionsmitglied bei der «Basler Zeitung», schrieb auch über Fussball. Es kam zur Situa­tion, dass er innerhalb von wenigen

Spätestens mit 68 Jahren ist für ­Schluchter Schluss. Wobei, der ­Verband kann ­Ausnahmen bewilligen. Tagen Georges Bregy im Camp der Schweizer Nati als Journalist besuchte und ihn kurz da­ rauf als Schiedsrichter in der NLA pfiff. «Das ging so natürlich nicht, ich musste mich ent­ scheiden», sagt Schluchter. Und er entschied sich für die Schiedsrichterei. «Auch weil es für mich die einzige Möglichkeit war, ir­ gendwo im Leben in die Nähe der Weltspitze zu gelangen.» Sein erstes Spiel in der höchsten Spiel­ klasse war eines zwischen den Grasshoppers und dem FC Aarau. Er erinnert sich an fast jedes Detail. «Das erste Spiel in einer neuen Liga, das vergisst du nie», sagt Schluchter. Nachdem er das Aufgebot erhalten habe, habe es die ganze Woche in seinem Kopf «gerattert». Das Regelwerk sei zwar in jeder Liga das gleiche, aber die Auslegung sei eine andere. Daran müsse man sich gewöhnen. Und natürlich nehme der Druck zu. «Es ist ja auch ein Unterschied, ob man als Dirigent vor den Berliner Philharmonikern steht oder vor einem Schulorchester.» 1995 wurde Schluchter FIFA-Schiri. Auch hierbei begleitet von seiner Frau. «Da­ mals konnte man als Schiri sein Trio res­ pektive sein Quartett noch frei zusammen­ stellen», sagt Schluchter. Natürlich wählte er Vroni als Assistentin. Als Schiri-Ehepaar reisten sie durchs Land und um die Welt, waren bekannt wie bunte Hunde. Einmal leiteten sie ein Spiel in der Türkei. «Als wir am Istanbuler Flughafen landeten, warte­ ten zahlreiche Journalisten am Ausgang. Ich drehte mich um, weil ich glaubte, dass hinter uns wohl die Gastmannschaft angekommen sein müsse. Aber dann realisierte ich, dass die Journalisten unseretwegen da waren. Wir waren eine Sensation.» Als die Schluchters

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Kein ­Respekt mehr im Amateur­ sport? «Auch früher gab es ‹Biireweichi›.»

sich später im Stadion warmliefen, brandete Applaus von den Rängen. Wieder glaubten sie, es müsse um sie herum etwas passiert sein. Doch der Applaus galt ihnen. «Emoti­ onal war das eines der schönsten Erlebnisse meiner Karriere», sagt Schluchter. 2001 beendete Schluchter seine interna­ tionale Laufbahn, mit 44 Jahren. 134 NLAPartien hatte er bis dahin geleitet, unzählige weitere in tieferen Ligen. An eine EM oder eine WM wurde er nie berufen, dafür hat er zu spät angefangen. Aber den Cupfinal, den hat er gepfiffen. Und zwar schon 1998, zwei Jahre früher als seinerzeit im Jux ange­ kündigt. Im Prinzip hätte Schluchter noch ein Jahr weitermachen können, aber einer­ seits erhielt er damals vom Schweizerischen Verband das Angebot, die Ausbildung der Spitzen­schiedsrichter zu übernehmen, und andererseits bot ihm die UEFA die Chance, ab 2002 für sie als «Observer», eine Art

Schiri-Coach, zu arbeiten. Beides Gelegen­ heiten, die er wahrnehmen wollte. Aber nur weil seine eigene, internatio­ nale Karriere damit beendet war, bedeutete dies nicht, dass Schluchter die Pfeife weg­ gelegt hätte. Schon im Frühjahr 2002, ohne eine Pause einzulegen, meldete er sich beim Nordwestschweizer Fussballverband zurück, motiviert wie eh und je. «Ich wollte aller­ dings keinem jungen Schiedsrichter Spiele wegnehmen», sagt Schluchter. Deshalb be­ schränkte er sich selber darauf, nur noch Partien in der 3. Liga oder tieferen Katego­ rien zu leiten. Ans Aufhören habe er nie ge­ dacht, sagt Schluchter heute. Zu viel Spass habe ihm die Schiedsrichterei stets bereitet. «Mir ist auch nie etwas Negatives passiert. Sie haben mir nie das Auto zerkratzt, und man musste mich auch nie mit einem Helikopter aus dem Stadion fliegen.» «Jugendliche mit ein paar Problemen» Noch lange arbeitete Schluchter als Sport­ reporter, bis ihm ein Freund den Tipp gab, sich doch einmal ein spezielles Schulpro­ gramm anzuschauen. «Time-out» heisst es, ein Angebot, das sich an Kinder und Jugend­ liche richtet, die an ihrer Schule kurz vor dem Rauswurf oder vor einem Abbruch ste­ hen. Schluchter machte einen Schnupper­tag und war sofort begeistert. «Das sind keine Bösen, das sind einfach Jugendliche mit ein paar Problemen.» Seither arbeitet Schluchter wieder 60 Prozent als Pädagoge. Daneben ist das Schiedsrichtertum ein wichtiges Standbein geblieben. Während 30 Tagen im Jahr reist er als Observer durch Europa, sieht Stadien und Länder und gibt

jungen Schiedsrichtern seine Erfahrungen weiter. Spannend sei das und anspruchsvoll. «Da stehen einem nach einem Spiel sechs ehrgeizige Schiedsrichter gegenüber, alles Profis, und alle erwarten, dass sie eine kom­ petente Rückmeldung erhalten.» Zusätz­ lich coacht und berät er auch in der Schweiz Schiedsrichter, von der Super League bis in die 3. Liga. Rund 40 nationale Spiele auf ­allen Stufen sieht er auf diese Weise pro Jahr. Natürlich habe sich die Schiedsrichte­ rei über die Jahre verändert, sagt Schluchter. Das Spiel sei viel intensiver geworden, phy­ sischer, schneller. Regeländerungen hätten das Ihrige dazu beigetragen. Dass der Tor­ wart keine Rückpässe mehr aufnehmen darf beispielsweise oder die Einführung von Balljungen. «Dadurch, dass jetzt im­ mer sofort wieder ein Ball im Spiel ist, wird de facto 15 Minuten mehr Fussball gespielt», sagt Schluchter. Ausserdem würden Schiri-­ Talente heute schneller entdeckt, rascher ge­ fördert, besser ausgebildet. Das Niveau der Schiedsrichter sei heute höher als früher, und auch kleinere Fussballnationen hätten deutlich aufgeholt. Dass der Respekt vor den Unparteii­ schen, gerade im Amateursport, verloren gegangen sei, in diesen Chor will S ­ chluchter nicht einstimmen. Auch früher habe es «Biireweichi» gegeben. Dass Übergriffe auf Schiedsrichter dennoch häufiger Thema sind als früher, führt Schluchter auch auf die Medialisierung zurück. «Wenn 1982 in Gambarogno ein Spiel abgebrochen wurde, hat das in Basel doch niemand mitbekom­ men.» Heute stehe dies jedoch spätestens am nächsten Tag auf allen News-Platt­formen. Manchmal, gibt er zu, schäme er sich für seinen Sport, etwa wenn wieder einmal ein Profi schauspielernd über den Rasen rolle. Aber das Positive am Fussball habe bei ihm immer überwogen. Schluchter ist ein Vollblutfussballer, ein positiv Verrückter, einer, der auch als FIFASchiri nie vergessen hat, wo seine «Scholle» ist, wie er sagt, wo er herkommt. Das SchiriSein ablegen, das könne er nicht. Wenn er manchmal mit dem Velo beim Rankhof vor­ beifährt, einer grossen Fussballanlage am Rande Basels, und ein Schiedsrichter ge­ rade in die Pfeife bläst, dann fiebert er mit. Und manchmal denkt er sich dabei: «Das war jetzt ein guter Pfiff. Aus dem könnte etwas werden.»• Mit seiner Frau Vroni als ­Assistentin leitete Andreas Schluchter unzählige nationale und einige internationale Spiele.

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KEYSTONE/Markus Stuecklin

schiri schluchter


Sc h warz es Brett Agenda ZEITLOSES von Zwölf Zugegeben: Es ist nicht unbedingt objektiv, wenn in einem Schweizer Fussballmagazin ein Buch desselben Schweizer Fussballmagazins vorgestellt wird. Aber diese Ausnahme sei uns gestat­ tet. Schliesslich handelt es sich hier um ein ausserordentliches Werk. Bald zwölf Jahre schon gibt es ZWÖLF, gut 1200 Artikel sind in dieser Zeit erschienen. Einige wurden seit ihrem Erscheinen von der Aktualität ein- und überholt, andere haben Bestand für die Ewigkeit. Eine Auswahl solcher Dauerbrenner haben wir nun zusammengestellt und in Buchform veröffentlicht. Es sind allesamt Geschichten, die heute ebenso treffsicher sind wie bei ihrer Publikation. Zu geniessen oder wiederentdecken in diesem Best-of gibt es 31 Artikel, welche die gesamte Palette abdecken: vom Mord in Sion über einen wahnsinnigen Lausanne-Fan und Alain Sutter bis zu den Abenteuern eines Schwei­ zer Plauschkickers im kongolesischen ­Cupfinal. Mit aller gebotenen Objektivität kön­ nen wir behaupten, dass dieses Buch für ewige ZWÖLF-Abonnenten ein unverzicht­ bares Sammelwerk, für später eingestie­ gene eine wundervolle Übersicht über Verpasstes ist, dessen Lektüre nach wie vor lohnenswert ist. DAS ZWÖLF-LESEBUCH. Zeitlose Geschichten aus zwölf Jahren ZWÖLF. 220 Seiten, Softcover. Erhältlich nur über www.zwoelf.ch/lesebuch

Für alles GEWAPPNET Hardy Grüne sam­ melt vieles, unter anderem Kaffeetassen mit Klubwappen drauf. Seinen lexikalischen Eifer hat er schon oft bewiesen. Diese Kom­ bination führte dazu, dass er nun ein Nach­ schlagewerk zu Fussballwappen geschaffen hat. Zu 120 Vereinen hat er die Entwicklung der Logos dokumentiert und kommentiert. Eine löbliche Arbeit! Etwas schade ist, dass der Fokus stark auf Deutschland liegt, aus dem übrigen Europa nur die Spitzenklubs berücksichtigt werden und die Restwelt so gut wie nicht vorkommt. (syk) HARDY GRÜNE: FUSSBALLWAPPEN. WERKSTATTVERLAG. 214 Seiten mit über 1000 Abbildungen, gebunden.

Bühnenreif Ein frühpensionierter Material­wart und ein erfolg­ loser Spielerberater auf dem Weg an ein Spiel der Junioren­nati: Das ist die Ausgangslage von «Geister­ spiel», einem Roadmovie für die Bühne, geschrieben von Andri Beyeler und Martin Bieri. Es verhandelt den Schweizer Fussball, Sieg und Niederlagen sowie das Scheitern der grossen Träume. Wer Bieris Texte aus unserem Magazin kennt, der weiss, dass sich ein Besuch mit Sicherheit lohnt. GEISTERSPIEL 19. JANUAR BIS 9. FEBRUAR 2019 THEATER WINKELWIESE, ­ZÜRICH

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Alles AUF EINE Karte Wer einzig der Fussballkunst zu­ getan ist, droht ein Leben lang in vier kahlen, ungeschmückten Wänden zu hau­ sen. Das muss nicht sein, fanden die Ameri­ kaner von Pop-Chart und haben für uns eine Europakarte angefertigt, wo alle «Top Football Teams» vermerkt sind: von Porti­ monense bis Zenit, von Ross County bis Anortosis. Für alle, die ihr Zimmer schmü­ cken und dabei ihre Geografiekenntnisse auffrischen wollen – und über ein orange­ nes Lausanne-Logo hinwegschauen kön­ nen. (skä)

Das älteste Fussballfilm-Fes­ tival des Landes ist zurück! Das Programm in Basel präsentiert sich gewohnt vielseitig. Den Auftakt am Donnerstag macht eine Kurzfilmnacht; den Freitag prägt ein nostalgischer Blick auf den FCB und der ab­ schliessende Samstag bietet ein Langfilmfeuerwerk und den traditionellen ZWÖLFEinwurf mit allerlei Skurrili­ täten und Schmonzetten. FLUTLICHT FESTIVAL 24. BIS 26. JANUAR 2019 BAR DU NORD, BASEL

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In der Karriere eines Topstars haben mehrere kleine und mittelgrosse Klubs einen Beitrag geleistet. Sie haben davon aber viel zu wenig, findet Fussballforscher Raffaele Poli und will das ändern.

Interview Mämä Sykora

Transfair R

affaele Poli und seine Kollegen vom Centre international d’étude du sport (CIES) in Neuenburg sam­ meln massenhaft Daten zu Transfers, Ein­ satzzeiten oder Resultaten und zeigen in ih­ ren monatlichen Rapporten Tendenzen auf, die ihrer Ansicht nach dem Sport schaden. Sie ent­wickeln zudem Ansätze, wie man den Fussball wieder gerechter machen kann. Den grössten Hebel dafür sieht der Tessiner beim Transferwesen.

Raffaele, ihr pocht auf eine Revolution im Transferwesen. Warum? Wir beobachten derzeit einen Trend dahin gehend, dass sowohl die Ligen wie die euro­ päischen Wettbewerbe immer unausge­ glichener werden. In einer Studie haben wir Meisterschafts- und Europacup-Resul­ tate analysiert und festgestellt, dass diese ­immer höher ausfallen. Mittel- und lang­ fristig ist das eine Gefahr für den Fussball. Diese Ungleichheit hat doch aber vor ­allem mit der Verteilung der TV-Gelder zu tun. Ja. Aber das sind politische Entscheidun­ gen, da hat die FIFA wenig Handlungs­ möglichkeiten. Es ist darum von immen­ ser Wichtigkeit, dieses Ungleichgewicht anders abzufangen. Mit einem gerechteren Transfer­system kann zumindest ein Teil der Gelder im Fussball besser verteilt werden. Für mich hat eine Verbesserung in diesem Bereich absolute Priorität für das Wohl­ ergehen des Fussballs. Warum sollte ausgerechnet im ­Bereich der Transfers etwas im Sinn der ­kleineren Klubs verbessert werden? Sie haben in dieser Frage eine gewisse Macht. Bis heute sind die Topklubs nicht in der Lage, selber Spieler für ihre Mannschaf­ ten herauszubringen. Die Einstiegshürde

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ist schlicht zu hoch. Wenn Manchester City einen Fernandinho für 40 ­Millionen holt, kommt ein Talent aus dem e­ igenen Nachwuchs kaum zum Zug. Der Anteil ­jener Spieler, die im eigenen Klub aus­ gebildet wurden, sinkt seit Jahren, be­ sonders in den besten Ligen. Kaum einer schafft den Sprung direkt in ein Spitzen­ team. Ja, Messi hat das gepackt, aber wie viele ­Messis gibt es? Die Topklubs sind also auf Ausbildungs­ligen wie die Schweizer ­Super League angewiesen, aus denen sie ihre Spieler ­holen. Insofern sind die klei­ neren Vereine auch für die Elite enorm ­wichtig, und dieser Bedeutung soll endlich auch Rechnung getragen werden.

«Ich habe ein Pro­ blem damit, wo die 222 Millionen für Neymar ­hinfliessen.»

Ist nicht jeder kleine Klub froh, wenn er einen Spieler etwa zu Chelsea ver­kaufen kann? Kleine Klubs kämpfen andauernd ums finan­zielle Überleben und sind d ­ eshalb genötigt, ihre Talente bei der erst­besten Möglichkeit zu verkaufen. Für einen Klub wie Chelsea sind gerade junge Spieler sehr günstig. Sie können also problemlos 50 ­Talente an sich binden und deren Karri­ eren kontrollieren. Das ist reine Gier, denn so viele Spieler, wie sie unter Vertrag haben, können sie gar nicht brauchen.

Man kann es bei Chelsea ja auch über Umwege in die erste Mannschaft schaffen. Strategien gibt es viele: die B-Mannschaf­ ten, die Franchise-Teams, Farmteams oder Leihgeschäfte. Es ist aber gefährlich, wenn Quasi-Monopole entstehen, weil zu viele Talente dem gleichen Konstrukt angehö­ ren. Einerseits sind deren Karrieren dann ­blockiert, andererseits ist es für die Ent­ wicklung hinderlich. Unsere Studien zeig­ ten, dass all diese Strategien kaum dazu taugen, junge Spieler tatsächlich in die erste Mannschaft zu führen. Leihgeschäfte am allerwenigsten: Wir konnten nachwei­ sen, dass die allermeisten ausgeliehenen Spieler nie mehr zu ihrem Stammklub zu­ rückkehrten. Das hat die FIFA-Taskforce zum Thema Transferwesen kürzlich zum Anlass genommen, die Anzahl erlaubter Leihgeschäfte zu limitieren. Die meisten Fussballfans ­stossen sich derweil eher an den irren Ablösesummen. Es gibt eine Inflation, das ist klar. In nur fünf Jahren haben sich die Preise verdop­ pelt, das ist extrem. Aber: Auch die Budgets der Klubs sind in dieser Zeit gewachsen, es ist allgemein mehr Geld vorhanden. Ich habe kein Problem damit, wenn Paris SaintGermain 222 Millionen Euro für ­Neymar bezahlt. Ein Problem habe ich damit, wo dieses Geld hinfliesst. Aktuell kriegt der letzte Klub, in diesem Fall der FC Barcelona, praktisch alles, dabei müssten davon auch die ausbildenden Klubs bis in den Ama­ teurfussball hinunter profitieren können. Einige sind der Ansicht, man müsse die Transfersummen limitieren. Wäre das sinnvoll? Nein, im Gegenteil. Wer würde denn davon profitieren? Die grossen Klubs, die dann ihre Spieler günstiger bekämen. Eine Be­ schränkung ist der falsche Weg, die Vertei­ lung muss man angehen. Es gibt doch immerhin schon die Ausbildungsentschädigung. Heute werden bei internationalen Transfers 5 Prozent der Ablösesumme unter ­jenen Klubs verteilt, bei denen der Spieler ab dem Alter von 12 Jahren gespielt hat. Aber das reicht nicht. Bei den Summen, die heute bezahlt ­ erden, ist das doch ein netter Zustupf. w Rechnen wir es doch mal durch: Spieler A


tritt im Alter von 8 Jahren in einen Chal­ lenge-League-Klub ein. Er ist ein grosses Talent, mit 18 wechselt er für 300 000 Fran­ ken in die Super League. Dort überzeugt er und wechselt mit 20 Jahren für 10 Millionen nach Italien. Heute kassiert dieser Super-­ League-Klub das ganze Geld, abzüglich der 5 Prozent Ausbildungsentschädigung. Das ist doch nicht fair! Klar, der Challenge-­ Ligist freut sich über die 300 000, aber mit den fast 10 Millionen kann der Super-­Ligist einige neue Talente holen, die er dann wieder teuer verkaufen kann. So wird die Macht zementiert. Das Gleiche passiert auch gegen oben, wo sich die Grossklubs immer mehr absetzen. Wie soll nun deine Transferrevolution konkret aussehen? Wir haben in letzter Zeit einige mögli­ che Regeländerungen entwickelt und

durch­gespielt, alle davon mit dem Ziel, den Unter­bau zu stärken. Zwei Drittel al­ ler Transfersummen weltweit werden heute von den Top-5-Ligen bezahlt. Von all diesen Milliarden sickert aber nur ein sehr kleiner Teil bis nach ganz unten durch. Hier muss man ansetzen. Kannst du einen konkreten Vorschlag ausführen? Es gibt beispielsweise die Idee, dass zusätz­ lich zur Ausbildungsentschädigung jähr­ lich ein Prozentsatz des Gehalts eines Spie­ lers zurück zu seinem ehemaligen Klub fliesst. Im Schweizer Eishockey existiert eine ähnliche Regelung. Damit hätten die Klubs garantierte regelmässige Einnahmen, was für die Planung sehr wichtig ist. Gleich­ zeitig wären sie nicht mehr darauf an­ge­ wiesen, jedes Talent so früh zu verkaufen. Man stelle sich einmal vor, was das etwa für

DER LETZTE TRANSFER VON ADMIR MEHMEDI

NACH AKTUELLEM SYSTEM

NACH NEUEM SYSTEM

9.0 MIO 1.6 MIO

Nach dem jetzigen System erhalten die früheren Klubs eines Spielers bei einem internationalen Transfer 5 Prozent der Ablösesumme. Diese wird aufgeteilt nach Anzahl Saisons, die der Spieler zwischen 12 und 23 Jahren beim jeweiligen Klub gespielt hat. Die Jahre ab 16 zählen dabei doppelt. Bei Transfers nach dem 23. Altersjahr fällt für die Ausbildungsklubs nichts mehr ab, so zum Beispiel beim Wechsel von Admir Mehmedi (27) von Leverkusen nach Wolfsburg. Raffaele Poli schlägt zwei grosse Änderungen vor: Einerseits setzt er schon bei 10 Jahren an, andererseits soll jede in der Karriere bezahlte Ablöse unter den früheren Klubs nach Anzahl absolvierter Partien aufgeteilt werden.

1.3 MIO

0.6 Mio

2.8 Mio

2.7 Mio

den FC Winterthur bedeuten würde! Für Akanji, Mehmedi, Zuber, Freuler und Zuffi – alles ehemalige FCW-Spieler – erhielte er jährlich schöne Beiträge, dank derer er die Ausbildung weiter verbessern könnte. Zu­ dem würde es seine Verhandlungsposition erheblich stärken. Er wäre nicht länger auf frühe Verkäufe angewiesen. Was sind weitere Möglichkeiten? Diskutiert wird auch über die Variante, nach der man die Ausbildungsentschä­ digung erhöht und sie gleichzeitig nach ­einem Schlüssel unter den bisherigen Klubs aufteilt nach Anzahl Spielen, die er für den jeweiligen Verein bestritten hat. Auch das sollte dazu führen, dass die Klubs ein Interesse daran haben, ihre besten Spie­ ler länger zu behalten, schliesslich bekom­ men sie ja mehr, je länger er dort spielt. Seien wir ehrlich: Die Spieler wollen ja früh ins Ausland, und die grossen Klubs wollen die Talente in jungem Alter haben. Das ist klar. Aber mit so einer Änderung wird die Ausbildungsarbeit immerhin rich­ tig entschädigt. Haben Klubs mehr Ein­ nahmen in Aussicht, wenn sie einen Spieler länger behalten, dann steigt natürlich auch dessen Preis, falls ein Grossklub ihn doch früher möchte. Ohnehin ist es ja ohnehin nachweislich sinnvoller für alle Beteiligten, auf solche frühen Wechsel zu verzichten. Warum? Wir haben eine Untersuchung gemacht zu ehemaligen U17-Nationalspielern. Dort ­haben wir unterschieden zwischen jenen, die das Land noch vor ihrem ersten Einsatz in der heimischen Liga verlassen ­haben, und jenen, die erst später gingen. Man darf annehmen, dass die früh Abgesprun­ genen als die grössten Talente galten. Das Resul­tat war eindrücklich: Mit 24 Jahren ­standen jene am besten da, die frühstens nach 60 Liga-Einsätzen transferiert wur­ den. Wenn man nun also nach einer Mög­ lichkeit sucht, dass junge Spieler länger bei ­ihrem Stammklub bleiben, dann stecken dahinter keine illusorischen Wünsche, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Es geht auch ­darum, deren Karrieren zu schützen. Heute sind junge Talente oft einfach nur Spekula­ tionsobjekte, das hilft niemandem. Es ist vergleichbar mit dem Hochfrequenzhandel an der Börse: Er erzeugt keinerlei volkswirt­ schaftlichen Nutzen, er existiert einzig und allein der Spekulation wegen. Bei spekula­ tiven Transfers von jungen Spielern gilt

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Transferrevolution

dasselbe: Dem Fussball bringen sie über­ haupt nichts, im Gegenteil. Was würden solche Verbesserungen für die Schweizer Liga bedeuten? Die Schweiz als Ausbildungsland würde da­ von überdurchschnittlich profitieren. Wenn auch gute Spieler mehrere Saisons bleiben, bringt das nicht nur ihnen selber ­etwas, sondern steigert auch die Qualität der Liga. Es gäbe also weniger Umbrüche in den Teams, und Stabilität ist – das zeigen un­ sere Studien – ein Schlüsselfaktor für kom­ petitiven Erfolg. Zudem stärkt es die Iden­ tifikation mit den Fans. Es könnte auch dazu führen, dass wieder mehrere Mann­ schaften Aussicht auf Titel haben. Einträg­ liche Transfers können aktuell ja nur B ­ asel, YB und der FCZ tätigen. Wenn deren Er­ löse besser verteilt würden, rückten die Teams wieder näher zusammen. Das heisst: Die Meisterschaften würden nicht nur in der Schweiz wieder spannender. Doch lei­ der hat die Schweiz kürzlich einen falschen Weg eingeschlagen. Inwiefern? Die Swiss Football League hat eine ein­ schneidende Änderung beschlossen: Ab jetzt wird keine Ausbildungsentschädi­ gung mehr fällig, wenn ein Profiklub minder­jährige Talente von anderen Klubs holt. Diese muss erst bezahlt werden, wenn der Spieler seinen ersten Profivertrag ab­ schliesst. Das ist furchtbar! Nun können der FC ­Basel oder YB die grössten Talente des Landes ­holen, ohne etwas dafür zu be­ zahlen. Sie tragen keinerlei Risiko, denn sie bezahlen nur für jene, die es schaffen. Das ist Nonsens und nicht fair. Und eine ähnliche ­Praxis, wie sie die Grossklubs anwenden. Wenn von einem neuen Transfersystem, wie du ausführst, alle profitieren würden: Warum wurde dann nicht längst eine Änderung beschlossen? Man muss wissen, dass die Grossklubs keine fussballerischen Visionen mehr ­haben, sondern rein wirtschaftliche. Sie ­sehen Fussball als ökonomisches Spiel an, und das ist sehr schlecht. Die Spekulation ist für sie Teil dieses Spiels, die Entwicklung des Fussballs gehört nicht zu ihren Inte­ ressen. Eine Regel, die junge Spieler für sie teurer macht – auch wenn das bei ihren Budgets kaum ins Gewicht fällt –, werden sie bekämpfen. Genau darum wurde noch keine solche eingeführt.

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Real, Bayern, Arsenal und Co. haben nun mal sehr viel Gewicht. Gegen ihren Widerstand etwas einzuführen, dürfte schwierig sein. Wie viele Klubs sind das denn, für die sich etwas im negativen Sinne verändern würde? Vielleicht ein Dutzend von Tausen­ den von Klubs! In einem demokratischen System muss man diese überstimmen ­können. Sie müssen akzeptieren, dass sie mit ihren Interessen eine Ausnahme sind und ihre Ziele nicht deckungsgleich sind mit j­ enen der restlichen Fussballwelt. Gibt es auch Ideen, die Superreichen ­direkt zur Umverteilung zu zwingen? Ja, die gibt es. Eine Möglichkeit wäre eine Art Luxussteuer bei Transfers. Sprich: Wenn ein Klub bereit ist, mehr für ­einen Spieler zu bezahlen, als er eigentlich wert ist, soll die Differenz als Ausbildungs­ entschädigung zurückfliessen. Und wer bestimmt, was ein Spieler «­eigentlich wert» ist?

Heute müssen die Modalitäten jedes inter­ nationalen Transfers im «Transfer Matching System» der FIFA eingetragen werden. Bald wird dies auch auf nationaler Ebene der Fall sein. So sammelt man viele rele­ vante Daten. Zudem haben wir vom CIES einen Algorithmus entwickelt, der nach Eingabe aller relevanten Daten eines Spie­ lers sehr genau den Wert berechnet. Schon jetzt stimmen unsere Erhebungen in über 80 Prozent der Fälle mit der tatsächlich be­ zahlten Ablöse überein. Kann die Wissenschaft in einem emo­ tio­nalen Geschäft wie dem Fussball ­wirklich eine Hilfe sein? Ohne geht es nicht. Man braucht Material, das man den Behauptungen der Lobbyis­ ten der grossen Klubs entgegenstellen kann. Eine allfällige Regeländerung muss immer mit wissenschaftlichen Erkenntnissen be­ gründet werden können. Weil: Mit grosser Sicherheit werden die Topklubs darauf­ hin vor Gericht gehen, weil sie den freien Markt behindert sehen. Darauf muss man

BETEILigUNG AN DEN KUMULIERTEN TRANSFERERLÖSEN (CHF 29.4 MIO) VON ADMIR MEHMEDI NACH AKTUELLEM SYSTEM

Bayer Leverkusen (2015–2018)

NACH NEUEM SYSTEM

86 Spiele 5.1 MIO

9.0 Mio

SC Freiburg (2013–2015)

72 Spiele 4.3 MIo

8.6 Mio

Dynamo Kiew (2012–2013)

31 Spiele 1.8 MIo

6.4 Mio

FC Zürich (2006–2011)

154 Spiele 9.2 MIo

5.1 Mio

FC Winterthur (2000–2006) 0.2 Mio

150 Spiele (geschätzt) 8.9 MIo


vor­bereitet sein. Wenn man dann nicht dar­ legen kann, warum eine Änderung Sinn macht, wird sie nicht Bestand haben.

dazu führen, dass nun auch andere endlich Handlungsbedarf sehen für Verbesserun­ gen im Transferwesen.

Einfach so fügen sich die Giganten also doch nicht den Beschlüssen der Mehrheit? (lacht) Die suchen immer nach Möglich­ keiten, bestehende Regeln zu umgehen. Nehmen wir das Beispiel Leihgeschäfte: Die sind nun nicht mehr in dem Ausmass erlaubt wie zuvor. Also sagen die Gross­ klubs: «Gut, dann machen wir keine Aus­

Kannst du das ausführen? So eine Superliga würde ja ausserhalb von UEFA und FIFA laufen, also könnten die Klubs machen, was sie wollen. Sie ­könnten sich also gratis bei allen übrigen Klubs bedienen.

«Bei der FIFA spürt man den Willen, etwas zu ­verbessern, die UEFA stellt sich quer.»

leihe, wir wollen einen Transfer mit Rück­ kauf-Option.» Damit haben sie das Recht, den Spieler zurückzuholen, und wenn die Option null beträgt, ist er gratis. Faktisch ist das eine Ausleihe. Man kann nie alle Wege antizipieren, welche die Grossklubs gehen werden, damit sie um eine Einschränkung herumkommen. Deshalb brauchte es eine permanente Taskforce, die das Transfer­ wesen laufend analysiert und wenn nötig schnell handeln kann. Wie realistisch ist es, dass wirklich einschneidende Veränderungen im Transferwesen beschlossen werden? Kürzlich wurden einige wichtige Dinge be­ schlossen, die längst überfällig waren. Aber auf die nötige Revolution wartete man ver­ gebens. Von unseren Vorschlägen wurde keiner berücksichtigt. Bei der FIFA spürt man den Willen, etwas zu verbessern, aber ohne die UEFA als Unterstützung ist es schwierig, und die stellt sich quer. Statt mit­ einander den Fussball gerechter und ­besser zu machen, bekämpfen sich die wichtigen Organisationen. Die UEFA steht unter dem enormen Einfluss der European Club Asso­ ciation (ECA), wo die Topklubs führend sind. Dass diese ganz andere Ziele haben, zeigte sich ja erst kürzlich, als die Pläne für eine geschlossene Superliga publik wurden. Ironischerweise könnte genau diese Gefahr

Wieso sollten beispielsweise die Young Boys einfach so ihre Spieler hergeben? Was wollen sie denn dagegen tun? Sich bei der UEFA beschweren? Es gäbe keinerlei Handhabe dagegen, kein Verband, der das verhindern könnte. Gut, die FIFA könnte beschliessen, dass so abgeworbene Spieler nicht an einer WM spielen dürfen. Wahr­ scheinlich aber läge der Druck dann eher auf der FIFA, diese Stars dann doch zu­ zulassen. Auch wegen solcher Zukunfts­ visio­nen ist es enorm wichtig, möglichst bald ein Transfersystem zu haben, das die ­immer ausgeprägtere Abkapselung der Spitze etwas abfedert und auf solche ein­ schneidenden Veränderungen vorberei­ tet wäre. Wie sähe deiner Meinung nach die perfekte Lösung für den Fussball bezüglich Transferwesen aus? Unsere Vorschläge kann man beliebig kombinieren. Mit einer höheren Ablöse für junge Spieler wäre schon mal ein An­ fang gemacht. Dazu noch eine Lösung, bei der neben einer Entschädigung auch jähr­ liche Beiträge in die früheren Klubs flies­ sen. Damit könnte man den Kampf gegen die Super­klubs aufnehmen. Die Frage ist, ob die Fussballwelt bereit ist, diesen Kampf zu führen. Deine Arbeit erinnert irgendwie an jene von Umweltschützern. Auch die ­können einem Landwirt aufzeigen, dass er langfristig viel besser fährt, wenn er auf Pesti­zide verzichtet, und dennoch wird ­ihnen kaum Gehör geschenkt. Wir sind zu einem gewissen Grad idealis­ tisch, das stimmt. Wir stören, und das ist gut so. Wir sind unabhängig – obwohl zu einem Teil von der FIFA finanziert –, und wir sehen es auch als unsere Aufgabe an, die Klubs daran zu erinnern, dass es nicht genügt, die eigenen Interessen zu verfol­ gen. Sie müssen auch das grosse Ganze im Blick haben, dafür liefern wir Daten und Fakten. •

Flutlicht Fussball Film Festival Basel#5

e v a S e h t ! e t da

24. 9 1 . 1 . 26 Donnerstag Kurzfilmnacht und FussballMusikquiz mit Pascal Claude Freitag FCB-Abend mit ungesehenen Archivperlen und rotblauem Pub-Quiz mit Raphael Pfister Samstag Langfilmfeuerwerk vom ersten Fussballfilm ‹ever› bis hin zum traditionellen ‹zwölf›Einwurf mit Mämä Sykora flutlichtfestival.ch


M

arco Grosso ist eine Legende. Zu­ mindest beim FC Bavois. Er erin­ nert sich an die grosse Verände­ rung, die der Sommer 2006 brachte. «Wir spielten damals noch in der 2. Liga inter­ regional, hatten eine gute, ambitionierte Mannschaft. Und plötzlich stand da diese Tribüne neben unserem Platz.» Die mys­ tische Betonkonstruktion, die inmitten der Felder thront und selbst Roland E ­ mmerich nicht besser hätte platzieren können, ver­ blüffte Spieler wie Zuschauer gleicher­ massen. D ­ abei war die Tribüne nicht als UFO, sondern ganz profan auf dem Land­ weg gekommen. Im 15 Kilometer entfernten Baulmes wurde damals Challenge-LeagueFussball gespielt. Die Baulmérans mussten wegen der Liga-Auflagen in die Lausanner Pontaise ausweichen und liessen während­ dessen ihr Stadion modernisieren. «Und was ist mit deiner Tribüne? Kann ich die ha­ ben?», fragte Jean-­Michel Viquerat, der ewige Bavois-­Präsident, seinen Freund Fabian Salvi aus Baulmes. Die Antwort auf diese ungewöhnliche Bitte ­lautete wie selbstver­ ständlich: Ja, kannst du. Sechs Wochen blieben, um die wahn­ witzige Idee umzusetzen. Eines schönen Sommertages war es dann so weit: Der

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Text Veni Pasucci Bilder Ralph Diemer

ralphdiemer.viewbook.com

Der FC Bavois aus der Promotion League spielt in einem Stadion mit 83 Plätzen. Es kam einst per Last­ wagen vom Lokalrivalen Baulmes.

Tribüne frei!


FC Bavois vollzog seinen gewichtigsten Transfer. Die Tribüne wurde auf einen Tief­ lader gehievt und in ihre neue Heimat ge­ karrt. Die 83 Plätze, die seither auf Höhe der Mittellinie angeboten werden können, ver­ leihen dem Stade de Peupliers einen ganz kleinen Hauch von Glamour. Weil Bavois nicht in denselben ­Farben wie Baulmes antritt, brauchte der Neu­zuzug erst einmal einen frischen Anstrich. Es schlug die Stunde von Napoli-Fan Marco Grosso, der zusammen mit einem Team­kollegen zum Malerkübel griff und das frische Weiss auch mit dem Schriftzug «FC ­Bavois» ver­ edeln durfte. Andere Mitspieler verrichteten weitere Bastelarbeiten. Viquerat hatte sie alle aufgeboten – mitsamt Freunden und Be­ kannten des Klubs. «So funktioniert das bei uns. Das nenne ich Zusammengehörigkeits­ gefühl. Wir sind ein familiärer Klub, jeder hilft hier mit», sagt Viquerat, der sein Amt 1992 von seinem Vater übernahm. Die Spie­ ler renovierten den gesamten Garderoben­ trakt und bauten die Kantine um. Seit die Tribüne 2006 nun in Bavois steht, eilt der Dorfklub zu immer neuen Er­ folgen. Wie früher in Baulmes scheint sie Glück zu bringen. Bavois stieg gleich zwei Mal auf. Promotion-League-Fussball gibt es

hier unterdessen gar zu sehen – in einem so kleinen Ort einzigartig. Der FC Baulmes hin­ gegen erlitt ohne den Talisman Schiffbruch und müht sich mittlerweile zwei Ligen tie­ fer ab. Taktik nach dem Güterzug Seinen Namen verdankt das Stade de Peu­ pliers den acht Pappeln hinter dem Tor. Es liegt in einer kargen Ebene, der Jura erhebt sich erst weit dahinter. Ein besonders eisiger Wind plagt die Zuschauer auf der Tribüne. Den Pendlern auf der Jura-Südfuss-Strecke der SBB wiederum bietet sie etwas Abwechs­ lung in der von Nebel durchsetzten Ebene. Bavois spielt und trainiert wirklich unmit­ telbar neben den Geleisen. Das führt dann und wann zu spassigen Szenen. So war­ tet Trainer Bekim Uka bei einem Match oft erst den vorbeifahrenden Güterzug ab, be­ vor er seinen Spielern taktische Anweisun­ gen zuruft. «Mittlerweile kenne ich den Fahr­ plan auswendig», lacht Uka. Doch die Nähe zur SBB hat auch ihre Vorteile: Der Bahnhof dient gleichzeitig auch als Kassenhäuschen. Die Habitués auf der Tribüne sind nicht gerade für ihre Zimperlichkeit bekannt. Die direkt darunter gelegene Ersatzbank und Trainer der Gegner kriegen mit schöner

Regel­mässigkeit ihr Fett weg. Besonders her­ vor tut sich dabei der Platzsprecher, dessen flapsige Zwischenrufe bei ausgeschaltetem Mikrofon noch lauter ertönen als die offi­ ziellen Lautsprecherdurchsagen. «Bavois ist die Hölle», schmunzelt ein Kicker eines Liga­ konkurrenten. «Man hört dort jeden einzel­ nen Spruch aus dem Publikum.» Der FCB aus Bavois hat seine berühmte Tribüne auch schon zur Bühne umfunktio­ niert. Im Juni 2016 – zum 75-Jahr-Jubiläum des Klubs und zehn Jahre nachdem das UFO gelandet war – wurde hier ein humoris­ tisches Theaterstück mit dem Titel «Penalty» aufgeführt. Es war ein Schauspiel mit ver­ kehrten Vorzeichen. Die Zuschauer nahmen unten auf dem Feld Platz und blickten hoch zu der Darbietung auf den Rängen. Jede der vier Vorstellungen war nahezu ausverkauft. Die Tribünen-Züglete im Waadtland ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Auch die Verantwortlichen des FC Thalwil haben davon Notiz genommen. Weil die Haupt­ tribüne der Schaffhauser Breite nach dem Bau des neuen Stadions keine Verwendung mehr ­findet, übernimmt diese nun der Erst­ ligist vom Zürich­see. Vielleicht heisst es dann auch dort bald: neues Glück auf alten Rängen.•

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«Zwölf gefiel mir gar nicht» Interview Silvan Lerch Bilder Claudia Herzog

www.claudiaherzog.ch

Sepp Blatter, wer war der Fussballheld Ihrer Kindheit? Ich habe immer den Stürmern nachge­ eifert. Besonders beeindruckte mich Lauro Amadò. In den 1940er-Jahren schoss er als Mittelstürmer die Grasshoppers zu meh­ reren Titeln. International fand ich später vor allem Gefallen an Uwe Seeler. Er ist ein Jahrgänger von mir und hat mich durch meine Karriere begleitet. Nein, es war ­natürlich umgekehrt  … Sie ähneln sich äusserlich. Ja, wir sind etwa gleich gross, doch mittler­ weile sehe ich athletischer aus. (lacht) Trotz eher kleiner Postur war er ein Kopf­ ballspezialist. Wenn ich da nur schon an

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Zu Sepp Blatter sei alles gesagt? Nein! Denn für einmal geht es nicht um Negativschlagzeilen, sondern um Fussball-Anekdoten. Dabei blüht der frühere FIFA-Präsident auf und beweist Selbstironie.

sein letztes Länderspieltor denke, das er im Weltcup 1970 gegen England mit dem Hinter­kopf erzielte! Ich dagegen brauchte den Kopf für anderes. Was uns jetzt noch optisch verbindet, ist der Haarschnitt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Rückennummer. Wir trugen beide die Nummer 9: er beim HSV, ich bei Sierre in der 1. Liga – freilich, als die 1. Liga noch die dritthöchste Stärke­ klasse war. Es hätte für Sie noch weiter nach oben gehen können. Mit 18 Jahren erhielten Sie ein Angebot von Lausanne-Sports. Das war während meines Studiums in

Lausanne. Der Verein erlaubte mir 1954, mitzutrainieren, obwohl ich am Wochen­ ende für Sierre spielte. Dabei fielen den Verantwortlichen meine Schnelligkeit, die mich zuvor schon mal zum Walliser Meis­ ter über 100 m gemacht hatte, und mein Torriecher auf. Also gaben sie mir die Chance, mich in der Reservemannschaft zu beweisen. Einen Ernstkampf haben Sie aber nie bestritten. Damals galt man eben erst mit 20 Jahren als volljährig. Ich musste deshalb meinen ­Vater um Erlaubnis bitten, was ich voller Stolz tat. Doch statt des Vertrags zu unterschreiben, zerriss er ihn. Er sagte, mit Fussball würde



ich nie meinen Lebensunterhalt bestreiten können. Da hatte er nicht ganz recht. Zu jener Zeit verdienten halt nur die gros­ sen Stars wirklich Geld im Fussball. Und diesen Status traute er mir nicht zu. Er be­ stand darauf, dass ich mein Studium be­ ende. Für mich brach eine Welt zusammen. Die Lausanner galten als «les seigneurs de la nuit», weil sie auf der Pontaise oft u ­ nter Flutlicht gewannen. Zu ihnen hätte ich gerne gehört, auch wenn ich kein Star ge­ worden wäre. Es war das Jahr der Heim-WM – unter ­anderem mit der legendären 5:7-Nieder­ lage der Schweiz gegen Österreich in Lausanne. Dieses Spiel habe ich am Radio verfolgt. Ich wäre aber beinahe selbst zu einem Auf­ tritt an der WM gekommen. Es war nämlich ­üblich, dass vor jeder Partie eine Junioren­ begegnung stattfindet. Ich stand in der ­Walliser Auswahl, die gegen eine Genfer Selek­tion antreten sollte – und zwar vor dem Gruppenspiel Frankreich – Mexiko in Genf. Doch an diesem Tag regnete es stark. Und Ihr Auftritt fiel ins Wasser? Leider! Unser Spiel wurde abgesagt, um den Platz nicht zusätzlich in Mitleiden­ schaft zu ziehen. Wenigstens durften wir dann das WM-Match im Stadion verfolgen. Die grosse Fussball-Bühne blieb Ihnen auf Rasen versagt. Nun, viel später, als ich bereits für die FIFA arbeitete, erhielt ich doch noch eine ge­ wisse Bestätigung meines Talents. Bei einer Zusammenkunft von Trainern, die für un­ sere Entwicklungsprojekte tätig waren, or­ ganisierte ich ein Indoor-Fussball-Turnier in Magglingen. Wir stellten die Teams nach Nationen zusammen: Es gab ein englisches, ein französisches, ein jugoslawisches und ein schweizerisches. Allerdings beschied mir dessen Trainer, mich brauche es nicht. Wer erhob sich da über den Technischen Direktor?

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Das war Roger Quinche. Sein Wort hatte Ge­ wicht, er war ja Schweizer Ex-Internationa­ ler. Trotzdem kam ich zu meinen Einsätzen. Und raten Sie mal, wer den Preis für den besten Torschützen erhielt?

Neuenburg. 1970 wählte mich der Verein in sein Komitee, also ins «comité directeur», versteht sich. Ich wurde PR-Verantwort­ licher und später Ehrenpräsident – wie ­Gilbert Facchinetti.

Das kann nur Sepp Blatter gewesen sein. Genau! Danach kam René Hüssy zu mir, der damals die Schweizer Nationalmann­ schaft trainierte, und sagte: «Du kannst ja Fussball spielen!» Er überredete mich, zu den GC-Veteranen zu gehen.

Fühlten Sie sich nicht dem FC Sion verbunden? Als Junior hatte ich ein Angebot des Ver­ eins, doch mein Umfeld überredete mich, in Visp zu bleiben. Das war ein Fehler, bei Sion hätte ich dazulernen können. Als ich dann Sportjournalist wurde, entstand eine gewisse Verbindung. Ich schrieb über den Klub für die «Tribune de Genève». Das ist eine sehr seriöse Zeitung. Ich verdiente gut, sie gab Zeilengeld.

Wo Sie doch noch zum Star avancierten? An Matchtagen kam es schon mal vor, dass sie mich am Flughafen abholen mussten, weil ich eben erst von einer FIFA-Reise zu­ rückgekehrt war. Das Tenü lag dann jeweils umziehbereit im Auto. Aber um ehrlich zu sein, kickte ich nur für die Veteranen 3, da­ für zusammen mit dem Ex-Internationalen Toni Allemann. Erste Erfahrungen als Funktionär ­sammelten Sie bei Ihrem Stammverein, dem FC Visp. Da überzeugte ich den Vorstand von einer einschneidenden Veränderung. Ich setzte durch, dass wir nicht mehr in Rot-Weiss, sondern nur noch in Weiss spielten – wie das grosse Real Madrid, das mich zu meiner Studienzeit so begeistert hatte: Di ­Stefano, Kopa, Puskás … wunderbar! Sie begründeten das Weisse Ballett zu Visp … … was mir Real hoch anrechnete. (lacht) Der Verein hat mich später zu seinem Ehren­ mitglied ernannt. Di Stefano persönlich übergab mir die Urkunde. Die nächste Station im Schweizer Klubfussball war Xamax, wo Sie schon mit 34 Jahren Vorstandsmitglied wurden. Wie geht das als Walliser? Ich arbeitete damals bei Longines in ­St-Imier. Das war eine kleine Welt. Die Uhrmacher betrachteten sie immer durch die Lupe, um überhaupt etwas sehen zu ­können. Das wurde mir bald zu eng. Ich war ja Junggeselle. Also zog ich nach

«Im FIFA-Haupt­ sitz wohnte der General­sekretär mit ­seiner Familie. Für mich gab es keinen Arbeitsplatz.»

Dann haben Sie also lange Artikel geschrieben. Ja, ich habe jeweils eine Schriftgrösse von 10 bis 15 Millimetern gewählt. (lacht) 1975 wechselten Sie zum Weltfussballverband. Da waren Ihre Berichte wohl ­etwas kleiner gedruckt. Die FIFA suchte einen Entwicklungs­helfer – insbesondere für Afrika. Bis dahin waren ja erst die Wettbewerbe in Europa und Süd­ amerika gut entwickelt. Ich kam in das Amt über meine Tätigkeit bei Longines und die


Se p p B l a t t e r

Joseph Blatter

* 10. März 1936 in Visp

Verbindung zu Thomas Keller, dem Präsi­ denten von Swiss Timing und der Vereini­ gung der internationalen Sportverbände. Ein wichtiger Kontakt bestand auch zu Horst Dassler, den ich erstmals 1974 an ei­ nem Tennisturnier getroffen hatte. Er war der Adidas-Chef in Frankreich. Wie liess sich denn die Arbeit als Entwicklungshelfer an? Die erste Belastungsprobe erfolgte im ­Januar 1976. Am Kongress der afrikanischen Fussballunion in Addis Abeba musste ich mein Entwicklungsprogramm vor­stellen. Bald wurde ich durch die ersten ­Buhrufe unterbrochen. In der Pause des Vortrags sagte mir der Präsident der Union, ich dürfe nicht so professoral auftreten, son­ dern müsse mit den Verbandsvertretern wie unter Fussballern sprechen. Dann haben Sie in der Halbzeit die ­Taktik geändert? Ja, ich passte den zweiten Teil flugs an, und dann ging es. So konnte ich das Vorurteil ausräumen, als Europäer eh nur den Kon­ tinent mit meinen Ansichten «kolonialisie­ ren» zu wollen. Ich merkte: Der Fussball ist mehr, als gegen den Ball zu treten. Er spielt eine sozial-kulturelle Rolle. Sie wurden in der FIFA zum Botschafter Afrikas. Ich habe mich tatsächlich in diesen Konti­ nent verliebt. Mich beeindruckte, wie die Landesverbände willens waren, Fortschritte zu erzielen. Deshalb habe ich ihnen auch versprochen, dass die WM während meiner Amtszeit einmal nach Afrika gehen werde. Bei Ihrem Eintritt in die FIFA waren Sie deren zwölfter Angestellter. Ja, ich war die Nummer 12. Diese Zahl gefiel mir ganz und gar nicht. Das hätten Sie jetzt nicht sagen dürfen! Da haben Sie recht. (lacht) Aber damals war die 12 noch für einen Ersatzspieler ­reserviert, und der konnte nur in der ersten Halbzeit und im Fall einer Verletzung ein­ gewechselt werden.

Sepp Blatter kommt als Sohn eines Velomechanikers in Visp zur Welt. Er studiert Volkswirtschaft, wird Sekretär des Walliser Verkehrsverbands und Zentralsekretär des Schweizer Eishockeyverbands. 1975 wechselt er vom Schweizer Uhrenhersteller Longines, dessen Öffentlichkeitsarbeit er verantwortet, zur FIFA: Als Technischer Direktor soll er für den Fussball Entwicklungshilfe leisten. 1981 steigt er zu ihrem Generalsekretär auf, 1998 zum Präsidenten. Dies bleibt er bis zum Beginn seiner fünften Amtszeit. Am 2. Juni 2015 kündigt Blatter an, sein Mandat zur Verfügung zu stellen, nachdem der Druck, die initiierten Reformbemühungen zu verstärken, intern wie extern (besonders durch Ermittlungen des FBI) zugenommen hat. Unter Blatter avancierte die FIFA vom kleinen Sportverband zum milliardenschweren Unternehmen. Gleichzeitig sah er sich wiederholt Vorwürfen der Günstlings- und Misswirtschaft, ja der Korruption ausgesetzt. 2015 sperrt ihn der Verband für sechs Jahre, weil eine Zahlung an seinen früheren Berater Michel Platini gegen die Grundsätze der Ethikkommission verstosse. Blatter dagegen definiert den überwiesenen Betrag in der Höhe von zwei Millionen Franken als verspätete Lohnzahlung. Ebenfalls 2015 eröffnet die Schweizer Bundesanwaltschaft ein Strafverfahren gegen ihn wegen Verdachts auf ungetreue Geschäftsbesorgung. Wie es in diesem Fall weitergeht, klärt sich vermutlich 2019. (sle)

Sie wollten die Nummer 1 werden. ­Davon waren Sie 1975 aber noch ein Stückchen entfernt. Ein Jahr zuvor war João Havelange zum neuen FIFA-Präsidenten gewählt worden. Er engagierte mich per Handschlag. Um ­alles zu besiegeln, musste ich beim Gene­ ralsekretär antraben. Der arbeitete im ­damaligen Hauptsitz am Hitzigweg 11 in ­Zürich. Das war ein ehrwürdiges Haus, das leider abgebrochen worden ist. Ich wurde auf 18 Uhr bestellt. Als ich ankam, war es

schon dunkel. Ich klopfte. Zuerst passierte nichts, dann ging das Licht an – und Gebell los. Der Generalsekretär öffnete. Dieser Generalsekretär war der gestrenge Schweizer Jurist Helmut Käser. Einen warmen Empfang scheint er Ihnen nicht gerade bereitet zu haben. Immerhin beschwichtigte er, der Hund ­mache nichts. Aber es kam noch besser: Der Generalsekretär war dagegen, dass die FIFA Entwicklungsprogramme macht. Er bat mich zum Gespräch von «Offizier zu Offizier» … … Ihr Grad in der Schweizer Armee … … und sagte, er gebe mir einen guten Rat, ich solle die Stelle nicht antreten. Die FIFA brauche keine Entwicklungsarbeit. Sie habe eh schon einen, der das mache: einen reise­ lustigen Deutschen. Rudi Gutendorf? Nein, Dettmar Cramer. Aber die Entwick­ lungsprogramme waren nicht meine ein­ zige Mission. Meine zweite Idee, Junioren­ meisterschaften zu lancieren, wollte der Generalsekretär ebenfalls verwerfen. ­Einen solchen Wettbewerb führe ja schon die UEFA durch, das genüge. Er würde mir an­ raten, die Abmachung mit Havelange rück­ gängig zu machen. Mehr als ein Mandat, «wenn überhaupt» – an diese Worte erin­ nere ich mich noch genau –, erhielte ich eh nicht. Da hat sich der Generalsekretär ­getäuscht – wie Ihr Vater einige Jahre ­zuvor. Sie bekamen das Mandat und das Amt des Technischen Direktors … … aber kein Büro! Der Generalsekretär ar­ beitete nämlich nicht nur im Hauptsitz, sondern wohnte mit seiner Familie auch dort. Seine Frau war eine Grande Dame, die leider viel zu früh verstorben ist. Sie spielte oft Piano. Einen Arbeitsplatz für mich ­hatten sie allerdings nicht. Es gab Platz für ein Piano, aber nicht für Sie. Blieb Ihnen wenigstens die Besenkammer?

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Nicht einmal die stand zur Verfügung! Der Generalsekretär sagte: «Schauen Sie selbst, wo Sie arbeiten können.» Zum Glück kannte ich Horst Dassler gut. Er bot mir an, ein Büro bei ihm im elsässischen Landers­ heim zu beziehen. Sie arbeiteten von Frankreich aus? Ja, ich hatte mein Entwicklungsprogramm eh schon im Kopf. Da war es egal, wo ich es niederschrieb. Zudem kam ich bei ­Adidas in Kontakt mit vielen ranghohen Funktionären aus der Sportwelt. Das ge­ schah jeweils im betriebsinternen Restau­ rant. Irgend­wo musste ja auch ich essen … Bei diesen Begegnungen half mir meine Erfahrung aus der Hotellerie und dem Tourismus. In Ihrer Jugend hatten Sie als Portier Geld verdient. Dabei war es aber nicht geblieben. Ich ­arbeitete mich als Erwachsener bis in die oberen Chargen eines Hotels hoch. Die FIFA merkte dann auch, dass es ohne ein Büro für mich in Zürich nicht weitergehen konnte. Also zog die Familie des General­ sekretärs aus der Stadt nach Küsnacht. Im Gegenzug erhielt ich im dritten Stock des Herrenhauses ein Zimmerlein.

«Man beschied mir: ‹Sekretär, in die Ecke! Das ist ein sportpolitischer ­Entscheid.›»

Gleich in der Teppichetage? Nein, aber es war aus einem anderen Grund eine attraktive Lage: Im dritten Stock befand sich eine der wenigen Toilet­ ten des Hauses. Wer sie aufsuchen wollte, musste also bei mir vorbei. So lernte man sich kennen. Und kurz darauf durfte ich mir gar eine eigene Sekretärin aussuchen. Dachten Sie trotzdem manchmal, es sei ein Fehler gewesen, von einer renommierten Marke wie Longines zu einer kleinen Organisation zu wechseln, die

Ihnen anfänglich nicht einmal ein Büro anbieten konnte? Das sah ich als Challenge an. Wie in der ­Hotellerie wollte ich mit Menschen zu­ sammenarbeiten, und wie bei meinen PRTätig­keiten wollte ich Sponsoren für meine Ideen gewinnen. Darüber hinaus hatte mir Havelange sofort verdeutlicht, dass aus der Fifa etwas Grosses werden würde. Womit er nicht völlig falschlag. An meiner Tür am Hitzigweg stand bald «Coca-Cola-Man» geschrieben, weil ich es geschafft hatte, das Unternehmen zur FIFA zu bringen – als ersten Sponsor, der Geld brachte. Adidas war zwar auch dabei, doch da bekamen wir vor allem Tenüs und Bälle für Afrika. Mit diesen beiden Kooperatio­ nen legte ich die Basis für die weitere Ent­ wicklung der FIFA. Sie waren ehrgeizig. Unser Vater hatte immer gesagt: «­rabota, rabota, rabota»! (arbeiten – auf Russisch, d. Red.) Er weckte uns Buben jeden Tag um 6.45 Uhr, obwohl wir erst um 8 Uhr in der Schule sein mussten. Diese zusätz­ liche Stunde nutzte ich, um Aufgaben zu ­machen und mich vorzubereiten. Daran hielt ich im Berufsleben fest. Ich war immer um 7 Uhr im Büro, vor allen anderen. 1981 übernahmen Sie von Ihrem ungeliebten Vorgänger den Posten des General­sekretärs. Doch nach Ihrem ersten grossen Auftritt in neuer Funktion gerieten Sie sogleich in die Kritik. Das war wegen dieser pannenbehafteten Gruppenauslosung für die WM 1982 in Spa­ nien, bei der übrigens der jetzige König des Landes als Jugendlicher teilnehmen durfte. Ich war für den Anlass mit verant­ wortlich und präsentierte ihn. Es gab zwei Pre­mieren: Erstmals waren nicht 16 Teams dabei, sondern 24. Und die Lose sollten nicht mehr von Hand, sondern von einer ­Maschine gezogen werden. Doch die wollte einfach nicht mehr stoppen. Die Trommel drehte derart schwungvoll, dass Kugeln platzten. Und Belgien und Schottland landeten vorübergehend in falschen Gruppen. Der Präsident des Deutschen FussballBundes, Hermann Neuberger, sagte im­ merfort: «Fehler, Fehler!» Und das wäh­ rend der TV-Übertragung! Da zischte ich ihm zu: «Ruhe!» Danach sprachen alle von einem Skandal, und auch die Schweizer

Journalisten, die mir schon damals freund­ lich gesinnt waren, behaupteten, das koste dem Blatter den Kopf. Die nächste Fehlvermutung in Ihrer Biografie. Sie stiegen zum starken Mann auf. Ich sagte mir: «Nie mehr! Fortan gestal­ tet nur noch einer die Auslosung, und das bin ich. Sonst gehts nicht.» Zuerst wollte man mich zurückpfeifen, aber ich hatte ja ein gewisses Talent als Master of Ceremony. Das kam mir entgegen. An der WM 1982 warteten noch ganz andere Herausforderungen auf Sie. Beim Gruppenspiel zwischen Frankreich und Kuwait etwa stand plötzlich der Scheich des Emirats auf dem Rasen und verlangte vom Schiedsrichter, ein Gegentor zu annullieren. Bei diesem Match war ich im Stadion. Zu­ erst dachte ich mir nichts Böses, als sich der Scheich von der Ehrentribüne erhob und in seinem schönen Gewand davon­ marschierte. Im Gegenteil: Ich machte die Security sogar noch darauf aufmerksam, ihn zum Schutz zu begleiten. Und dann bringt der es fertig, dass der Schiedsrich­ ter den Torentscheid fälschlicherweise um­ stösst. Zum Glück hat Frankreich kurz vor Schluss noch einen weiteren Treffer erzielt und das Resultat von 4:1 wiederhergestellt. Hielten Sie nach dem Spiel ein paar ­ harmante Worte für den Scheich bereit? c Damals war meine Position leider noch nicht so stark, als dass ich ihm hätte geben können, was er verdiente: eine Standpauke. Wenige Tage später folgte die Schande von Gijón: der Nichtangriffspakt ­zwischen Deutschland und Österreich, ­damit beide Mannschaften auf Kosten Algeriens in die nächste Gruppenphase vorstossen konnten. Ich wollte sofort die Disziplinarkommis­ sion aktivieren, ganz zur Freude meines ­Freundes von der Auslosung, Hermann Neuberger. Der DFB-Präsident hatte eh ­einen anderen Generalsekretär als mich ­gewollt und erachtete mich fortan als per­ sönlichen Feind. Zu seinem Begräbnis wurde dann aber doch ich beauftragt, die Abschiedsrede zu halten. Da kamen wir uns wieder etwas näher … Und 1982? Da beschied man mir: «Sekretär, in die Ecke! Das ist ein sportpolitischer Entscheid,

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da haben Sie nichts zu melden!» Havelange blickte mich mit seinen blauen Augen kalt an. Das war schlimm. Ich fragte mich: Wo bin ich da bloss hingeraten? Doch natürlich musste ich mich fügen. Havelange und Sie verband aber eigentlich eine enge Beziehung. Ja, für mich war er ein grosser Präsident. In der Regel liess er mich walten. Nach der WM sagte ich ihm, wir müssten etwas ­ändern. Die FIFA war ja auch nie liquide. Der Buchhalter kam regelmässig zu mir und meinte, alles Geld sei aufgebraucht. Wofür? Keine Ahnung, jedenfalls nicht für mein Entwicklungsprogramm. Dafür hatte ich stets ein autonomes Budget ausserhalb der FIFA. Innerhalb der Administration war es ja sowieso als Havelange-Blatter-Zeugs verschmäht. Dabei hatte ich bei ­Longines gelernt, wie man Budgets erstellt und kontrolliert. Was machten Sie, um der klammen FIFA zu helfen? Als Generalsekretär war ich für die Finan­ zen verantwortlich. Also begann ich zu rumo­ren. Ich konsultierte einen Rechts­ anwalt, dem ich vertraute. Prüfte alle Be­ träge und Verträge. Drehte alles um. ­Dabei kam mir in den Sinn, dass ich ja mal ein Wirtschaftsstudium gemacht hatte. Auch wenn das damals noch nicht mit einem solch prestigeträchtigen Titel wie heute abgeschlossen werden konnte: Master of ­Economy  … (lacht) Welche Massnahmen ergriffen Sie 1982? Ich ging zum Schweizerischen Bank­verein. Allerdings musste ich mit meiner Unter­ schrift persönlich haften. Nur so ­konnten wir Geld aufnehmen und die Löhne bezahlen. Im Hinblick auf die Wiederwahl Havelanges 1994 zeigten sich erste Risse im Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Präsidenten. Sie loteten aus, ob Sie selbst an die Macht kommen könnten. Europa sagte: «Wir mögen nicht mehr.» Und die Afrikaner, denen ich eh sympa­ thisch war, ebenfalls. Der Antrieb, Have­ lange abzulösen, ging also von den Ver­ bänden aus. Plötzlich kam mein Name ins Spiel. Es gab einen Riesenwirbel. ­Havelange stellte mich zur Rede und fragte: «Willst du mich beerben?» Wie 1982 schaute er mich

scharf an. Er war sich nicht sicher, was er mit mir machen sollte. Zuletzt beruhigte sich aber wieder alles. Wie haben Sie Havelange beruhigt? Mit dem Mexikaner Guillermo Cañedo hatte er einen Vizepräsidenten, dem er sehr vertraute. Der prüfte, ob ich wegmüsste. Dann aber kam die Vorbereitung auf die WM 1998 in Frankreich auf uns zu, und es zeigte sich, dass dies Cañedo überforderte. Ich war derjenige, der bei den Meetings die fälligen Antworten geben konnte.

«Havelange sagte mir: ‹Sepp, du hast ein Monster ­geschaffen!›»

1998 wurden Sie dann offizieller Kandi­ dat, nachdem Havelange bekannt ge­ geben hatte, nicht mehr zur Wiederwahl anzutreten. Ich wäre auch bereit gewesen, als General­ sekretär weiterzumachen – und zwar ­unter Lennart Johansson, den die UEFA zu ­ihrem Favoriten erkoren hatte. Ich wollte ja in der FIFA bleiben. Doch die UEFA wünschte einen anderen Generalsekretär. Ich weiss nicht, wie das herausgekommen wäre. So fragte man mich, ob ich nicht für ­Havelanges Nachfolge kandidieren möchte. Sie mussten also kandidieren, um in der FIFA bleiben zu können? Wer nichts riskiert, hat nie eine Chance. Deshalb packte ich sie, und man warf mich gleichentags aus der FIFA. Ich erin­ nere mich noch genau: Es war am Freitag, dem 13. März. Die Geschichte sollte sich wiederholen … Lernten Sie damals zu lobbyieren? Ich hatte gar keine Zeit dazu! Beim Kon­ gress logierte ich ja nicht einmal im glei­ chen Hotel wie die Stimmberechtigten. Das erlaubte man nicht. Johansson hielt dann eine Rede, vielleicht 10 oder 15 Minuten lang. Ich begnügte mich anschliessend mit einer Ansprache von 2 Minuten. Das reichte?

Ja, ich sagte: «Ihr kennt mich. Ihr wisst, was ich gemacht habe.» Damit meinte ich zwei grosse Projekte: zum einen das Entwick­ lungsprogramm, das spätere «Goal», und zum anderen das Bemühen, den Weltcup nach Afrika zu bringen. Es war eine Frage des Vertrauens. 2015 sperrte Sie die FIFA für sechs Jahre. Mit diesem unfreiwilligen Abgang haben Sie lange gehadert. Finden Sie als gläubiger Katholik, der Fussballgott habe sich von Ihnen abgewandt? Nicht der Fussball hat mich verstossen, sondern dessen Führungsetage. Allerdings hätte ich dies verhindern können. Inwiefern? 2014 hatten wir eine super WM. Mein Um­ feld legte mir nahe, aufzuhören. Doch im Herbst sagte Platini, er wolle nicht FIFAPräsident werden. Da es keine Alternative gab, trat ich nochmals an. Was Sie heute bereuen? Man soll nur bereuen, was man nicht ge­ macht hat. Die Geschichte lässt sich eh nicht zurückdrehen. Ich war der Präsident, unter dem sich der Fussball zu einer gros­ sen Sache entwickelt hat, vielleicht zu ei­ ner zu grossen. Wie hatte doch Havelange einst gesagt: «Sepp, du hast ein Monster geschaffen!» Ein Monster? Ja, weil alles so gut lief, weil durch TV-Ver­ träge, Sponsoren und Spielertransfers so viel Geld in den Fussball floss. Aber wenn so etwas passiert, kann einem halt die ­Decke auf den Kopf fallen. Bei mir war das, als am 27. Mai 2015 in Zürich die Verhaf­ tungen von FIFA-Funktionären und dann die Eröffnung eines Strafverfahrens g ­ egen mich erfolgten. Allerdings hat seit Sep­ tember 2015 keine Zusatzbefragung mehr stattgefunden. Nächstes Jahr könnte das Verfahren zu einem Ende gelangen. Wie wird die Geschichte über Sie richten? Ich bin mit mir im Reinen. Geist, Seele und Gewissen sagen mir, nichts Unrechtes ­getan zu haben. Da gibt es abweichende Meinungen. Zu welcher Erkenntnis wird wohl die Bundes­anwaltschaft kommen? Ich weiss es nicht. Sie soll einfach vorwärtsmachen!•

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Text Silvan Kämpfen Bilder Christina Baeriswyl www.christinabaeriswyl.ch

Dumme Fussballer? Nicht wenns um ­Sprachen geht. ­Trainer und Spieler ­behelfen sich mit ­kreativem Kauderwelsch.

You jouez hine use! S

tolze 48 Prozent glauben in Nieder­ hasli an die SVP. Und doch bietet die Gemeinde im Zürcher Unterland Hei­ mat für ein ehrgeiziges Integrationsprojekt, gestemmt vom Grasshopper-Club. Wer den Arbeitsantritt der GC-Spieler in den novem­ berhaften Nebelschwaden des Campus ver­ folgt, braucht lediglich seine Kopfhörer ab­ zunehmen, um der Tatsache gewahr zu werden, dass sich hier mehr Nationen verei­ nen als vor der Einwohnerkontrolle im Zür­ cher Stadthaus. Die Fraktion um Doumbia, Diani, Lavanchy, Pinga und Ngoy, die sich für die Szenerie in lebhaftem Französisch zu erwärmen versucht. Lindner, Holzhauser so­ wie Fink und Teile seines Staffs sind ihren Varianten des Hochdeutschen zugeneigt. Einheimische Küken wie Bajrami und Pusic unterhalten sich auf Schweizerdeutsch, mit ihren Kollegen Basic oder Cvetkovic werden sie auch das Serbokroatische zum Zug kom­ men lassen. Jeffren schlägt sich beim Jong­ lieren mit Italienisch und ein paar Brocken

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Deutsch («keine Kopf!») durch, wobei er mit dem abwesenden Schweiz-Peruaner Rhyner auch noch einen Compagnon hat, der seine Muttersprache Spanisch beherrscht. An die Lateinamerikaner dürfte auch der verletzte Brasilianer Nathan etwas sprachlichen An­ schluss finden. Schliesslich stülpt sich über diese Kakofonie wie in jedem BackpackerHotel der Welt eine Art Simple English als allgemeine Verkehrssprache. Der Isländer Sigurjonsson, einer der Führungsspieler im Team, ist zum Beispiel darauf angewiesen, zumal er sich nur darin ausdrückt. Multilinguales Training Und so trommelt Thorsten Finks Assistent Sebastian Hahn zu diesem öffentlichen Trai­ ning seine Spieler mit den Worten «Mittel­ kreis, guys!» zusammen. «Change!», insis­ tiert Cédric Zesiger im Trainingsspiel auf Englisch, wenn er den Ball auf seine Seite ha­ ben will. «Only one more!», ruft Ersatzgoalie Mateo Matic Jeffren zu, um ihm mitzuteilen,

dass er nur noch einen Gegenspieler vor sich hat. Auffallend ist zudem, wie viele Akteure sich, wohl unbewusst und trotz hoch inten­ siver körperlicher Ertüchtigung, während eines solchen Trainingsspiels in mehreren Sprachen ausdrücken. Wenn Diani den Ball hat, fordern sie von ihm ein «joue vite!» ein, von hinten gibt Goalie Heinz Lindner ne­ ben den deutschen bisweilen auch italieni­ sche Codes. «Solo!» etwa heisst nach seinem Zuspiel, dass der Verteidiger für die Ballan­ nahme gerade eine Sekunde Zeit, weil kein Gegner herangerauscht kommt. Lindner sieht in diesem sprachlichen Kuddelmuddel keine Schwierigkeiten, ja nicht einmal eine Herausforderung. «Im Fussball kann man sich zur Not auch mit Händen und Füssen verständigen. Wenn die Mitspieler meine Stimme hören oder mich gestikulieren sehen, verstehen sie schon, was ich meine.» Es scheint, als wollen die sonst so selbstbewussten Fussballer ihre teils recht komplexe kommunikative Leistung nicht



sonderlich reflektieren. Ihr sonst schon spie­ lerisches Naturell lässt diese vielmehr präch­ tig gedeihen. Ähnliche Voraussetzungen bestehen in Basel. Trotz der selbst auferlegten Vereinhei­ misierung im Klub wird auch hier nicht nur Deutsch gesprochen. Wichtige Spieler wie Marek Suchy oder Ricky van Wolfswinkel greifen lieber aufs Englische zurück, die fran­ zösischsprachige Fraktion existiert ebenfalls, dazu kommt das Spanische um Éder Balanta oder den 20-jährigen Paraguayer Blas Rive­ ros. Coach Marcel Koller macht im Gespräch mit ZWÖLF keinen Hehl daraus, dass er bis­ weilen lieber eine «Einheitssprache» hätte. Vor allem mitten in einer Aktion könne es auf dem Platz schwierig werden. «Wenn ich neben mir einen Französisch und einen Spa­ nisch sprechenden Kollegen habe, und jeder in seiner Sprache etwas ruft, dann kann das auch Missverständnisse geben.» Den Turmbau zu Babel will kein Klub freiwillig neu inszenieren, sondern die Spra­ chenvielfalt einigermassen gering halten. Dafür steht die landesweite Transferpoli­ tik. Bei YB halten sich seit gut zehn Jahren ein deutschsprachiger und ein frankofo­ ner Block die Waage. Würde da ein bulga­ rischer Stürmer reinpassen, der nur bruch­ stückhaftes Englisch spricht? Zweifel sind angebracht. In Luzern hat man dem einen Georgier noch einen zweiten zur Seite ge­ stellt, wie es seinerzeit Basel mit den Ägyp­ tern oder der FC Zürich mit den Tunesi­ ern getan hat. Die Idee dahinter: Mit einem Freund aus der Heimat soll die Integration der entsprechenden Spieler leichter vonstat­ tengehen. Jedoch sind dies Luxuslösungen, die der hart umkämpfte Transfermarkt sel­ ten zulässt. Am Ende, das betonen mehrere Super-League-Vertreter, hat man lieber Spie­ ler, die den Ball gut kontrollieren statt Ver­ ben korrekt konjugieren. Wenn der Bulgare für 20 Tore gut ist, wird jeder Klub über des­ sen bescheidene Grammatikkenntnisse hin­ wegsehen und ihn gleichwohl unter Vertrag nehmen. Wie er sich dann sprachlich integ­ rieren soll, daran denkt man – wenn über­ haupt – erst nach dessen Ankunft. Viele Vereine schicken ihre Spieler in Deutschkurse, manche als Obligatorium,

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­ prachkurse S für die ­ Spieler ­dienen mehr der ­Imagepflege der Vereine.

andere bieten es zumindest auf freiwilliger Basis an. ZWÖLF hat mit einem Sprachlehrer gesprochen, der Spieler eines Super-LeagueVereins unterrichtet hat. Das Problem an diesen Kursen sieht er vor allem darin, dass ihren eigentlichen Sinn kaum jemand kennt. «Die für den Fussballalltag wirklich notwen­ dige Sprachkompetenz können sich Fuss­ baller auch selber aneignen», ist er über­ zeugt. Für alles, was darüber hinausgehe, sind die üblicherweise veranschlagten zwei Lektionen pro Woche viel zu wenig, als dass sich irgendein erkennbarer Erfolg einstellen würde. Ratlos vor der Schweizerkarte Vielen Spielern fehlt die Motivation, und es fällt ihnen, die als Sportler stets aktiv sein müssen, auch schwer, still zu sitzen und sich dem Lernen zu widmen. Manche wünschen sich – auch angesichts ihrer Kar­ riereplanung – statt Deutsch- lieber Eng­ lischlektionen, etwas, was der FC Basel an­ bietet. Eine gewisse Wirkung, berichtet der Lehrer aus seiner Erfahrung, erzielt man höchstens mit stark fussballbezogenen The­ men – es existieren sogar fussballspezifische Lehrmittel. Wenn sich die Spieler selber ein­ bringen müssen, etwa wenn sie – häufig er­ folglos – auf einer Schweizkarte die nächste Auswärtsdestination lokalisieren sollen, sorgt das wenigstens für Amüsement. Rich­ tiggehend beliebt sei zudem die Schulung für Interviews, wo plötzlich der Stolz zum

Vorschein komme und sich jeder ins Zeug lege. Alles in allem scheinen die Kurse aber mehr ein Instrument zur Imagepflege der Vereine zu sein, die gegenüber der Öffent­ lichkeit bekunden wollen, dass sie von den Spielern auch etwas verlangen. Ob diese da­ mit tatsächlich sprachliche Fortschritte er­ zielen, hat weniger Bedeutung. Es sind deshalb vor allem die Trainer, die heute in einem mehrsprachigen Umfeld umso mehr funktionieren müssen. Thors­ ten Fink, der Deutsch, Englisch und auch ein wenig Spanisch spricht, belegte wäh­ rend der letzten Länderspielpause eine Schnellbleiche in Französisch. Der GC-Trai­ ner will dadurch näher an seine frankofone Fraktion rücken und diese zumindest ver­ stehen. Er reiste dafür für eine knappe Wo­ che in ein ehemaliges Kloster in den Nieder­ landen (!). Das dort ansässige Sprachinstitut hat sich besonders effizientes Lernen auf die Fahne geschrieben. Den völlig von der Au­ ssenwelt abgeschotteten Teilnehmern sollen von mehreren Muttersprachlern gleichzeitig die wichtigsten paar Hundert Vokabeln ein­ geimpft werden, auch mithilfe von Hypnose. Die Nachhaltigkeit eines solch kostspieligen Ausflugs in die Voodoo-Didaktik wird sich weisen. Finks vorläufiges Fazit: «Französisch ist eine schwierige Sprache.» Um dem Teamchef nicht die gesamte sprachliche Verantwortung aufzubürden, nimmt der Trainerstaff eine entlastende Rolle ein. Das bezeugen Trainingsbesuche bei GC und dem FC Basel. Die Einheiten im idyllischen Basler Grün-80-Areal sind wäh­ rend 15 Minuten öffentlich. Nach einer kur­ zen Anfangsansprache auf Hochdeutsch beobachtet Marcel Koller das Geschehen still vom Mittelkreis aus. Konditionstrainer Matthieu Degrange jagt derweil die Stamm­ spieler auf Französisch und Englisch über den Platz, Leistungsdiagnostiker Michael Müller kümmert sich um die Verletzten Sa­ muele Campo und Carlos Zambrano. Schwei­ zerdeutsch reicht hier aus. Der Peruaner Zambrano, der lange in Deutschland aktiv war, versteht die Ball- und Laufübungen pro­ blemlos. Torhütertrainer Massimo Colomba ist aufgrund seiner Stimmgewalt auch jen­ seits der für Journalisten zugänglichen Linie


FussballSprech

zu hören. Er drückt sich gegenüber den drei trainierenden Schlussmännern in vier Spra­ chen nahezu gleichzeitig aus: «Doucement! Like this! Ja, buono, genau! Eccola! Come out! Voilà!» «Without Gägegoal» Was Colomba praktiziert, das «schnelle Um­ schalten» von einer Sprache in die andere, ist bei Schweizer Trainern seit je gang und gäbe. Das zeigen Dokumentarfilme aus der Vergangenheit. An den FC Basel von 2002 richtete sich Christian Gross nach einer Pau­ senführung etwa so: «En Sieg ohni Gägegoal, j'exige, I want a win without conceding a goal. Hälfed enand, aidez-vous, help you on the pitch. Und fighted! Wies würd bi 0:0 aafange. Think that we're starting at 0:0 again. With this spirit. Auf gehts!» Auch Vladimir Petko­ vic mag solche Wiederholungen, forderte er bei YB doch eine angemessene Körperhal­ tung, untermauernd mit den Worten «Kopf hoch, testa alta, tête haute, regarder les yeux!». Unvergessen auch Urs Fischers Ap­ pell an Marek Suchy während eines Spiels gegen Sion, wo der FCB komfortabel mit 3:0 führte. Die Forderung war dieselbe wie jene von Christian Gross, nur prägnanter: «wit­ hout Gägegoal!» Sprachwissenschaftler beschreiben die­ ses Phänomen mit dem Fachbegriff CodeSwitching. Migranten praktizieren es tagtäg­ lich untereinander. «Stasera gämmer eine dure», sagt der eine Aargau-Italiener zum an­ deren, und die Balkan-Basler sprechen sich auch auf Deutsch gerne mit «Brate» an. Die Forschung ist sich einig, dass diese Sprach­ wechsel eher weniger aus inhaltlichen Lü­ cken erfolgen, sondern einem Bedürfnis entspringen, emotionale Nähe zu erzeugen. Stefano Losa, Professor für Mehrsprachig­ keit an der Tessiner Fachhochschule SUPSI, hat vor einigen Jahren Zeit mit einer Schwei­ zer U-Nationalmannschaft verbracht. Seine Schlussfolgerung: Der Trainer leistet einen unglaublichen sprachlichen Effort, um sich die nötige Legitimität und Autorität zu ver­ schaffen. «Wenn er etwa am Schluss seiner Ansprache hinzufügt ‹Noch Fragen? Pas de questions? Tutto chiaro?›, dann ist das rein rhetorisch. Er wartet ja die Antwort nicht

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einmal ab», erklärt Losa im Gespräch. Es gehe dem Coach damit lediglich darum, zu zeigen, dass er als Nationaltrainer über al­ len Fraktionen und Sprachgruppen im Team stehe und diese alle mit einbeziehe. Ein an­ deres Beispiel, das der Soziologe aufführt, ist der Teil eines Weckrufs des U-Nati-Trainers. Man könne sonst auch «für Plauschfussball, Wurst und Bier um zehn Uhr am Sonntag» spielen, mahnte dieser, um gleich auf Fran­ zösisch zu wiederholen: «Pour la bière et pour la saucisse, hein!» Auch hier ist der In­ halt der Worte zweitrangig. Vielmehr steckt dahinter ein vielleicht unbewusstes Kalkül: Wenn ich etwas in mehreren Sprachen wie­ derhole, merken auch wirklich alle Spieler, wie wichtig meine Botschaft ist. In Vier- oder Sechsaugengesprächen, wo es um taktische Anweisungen oder persön­ liche Anliegen geht, ist dann aber natürlich kein Kauderwelsch mehr gefragt. Polyglotte Trainer wie Gerardo Seoane oder Raphael Wicky können sich hier voll entfalten, ihre Spieler zu jedem Zeitpunkt persönlich und emotional erreichen. Zu dieser Gilde gehört ein Marcel Koller nicht unbedingt. Auch er wechselt zwar dann und wann auf Englisch oder Französisch, wie er sagt, nehme je nach­ dem aber auch «jemanden dazu». Was das bedeutet, zeigt sich im YB-Film «Meister­ träume», wo Goalietrainer Paolo Collaviti aus dem Stegreif übersetzte, wie sich Emili­ ano Dudar beim Team für seinen Platzver­ weis entschuldigte. In einer anderen Szene muss Gilles Yapi einem ivorischen Kollegen in der Anwesenheit von Vladimir Petkovic dessen Planspiele erklären. Der Mann neben Kakitani Es liegt vielleicht im mehrsprachigen Natu­ rell der Schweizer, dass sie das Gefühl ha­ ben, sie können die Mehrsprachigkeit als Trainerteam ohne fremde Hilfe meistern. In den grossen ausländischen Ligen, etwa in Deutschland, ist dies weniger üblich. Dar­ auf weisen sowohl Fink als auch Koller hin. Von einem Trainer zu verlangen, dass er auch Französisch spricht, käme in der Bun­ desliga niemandem in den Sinn. Deutsch ist dort Einheitssprache, die Spieler haben sich diesem Umstand viel stärker zu fügen als

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In der Bundes­liga ist Deutsch Einheits­ sprache, die Spieler haben sich dem zu fügen.

hierzulande. Werden kommunikative Gren­ zen erreicht, zieht man in der Bundesliga schnell einmal einen Dolmetscher bei, eine auf Schweizer Plätzen weitestgehend unbe­ kannte Personalie. Umso mehr wurde Jonathan Wüst als lokales Kuriosum wahrgenommen. Der stu­ dierte Animationsfilmemacher war ab Som­ mer 2014 während eineinhalb Jahren stän­ diger Begleiter von Basels Sturmhoffnung Yoichiro Kakitani und somit Vollzeitange­ stellter des FC Basel. Als Sohn Schweizer Eltern hatte Wüst bis zum 16. Jahr in Japan gelebt, nun unterstützte er den mit der hie­ sigen Sprache und den schweizerischen Ge­ pflogenheiten gänzlich unvertrauten Ka­ kitani in allen Lebenslagen. Er nahm dem Klub die administrative Arbeit ab, half dem damals 24-Jährigen bei der Suche nach ei­ nem Restaurant oder der Onlinebestellung von IKEA-Produkten. Die beiden wurden Freunde. Auch auf dem Trainingsplatz stand Wüst mit dem FC Basel jeden Tag. Von Sport­ chef Georg Heitz hatte er einen Satz Langen­ scheidt-Wörterbücher eigens zum Thema Fussball in die Hand gedrückt bekommen. «Genützt haben mir diese wenig», erinnert sich der 32-Jährige. «Denn jeder Trainer hat seine völlig eigene Sprache.» Herausfor­ dernd sei bei der Integration Kakitanis vor allem die fehlende Zeit gewesen. «Er kam

als Star nach Basel und musste ab dem ers­ ten Tag funktionieren.» Wüsts Aufgabe war es, dem Japaner die Spielideen der Trainer Sousa und später Fischer zu übermitteln. Kakitani sprach kaum ein Wort Englisch, im Team sei er aber ausserordentlich gut ange­ kommen. «Mit seiner verschmitzten Art hat er viel kompensiert.» Und weil sich die Mit­ spieler mit dem neuen Kollegen aus Osaka nur via Dolmetscher unterhalten konnten, empfanden sie auch den in der Fussball­ blase etwas aus der Reihe tanzenden, fein­ fühligen Pferdeschwanzträger Wüst als echte Bereicherung. Mit Yuya Kubo hatte auch YB lange ei­ nen japanischen Stürmer in den Reihen, der FC Luzern beschäftigte den Ägypter Kahraba und zuletzt den Nordkoreaner Il-Gwan Jong. Und der FC Sion hält ohnehin den Natio­ nenrekord. Die Zahl der sogenannten Exo­ ten, deren Integration aufgrund fehlenden sprachlichen und kulturellen Bezugs beson­ ders viel Arbeit in Anspruch nimmt, ist im Schweizer Fussball aber rückläufig. Im Ge­ spräch mit den Klubs wird klar, dass dies in erster Linie eine Konsequenz strengerer Re­ geln für Drittstaatenangehörige ist, die zum Beispiel nicht in der U21 eingesetzt wer­ den dürfen. Aus rein fussballerischer Sicht würde man sehr wohl gerne weitere treffsi­ chere japanische Stürmer verpflichten. Ein praktisches Hindernis sieht Jona­ than Wüst darin denn auch überhaupt nicht. Sein Auftrag bestand beim FC Basel daraus, sich selber überflüssig zu machen. Das habe relativ bald funktioniert. «Auf dem Feld brauchte es mich nach einem Jahr eigentlich fast nicht mehr. Fussballer sind sehr erfah­ ren in dem, was sie tun, sie können Abläufe und Ideen schnell umsetzen.» Selten kam es vor, dass man Wüst am Fernsehen sah, wie er Paulo Sousas Anweisungen dem einge­ wechselten Kakitani direkt weitergab – was natürlich auch damit zusammenhängt, dass Kakitani nicht zu übermässig viel zum Ein­ satz gelangte. Bis zum Ende benötigt wurden Wüsts Dienste indes vor allem bei Einzelge­ sprächen, etwa als Kakitani die Leiden rund um seine Verletzung schildern musste. Die Zusammenarbeit mit Fussballtrai­ nern wertet Wüst als positiv, aber durchaus


FussballSprech

auch als verbesserungswürdig. «Es fehlte manchmal etwas das Vertrauen im Umgang mit einem Dolmetscher.» Immer wieder sei er gefragt worden, ob er Kakitani hinsicht­ lich Matchplan denn auch wirklich alles mit­ geteilt habe. Dabei besteht die Aufgabe eines Dolmetschers just darin, das Gesagte unge­ filtert weiterzugeben. Aus seiner Erfahrung leitet Wüst die Empfehlung ab, dass Klubs bei einem nächsten «Exoten-Transfer» den allfälligen Dolmetscher näher beim Trainer­ team ansiedeln könnten. Das würde mehr Vertrauen schaffen und weniger Anlass für Zweifel geben. Google-Talk Überhaupt fände es Wüst eine Überlegung wert, dass Vereine einen fixen Posten für ei­ nen mehrsprachigen Kommunikator schaf­ fen. «Zumindest in der Schweiz ist es so, dass

die Spieler unglaublich viel auffangen müs­ sen in diesem Bereich.» Sie übernehmen viele Dolmetschaufgaben selber, eine Tä­ tigkeit, die höchst anspruchsvoll ist und sie deshalb auch überfordern kann. Nach Wüsts Verständnis würde es die Spieler merklich entlasten, wenn sich diese etwa an einem Matchtag gänzlich auf ihre Aufgabe konzen­ trieren könnten und nicht nebenbei noch dem Mitspieler, womöglich einem teamin­ ternen Konkurrenten oder einem auf einer völlig anderen, fremden Position, taktische Anweisungen auf den Weg geben müssen. Wüst macht sich dahin gehend aber keine Illusionen und ist sich bewusst, dass Klubs in ihrem Budget andere Prioritäten setzen. So werden sich die Fussballer in der Schweiz weiter selber helfen müssen. Sie tun das mit einer erstaunlichen Locker­ heit und nehmen die Mehrsprachigkeit als

verbindendes statt trennendes Element wahr. Sie imitieren die Aussprache des Teamkol­ legen und bringen einander Schimpfwörter bei. Und wenn ihnen einmal die Worte feh­ len, lässt sie ihre Kreativität nicht im Stich. Auf dem GC-Campus hat jüngst ein Klubver­ antwortlicher zwei Spieler beobachtet, die in der Cafeteria einander gegenübersassen und mangels sprachlichen Repertoires ihre Han­ dys reden liessen. Google Translate kann nämlich auch vorlesen. Das Integrationspro­ jekt Fussballklub hat in der Tat so seine Tü­ cken, aber es scheint sich zu bewähren. Auch in Niederhasli.•

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Foto: Dukas/Bruno Voser


NLA- L EGEN DE Text Diego Stocker Illustration Zoran Lucić

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Er war nicht der athletischste, nicht der schnellste und auch nicht der spektakulärste Stürmer. Aber er hatte einen Torinstinkt wie kaum ein anderer. Unglaubliche 217 Tore erzielte Peter Risi in der Nationalliga A, gewürdigt dafür wurde er dennoch kaum.

Der Mann für die normalen Tore A

m Abend des 6. April 1977, um sechs Minuten nach acht, hielten 30 500 Zuschauer im proppenvollen Letzi­ grund den Atem an. Der FC Zürich stand zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte im Halbfinal des Meistercups. Der Gegner: kein Geringerer als der grosse FC Liverpool. Es war eine illustre Zürcher Mann­ schaft, die damals die weissen FCZ-Trikots gegen die berühmten Reds rund um Kevin Keegan auf den Platz trug: Karl Grob, Gabet Chapuisat, Köbi Kuhn, René Botteron … eine bunte Mischung aus supercharismatischen Charakterköpfen, Haudegen, Künstlern und Popstars, welche die Fans zum Schwärmen und Träumen brachten. Und tatsächlich: Als Fredi Scheiwiler in der 6. Spielminute im Strafraum der Engländer von den Bei­ nen geholt wurde, schien es so, als ob wil­ deste Zürcher Fussballträume wahr werden könnten. Im Heimspiel mit 1:0 in Führung gehen – wer weiss, was dann noch alles möglich ist. Aber noch war der Elfer nicht versenkt. Hierfür brauchte es jemanden mit kaltem Blut und eisernen Nerven. Kei­ nen, der an der Last der Verantwortung zer­ bricht und das Leder verzweifelt in den Him­ mel haut. Keinen, dessen Zunge vor lauter ­Panik tremor­artig zu ­zucken beginnt. Keinen

Blender, keinen Bluffer, keinen Schönwetter­ spieler. Was es brauchte, war ein nicht aus der Ruhe zu bringender Goalgetter mit tod­ sicherem Torinstinkt. Am Abend des 6. April 1977, um sechs Minuten nach acht, wurde es ganz still im Letzigrund. Nicht aus Angst und Nervosi­ tät, sondern aus purer Vorfreude. Denn je­ der im Stadion wusste: Der ideale Mann, den es zum Erledigen des anstehenden Pe­ nalty-Jobs braucht, steht bei uns im Team. Er heisst: Peter Risi. Es war, so ehrlich muss man sein, kein besonders gut geschossener Elfmeter. Er war weder präzise noch scharf getreten – und auch die technische Ausführung liess für einmal zu wünschen übrig, wie das mit dem Ball mitfliegende Rasenstück bezeugt. Ray Clemence im Tor der Reds war mit der Hand noch am Leder, wovon er sich aber nichts kaufen konnte, denn am Schluss – und das war eben typisch Risi – zappelte der Ball halt trotzdem im Netz. Peter Risi quittierte den Treffer mit ­einem typischen Risi-Jubel, einem schüch­ ternen Winken mit dem rechten Arm. Grös­ seres Aufheben um seine Torerfolge zu machen, hielt der von Starallüren völlig unberührte Stürmerstar für fehl am Platz.

216 Mal zelebrierte Risi in der höchsten Schweizer Liga einen Treffer auf seine un­ nachahmliche Art. Nur Jacques Fatton von Servette war noch erfolgreicher, dies aller­ dings zu Zeiten, als Fussballresultate noch oft Eishockeyresultaten glichen. Wegbereiter Gemeindeschreiber Wer weiss, ob Peter Risi am Abend des 6. ­April 1977 den Zürcher Letzigrund eine Viertelstunde lang zum Träumen gebracht hätte – danach setzte sich die grös­sere Klasse des späteren Meistercupsiegers Liverpool dann doch noch deutlich durch –, wenn nicht einem gewissen Erich Bar­mettler exakt zehn Jahre vorher ein Jobangebot ins Haus geflattert wäre, das er unmöglich ablehnen konnte. Gemeindeschreiber von ­B uochs sollte der begabte Center-Forward des örtli­ chen Zweitligisten werden. Eine Chance, die sich Erich Barmettler nicht entgehen las­ sen wollte. Auch wenn die Konsequenzen schmerzten: Mit dem professionellen Ein­ tritt in die Gemeindeverwaltung war nun nämlich Schluss mit Fussballspielen. Spielertrainer des SC Buochs war da­ mals Paul Wolfisberg, der 1960 den FC Lu­ zern als Captain zum Cupsieg geführt hatte und später als bärtige Nationaltrainer-Ikone

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namens Wolf berühmt werden sollte. Ein neuer Stürmer musste nun her – und zwar schnell. Als Wolfisberg an einem Junioren­ training den damals 17-jährigen Peter Risi entdeckte, wusste er sofort: Es muss nicht weitergesucht werden. «Peter Risi war ein ex­ trem talentierter junger Fussballer», erinnert sich Wolfisberg gegenüber ZWÖLF. «Er hatte schon damals einen unglaublich guten Tor­ riecher, war sehr abgeklärt und konnte aus­ gezeichnet dribbeln. Ich steckte ihn sofort in die erste Mannschaft.» Peter Risi, leicht gebaut, flink und draufgängerisch, liess sich die Chance, die ihm Wolfisberg bot, nicht entgehen. Der treff­sichere Teenager schoss Tore am Lauf­ meter, die Nidwaldner Dorfkicker stiegen in die erste Liga auf und klopften schon bald an die Tür zur NLB. «Was mich am jungen Risi am meisten beeindruckte, war sein Cha­ rakter», erzählt Wolfisberg. Ob in der ersten Mannschaft des SC Buochs oder später in der höchsten Schweizer Spielklasse: Die im Fussballgeschäft höchst seltene ­Mischung aus exemplarischer Bescheidenheit und unerschütterlichem Selbstvertrauen machte Risi überall, wo er spielte, zu einer nicht nur wichtigen, sondern bei Trainern und Mit­ spielern immer auch äusserst beliebten Teamstütze. Schnell wurde klar, dass Peter Risi zu gut war für den SC Buochs. Klubs aus der ganzen Schweiz wurden auf das junge Stür­ mertalent aus Nidwalden aufmerksam. Spielertrainer Wolfisberg erweiterte kurzer­ hand sein berufliches Tätigkeitsgebiet und ermächtigte sich zu Risis Manager. Er sich­ tete die zahlreichen Angebote und entschied sich nicht etwa für den FC Luzern oder einen anderen Klub aus der Deutschschweiz, son­ dern für … den FC La Chaux-de-Fonds. «Das war damals eine gute Adresse im Schwei­ zer Fussball», erklärt Wolfisberg die überra­ schende Wahl. «Auf der Charrière wurde ein gepflegter, nach vorne gerichteter Fussball gespielt. Die taktische Ausrichtung mit dem kompakten Verschieben einzelner Mann­ schaftsteile war sehr modern.» Wolfisberg und Risi wurden von den Verantwortlichen des FCC ins beste Restau­ rant von La Chaux-de-Fonds eingeladen, wo

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Risis Ablöse: 80 000 Franken und eine teure Restaurant­ rechnung.

die beiden Innerschweizer zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem taktischen Geschick der Welschen machten. Nach einer virtuosen Passfolge landete nämlich die Restaurant­ rechnung plötzlich beim verdutzten Wolfis­ berg. «Ich musste ziemlich tief ins Porte­ monnaie greifen», erinnert sich dieser. Aber immerhin: «Das Essen war fein.» Am Ende des kulinarischen Gelages stand dann auch der Deal: Für 80'000 Franken wurde Risi zu einem Gelb-Blauen – eine stolze Summe für die damalige Zeit. NLA-Tormonster, Nati-Notnagel In La Chaux-de-Fonds traf Risi auf einen Sturmpartner, der genauso jung, talen­ tiert und ehrgeizig war. Sein Name: Daniel ­Jeandupeux. Der spätere Nationaltrainer erzählt: «Als ich Risi zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass das einer ist, der un­ bedingt Tore schiessen will.» Das Problem: Jeandupeux wollte das auch. «Wir haben uns als Sturmpartner nicht ideal ergänzt», sagt Jean­dupeux. «Wir waren als Spieler zu ähn­ lich, hatten oft dieselben Ideen und stiessen in die gleichen Räume vor.» Bis am Ende der Saison teilten sich die beiden Stürmer-Hot­ shots, 20- und 21-jährig, die Torerfolge brü­ derlich auf. Mit je 16 Treffern landete man gemeinsam auf dem zweiten Platz der Tor­ schützenliste – die Fussballschweiz blickte fasziniert auf die geballte junge Angriffs­ power auf der Charrière. 1971 war für Jeandupeux die Zeit reif, zu gehen. Er wechselte zum FC Zürich, wo er Meister, Cupsieger, Torschützenkönig und Nationalspieler wurde – die exakt glei­ chen Karriereschritte, die Risi ein paar Jahre

später ebenfalls durchlaufen sollte. Zuerst machte Risi allerdings einen Zwischenstopp beim FC Winterthur. Zusammen mit Max Meili, Eigil Nielsen und Fritz Künzli prägte er die letzte grosse Mannschaft des FCW. Die Eulachstädter qualifizierten sich für den Cupfinal und verpassten die Qualifikation für den Uefa-Cup nur um ein einziges Tor – und Risi wurde zum Liebling der Schweizer Fussballfans. Einzig der damalige interimis­ tische Nationaltrainer Bruno Michaud liess sich vom Risi-Fieber nicht anstecken. «Wich­ tig sind nicht die geschossenen Tore, son­ dern was ein Spieler während 90 Minuten Zusätzliches leistet», begründete er seinen Verzicht auf Risi, was ihm unzählige gehar­ nischte Briefe und wütende anonyme Tele­ fonanrufe einbrockte. Doch auch unter sei­ nen Nachfolgern hatte Risi einen schweren Stand. Dem treffsichersten Schweizer Stür­ mer blieb in der Nati oft nur eine Nebenrolle, obwohl er in der Form seines Lebens war. 1975 folgte nämlich der Wechsel zum FC Zürich, wo Risi Nachfolger von Daniel Jeandupeux wurde, der zu den Girondins nach Bordeaux weitergezogen war. Jeandu­ peux überraschte es nicht, dass Risi im Letzi­ grund gross einschlug. «Der FCZ war damals eine dominante Mannschaft, die lieber an­ griff als verteidigte. Das passte sehr gut zum typischen Strafraumstürmer Risi, der mehr von seiner Schlauheit, seiner Kaltblütigkeit und seinem ausgeprägten Torinstinkt lebte als von seiner Bereitschaft, nach hinten zu arbeiten. Mit ein bisschen mehr körper­ lichem Durchsetzungsvermögen hätte man sich ihn damals auch gut bei einer offen­ siv ausgerichteten europäischen Spitzen­ mannschaft wie Ajax Amsterdam vorstellen können.» Peter Risi gewann mit dem FCZ sämt­ liche Pokale, die es im Schweizer Fussball zu gewinnen gibt. 108 Treffer erzielte er in 162 Pflichtspielen – Rang drei in der ewi­ gen FCZ-Torschützenliste. In der Saison 1975/76 steuerte Risi sagenhafte 33 Treffer zum Double­gewinn des FCZ bei, was ihm den bronzenen Fussballschuh für den dritt­ besten Torschützen Europas einbrachte. Risi wurde samt Ehefrau nach Paris ein­geladen, wo in einem semiexquisiten Restaurant


NLA-LegendE – Peter Risi

Peter Risi

bei Sauerkraut, Speck und Würstchen ge­ feiert wurde. Das war das Pech von Risi – das gros­se Geld floss damals noch nicht im Fussball. In seiner besten und einzigen Profi­ saison verdiente Risi 40 000 Franken. Sonst arbeitete er immer nebenbei als Autoverkäu­ fer, später dann als selbstständiger Vertreter für Hotelbedarf. Erstaunlich ist, dass Peter Risi trotz sei­ ner unglaublichen Torquote im National­ team nur selten zum Zug kam. Denn auch René Hüssy und Roger Vonlanthen zogen ihm in der Offensive Kudi Müller, Daniel Jeandupeux oder Joko Pfister vor, obwohl die Nati zu jener Zeit eine schlimme Baisse er­ lebte. Während Risis Nati-Zeit gab es in vier Jahren nur gerade ebenso viele Siege, dafür 20 Niederlagen. Der beste Knipser des Lan­ des fand sich in der Nati oft höchstens auf der Bank wieder. Vielleicht war es der Man­ gel an Spektakel, der dazu führte, dass ­Peter Risi nie den Platz einnahm, der ihm auf­ grund seiner Tore zugestanden hätte. Wenn Risi traf, waren das selten traumhafte Dis­ tanzschüsse oder virtuose Dribblings, oft stand er einfach zur richtigen Zeit am rich­ tigen Ort, und dann verfehlte er so gut wie nie. Aus der Fülle seiner Treffer finden sich heute gerade mal deren sechs auf Youtube, für das «Tor des Jahres» drängte sich keines davon auf. 1979 wechselte Risi zum Ende seiner Laufbahn dann doch noch zum FC Luzern. Dort gab es nicht nur ein Wiedersehen mit seinem Bruder Heinz, sondern auch mit sei­ nem Entdecker Paul Wolfisberg, der als Trai­ ner den FCL gerade in die NLA geführt hatte. Ebenfalls im Team des FCL war damals der erst 16-jährige Hanspeter Burri. «Als ich Pe­ ter Risi zum ersten Mal begegnete, war ich überrascht, dass er einer von uns, ein Inner­ schweizer, ist. Ich dachte immer, er sei ein Zürcher», erinnert sich Burri. Zum Glück konnte dieses Missverständnis schnell aus dem Weg geräumt werden. Was Burri als Zweites überraschte: «Risi war bei uns der Spieler mit dem klar grössten Palmarès, und trotzdem war er die Bescheidenheit in Per­ son. Er wurde in der Kabine nie laut, war nie arrogant, stellte sich nie in den Mittel­ punkt. Für mich als jungen Spieler war es

* 16. Mai 1950 in Buochs † 11. Dezember 2010 in Buochs Spiele Tore 1967–1970 SC  Buochs k. A. 1970–1972 FC La Chaux-de-Fonds 48 24 1972–1974 FC Winterthur 82 49 1974–1979 FC Zürich 162 108 1979–1984 FC Luzern 157 83 1984–1987 SC  Buochs k. A. Länderspiele 1974–1977 Schweiz

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ein gros­ses Glück, mit einem so hilfsberei­ ten Spieler zusammenspielen zu können.» Burri hat viel von Risi abgeschaut, bloss in Sachen Laufleistung hielt er es für an­ gebracht, sich andere Vorbilder zu suchen. «Ich legte pro Spiel durchschnittlich acht bis zwölf Kilo­meter zurück. Risi brachte es im besten Fall auf vier», schmunzelt Burri. «Risi war eben der klassische Gerd-Müller-Typ. Er war super­effizient, brauchte nur eine halbe Torchance, und der Ball zappelte im Netz.» Gefeuert und hilfsbereit 83 Tore erzielte Risi für Luzern. In der Sai­ son 1980/81 wurde er zum dritten Mal Schweizer Torschützenkönig. Drei Jahre später, mit 34 Jahren, beendete er nach ­einer Verletzung seine aktive Karriere. Danach wäre er gern Trainer geworden, und seine zweite Laufbahn begann ebenso vielver­ sprechend. Als Assistenztrainer des ehema­ ligen ungarischen Nationaltrainers ­Bertalan ­Bicskei führte er 1993 den FC ­Luzern zurück in die NLA. «Bicskei war ein knallharter Hund und im Klub entsprechend unbeliebt», erzählt Burri. «Alle warteten nur auf seinen ersten Misserfolg, um ihn wieder loszuwer­ den.» Ende 1993 war es so weit. Vor dem letz­ ten Spiel der Qualifikationsrunde gegen den FC Aarau war der Einzug in die Final­ runde gefährdet. Der unga­rische Schleifer wurde entlassen und mit ihm auch Risi. Er­ setzt wurden die beiden – Ironie des Schick­ sals – durch Timo Konietzka, unter dem Risi in Zürich seine grössten Erfolge gefei­ ert hatte, und – nur für dieses eine entschei­ dende Spiel – einmal mehr Paul Wolfisberg.

Wolfis­berg erinnert sich: «Das war eine un­ erfreuliche Begegnung. Der FCL hatte zwar Trainer Bicskei über seine Absetzung infor­ miert, aber erst kurz vor der Pressekonfe­ renz fiel den Klubverantwortlichen ein, dass sie Risi vergessen hatten. Es blieb dann an mir hängen, ihm zu sagen, dass er gehen musste.» Eine Episode, die typisch ist für ­Peter Risis Karriere. Der leise Mann wurde und wird trotz seiner Erfolge des Öfte­ren schlicht übersehen. Ebenfalls charakteris­ tisch war Risis Reaktion auf die Aus­bootung: Er habe das Versäumnis sportlich genom­ men und sogar noch wertvolle Tipps zu den einzelnen Spielern gegeben, so Wolfisberg. Das entscheidende Spiel gewann der FCL übrigens mit 2:1. Nebst einem Abstecher als Trainer zum FC Emmenbrücke blieb Risi danach als In­ struktor für den Verband dem Fussball treu, wo er für die Ausbildung von Jungtrainern verantwortlich war. Am 11. Dezember 2010 starb Peter Risi im Alter von erst 60 Jahren nach einer schweren Krankheit. Geblieben sind sagenhafte 264 Tore in Pflichtspielen auf höchster Stufe, dazu ungezählte für sei­ nen Stammverein Buochs – jedes davon so schüchtern bejubelt, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er schon wieder getrof­ fen hatte. •

Nach jahrelanger, akribischer Arbeit steht die erste Version von SFL Glory, der all­ umfassenden historischen Liga-Datenbank. ZWÖLF hat das Projekt angestossen, LigaSponsor Raiffeisen hat es unterstützt. Auf www.sfl.ch/glory findet ihr ab sofort aus­ führliche Statistiken zu jedem Klub, Spie­ ler und Trainer, der seit 1933 in der Schweiz aktiv war. Während die erste Version bereits alle Tabellen und Gesamtstatistiken enthält, werden demnächst auch Spieltelegramme, Spielerkarrieren und Texte zu besonderen Ereignissen folgen.

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Text Mämä Sykora Illustration Pascale Osterwalder www.elaxa.ch

Endlich hat es geklappt: In der Vorweihnachtszeit fanden die Super-LeagueKlubs einen Termin, um sich nach 20 Jahren wieder einmal zu sehen. Ein Stück in drei Szenen.

Klassentreffen Erste Szene Ort: das Sääli eines Restaurants in Muri bei Bern. Dunkle Holzvertäfelung schmückt den Raum, in der Ecke steht eine Vitrine mit eini­ gen Pokalen. Eine einzige Girlande hängt an der Decke, davor ein Transparent mit der Aufschrift «NLA-Klasse 1998/99». Die Tische sind gedeckt, nur bei einem sind schon drei Plätze belegt. FC LUGANO  Der Einfachste ist er nicht, mein Chef, klar. Aber wenigstens läuft ­immer etwas. FC ZÜRICH  Ich weiss genau, was du meinst. Bei mir ist das nicht anders. Wisst ihr noch damals, da hatte ich doch diesen alten Herrn als Boss? Hat gekrampft ohne Ende und gehofft, dass ich irgend­ wann mal etwas auf die Reihe kriege. Alle drei lachen schallend. FC LUZERN  (wird schlagartig ernst) Wo­ bei es ja schon nicht unbedingt toll ist, wenn da irgendwo ein alter Mann sitzt, der dauernd rumpoltert. Die drei verharren schweigend und s­ tarren vor sich hin. Die Tür fliegt auf, FC St. ­Gallen tritt ein, gefolgt von BSC Young Boys in ei­ nem eleganten Anzug und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. Grosse Begrüssung, man drückt sich und schlägt sich gegenseitig auf die Schultern.

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FC ZÜRICH  Meine Güte! Dich hätte ich ja gar nicht erkannt! FC LUGANO  (anerkennend den Stoff des Anzugs prüfend) Wirklich, sehr edel! Hätte ich mir auch mal fast besorgt, so ein Teil von einem Meisterschneider. Leider gingen die Pläne dann den See runter. FC  ST.  G ALLEN  (leicht genervt) Jetzt rück schon raus damit! BSC YOUNG BOYS  (mit gespielter Ahnungs­ losigkeit) Was denn? FC  ST.  G ALLEN  Na, was wohl? Wie du dir das leisten kannst! FC LUZERN  (zustimmend) Ja, sag schon! Du warst doch immer klamm wie eine Kirchenmaus! FC ZÜRICH  (prustet los) BSC YOUNG BOYS  Was lachst du so blöd? FC ZÜRICH  Ach nichts … Mir ist nur grad wieder in den Sinn gekommen, wie du damals gelebt hast. BSC YOUNG BOYS  (verärgert) Was willst du damit sagen? FC  ST.  G ALLEN  Meister im Verdrängen, wie? Ich sage nur: Solothurn, Carouge, Nyon … Alle ausser BSC Young Boys schütteln sich vor Lachen. FC LUGANO  Durch die Provinz ist er gezo­ gen mit dem Hut in der Hand und hat jeden um Geld angehauen! BSC YOUNG BOYS  (räuspert sich) Nun,

wir wollen jetzt doch hier nicht nur über die Vergangenheit reden, die Gegen­wart ist doch viel schöner. Und du (zeigt auf FC Lugano) musst so­ wieso nicht so grosse Töne ­spucken, FC ­Lugano! Oder soll ich besser ­sagen: AC Lugano? FC LUGANO  (trotzig) Was ist denn schon ­dabei, sich mal einen neuen Namen zuzulegen? Würde einigen von euch auch mal gut anstehen, nicht wahr, Young Boys? Die Situation entspannt sich, als die Tür sich öffnet und FC Basel und FC Thun eintreten. Wieder entsteht ein grosses Hallo. FC ­Zürich schaut demonstrativ weg, als FC Basel eintritt. FC LUZERN  (tippt auf den Bauch von FC Ba­ sel) Da hat aber jemand ganz schön zugelegt! FC BASEL  (errötet) Ach, keine Sorge, ich bin gerade auf Diät. Das geht alles schnell wieder weg. FC  ST.  G ALLEN  Du bist ja echt heftig durch­ gestartet! Ich war nur einmal kurz in Europa, die haben dich da alle gekannt! FC LUZERN  Wo? FC  ST.  G ALLEN  Europa. Kennst du das nicht? FC LUZERN  Ach so! Ja doch, kenn ich. Da wollte ich schon immer mal hin.


FC BASEL  Ich kann es nur empfehlen. Echt tolle Sache. Und sehr einträglich (klopft sich auf den Bauch) BSC YOUNG BOYS  Mir ist noch immer rätsel­haft, wie du das geschafft hast. Du musstest ja doch ein paarmal die Klasse wiederholen. FC BASEL  Mit viel harter Arbeit und … (zögert) FC ZÜRICH  Sags ihnen! FC BASEL  Na ja, ich habe ein bisschen was geerbt. FC ZÜRICH  (harsch) Ein bisschen? Da bleibt ja Trump näher an der Wahrheit, wenns um Erbsachen geht! FC THUN  Jetzt streitet doch nicht, wir wol­ len doch einen schönen Abend zusam­ men haben. Alle schweigen und schauen auf FC Thun. FC LUGANO  Sei mir nicht böse, aber wer bist du nochmals? FC THUN  (lächelt verlegen) Ach, kommt schon, ihr kennt mich doch! Alle überlegen lange, schliesslich Kopfschütteln. FC THUN  Wirklich nicht? Der Kleine? Na? FC LUZERN  Kriens? FC THUN  (schüttelt den Kopf ) Neeeeein. FC LUGANO  Yverdon? FC THUN  Neeeeein. BSC YOUNG BOYS  Irgendwie kommst du mir schon bekannt vor. FC  ST.  G ALLEN  Wettingen? FC THUN  Komm schon! Sehe ich echt so alt aus? FC ZÜRICH  Ich komm nicht drauf. FC THUN  Ich bins doch, FC Thun! Fragende Blicke. FC THUN  (verzweifelt) Ihr müsst mich doch kennen! Ich war nur ein paar Klassen unter euch damals! Die Tür öffnet sich, herein kommen ­ eu­châtel Xamax und FC Sion, in ein N ­Gespräch vertieft. Händeschütteln, alle reden durcheinander. FC Sion  (schaut sich im Raum um) Das ist nicht euer Ernst, oder?

BSC YOUNG BOYS  Was meinst du denn? FC SION  Es brauchte doch hier … Das müsstet ihr doch zumindest … (hält inne und blickt sich um) Hey, wo sind denn Servette FC und Lausanne-Sport? FC LUZERN  Hast du das nicht mitbekommen? FC SION  Was denn? FC LUZERN  Servette FC hatte eine schlimme Krankheit, aus dem Iran eingeschleppt. Und Lausanne-Sport macht gerade ein Sabbatical. FC  ST.  G ALLEN  (schnell) Das kann sehr guttun. FC ZÜRICH  Richtig. FC SION  Alles muss man selber machen. Jeden­falls: Der Weisswein fehlt, ihr Igno­ranten. Ich hole welchen. Will sonst noch jemand was? FC THUN  Ich hätte gerne ein Mineral ohne. FC SION  Natürlich, kein Problem. (stutzt) Hilf mir kurz: Wer bist du nochmals? FC THUN  (lächelt verlegen und knufft FC Sion in den Oberarm) Tu doch nicht so. Du kennst mich doch. FC SION  (kneift die Augen zusammen) Bellinzona? FC THUN  (kichert) Aber nein! Ich bin doch … FC SION  Auch egal. (tritt ab)

BSC YOUNG BOYS  (in die Runde) Sind wir eigent­lich schon komplett? FC BASEL  Ist ja klar, wer noch fehlt. FC ZÜRICH  (grummelnd) Fehlt der wirklich? NEUCHÂTEL XAMAX  (lachend) Immer noch so liebevoll zueinander? FC  ST.  G ALLEN  Stimmt es, was man hört? FC ZÜRICH  (verschränkt die Arme) Schnauze! FC LUGANO  Wovon redet ihr? FC  ST.  G ALLEN  Die beiden ziehen zusammen! FC LUGANO  Ist nicht wahr? Du und Grasshopper-Club? FC ZÜRICH  Also noch ist gar nichts fix, nur damit das klar ist. Ihr wisst ja, wie schwierig es ist, in meiner Region ­etwas zum Wohnen zu finden. FC LUGANO  Das glaub ich ja jetzt nicht!


Ausgerechnet ihr zwei! NEUCHÂTEL XAMAX  Ich kann mich noch gut an diese Bruchbude erinnern, in der du damals gehaust hast. Die war ja übel. Wo wohnst du denn jetzt? FC LUGANO  (verlegen) Im Moment ist es e­ twas schwierig. Ich schaue mich ­immer wieder mal um, aber irgendwie … NEUCHÂTEL XAMAX  Sag jetzt nicht, dass du immer noch zu Hause wohnst? FC LUGANO  Doch, irgendwie schon (grosses Gelächter) Aber: Ich werde demnächst bauen! (noch grösseres Gelächter) FC BASEL  Das sagte doch dieser Kleine auch immer. Wie hiess er nochmals? FC  ST.  G ALLEN  Welchen meinst du? FC BASEL  Na, dieser Typ da, der immer mit uns rumgehängt ist und einfach nie weggehen wollte. BSC YOUNG BOYS  Meinst du FC Aarau? FC BASEL  Ja, genau der! NEUCHÂTEL XAMAX  Lustig, den habe ich gerade getroffen, als ich hier hochge­ kommen bin. Sah nicht gerade fit aus, ehrlich gesagt. Die Tür öffnet sich, langsam und vornehm tritt Grasshopper-Club ein. FC SION  Je später der Abend … GRASSHOPPER-CLUB  (grinsend) … desto ­rekorder der Meister. So sagt man doch, nicht wahr? FC BASEL  Den kannst du beim nächsten Treffen übrigens nicht mehr bringen. GRASSHOPPER-CLUB  Das werden wir ja ­sehen. Jetzt gehts wieder aufwärts! (An

FC Zürich gewandt) Hab ich nicht recht, werter Mitbewohner? FC ZÜRICH  (zu sich selber) Du kannst froh sein, wenn überhaupt noch etwas geht bei dir.

Zweite Szene Die Gäste sitzen an drei Tischen verteilt, ein lautes Gemurmel erfüllt den Raum. Das ­Essen wurde aufgetischt, alle langen t­ üchtig zu. Die Manieren lassen zu wünschen ü ­ brig, nur der FC Thun tupft sich nach j­ edem ­Bissen die Mundwinkel ab und trinkt in kleinen Schlucken. Am grössten Tisch sitzen FC Basel, BSC Young Boys und FC St. ­Gallen. FC  ST.  G ALLEN  (leise) Das ist schon traurig. FC BASEL  Was meinst du? FC  ST.  G ALLEN  (nickt mit dem Kopf zu Grasshopper-Club) Was aus dem ge­ worden ist. BSC YOUNG BOYS  Echt heftig. Wir haben ja alle zu dem aufgeschaut damals. FC BASEL  (nickt zustimmend) Und wie! Der hatte auch immer das beste und ­teuerste Spielzeug. Aus ­Brasilien, ­Rumänien, Uruguay, von überall. ­Super ­Sachen immer. FC  ST.  G ALLEN  Und wenn einer von uns mal was Tolles hatte, hat er es uns ein­ fach abgekauft. BSC YOUNG BOYS  Ich hab mich ja immer ­gefragt, wie der das bezahlen kann. Hatte wohl einen guten Sugar Daddy.

FC BASEL  (nachdenklich) In letzter Zeit sieht er aber echt nicht gut aus. BSC YOUNG BOYS  Man kann wirklich Mit­ leid haben. FC  ST.  G ALLEN  (lacht spöttisch) Mitleid? Hatte er denn je Mitleid mit uns? FC BASEL  Du hast schon recht. Aber dass es ihm gleich so schlecht geht … BSC YOUNG BOYS  Gesundheitlich hat er ja schwere Probleme. Er hatte zwischen­ durch sogar Senderos. FC BASEL  (zieht scharf die Luft ein) Autsch! Das ist heftig. Zum Glück ist er das ­wenigstens wieder losgeworden. FC  ST.  G ALLEN  Jetzt macht mal halblang! Der hat es nichts als verdient, dass er jetzt auch mal neidisch sein kann auf andere. BSC YOUNG BOYS  Auf wen genau meinst du? FC  ST.  G ALLEN  Na, auf uns natürlich! FC BASEL  Auf uns? FC  ST.  G ALLEN  Ja, auf uns drei. BSC YOUNG BOYS  (kann ein Grinsen nur schwer unterdrücken) Bei allem Res­ pekt, FC St. Gallen. Bei ihm kann ich das ja nachvollziehen. (deutet auf den Bauch von FC Basel) Bei mir sowieso ( fährt sich über den feinen Anzugstoff ). Aber auf dich …? FC  ST.  G ALLEN  (legt seinen Tischnachbarn die Hand auf die Schulter) Ja, ich weiss, wir drei sind schon eine eigene Liga, nicht wahr? FC BASEL  (legt das Besteck auf den Teller) Und du gehörst dazu, weil …? FC  ST.  G ALLEN  Na hör mal! Ich bin schliess­ lich der Älteste! Am Nebentisch. Grasshopper-Club hat das ­Essen noch kaum angerührt, weil er pausen­ los am Erzählen ist. FC Thun klebt an seinen Lippen, FC Lugano und Neuchâtel ­Xamax hören nur mit einem Ohr hin. GRASSHOPPER-CLUB  … und dann war ich in Amsterdam. Ich sags euch, das war Wahnsinn! Keiner hat da an mich ­geglaubt, keiner! FC THUN  Wow, und was ist dann passiert?

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Wiedersehen nach 20 Jahren

GRASSHOPPER-CLUB  (lässt sich Zeit, nimmt einen Schluck Wein) Ich werds dir sagen … FC LUGANO  Wir können es auch erzählen, wir haben die Geschichte schon hun­ dert Mal gehört. NEUCHÂTEL XAMAX  (an FC Thun gerichtet) Wenn du so viel Zeit mit ihm verbracht hättest wie wir, würdest du auch alles auswendig kennen, SC Kriens. FC THUN  (trotzig) FC Thun heisse ich. NEUCHÂTEL XAMAX  FC Thun, entschuldige. Ich muss mich erst dran gewöhnen, dass du jetzt auch dazugehörst. FC LUGANO  Erzähl doch mal, was treibst du denn so? FC THUN  (errötet) Och, da gibts nicht viel zu erzählen. Nicht der Rede wert. Habe ein kleines Häuschen neben der Auto­ bahn, ganz nett, auch wenn die Nach­ barn etwas mühsam sind. NEUCHÂTEL XAMAX  (mit Seitenblick auf Grasshopper-Club) Wenigstens hast du ein eigenes Häuschen. FC THUN  Und ich war ein paarmal in Europa. FC LUGANO  (ungläubig) Nicht dein Ernst? FC THUN  (winkt ab) Nichts Grosses. In Amster­dam war ich übrigens auch mal, in London … Nächstes Jahr gehe ich wohl auch wieder auf Reisen. Die Tischgenossen starren FC Thun mit ­gros­sen Augen an. NEUCHÂTEL XAMAX  Wie kann das sein? Wer bezahlt dir denn das alles? FC THUN  Ich selber natürlich. Man kann sich doch auch ganz gut selber ver­ sorgen, ohne dass man Geld in den ­Rachen gestopft bekommt. Die drei andern schauen sich an und b ­ rechen gleichzeitig in schallendes Ge­lächter aus, weil sie es für einen gelungenen Witz halten.

FC LUZERN  (verschmitzt grinsend) Viel Spass mit dem wünsch ich dir. FC SION  Sagt mal, ihr und die andern hier, ihr habt doch immer so ein Spiel zu­ sammen gespielt. Wie habt ihr das nochmals genannt? Meisterschaft, richtig? Macht ihr das noch immer? FC ZÜRICH  Aber natürlich. Immer noch voll dabei. Obwohl es mehr Spass gemacht hat, als die da noch nicht richtig dabei waren. (nickt mit dem Kopf in Richtung FC Basel und BSC Young Boys) FC SION  (nachdenklich) Das hab ich nie wirklich verstanden, dass ihr euch da so reingehängt habt. Aus ökono­mischer Sicht ist das doch kompletter Unsinn. FC LUZERN  Wie meinst du das? FC SION  Du krampfst ein ganzes Jahr mit der winzigen Chance, am Ende zu ­etwas Gold zu kommen. Das geht ja wirklich einfacher. FC LUZERN  Verrätst du uns auch wie? FC SION  Ich sags euch. (beugt sich vor, schaut die Tischnachbarn verschwöre­ risch an und sagt leise) Cup. FC LUZERN  Bitte was? FC SION  Cup. Ein paar wenige Investi­ tionen zum richtigen Zeitpunkt, und schon kannst du das Gold abzügeln. FC ZÜRICH  (wissend grinsend) Du weisst aber, dass du längst nicht mehr der Einzige bist, der das durchschaut hat? FC SION  (haut mit der Faust auf den Tisch) Genau das macht mich ja so sauer! ­Immer klauen alle meine Ideen! Da mach ich einfach nicht länger mit!

Ihr alle wart doch schon immer gegen mich. Alle! FC LUZERN  Hey, mal halblang! Was hab ich dir denn getan? FC SION  (etwas ruhiger) Gut, du vielleicht nicht, aber du kannst ja ohnehin über­ haupt niemandem was zuleide tun.

Dritte Szene Die leeren Dessertteller werden abgeräumt. Die Herren lehnen sich satt zurück, einige nippen noch am Espresso. NEUCHÂTEL XAMAX  (nimmt die Rechnung vom Tisch) Jungs, wie machen wir das mit dem bezahlen? FC ZÜRICH  Teilen wir brüderlich? FC THUN  Also ich hatte kein Dessert und nur ganz wenig Wein. Dann müsste ich wohl weniger bezahlen. GRASSHOPPER-CLUB  (verlegen) Oh, Mist. Das ist mir jetzt echt peinlich. Ich habe tatsächlich mein Portemonnaie verges­ sen, könnte mir vielleicht ­jemand aus­ helfen? Vielleicht habe ich es in Ams­ terdam liegen lassen, wo ich einst … BSC YOUNG BOYS  (schnappt sich die ­Rechnung und zückt die goldene Kredit­ karte) Lasst nur, Kinder. Der Papa macht das. Man weiss ja, wo man herkommt. FC LUGANO  (vor sich hin murmelnd) Das kann heiter werden in den nächsten Jahren.•

Am dritten Tisch sind die Teller schon leer, die Weinflasche ebenfalls. FC Sion winkt mit rudernden Armen der Bedienung und ver­ langt Nachschub. FC SION  (schüttelt den Kopf ) Es ist wirklich verdammt schwierig geworden, gutes Personal zu finden. FC ZÜRICH  Ja, man hört so einiges von dir. FC SION  Ich weiss auch nicht, was da los ist. Ich entdecke irgendwo einen ­guten Mann, hole ihn zu mir, und plötz­ lich wird der schlecht. Das ist wirklich seltsam. FC LUZERN  Ein ehemaliger Mitarbeiter von mir arbeitet ja jetzt bei dir. FC SION  Mal schauen, wie lange noch.

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Text Paolo Galli

@paolo1976galli

Eigenartiges spielte sich ab in der Challenge-­League-Saison 2010/11. Die Spitzenteams gaben mit un­erklärlichen Heim- und Kanterniederlagen einen monumentalen Vorsprung preis. ­Zweifel bleiben.

Serien, Klatschen, Wetten

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16. August 2010 Tradition vor! Zum Anfang der Spielzeit geben die beiden Klubs vom Genfersee und der FC Lugano gleich einmal den Tarif durch. In der ersten Runde schenken sie ihren bedauernswerten Gegnern je vier Tore ein, nach drei Spielta­ gen stehen sie ohne Verlustpunkte an der Spitze. In Runde 4 gerät Servette ins Strau­ cheln, die Genfer verlieren in Winterthur, während Lausanne und Lugano erneut sie­ gen. Mit einem 3:0 in Vaduz erklimmen die Tessiner die Tabellenspitze. Dante ­Senger trifft zwei Mal. Der Argentinier erinnert sich: «Es war ein super Start für uns. Wir gewan­ nen jedes Spiel überdeutlich, ich hatte nach 4 Partien bereits 7 Tore geschossen. Vor allem aber spielten wir einen grossartigen Fuss­ ball.» Der FC Lugano mit Angelo R ­ enzetti als neuem Präsidenten hat in der Sommer­ pause nur wenig verändert. Zwei, drei ge­ zielte Verstärkungen sind dazugekommen, Senger ist einer von ihnen. «Ich hatte mich sehr gut eingelebt.» Mit dem FC Vaduz rechnet zu diesem Zeitpunkt schon niemand mehr, er liegt neun Punkte hinter der Spitze. Ein Desas­ ter für die Mannschaft des Holländers Eric Orie. «Ich war damals schon sehr erfahren, deshalb beunruhigte mich das nicht so», erzählt Moreno Merenda. Der ChallengeLeague-­erprobte Zuger war als Ersatz für den

zu Thun abgewanderten Nick Proschwitz ins Ländle zurückgekehrt. Der Verein aber, so Merenda, hatte sich den Saisonstart ganz anders vorgestellt. «Wir hatten eine gute Mannschaft, die Vorbereitungsspiele mach­ ten Hoffnung. Da war das 1:4 gegen Servette jetzt nicht gerade das Gelbe vom Ei.» In Lausanne derweil hat sich eine seit Langem nicht mehr da gewesene Euphorie­ welle in Gang gesetzt. Vor wenigen Monaten ist das Team noch im Cupfinal gestanden (0:6 gegen Basel), der erste grosse Erfolg seit dem Konkurs im Jahr 2003. Der Lohn dafür: die Teilnahme an der Europa-League-Quali­ fikation. Mit Martin Rueda ist im Sommer ein neuer Trainer verpflichtet worden. «Er war der beste Coach, den Lausanne in die­ sen Jahren hatte», blickt der damalige Präsi­ dent Jean-François Collet zurück. Dem Team gelingt im August tatsächlich die Sensation.

KEYSTONE/Karl Mathis

D

ie Challenge League, im religiösen Sinn eine Art Fegefeuer, durch das schon viele Traditionsklubs gehen mussten: Zürich, St. Gallen, Luzern, Sion. Der Gang durch die Zweitklassigkeit soll für sie eine kathartische Wirkung haben. Frei von Ballast, getragen vom euphorischen Reiz des Neuen und dem Nimbus, soll ihnen die Fuss­ ballprovinz zur Kur dienen. Verweilen wol­ len sie dort aber nur vorübergehend. Aufstieg heisst ihr Ziel selbstredend zu jedem Sai­ sonstart. Oft sind es gleich mehrere gefallene Grössen, die sich hier ab­mühen, weshalb die Liga fast immer eine enge Kiste ist. Das zeigt auch ein Blick auf die Tabellenlage der aktu­ ellen Spielzeit, in der bereits Totgesagte zur Winterpause wieder Aufstiegsträume hegen. In der Saison 2010/11 schickten sich gleich drei Granden des Schweizer Fuss­ balls an, wieder ins Oberhaus zurückzu­ kehren: Servette (17 Meistertitel, seit 2006 in der Challenge League), Lausanne (7, seit 2006) und Lugano (3, seit 2004) – alle hatten sie in den Jahren zuvor wegen finanzieller Probleme gar im Amateurfussball spielen müssen. Und auch Vaduz – zwei Jahre zu­ vor abgestiegen – wollte schleunigst wieder nach oben. 16 Mannschaften umfasste die Liga damals noch, wie heute stieg der Erste direkt auf, der Zweite erhielt die Chance über die Barrage. Es wurde die verrückteste Challenge-­League-Saison überhaupt, ge­ prägt von unglaublichen Siegesserien und unerklärlichen Pleiten. Ein Rückblick auf den Wahnsinn in sechs Spieltagen.


Als Zweitligist schaltet die Elf um Captain Fabio Celestini Lokomotiv Moskau aus und zieht in die Gruppenphase ein. Collet: «Es war für uns keine Belastung, wir tankten viel Selbstvertrauen, die Reisen schweissten uns zusammen.» 1. FC Lugano

4

12:1

12

2. Lausanne-Sport

4

11:1

12

3. Servette FC

4

10:5

9

14. F C Vaduz

4

4:10

3

7. Dezember 2010 Winterpause – Liechtenstein Fürst! Niemand hätte im August auch nur einen Rappen darauf gewettet – ums Wetten wirds später auch noch gehen –, dass der Win­ termeister dieser Challenge-League-Sai­ son aus Vaduz kommen würde. Elf (!) Par­ tien in Folge gewinnt die Orie-Elf bis dahin, angeführt von einem magistralen Moreno ­Merenda, der etwa in Delémont gleich vier Mal trifft. «Ich weiss auch nicht, wie uns ge­ schah. Plötzlich kamen wir in Fahrt, traten als Einheit auf.» Eric Orie habe seinen Anteil daran gehabt. «Er war kein typisch hollän­ discher Trainer. Das Rezept waren lange Bälle auf mich, die ich dann irgendwie

ab­legen sollte. Ganz die englische Art. Die Gegner hatten damit grosse Mühe.» Die letzte Runde vor der Pause geht nicht geordnet über die Bühne. In der West­ schweiz liegt zu viel Schnee, die Partien von Lausanne und Servette müssen in den Früh­ ling verschoben werden. Im Rheintal dage­ gen stimmen die Bedingungen, vor allem für Vaduz. Mit dem 3:0 gegen Winterthur legen sich die Liechtensteiner ein dickes Winter­ polster zu. Servette wiederum kann ein wei­ teres Jahr in der Zweitklassigkeit planen – so denkt man zumindest. 1. FC Vaduz

15 39:18

36

2. Lausanne-Sport

13 30:14

29

3. FC Lugano

13

28:9

28

4. Servette FC

14 30:12

26

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18. April 2011 Lugano macht die Zwölf voll Vaduz wird im ersten Rückrundenspiel vom FC Lugano mit 2:1 besiegt. Eine Serie endet, eine noch erstaunlichere nimmt ihren An­ fang. Am 15. April, die Saison geht in den Endspurt, bedeutet das 2:0 der Bianco­neri über Chiasso den zwölften (!) Voll­erfolg in Folge. Angelo Renzetti kullern vor Freude die Tränen herunter. «Wir vollbringen ge­ rade Unglaubliches!» Für einmal sind die Gedanken nicht beim undank­baren Publi­ kum im Cornaredo, das Trainer Marco Schällibaum zuvor so richtig auf die Palme gebracht hat. Nach dem vorangegangenen Spiel gegen Yverdon sagt der Zürcher: «Ich bin schwer enttäuscht. Wir haben nun elfmal hinter­einander gewonnen, und sie sind noch ­immer nicht zufrieden.» Auch Dante ­Senger hat die Lugano-Fans als sehr fordernd ken­ nen gelernt. «Die gaben sich nicht mit einem 1:0 zufrieden!» In nicht einmal zwei M ­ onaten hat Lugano sich nun e­ inen Vorsprung von 14 Punkten auf den Nicht-Barrage-Platz er­ spielt. Bei noch sieben verbleibenden Spie­ len. Es scheint gelaufen, es ist gelaufen, es muss gelaufen sein. Denn das einst so souveräne Vaduz hat sich plötzlich unfassbare Aussetzer geleistet. Nach einem enttäuschenden Remis in der Runde zuvor stellt Trainer Orie sein Team um. Die Neuen agieren gegen das ambitions­ lose Stade Nyonnais aber «merkwürdig», wie es die lokale Presse umschreibt. Roland Schwegler lässt sich mehrfach abschütteln, Reto Zanni überrascht mit fehlerhaftem Stel­ lungsspiel und ihm missraten einfachste Be­ freiungsschläge. Peter Jehle, damals im Tor der Liechtensteiner, erinnert sich: «Es war nicht so, dass wir uns schon als Aufsteiger gesehen haben und uns haben gehen lassen. Aber wir hatten ein schmales Kader, und die Kräfte schwanden, auch weil uns der Kondi­ tionstrainer sehr hart rangenommen hat.» Die beiden Westschweizer sind da längst zurückgebunden. Einzig Martin Rueda glaubt trotz Rückschlägen noch an

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den Aufstieg. Präsident Collet berichtet von einem Vorfall in der Kabine nach dem ver­ lorenen Aarau-Match. «Es gab eine sehr hit­ zige Diskussion. Ich habe da Dinge gesagt, die Rueda und seinem Staff gar nicht gefie­ len. Alex Kern, damals Assistent von Rueda, sagte mir, sie würden mir das Maul stopfen und nun alle Spiele bis zum Ende gewinnen. Ganz ehrlich: Ich hielt das nicht für mög­ lich.» Aber was war denn schon unmöglich in dieser irren Spielzeit? 1. FC Lugano

23 49:17

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2. FC Vaduz

23 53:29

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3. Servette FC

23 51:23

44

4. Lausanne-Sport

23 44:25

44

8. Mai 2011 Renzetti gegen Schälli Man kann nicht immer gewinnen. Das müs­ sen auch die Tessiner erfahren. 5200 Zu­ schauer – nur ein Lugano-Heimspiel hatte in der Challenge-League-Zeit mehr Volk an­ gelockt – sind ins Cornaredo gekommen, um einen weiteren Dreier ihres Teams gegen Stade Nyonnais zu feiern und sich auf die Aufstiegsfeier einzustimmen. Das 1:2 kann als Ausrutscher abgetan werden, doch bald danach bricht Panik aus. Auch gegen Winter­ thur und Aarau bleiben die Bianco­neri näm­ lich ohne Punkte. Präsident ­Renzetti, der sei­ nen Trainer längst in der Presse angezählt hat, feuert Marco Schällibaum. «Er hat leider gewonnen», kommentiert der Zürcher seine Entlassung. Es sei persönlich geworden. Den tollen Fussball, den guten Teamgeist, alles habe der Präsident kaputtgemacht. «Ren­ zetti ist Luganos Grundübel.» Doch auch Vaduz kann sich nur im Auf­ stiegsrennen halten, weil sich die Konkur­ renten gegenseitig Punkte stibitzen. Die Ten­ denz im Ländle zeigt jedenfalls nach unten. «Unser Spiel funktionierte in der Rückrunde nicht mehr», sagt Moreno Merenda. «Das lag

auch daran, dass Eric Orie uns mehr trainie­ ren liess – mit dem Ergebnis, dass wir schon in der Winterpause viele Verletzte zu bekla­ gen hatten.» Ende April erwischt es auch zwei Leistungsträger: Goalie Jehle fällt für die letzten entscheidenden Spiele verletzt aus, und auch für Merenda, elffacher Tor­ schütze, ist die Saison nach einem Innen­ bandriss vorbei. «Für den Schlussspurt hatte ich kein gutes Gefühl.» Es sei hart gewesen, den Kollegen zuzuschauen, sagt auch Jehle. «Unsere Spielweise war wohl zu sehr auf die Spieler ausgerichtet, die nun fehlten.» Auf den Einbruch der beiden Spitzen­ teams angesprochen, meint Lausannes ExPräsident Collet heute: «Es war schon selt­ sam.» Das gebe es manchmal, dass die einen nur deshalb eine Siegesserie hinlegen, weil bei der Konkurrenz gerade der Baum brennt. In dieser Phase hätten Vaduz und Lugano den Druck von Lausanne gespürt. Die Waadtländer gewannen drei Mal in Folge, Servette tat es ihnen gleich. Die werden doch nicht etwa …? 1. FC Lugano

26 49:17

58

2. FC Vaduz

26 53:29

56

3. Servette FC

26 51:23

53

4. Lausanne-Sport

26 44:25

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16. Mai 2011 Trau, schau, wem Was auch immer sich Renzetti vom Trainer­ wechsel erhofft hat, erfüllt sieht er es nicht. Unter Roberto Morinini ist der FC Lugano nur mehr ein Trümmerhaufen. Eine Wo­ che zuvor hat man gegen Abstiegskandi­ dat Winterthur drei Gegentore in der letz­ ten Viertelstunde gefangen, nun verlieren die Bianconeri gleich mit 0:6 zu Hause ge­ gen Servette. Nach dieser eigenartigen Kan­ terniederlage vermuten Fans und Medien, dass irgend­etwas nicht mit rechten Dingen zu- und hergehe. Ein Verdacht, der nicht von irgendwo kommt: Im Zuge der Ermittlungen


CHALL E N G E - L E A G U E - S a i s o n 2 0 1 0 / 1 1

In den beiden Vorsaisons kam es in 22 Challenge-­ LeaguePartien zu Manipula­ tionen. ­ egen den Wettpaten Ante Šapina ist heraus­ g gekommen, dass es in 22 Challenge-LeaguePartien der beiden vorangegangen Spiel­ zeiten zu Manipulationen gekommen war. Und nun ­zitiert der «Corriere del Ticino» anonym e­ inen Lugano-­Spieler mit den Wor­ ten: «Da ist ­etwas faul in dieser Garderobe.» Der Verdacht des Wettbetrugs steht im Raum. Dante Senger sagt dazu heute: «Das Team war eine verschworene Einheit, auch in die­ ser schwierigen Phase.» Dass irgendjemand gegen die Kollegen gespielt habe, könne er sich schlicht nicht vorstellen. Bei der Klat­ sche gegen Servette sei man einfach nicht parat gewesen. «Wir waren schon am Ende.» Den ­Tifosi bleiben nur ganz viel Zweifel und eine noch grös­sere Portion Wut. Vaduz erlebt derweil ebenfalls das nächste Debakel. «Die Zeit zum Taktieren sowie das Schauen auf andere Teams sind vorbei», hat Trainer Orie angekündigt. Und so stürmt sein Team ohne Taktik ins Ver­ derben und wird vom FC Wohlen aus dem Niemandsland der Tabelle gnadenlos aus­ gekontert. Halbzeitstand im Rheinpark: 0:1, Schlussresultat: 0:5. Merenda: «Diesen Match haben wir eigentlich gar nicht gespielt. Wir waren nichts mehr.» Für die schlechte Vor­ bereitung habe man nun teuer bezahlt. Während die dominierenden Teams dieser Saison nicht einmal mehr Pflicht­ aufgaben erfüllen, gelingt Lausanne nun schlicht alles. Das Spiel im Cornaredo wird zum Spiel der letzten Chance. Lugano führt lange, dann drehen Silvio und Moussilou mit einem Doppelpack die Partie in den letz­ ten 20 Minuten. «Moussilou!», ruft Präsident Collet in den Hörer. An Weihnachten habe er den verpflichtet, zusammen mit Thierno Bah. «Rueda wollte beide nicht. Aber als er in Dubai in den Ferien war, habe ich sie dann

einfach eigenhändig verpflichtet.» Rueda habe sich teuflisch genervt. Doch am Ende macht der Kongolese den Unterschied. Lau­ sanne stürmt die Tabellenspitze, nachdem man die ganze Rückrunde selbst von einem Barrageplatz weit entfernt gewesen ist. Weil Servette gegen das akut abstiegsbe­ drohte Locarno 2:3 verliert, geht man davon aus, dass zumindest einer der Krisenklubs Lugano und Vaduz sich ein Barrageticket sichert. Schliesslich sind ja nur noch zwei Runden zu spielen. 1. Lausanne-Sport

28 61:28

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2. FC Lugano

28 53:33

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3. FC Vaduz

28 57:39

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4. Servette FC

28 70:27

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21. Mai 2011 Welsch ein Finale «Hast du Scheisse am Fuss, hast du Scheisse am Fuss», umschrieb einst Andreas Brehme die Auswirkungen einer Negativspirale. Fünf Mal in Folge hat Lugano schon verloren und empfängt nun in der vorletzten Runde Woh­ len. Jeder der damals Anwesenden im Corna­ redo kann bezeugen, dass die Aargauer den Gastgeber eigentlich geradezu zum Tore­ schiessen einluden, so wenig Gegenwehr leisteten sie. Und trotzdem schaut nur ein 1:1 heraus. Nach dem Schlusspfiff kommt es zu Ausschreitungen. «Die Meisterschaft ist verloren, wir haben alle ver­loren», wehklagt Renzetti danach. «Ich hätte früher reagieren müssen, ich habe es doch kommen sehen.» Der FC Vaduz muss gleich zwei Dämp­ fer verkraften: Erst lehnen die SFL-Klubs den Antrag ab, wonach die Liechtenstei­ ner zu gleichen Konditionen weiter in der Schweizer Liga mittun dürfen, abends dann schrumpfen die Aufstiegshoffnungen nach einem 0:2 auf der Pontaise auf einen küm­ merlichen Rest. Ganze acht Fans sind mit­ gereist. Auch Servette, das die ganze Saison nie auf Platz 1 gestanden hat, zieht damit an

den Liechtensteinern vorbei. Den Schluss­ spurt der Romands würdigt der «Sonntags­ Blick» mit dem schönen Titel: «Welsch ein Finale!» In der letzten Runde haben die West­ schweizer Klubs alles selber in der Hand. Siege in den jeweiligen Auswärts­spielen würden Lausanne nach oben und Servette in die Barrage bringen. Vier ­Wochen zuvor lagen sie noch 14 Punkte von der Tabellen­ spitze entfernt. Am Mittwoch, dem 25. Mai, um 19:30 beginnt das letzte Zittern. Lausanne und ­Vaduz legen früh vor, mindestens so ge­ bannt verfolgen die Fans aber das Gesche­ hen auf den anderen Plätzen. Lugano ge­ rät gar in Rückstand gegen Delémont, und Servette bekundet grosse Mühe mit dem be­ reits abgestiegenen Yverdon. Doch in der Schlussphase drehen die Favoriten noch auf. Lugano hilft der Sieg indes nichts. Lau­ sanne ist nach acht Jahren Absenz zurück im Oberhaus. Collet kann seinen Enthusiasmus noch heute nicht verbergen: «Diese Tage ge­ hören zu den schönsten meines Lebens.» Nie hätte er gedacht, dass sich noch alles so zum ­Guten wenden würde. Dante Senger, immerhin 17-facher Tor­ schütze, ist die Saison mit desaströsem Aus­ gang in schlechtester Erinnerung geblieben. Immerhin: Der FC Lugano findet vier Jahre später sein Super-League-Glück doch noch, Senger selber steigt 2013 mit dem FC Aarau auf. «Die Guten finden immer auf den rech­ ten Weg», philosophiert er, der später auch noch für Xamax stürmte. Servette setzt sich in der Barrage ge­ gen Bellinzona durch (0:1 und 3:1), Präsident ­Majid Pishyar darf sein berühmtes «I did it!» in die TV-Kameras schreien. Zusammen mit den Tessinern steigt auch der FC ­St. ­Gallen ab. Runter ins Fegefeuer der Challenge League. Manchmal kann dies echt die Hölle sein.• 1. Lausanne-Sport

29 63:28

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2. Servette FC

29 73:27

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3. FC Lugano

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4. FC Vaduz

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SCHWEIZER

AUSLAND

Strassenköter Martin Steuble hat im Heimat­ land der Mutter seine Berufung gefunden. Auf den Philippinen kämpft er als Nationalspieler un­ermüdlich gegen ­Unfähigkeit und Korruption.

Text Mämä Sykora

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imago/Xinhua

W

ir sind im März 2009: In der 65. M inute im Letzigrund zieht Xamax-Youngster Martin ­Steuble aus 25 Metern ab. Ausgleich zum 1:1, unhaltbar für GC-Goalie Jakupovic. Es ist der erste Treffer im Profifussball für den 20-jäh­ rigen Stürmer. Es ist April 2014: ein Freundschaftsspiel in Katar gegen Nepal. Nach 32 Minuten läuft Martin Steuble in eine perfekte Flanke und nickt zum 2:0 ein. Es ist das erste Länder­ spieltor für den im Mittelfeld auflaufenden 25-Jährigen, der das Trikot der Philippinen trägt. Juli 2018: In Manila gewinnt Ceres-Neg­ ros gegen Global Cebu gleich mit 6:1. Das ist gleichbedeutend mit dem Meistertitel. Den Pokal entgegen nimmt der 30-jährige Cap­ tain von Ceres, der als Linksverteidiger auf­ läuft. Sein Name: Martin Steuble, geboren und aufgewachsen in Schlieren bei Zürich. In der Heimat hat man den Sohn eines Schweizer Vaters und einer philippinischen Mutter offenbar ein bisschen vergessen. Kürzlich forderte die «Limmattaler Zeitung» ihre Leser auf, die besten aktiven Spieler aus der Region zu wählen. Steuble landete auf Platz 5, abgeschlagen hinter einem gewissen Thomas Jenny vom FC Urdorf. Bei allem Res­ pekt für den 2.-Liga-Fussballer Jenny: Martin Steuble ist doch immerhin Nationalspieler und wird demnächst an der Asienmeister­ schaft, für die sich die Philippinen erstmals qualifiziert haben, gegen Südkorea und China auflaufen. Wir erreichen ihn am Tele­ fon – und hören ihn erst mal fluchen. «Der philippinische Verband ist schlicht unfähig», sagt er. Die Liga ist bereits been­ det. Seit vier Wochen ist Steuble nun mit der Nationalmannschaft unterwegs. Es läuft die Südostasienmeisterschaft, die Philip­ pinen stehen im Halbfinal. Und das heisst: sehr viele Reisen, nach Osttimor, Indonesien, Viet­nam. «Was wir alles schon erlebt haben!», beginnt Steuble. Trainingsplätze ohne Licht, kein reserviertes Hotel, furchtbares Essen oder ein Bus, der mitten auf der Strecke den Geist aufgibt. «Die Vorbereitung ist katastro­ phal. Würde nicht die Asienmeisterschaft be­ vorstehen, wären wohl zwei Drittel der Spie­ ler längst abgereist.»


Es ist eine ungewöhnliche Karriere, die Martin Steuble hierher verschlagen hat. Der GC-Junior gibt 2008 sein Profidebüt bei ­Xamax. Ohne Vertrag und Lohn spielt er für die Neuenburger, danach bekommt er bei GC einige Einsätze. Bei Lausanne in der Challenge League trägt er zu einer kleinen Sensation bei, als die Waadtländer sich für die Europa League qualifizieren. Bei Wohlen und Wil ist er in der Folge Stammspieler, in diese Zeit fällt auch jener Anruf, der sein Le­ ben verändert hat: Er wird für die philippi­ nische Nationalelf aufgeboten. ­Azkals wird sie genannt, die Strassenköter, weil sie ebenso wenig beachtet wird wie die streu­ nenden Hunde auf den Strassen Manilas. Die internationale Nationalmannschaft «Das Scouting nach potenziellen Natio­nal­ spielern auf der ganzen Welt ist auf den Phi­ lippinen sehr ausgeprägt», erklärt S ­ teuble. Entsprechend international sieht das Kader auch aus. Seine Mitspieler bei den Azkals heis­sen Reichelt, Strauss, Ott, Younghusband oder Falkesgaard. In Asien aufgewachsen sind nur vereinzelte. ­Steuble hat sich selber beim Verband gemeldet, der Kontakt lief über Pascal Zuberbühler, der dort als Goalie­trainer tätig war. Die Heimat seiner Mutter sieht Steuble zum ersten Mal als Nationalspieler. «Zuvor hat es sich einfach nie ergeben.» In der kleinen philippinischen Fussball­ familie hinterlassen Steubles erste Auftritte Eindruck. Als dessen Vertrag bei Wil aus­ läuft, er aber danach in der MLS bei Kansas City kaum zum Zug kommt, liegt ihm, da­ mals 26, eine Offerte des philippinischen Klubs Ceres-Negros vor. «Ich wusste, ein Messi würde ich nicht mehr werden», lacht Steuble. Darum habe er die Herausforde­ rung gerne angenommen. Eine ziemliche Umgewöhnung sei es schon gewesen. Sämt­ liche Ligaspiele haben im gleichen Stadion in Manila stattgefunden, man habe sich an der Seitenlinie einlaufen müssen, während die Konkurrenz noch spielte. Mittlerweile setzte der asiatische Fussballverband durch, dass eine richtige Meisterschaft mit Heimund Auswärtsspielen ausgetragen wird. Ein grosser Fortschritt, denn eine nationale Liga existiert noch keine zehn Jahre.

Bacolod, die Heimatstadt des amtieren­ den Meisters Ceres-Negros, gilt als Fussball­ hochburg des Landes. Sogar eine kleine Ultra-­Gruppierung gebe es. Das könne man allerdings nicht vergleichen mit Thailand oder Vietnam, wo Fussball allgegenwärtig sei, sagt Steuble. Nur selten werde er in Baco­ lod für ein Foto angehalten, in Manila erst recht nicht. «Basketball ist hier die Nummer eins, da sind die Hallen voll. Auch Boxen und Volleyball sind beliebt», so der 30-Jäh­ rige. Die Fussballstadien im 100-MillionenEinwohner-Land sind aber weitgehend leer, obwohl die Fans nur auf sechs Teams auf­ geteilt werden müssen. Mehr Mannschaf­ ten gibt es nicht in der Philippines Foot­ ball League. Auch im Klub hat Steuble fast keine Mitspieler, die hier aufgewachsen sind. Publi­kumsliebling Stephan Schröck etwa spielte lange in der Bundesliga, ­Goalie ­Roland ­Müller stand für Servette im Tor. Anfangs seien es bei Ceres noch mehr Einheimische gewesen, so Steuble. Doch als das Niveau stieg, war bald kein Platz mehr für sie. Technisch seien einige von ihnen ganz gut gewesen, aber dass sie keine takti­ sche Schulung genossen hätten, sei augen­ fällig gewesen. «Das ist ein Problem. Denn es gibt keinen Nachwuchs, und ein Umbruch ist dringend nötig. Auch unsere National­ mannschaft ist überaltert.» Hinzu kommt, dass viele, die schon länger dabei sind, lang­ sam die Nase voll haben von der Inkompe­ tenz des Verbandes. Mal spiele man eine ­Woche nicht, dann stünden plötzlich drei Spiele in Folge an. «Manchmal kriegt man abends per Whatsapp mitgeteilt, dass man am kommenden Morgen für eine Auswärts­ partie abfliege», erzählt der Captain. Für ihn als Single sei dies kein Problem, aber für seine Mitspieler, die Familie haben, alles an­ dere als optimal. Wann die neue Saison be­ ginne, ob im Februar, im März oder doch erst im April, wisse man übrigens bis heute nicht. Ceres ist klar die Nummer eins im Land. Zu verdanken ist dies seinem Be­ sitzer, der mit einem Transportunterneh­ men zu Reichtum gekommen sei. «The Bus­ men» lautet denn auch der Spitzname des Teams. Der medienscheue Unternehmer be­ zahlt alles aus dem eigenen Sack, denn ohne

Vor­bereitung mit der ­National­elf heisst: Trainings­plätze ohne Licht, kein reserviertes Hotel, ­furcht­bares Essen.

Zuschauer, Sponsoren oder TV-Gelder gene­ riert der 2012 gegründete Klub kaum Einnah­ men. Der Lohn sei dennoch «deutlich bes­ ser» als in der Challenge League, sagt Steuble. Dank der erfahrenen Spieler aus Europa setzte Ceres auch auf kontinentaler Ebene zu Höhenflügen an. In der Qualifikation für die asiatische Champions League schaltete man Anfang Jahr sensationell ­Brisbane Roar aus – und scheiterte danach auch am Unver­ mögen der Funktionäre. Weil niemand mit einem Weiterkommen gerechnet hatte, wur­ den keine Visa für China beantragt, wo der nächste Gegner ­Tianjin wartete. So konnte die Mannschaft erst am Spieltag anreisen, erlebte einen Temperatur­unterschied von 40 Grad und verlor gegen das Team um Axel Witsel und Anthony ­Modeste mit 0:2. Pleitier als Geldgeber «Die Gesellschaft hier ist nun mal korrupt», meint Steuble. Die Verbandsspitze bestehe ausnahmslos aus Geschäftsleuten, die sich gegenseitig Aufträge zuschanzen. So habe etwa der Teammanager der National­ mannschaft ein Vermögen angehäuft, mit dem er die Azkals finanzierte. Nach einem Präsidenten­wechsel blieben die Aufträge aus, nun sei dem Teammanager das Geld ausge­ gangen, er sei aber zu stolz, um von seinem

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A u s lan d s c h w e i z e r – M a r t i n S t e u b l e

Martin Steuble

* 9. Juni 1988 in Schlieren Spiele Tore 2008–2009 Neuchâtel Xamax 5 1 2009–2010 Grasshoppers 9 1 2010–2011 Lausanne-Sport 18 3 2011–2012 FC Wohlen 31 5 2012–2014 FC Wil 57 4 2014 Sporting Kansas City 3 3 2015– Ceres-Negros FC 93 5 Länderspiele 2014– Philippinen

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Posten zurückzutreten. Die Leidtragenden sind die Nationalspieler, die unmögliche Bedingungen vorfinden und dennoch nahe am Ziel sind, endlich in die Top 100 der FIFAWeltrangliste vorzustossen. Noch schlimmer

treffe es aber die übrigen Angestellten wie Physios und Platzwarte, die oft nicht einmal ihren spärlichen Lohn bekämen, worauf die Nationalspieler aushelfen. Sven-Göran der Alte Steuble kritisiert die Zustände seit Langem. Zwei Jahre lang blieb er den Azkals fern, weil er «Lämpen» mit dem Verband hatte. Kürz­ lich verschaffte er seinem Ärger in einem TV-Interview Luft, weil kurz vor einer wich­ tigen Partie im AFC-Cup – dem asia­tischen Pendant zur Europa League – das Meister­ schafts-Spitzenspiel angesetzt worden war. Dafür bekam er eine Vorladung und wurde mit umgerechnet 600 Franken gebüsst. Zu­ rückhalten will er sich aber auch fortan nicht: «Ich habe jeden Respekt vor den Funk­ tionären hier verloren.» Mit seinem Stan­ ding kann er sich das erlauben. Auf den Links­verteidiger kann auch der neue Natio­ naltrainer nicht verzichten. Das ist niemand Geringeres als Sven-Göran Eriksson. «Ein lie­ ber Typ, ist mit Herz und Seele dabei. Aber alt geworden ist er …», sagt Steuble. Der Schwede beerbte den früheren englischen Abwehr­recken Terry Butcher, der noch vor

seinem ersten Spiel entnervt zurück­getreten war. Der sportliche Aufschwung der Azkals geht an der Bevölkerung weitgehend vorbei. Für die Heimspiele wird keine Werbung ge­ macht, die Partien sind nicht einmal im TV zu sehen. Dass mehrheitlich «Ausländer» auslaufen, stört vor allem die Gegner aus Indo­nesien und Thailand, die keine Gelegen­ heit auslassen, deswegen zu sticheln. Einen Fussballer von Weltformat brachte das Insel­ reich nur einmal hervor: Paulino Alcántara, nach dem der nationale Cup benannt ist. Vor 100 Jahren spielte dieser für den FC Barce­ lona, sein Rekord von 369 Toren wurde erst von Lionel Messi gebrochen. Bei allem, was im philippinischen Fuss­ ball schiefläuft, ist Martin Steuble sehr zu­ frieden in seiner neuen Heimat: «Mir behagt die philippinische Art und Lebensweise sehr. Das passt mir viel besser als in der Schweiz, wo alle nur an die Arbeit denken.» Sogar für den Fussball ist er vorsichtig optimistisch. Vielleicht entstehe ja etwas Neues, wenn seine Generation dereinst abtrete. Und dann fügt er doch noch an: «Ausser der Verband ist involviert. Dann wird es scheitern.»•

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Au swä rtsfahrt

Text und Bild Jens Seffner

Bei den wilden Garnelen Wer mit dem Auto in Guatemala unterwegs ist, muss angesichts der vielen Schlaglöcher reaktionsschnell sein. Und nicht ­wählerisch bei der Auswahl des Radioprogramms: Hier findet man nämlich vor allem religiöse Programme, bei denen sich Predigten und christliche Musik abwechseln. Was irgend­ wie nicht recht zu den vielen Motels passen will, die mit vielen Herzen und rotem Licht um Kunden werben. Iztapa liegt an der Pazifikküste und ist ein kleines Fischerstädtchen. Was male­ risch klingt, ist es wahrlich nicht: Häu­ ser stehen schief aneinander, der Schwarz­ sandstrand ist völlig verschlickt, und es ist unangenehm schwül und heiss. Das Esta­ dio Municipal Morón liegt mitten im Ort. Es empfehle sich, früh hinzugehen, rieten uns Einheimische. Das nahmen wir uns zu Her­ zen und waren schon 90 Minuten vor An­ pfiff der ­Partie gegen den Hauptstadtklub CSD Municipal vor Ort – und damit schon viel zu spät! Das winzige Stadion war schon rappelvoll. Um das Spielfeld, das kaum die Mindestmasse aufweist, ziehen sich Mauern und Zäune. Hinter dem einen Tor steht nur eine von Palmen umgebene Anzeige­tafel, auf den anderen Seiten Stahlrohrtribünen, eine Ehrenloge und – natürlich – eine Kir­ che, aus ­deren Gängen man die Partie ver­ folgen kann. Auf dem Stadiongelände gibt es übrigens noch eine weitere Kirche. Wer kei­ nen Sitzplatz auf einer Tribüne findet, sucht

sich ein Plätzchen auf den Dächern der um­ liegenden Häuser oder klettert auf die als Sichtschutz gedachte Mauer. Schon vor dem Anpfiff ist es nicht mehr möglich, sich zu bewegen. Obwohl es nur ­einen Ein- und Ausgang gibt, haben irgend­ wie 2500 Leute Platz gefunden, 1000 mehr, als es sein dürften. Dass heute so ein Andrang herrscht, ist eher den Gästen geschuldet. CSD Municipal ist Rekordmeister und belieb­ tester Verein des Landes, Iztapa erst letzte Saison aufgestiegen. Das Heimteam nennt sich auch «La Furia Camaronera», die wil­ den Garnelen. Das passt ausgezeichnet zum grossartigen kulinarischen An­gebot hier. Es gibt Meeresfrüchte mit Weissbrot, Chorizo

DEPORTIVO IZTAPA – CSD MUNICIPAL 1:0 LIGA NACIONAL DE GUATEMALA, 16. SPIELTAG, 27. OKTOBER 2018, ESTADIO MUNICIPAL MORÓN, 2500 ZUSCHAUER

und Tortillas. Unglaublich, wie viel besser Stadionessen in Guatemala im Vergleich zu den meisten anderen Ländern schmeckt! Das Spiel ist ziemlich gut, bis zur Halb­ zeit fallen keine Tore, und zum Glück hat es auch keine strittigen Szenen gegeben. Was dann passieren kann, haben wir kurz zuvor bei einem anderen Ligaspiel erlebt. Da ver­ zog sich das Schiedsrichterkollektiv in der

Pause ins kleine Garderobenhäuschen. Die Metalltür war zwar verschlossen, aber einige Fans nutzten die Gelegenheit, um 15 Minu­ ten lang gegen die Tür zu poltern und aller­ lei Beschimpfungen loszulassen. Nach einer Stunde geschieht das Un­ glaubliche: Der Underdog geht nach einem Flachschuss aus kurzer Distanz in Führung. Der Jubel ist gross, sogar einige Farbtöpfe in den Klubfarben Rot und Blau werden ab­ gefeuert. Der Vorsprung wird offensiv ver­ teidigt, was den Fans offensichtlich grösste Freude bereitet. Nach dem Spiel holen wir unser Auto, das wir wie viele andere gegen ein kleines Entgelt im Vorgarten der Nach­ barn abgestellt haben, und machen uns auf nach Quetzaltenango. 220 Kilometer über Schlaglochpisten und Strassenüberflutun­ gen in dichtem Nebel. Das nächste Spiel wartet.

Da s gr osse ZW ÖLF-Quiz ZWÖLF präsentiert in jeder Ausgabe eine anspruchsvolle Frage, für die einschlägige Internetsuchportale mit einer einfachen Abfrage keine brauchbaren ­Resultate l­ iefern. Wer hier reüssiert, darf sich mit Recht zum erlauchten Kreis der Fussballkenner zählen. Frage:

Ein Schweizer und ein brasilianischer Stürmer waren hierzulande, nicht zeitgleich, beim gleichen Verein aktiv. Danach führte die Karriere beide ins gleiche Land, wo beide Torschützen­ könig wurden; der Schweizer mit einem Verein, der Brasilianer gar mit zwei. Bei all diesen vier betreffenden Klubs stand ein einstiger Schweizer Nationalstürmer unter Vertrag. Wie heisst er?

Wer die Lösung weiss, gewinnt mit etwas Glück das brandneue «ZWÖLF-Lesebuch».

Die Lösung der letzten Ausgabe:

Günter Netzer Gewonnen hat: Raphael Dick aus Gümligen Mitmachen geht so:

E-Mail mit der Lösung an ­wettbewerb@zwoelf.ch Einsendeschluss ist der 5. Februar 2019.

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K n app da n eben

S m al ltal k von PASCAL CLAUDE

Macht und Verantwortung «Wir aus dem Osten gehn immer nach vorn» – so selbst­ bewusst beginnt Nina Hagen ihre Ode an Eisern Union, harmonisch angelehnt an die sowjetrussische National­ hymne des Komponisten Alexander Alexandrov. Und sie lässt nicht nach im Verlauf der Strophen: «Wer lässt Ball und Gegner laufen? Eisern Union! Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union!» Ungewöhnlich an­ griffig und schrill, ragt das 1998 veröffentlichte Vereins­ lied aus dem Meer an einfallslosen Fussballsongs heraus. «Immer nach vorn!» Zwanzig Jahre nach Nina Hagens musikalischem Wurf geht der Verein aus Berlin-Köpenick erneut ­voran. Mit einem Massnahmenkatalog skizziert er nicht weniger als die Zukunft des deutschen Profifussballs. Nebst der Sorge um den sportlichen Wettbewerb in der 1. Bundes­ liga und die internationale Konkurrenzfähigkeit deut­ scher Vereine treibt die Berliner auch die Frage um, wie der zunehmenden «Entfremdung zwischen wichtigen Interessengruppen» begegnet werden soll. Will heis­ sen: Was ist zu tun, wenn wir nicht wollen, dass sich die Fans noch stärker gegen die Entwicklungen im bezahl­ ten Fussball auflehnen. Der 1. FC Union Berlin will, dass die Fans künftig in­ stitutionell mitreden. Das ist eine revolutionäre Forde­ rung: in Richtung von Liga und Vereinen, vor allem aber auch in Richtung Fans. Denn bis heute kennt das Spiel andere Regeln: Mitsprache geschieht punktuell, meist nach Eskalationen, also unter denkbar schlechten Vor­ zeichen, und in aller Regel scheitert der Dialogversuch. Die anschliessenden gegenseitigen Schuldzuweisungen sind auf beiden Seiten zum willkommenen Ritual gewor­ den. Damit soll Schluss sein. Was Union in der Erläuterung der vorgeschlagenen Massnahmen ausspricht, war bis jetzt nur aus Fankreisen zu hören: Der Fussball habe sich wesentlich nach jenen zu richten, die im Stadion die Basis dafür legen, dass ein Spiel überhaupt wirksam vermarktet werden kann. Da­ mit erhalten die Fankurven ein Gewicht, das sie für sich schon lange reklamieren. «Wir engagieren uns seit 30 Jahren für den SK Rapid. Unser Einfluss ist nicht grenzenlos, aber er ist zu Recht gross», wurde ein Ultra von Rapid kürzlich im öster­ reichischen Magazin «ballesterer» zitiert. Aussagen wie diese werden in der breiten Öffentlichkeit in der Regel als anmassend empfunden. So warnte die deutsche «Zeit» unlängst in alarmistischer Aufmachung vor der Macht der Fankurve von Dynamo Dresden. Der Vorstoss der Unioner zielt darauf, diese Macht institutionell zu legiti­ mieren: Mitsprache, Mitverantwortung, Verbindlichkeit. Die Idee ist gut, doch ist die Welt bereit dafür? Ultras – und sie meint, wer vor der «Macht der Kurve» warnt – bil­ den sich viel ein auf Unabhängigkeit und Narrenfreiheit. Sie dürften froh sein, hält sich die Euphorie über den Vorstoss von Eisern Union bis jetzt in Grenzen. 66

Vor einem Heimländerspiel im Ausland übernachten zu müssen, das passiert nicht vielen Nationalmannschaften. Den Liechtensteinern blieb vor der Nations-League-Partie gegen Mazedonien im Novem­ ber aber nichts anderes übrig. Weil das Schweizer Fernsehen für die Sendung «SRF bi de Lüt» live aus Vaduz mit einer ­ganzen Heerschar anreiste, waren alle geeigneten Hotelzimmer im Ländle bereits belegt. Das Team von Trainer Rene ­Pauritsch musste deshalb auf ein Hotel im sankt-gallischen Wangs ausweichen. Luigi Fresco ist seit 36 Jahren Trainer von Virtusvecomp Verona und damit schon länger auf deren Bank als sein ältester Spieler auf der Welt. Gleich­zeitig ist Fresco auch Präsident des Klubs, der auf diese Saison erstmals in die Serie C und damit in den Profi­ fussball aufgestiegen ist. Die Schweiz kennt das LémanDerby, das Zürcher Derby, das Berner Derby oder das FCWDerby zwischen Winterthur und Wil. Weniger bekannt ist das Tunnel-Derby in der 1. Liga: Dabei duellieren sich mit dem FC Red Star und dem FC Wettswil-­Bonstetten zwei Vereine von den Enden des Uetliberg-Tunnels. Von den 42 Vereinen, die seit 1933 in der höchsten Schweizer Liga vertreten waren, ist der SC Zug der einzige, dem kein einziger Auswärtssieg gelang. 1984 stiegen die Zentralschwei­ zer in die Nationalliga A auf und nach einer Saison gleich wieder ab. Island, Nations-LeagueGruppen­gegner der Schweiz, erlebte seit der Qualifikation für die WM 2018 gleich reihenweise Dämpfer. Aus den 16

seither ausgetragenen Partien resultierte ein einziger Sieg (gegen Indonesien), dafür gab es 4 Remis (davon zwei gegen Katar) und 11 Niederlagen. Im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Schweizerischen Fussballverband und dem Deutschen Fussballbund er­ folgte auch ein Austausch von Schiedsrichtern. Der Bündner Renzo Peduzzi wurde drei Mal in der Bundesliga ein­gesetzt, verhängte gleich in seiner ers­ ten Partie einen Elfmeter und bei seiner letzten im Herbst 1987 gar deren drei. Peduzzi ist da­ mit der einzige Schiedsrichter, der in der Bundesliga mehr Elfmeter pfiff als Spiele leitete. Als rechter Verteidiger beim brasilianischen Zweitligisten EC Pelotas läuft derzeit John Lennon auf, voller Name: John Lennon Silva Santos. Eine Liga höher bei Vasco da Gama spielt auf dieser Position der nach einem Pokémon benannte Yago Pikachu, voller Name: ­Glaybson Yago Souza Lisboa. Einen WM-Held mit einem anderen zu ersetzen, das gelang dem indonesischen Verein Pelita Jaya FC. In der Saison 1994/95 stürmte der damals 42-jährige Kameruner Roger Milla für den amtieren­ den Landesmeister, seine Num­ mer 9 erbte in der Folgesaison der 41-jährige argentinische Torschützenkönig der WM 1978, Mario Kempes, der als Spieler­ trainer amtete.


Auf Wiederlesen!

Der Fussball ist schnelllebig? Nicht überall. In bald zwölf Jahren ZWÖLF erschienen Artikel, an denen sich die Zeit ihren Zahn ausbiss. Eine Auswahl solcher Geschichten findet sich im «ZWÖLF-Lesebuch» auf 220 Seiten, ein unverzichtbares Sammelwerk sowie eine Übersicht über Verpasstes, dessen Lektüre nach wie vor lohnenswert ist. Das «ZWÖLF-Lesebuch» gibt es jetzt für 29 Franken oder vergünstigt in Kombination mit einem 1- oder 2-Jahresabo. www.zwoelf.ch/lesebuch


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