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Handbuch Beratung

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Funktionaler Analphabetismus


Impressum Zukunftsbau GmbH Strelitzer Str. 60 10115 Berlin

Im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen (2003-2012) hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für den Zeitraum von

2008-2012 den Förderschwerpunkt

„Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Bereich Alphabetisierung/Grundbildung für Erwachsene” eingerichtet.

Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Vorhaben „AlphaZ – Grundbildung für den Beruf“ wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter den Förderkennzeichen 01AB073101, 1AB073102 und 1AB073103 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.“ (S. BNBest-BMBF 98, 6.4)

alpha.Z - Kooperationsprojekt von Zukunftsbau GmbH Strelitzer Str. 60 10115 Berlin www.zukunftsbau.de www.alpha-z.de

Humboldt Universität zu Berlin Philosophische Fakultät IV Abteilung Wirtschaftspädagogik


Inhaltsverzeichnis Vorwort

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1. Einführung - Grundbildung und Alphabetisierung

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Ausprägung von Analphabetismus Ausmaß des Analphabetismus Grundbildungsdefizite bei deutschen Erwachsenen und bei Migrantinnen und Migranten

2. Funktionaler Analphabetismus - Ursachen und Wirkungen

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Erkenntnisse über funktionalen Analphabetismus Familiäre Situation Bezugspersonen Schule Berufliche Situation Typische Verhaltensweisen Täuschungs- und Vermeidungsstrategien Hinweise auf funktionalen Analphabetismus

3. Anzeichen und Merkmale für funktionalen Analphabetismus in der Beratung Sprechen und Zuhören Lesen und Verstehen Schreiben Alltagsmathematik

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4. Hinweise und Tipps zu Beratung und Gesprächsführung

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Gesprächsvorbereitung Grundbildungsdefizite benennen Motivation schaffen - Grundbildung annehmen Begleitend beraten

5. Einschätzen von Grundbildungskompetenzen

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Die vier Kompetenzbereiche Einschätzen der Sprech-, Lese-, Schreib– und Rechenkompetenzen Adäquate Angebote

Quellenverzeichnis der Abbildungen

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Quellenverzeichnis der Zitate

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Literaturauswahl zum Thema

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Vorwort In der Beratung vereinbaren Fallmanager/innen, Arbeitsvermittler/innen und Berufsberater/innen mit den Arbeitssuchenden Integrationsziele, die sich an deren Stärken, Schwächen und Interessen sowie an den Bedingungen des Arbeitsmarktes orientieren. Auf besondere Schwierigkeiten zur Arbeitsaufnahme stoßen dabei Menschen mit Grundbildungsdefiziten.

Berater/innen können solche Defizite im Gespräch erkennen und Folgerungen daraus ziehen für mögliche Angebote, die die Vermittlungschancen für Arbeitssuchende erhöhen. Das Handbuch Beratung informiert über Grundbildungsdefizite und funktionalen Analphabetismus und gibt Tipps, um fehlende oder unzureichende Grundbildung in der Beratungssituation zu erkennen. Für eine erste Einschätzung der Grundbildungskompetenzen können die im alpha.Z Projekt entwickelten Übungen des PreCheck Tool genutzt werden, die beispielhaft in das Kapitel 5 integriert sind. Das Angebot, das mit dem Handbuch Beratung und dem PreCheck Tool zur Verfügung gestellt wird, ersetzt nicht eine qualifizierte Ermittlung vorhandener Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse. Einstufungstests erfolgen nach der Feststellung von Grundbildungsdefiziten zu Beginn entsprechender Fördermaßnahmen. Das PreCheck Tool ist Teil umfangreicherer Materialien zur Ermittlung von Grundbildungskompetenzen und erster Baustein eines mehrstufigen Assessmentverfahrens, das im alpha.Z Projekt ebenfalls zur Verfügung steht.

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1 Einf端hrungGrundbildung und Alphabetisierung


Einführung - Grundbildung und Alphabetisierung Grundbildung bezeichnet Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Voraussetzung sind, um in Alltag und Beruf zu bestehen, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben sowie die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Die vier Grundbildungsbereiche sind Lesen, Schreiben, Mathematik und Medienkompetenz. Lesen und Schreiben sind innerhalb der Grundbildung Schlüsselkompetenzen. Das heißt, Menschen, die nicht oder unzureichend lesen und schreiben können, haben auch erschwerten Zugang zu anderen Bildungsbereichen. Grundbildungsdefizite führen dazu, dass einfachste schriftsprachliche Anforderungen des Alltags– und Berufslebens nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten bewältigt werden können.

Ausprägung von Analphabetismus Als Analphabeten werden Menschen bezeichnet, die nicht lesen und schreiben können. Analphabeten im ursprünglichen Wortsinn - auch als „primäre Analphabeten“ bezeichnet - gibt es nur sehr wenige: Dies sind zum einen Menschen, die aufgrund physiologischer Besonderheiten nicht in der Lage sind, die Fähigkeit des Lesens und Schreibens auszubilden. Zum anderen gehören Menschen, die kaum oder nur sporadisch eine Schule besucht und darum keine Gelegenheit hatten, Lese– und Schreibfähigkeiten auszubilden, zu den „primären Analphabeten“. Bei Personen, die trotz Schulbesuchs nicht hinreichend lesen und schreiben können, spricht man von funktionalen Analphabeten. Folgende drei Passagen verdeutlichen verschiedene Ausprägungen von funktionalem Analphabetismus: „Funktionaler Analphabetismus bedeutet die Unterschreitung der gesellschaftlichen Mindestanforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache, deren Erfüllung Voraussetzung ist zur sozialen Teilnahme an schriftlicher Kommunikation in allen Arbeits- und Lebensbereichen“ (DRECOLL, 1981, S. 31). Darüber hinaus zählen zu den funktionalen Analphabeten auch „…diejenigen (…), die aufgrund unzureichender Beherrschung der Schriftsprache und/oder aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivität nicht in der Lage sind, Schriftsprache für sich im Alltag zu nutzen“ (DÖBERT-NAUERT, 1985, S.5). „Auch die konsequente Nichtanwendung von Lese- und Schreibfähigkeiten kann also in einen funktionalen Analphabetismus führen. Dieser „sekundäre Analphabetismus“ liegt vor, wenn einmal erworbene Schriftsprachkompetenzen wieder verloren gehen, wodurch ein Unterschreiten des gesellschaftlich bestimmten Mindeststandards eintritt“ (HUBERTUS, 1995, S. 251).

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Ausmaß des Analphabetismus Die Schätzungen über die Anzahl funktionaler Analphabeten in Deutschland gehen nach Angaben des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. von mehr als vier Millionen Personen aus, für Berlin von ca. 160.000.

Die Ergebnisse der International Adult Literacy Survey (IALS-Studie) der OECD aus dem Jahr 1997 bieten bislang die einzig verlässliche Datenquelle zur Literalitätskompetenz in zwölf OECD-Ländern, darunter Deutschland. Über 2.000 erwerbsfähige Erwachsene waren aufgefordert, an dieser internationalen Studie teilzunehmen, davon verweigerte etwa ein Drittel ihre Mitwirkung oder wurde aufgrund ihrer kaum ausreichenden Lesekompetenz ausgeschlossen. In realitätsnahen Situationen sollten aus einer Fülle vorhandener Informationen die relevanten herausgefunden werden (u. a. aus dem Text eines Beipackzettels für Medikamente). In der deutschen Teilstudie erreichten 14,4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung lediglich die unterste Stufe des Leseverständnisses; sie konnten einem Text ausschließlich Einzelinformationen entnehmen. Weitere 34,2 Prozent erreichten das zweite Niveau des Leseverständnisses, vermochten also einfache Einzelinformationen zueinander in Bezug zu setzen. Im Jahr 2010 setzt eine weitere Studie im Auftrag der OECD im Rahmen des Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC/Pisa für Erwachsene) ein, von der aktuelle Erkenntnisse über das Kompetenzniveau Erwachsener in 30 Ländern erwartet werden. Die Ergebnisse der Studie sollen Politik und Gesellschaft Einsicht in die Qualifikationen der erwachsenen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter

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auf nationaler Ebene sowie im internationalen Vergleich - liefern und damit eine em-

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pirisch fundierte Grundlage für mögliche politische und soziale Interventionen bieten. Mit den ersten Ergebnissen dieser Studie ist im Jahr 2013 zu rechnen. In Deutschland werden 5.000 Erwachsene im Alter von 16 bis 65 Jahren befragt. Diese Befragung umfasst eine intensive Erhebung der Lesekompetenz, der alltagsmathematischen Kompetenz sowie der Problemlösefähigkeiten im Kontext neuer Technologien.

Grundbildungsdefizite bei deutschen Erwachsenen und bei Migrantinnen und Migranten Seit 1993 haben jährlich über 70.000 Jugendliche die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Darüber hinaus müssen diejenigen Schulabgänger/innen beachtet werden, die zwar einen Schulabschluss erworben, aber nicht über das für die Aufnahme einer Berufsausbildung notwendige Basiswissen verfügen. Sowohl bei den Jugendlichen mit als auch bei denen ohne Schulabschluss ist der Anteil der Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation vergleichsweise hoch, die über dieses Basiswissen nicht verfügen. Die Schulabgänger/innen spüren die Auswirkungen mangelnder Grundbildung unmittelbar, denn ein Einstieg in Ausbildung und Beruf ist ihnen kaum möglich. Ein bereits während der Schulzeit einsetzender Prozess aus Lernmisserfolgen, Demotivation und Frustration findet hier seine Fortsetzung. Unter Migranten/innen gibt es auch primäre Analphabeten. Vor allem Mädchen haben in ihren Heimatländern mitunter gar nicht oder nur selten Gelegenheit, eine Schule zu besuchen. Jungen haben oftmals einen besseren Zugang zu Schule und nutzen die Möglichkeit eines bis zu achtjährigen Schulbesuchs. Unabhängig vom Geschlecht können Migranten/innen aufgrund des Länderwechsels die (schrift)sprachlichen Anforderungen in der ihnen fremden Sprache oft nicht bewältigen. Obwohl sie in ihrer Muttersprache über gute Lese- und Schreibkompetenzen verfügen, erschweren kulturelle Unterschiede, Verschiedenheit der Sozial- und Rechtssysteme und länderspezifische Anforderungen am Arbeitsplatz das Erwerben der notwendigen schriftsprachlichen Kompetenz.

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2 Funktionaler Analphabetismus Ursachen und Wirkungen


Funktionaler Analphabetismus - Ursachen und Wirkungen

Erkenntnisse über funktionalen Analphabetismus Verschiedene Studien haben Ursachen und Faktoren, die zur Entstehung von funktionalem Analphabetismus führen, untersucht (EGLOFF, 1997; DÖBERT-NAUERT, 1985; OSWALD, 1982; Linde, 2008). Über diese Studien hinaus dienten als Quellen für die folgenden Ausführungen:

die mit Kursteilnehmenden geführten Interviews über den bisherigen Lebensweg und ihre aktuelle berufliche Situation

das Erfahrungswissen aus mehrjähriger Qualifizierungspraxis

In bisher unveröffentlichten Interviews im Rahmen der Zusammenarbeit des alpha.Z Projekts mit der Humboldt-Universität zu Berlin wurden Teilnehmer/innen an Alphabetisierungskursen zu ihrem schulischen und beruflichen Werdegang, zu ihrer Familie und zur aktuellen Lebenssituation befragt. Zu den Interviewpartnern gehörten sowohl jüngere als auch ältere Kursteilnehmer/innen. Zitate aus diesen Interviews werden im Folgenden jeweils mit der Nennung von Geschlecht und Alter eingeführt.

Familiäre Situation Die Kursteilnehmer/innen schildern fast durchweg eine schwierige familiäre Situation. Dazu gehören meist eine hohe Anzahl von Geschwistern, Zeitnot, Bildungsferne und finanzielle Sorgen der Eltern oder Elternteile. Sofern die Eltern eine Arbeit hatten (oftmals war dies nicht der Fall), handelte es sich um gering qualifizierte Tätigkeiten, z.B. Reinigungsarbeiten, mit langer oder unregelmäßiger Arbeitszeit. Konfliktsituationen und Streit werden ebenso beschrieben wie Interesselosigkeit und Demotivation. w., 47 Jahre: „Wir waren fünf Kinder und wir hatten nur zwei Zimmer. Die Eltern wohnten in einem Zimmer und die fünf Kinder in dem anderen. Wir mussten mithelfen im Haushalt, da war kein Kindergarten wie heutzutage.“ m., 44 Jahre: „Schule und Eltern, die hatten keine Zeit früher, die waren auch arbeiten, den Haushalt stellen. Die Geschwister hatten alle Nachhilfeunterricht, da sind sie hingegangen, jeder hat ihnen geholfen. Um die anderen Geschwister haben sie sich mehr gekümmert als um mich.“ m., 58 Jahre: „Ich habe gestottert, wir hatten wenig Geld, mein Vater hat viel geschimpft. Mit zwölf war ich mit meiner Mutter bei einem Arzt, einem Professor. Meine Mutter sagte, vielleicht gibt es Tabletten. Fließend spreche ich, seit ich 15 bin, nur schwere Wörter kann ich heute auch noch nicht sprechen.“

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Auffällig ist, dass die Mehrzahl der funktionalen Analphabeten in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem Lesen und Schreiben nur wenig Bedeutung hatten. Erfahrungen wie Vorlesen oder gemeinsames Lernens haben sie nicht gemacht. Einige hatten als Kind keine Bezugsperson, die ihnen zuhörte oder sich um ihren sprachlichen Ausdruck bemühte. Andere hatten Eltern mit Grundbildungsdefiziten, was die Sprachentwicklung zusätzlich erschwerte. Die geringe Kommunikation innerhalb der Familie wirkte sich nachhaltig nicht nur auf die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten, sondern auch auf die Entfaltung sozialer Kompetenz aus.

Bezugspersonen Lesen und Schreiben sind in Alltag und Beruf unverzichtbar. Darum sind funktionale Analphabeten auf eine Bezugsperson angewiesen, die sie bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten unterstützt. Diese Bezugsperson kann ein naher Angehöriger oder ein enger Bekannter sein. In jedem Fall handelt es sich um eine „kurzfristig“ erreichbare Person, die beispielsweise Briefe vorliest oder beim Ausfüllen von Formularen hilft. m., 58 Jahre: „Es war schlimm, als mein Vater starb, musste ich alle Papiere (...), ich hatte keine Ahnung damit, ich wusste nicht, was bedeutet das. Er hat alles gemacht, Überweisungen usw. Meine Mutter hatte auch keine Ahnung (...). Mein Vater hatte mir mal alles aufgeschrieben in ein kleines Buch; das hatte ich noch.“ m., 44 Jahre: „Formulare nehme ich immer mit nach Hause, da hilft mir mein Bruder. Bei der Arbeit mache ich mir dann eine Binde um die Hand, damit ich nicht schreiben brauche (...). Am Wochenende und nach der Schule besucht mich mein Sohn. Er weiß, wie man schreibt und übernimmt das dann. Meinen Bekannten traue ich mich das nicht zu erzählen“.

Schule Bereits bei Schuleintritt bestehen bei Kindern mitunter sprachliche Defizite. Oftmals ist die Bedeutung bestimmter Wörter oder Wendungen nicht bekannt und/oder der mündliche Sprachgebrauch ist grammatikalisch unkorrekt. Häufige oder lange Fehlzeiten in den ersten Schuljahren, z.B. wegen Krankheit, führen oft zu erheblichen Verzögerungen beim Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeiten. Auch Schulwechsel aufgrund von Umzügen können ein kontinuierliches Lernen erschweren. Neben individuellen sind mitunter auch strukturelle Ursachen im Schulsystem wie eine einseitige oder ungeeignete Lehrmethodik zu nennen. Eine individuelle Förderung wird vernachlässigt oder ist nicht möglich. Hinzu kommt, dass in höheren Klassen keine Schriftsprachvermittlung mehr stattfindet. Fest steht, dass in den ersten Schuljahren die Weichen für den weiteren Lernerfolg und die Kompetenzentwicklung gestellt werden. Defizite im Lesen und Schreiben, die bereits in der Grundschule bestehen, setzen sich im weiteren Schulverlauf fort und werden größer. Negative Erfahrungen - zum Beispiel sich wiederholender Misserfolg oder Diskriminierung, dauerhafte Druck- und Angstzustände - sind so programmiert und blockieren das Lernen, so dass sie als eine Ursache für das Entstehen von funktionalem Analphabetismus gelten können.

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w., 57 Jahre: „Eingeschult wurde ich normal und kam dann in die Sonderschule, da hat sich keiner richtig um mich gekümmert. Mit zwölf bin ich aus der Schule raus, da war ich in der 4. Klasse. Später war ich noch in einer Haushaltsschule, bis ich 15 Jahre alt war.“ m., 44 Jahre: „An die Schule denke ich mit Schrecken zurück, hätte ich mal besser aufgepasst. 13 Jahre bin ich da geblieben, ich war immer da.“ w., 47 Jahre: „In der Schule wurde ich gehänselt. Ich habe mich auch verteidigt, wurde beleidigt, geschubst, die Federtasche wurde runtergeschmissen und Mappen weggenommen, Essen geklaut. Ich habe mir das nicht alles gefallen lassen. Meine Eltern mussten oft in die Schule kommen (...).“ m., 58 Jahre alt: „In der Schule war es schwierig, Rechnen ist mir schwergefallen, wie allen anderen auch. Aber Deutsch, Lesen und Schreiben war sehr schwierig für mich. Und in der 10. Klasse ist Ende, man darf nicht mehr weiterlernen. Der Direktor der Hilfsschule hat mir manchmal Unterricht gegeben. Dann sind wir wieder in andere Bezirke gezogen, und es waren andere Lehrer (...). Die hatten kein Interesse, ein bisschen was zeigen und dann macht mal selbst.“

Seit dem Aufbau des Sonderschulwesens in den 1950er- und 60er-Jahren wechseln vor allem jüngere Schüler/innen mit massiven Lernschwierigkeiten von den regulären Grundschulen in Sonder- bzw. Förderschulen, während ältere Jahrgänge in der Regel die Hauptschulen besuchten. Nicht alle funktionalen Analphabeten verlassen die Schule ohne einen Abschluss. Bei manchen reichen die Lese– und Schreibfertigkeiten aus, um den Hauptschulabschluss zu erwerben. Ihre Grundbildung in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen ist allerdings derart lückenhaft, dass die Aufnahme einer Arbeit oder Ausbildung nicht gelingt.

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Die folgende Abbildung zeigt die Wirkungszusammenhänge und den Ursachenkomplex von funktionalem Analphabetismus (DĂ–BERT & HUBERTUS, 2000, S. 52).

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Berufliche Situation Die meisten funktionalen Analphabeten haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Mitunter wurde eine Ausbildung begonnen, aber aufgrund der schriftsprachlichen Anforderungen neben der praktischen Arbeit nach kurzer Zeit abgebrochen. Die meisten älteren Analphabeten haben nach der Schule eine un- oder angelernte Beschäftigung aufgenommen, während den jüngeren dieser Einstieg gar nicht erst gelingt. So verfügen die Älteren meist über Teilqualifikationen, die sie in der Arbeitspraxis erworben haben und die ausreichen, um Hilfstätigkeiten auszuüben. Oftmals waren sie mehrere Jahre in einem Unternehmen tätig, bis es zu Rationalisierung oder Insolvenz kam oder auch die Notwendigkeit einer Fort- oder Weiterbildung bestand, die sie aufgrund der mangelnden Grundbildung vermieden. Die Folgen sind Erwerbslosigkeit und/oder kurzfristige Beschäftigungen in Hilfstätigkeiten. Es gibt auch funktionale Analphabeten, die eine Berufsausbildung abgeschlossen, aber durch fehlendes Literalitätstraining am Arbeitsplatz ihre schriftsprachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse „verlernt“ haben (siehe sekundärer Analphabetismus). Grundbildungsdefizite erschweren nicht nur den Einstieg, sondern auch den Wiedereinstieg in das Erwerbsleben. Die Interviewpartner/innen können von diesen Erfahrungen berichten: m., 44 Jahre: „Wenn ich mich irgendwo vorstelle, dann habe ich Panik. Man soll einen Vertrag lesen, etwas ausfüllen und unterschreiben. Wenn ich sage, ich kann das nicht, werden die anderen vorgezogen. Seit meiner Schulzeit bin ich fast nur in ABM im Gartenbau gewesen. Nur einmal hatte ich kurz eine Anstellung in einer Speditionsfirma.“ m., 58 Jahre: „Ich habe mit 15 angefangen zu arbeiten, war auf mehreren Tankstellen. Dann war ich in einem Verlag und dann viele Jahre bei einem Kaffeeproduzenten als Palettierer, Maschinenführer, später auch als Springer. Zuerst gab es noch keine Maschinen, bis zu 600 Kilo mussten gerollt werden. Das war körperlich sehr schwer. Ich wurde arbeitslos, war zu alt, um etwas Neues zu bekommen, und erfuhr zufällig auf dem Arbeitsamt von der Möglichkeit, besser lesen und schreiben zu lernen.“ w., 47 Jahre: „Nach der Schule habe ich angefangen, nähen zu lernen. Dann war ich in einer Firma, habe Kabel in Spielautomaten verlegt. Es gab einen Plan, wie man die Kabel verlegen musste, sie hatten auch unterschiedliche Farben. In dieser Firma war ich sehr lange, wurde dann aber gekündigt, als nur noch ältere Kollegen bleiben durften. Dann war ich arbeitslos und habe vom Arbeitsamt etwas vorgeschlagen bekommen. Ich habe dann als Löterin gearbeitet, das ging aber nicht lange (...). Ich wünsche mir, dass ich einen vernünftigen Arbeitsplatz habe und nicht nach zwei, drei Monaten gekündigt werde wegen Arbeitsmangel. Ich möchte richtig arbeiten bis zur Rente.“

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Aus den Interviews gehen verschiedene Arbeitsfelder hervor, in denen funktionale Analphabeten häufig Hilfstätigkeiten ausüben:

Produktion und Montage

Reinigung und Hauswirtschaft

Gartenbau

Lagerwirtschaft

Baugewerbe

Malerhandwerk

Hotel- und Gaststättengewerbe

Transportwesen

Typische Verhaltensweisen Täuschungs- und Vermeidungsstrategien Funktionale Analphabeten sind für nahende schriftsprachliche Anforderungssituationen stark sensibilisiert und reagieren oft schnell und plausibel, so dass das Gegenüber meist gar keine Notiz von den bestehenden Grundbildungsdefiziten nimmt. Diese Sensibilität und Reaktionsschnelligkeit basiert allein auf der Angst vor Entdeckung. Mitunter sind nicht einmal Kollegen/innen oder Familienangehörige über die Lese- und Schreibschwierigkeiten informiert. Angst und Verschwiegenheit sind umso größer, je öfter die Betroffenen mit dem Vorurteil konfrontiert wurden, dass Grundbildungsdefizite auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen sind. Angst - was ist das? „Angst heißt für mich, dass mir jemand ein Formular in die Hand drückt und sagt: ´Füllen Sie das aus!´ Es ist schwer in Worte zu fassen, was dann mit mir passiert. Mein ganzer Körper wird steif, mir wird abwechselnd heiß und kalt. Und in meinem Kopf ist dieser kleine Mann, der mit einem Hammer mein Gehirn bearbeitet! Mit aller Kraft muss ich meine Sinne bewahren, und dann kommt normalerweise eine meiner dummen Ausreden, ich habe zwei davon. Eine lautet: ´Da muss ich mich mit meinem Mann absprechen.´ So als wäre ich eine Ehefrau aus dem viktorianischen Zeitalter, die nicht für sich selbst denken kann. Die andere geht so: ´Ich kenn' mich mit Formularen nicht so aus.´ Das ist schlimmer, weil sich mein Gegenüber sofort denkt, ich bin dumm. Wenn ich mich für einen Job bewerbe, habe ich alle Antworten auf gängige Fragen auf ein Stück Papier geschrieben bei mir, um sie dann ins Formular zu übertragen. Aber natürlich wollen sie immer irgendetwas wissen, was ich nicht vorbereitet habe. Ich weiche dem aus, indem ich diese eine Frage auslasse. Darauf angesprochen, sage ich dann immer: ´Tut mir leid, ist mir nicht aufgefallen´, und hoffe darauf, dass sie diesen Teil für mich ausfüllen.“ (BELSEY, in: Labour office and clients, 2006)

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Wie das Beispiel zeigt, kann das Alltagsleben funktionale Analphabeten in zahlreiche schwierige, teils auch ausweglose Situationen bringen. Diese Situationen treten u. U. mehrmals täglich ein:

Wie erledige ich Bankgeschäfte, wie Überweisungen und Kontoführung?

Wie nehme ich ein neues technisches Gerät in Betrieb, ohne die Gebrauchsanweisung zu verstehen?

Was bestelle ich in einem Restaurant?

Wie fülle ich die Fragebögen bei Arztbesuchen aus?

Welchen Betrag weist meine Strom- oder Telefonrechnung aus?

Die Auswirkungen mangelnder Lese- und Schreibkompetenzen sind enorm, denn der Alltag ist geprägt durch Schrift: Zeitungen, Werbung, digitale Schriftlaufbänder, Post, Formulare usw. Viele funktionale Analphabeten können zwar lesen, den Sinn des Gelesenen aber nicht verstehen. In konkreten Situationen entwickeln sie Täuschungs- und Vermeidungsstrategien. Herr M.: „Als ich eine neue Stelle bekommen habe, da hat mir der Personalchef als erstes ein Formular gegeben, das ich ausfüllen sollte. Da sah ich zufällig ein viereckiges Kästchen, auf das ein Passbild geklebt werden muss. Da habe ich gesagt: ‚Ein Passbild habe ich nicht dabei, ich fahre eben schnell nach Hause und hole eins.‘ Und der Chef meinte aber, dass ich gar kein Foto brauche. Da habe ich gesagt: ‚Bei mir muss alles seine Ordnung haben, ich muss ein Passbild haben, geben Sie mir ruhig den Bogen mit, dann fülle ich den zu Hause aus.‘ Na ja, zu Hause hat mir dann meine Frau geholfen. Das sind so kleine Tricks, da muss man ein bisschen geschickt sein“ (NEU, 2004). Nicht immer haben diese Strategien Erfolg: m., 58 Jahre: „Ich suchte eine Straße und bin in einen Zeitungsladen gegangen. Die Straße musste in der Nähe sein, es hat aber keiner gewusst. Hier haben Sie einen Plan, sagte der, gucken Sie nach. Das sind dann so Sachen […].“ Um alltägliche Herausforderungen zu bewältigen, entwickeln funktionale Analphabeten vielfältige und spezifische Kompetenzen und Fähigkeiten. Stärker als alphabetisierte Menschen nutzen sie ihr Gedächtnis und Bilder, um sich Informationen zu erschließen. m., 58 Jahre: „Von Elektrik hatte ich keine Ahnung. Es gab da so Sammelbände, ich konnte nicht lesen, aber ich habe die Bilder gesehen, wie was zusammengesetzt wird. Und dann habe ich versucht, es mit den Bildern zu verstehen.“

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3 Anzeichen und Merkmale f端r funktionalen Analphabetismus in der Beratung


Hinweise auf funktionalen Analphabetismus Trotz vielfältiger Strategien, mit denen Menschen über das Problem mangelnder Grundbildung hinwegtäuschen, gibt es bei genauerer Beobachtung einige klare Hinweise, die auch in einer Beratungssituation auf typisches Verhalten funktionaler Analphabeten aufmerksam machen. Das Institut für berufsbezogene Weiterbildung und Personaltraining GmbH BEST in Wien hat im Jahr 2006 eine Auswahl typischer Verhaltensmuster zusammengestellt, von denen teilweise auch unsere Interviewpartner berichten. Demnach reagieren funktionale Analphabeten auf schriftsprachliche Anforderungssituationen wie folgt:

Sie bitten den Gesprächspartner, ein Formular auszufüllen („Machen Sie das doch gleich“) und verweisen auf die heute vergessene Brille.

Sie behaupten, sie hätten sich die Hand bzw. den Arm verletzt; gelegentlich tragen sie einen Verband.

Sie fragen sofort, wo sie unterschreiben sollen, ohne den Versuch zu lesen, was sie unterschreiben.

Sie nehmen ein Schriftstück oder Formular mit und bringen es ausgefüllt wieder zurück. Häufig argumentieren sie: „Ich habe es eilig“, oder „Das muss ich mit meinem Ehepartner besprechen.“

Sie lenken ab, verweisen auf wichtigere Probleme, sobald es auffallen könnte, dass sie enorme Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, z.B. ein mitgebrachtes Kind.

Sie weichen aus, indem sie in einem Redeschwall von einem ganz anderen Thema erzählen.

Sie sind zu früh anwesend oder verspäten sich und vergessen wiederholt Termine.

Auf schriftliche Informationen, z.B. Einladungen und Rechnungen, reagieren sie nicht.

Im Umgang mit Behörden und Institutionen bevorzugen sie den direkten Kontakt, wenden sich an denselben Ansprechpartner und äußern den Wunsch, persönlich oder telefonisch informiert zu werden.

Sie bringen einen Freund, einen Partner oder einen Elternteil mit und geben offen zu, dass diese Person sich um solche Sachen kümmert.

Die erste Begegnung mit einer Firma oder einem Weiterbildungsträger verläuft oft schwierig oder wird vermieden, z.B. durch Krankmeldung.

Sie möchten nur an praxisorientierten Qualifizierungen und Angeboten teilnehmen, in deren Verlauf sie keinen Unterricht besuchen müssen.

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Anzeichen und Merkmale für funktionalen Analphabetismus in der Beratung

Sprechen und Zuhören Im Gegensatz zur Schriftsprache ist mündliche Kommunikation fast immer möglich. Doch für eine effektive Kommunikation gelten Regeln: Der Gesprächspartner möchte ohne viel nachzufragen verstehen, wovon der andere spricht. Situationen, Personen, zeitliche Abläufe und Orte stehen dabei in einem logischen Zusammenhang. Bei funktionalen Analphabeten zeigen sich genau hier Probleme. Häufig sind sie kommunikationsungewohnt und Antworten auf das Was, Wer, Wann, Wo, Wie und Warum fallen ihnen schwer. Hinzu kommt, dass Betroffene oftmals nicht gelernt haben, diese Fragen selbst zu formulieren: „Wann muss ich wiederkommen?“ oder „Wie kann ich Sie erreichen?“ oder „Wo muss ich hin?“ So gibt das Sprechen bereits erste Hinweise, ob Grundbildungsdefizite vorliegen. Im Gespräch gibt es folgende Anzeichen und Merkmale:

„Freies Sprechen“, längere Monologe finden häufig nicht statt.

Beschreibungen des Alltags oder der beruflichen Erfahrungen sind knapp.

Eigene Fragen oder Anliegen werden kaum oder gar nicht formuliert.

Erzählungen folgen keiner oder einer kaum nachvollziehbaren Chronologie.

Genaue Zeitangaben fehlen, Zeiträume werden nicht klar abgegrenzt.

Auf Nachfragen folgen unverständliche Antworten.

Erinnerungen an Namen von Personen, Firmen oder Orten sind undeutlich.

Perspektivwechsel fallen schwer oder gelingen gar nicht.

Adressaten- und situationsbezogenes Sprechen fällt schwer; jeder Gesprächspartner ist gleich, beispielsweise werden zwischen Freund/in und Vermittler/in keine Unterschiede gemacht; manchmal wird geduzt.

Sprechvermögen und Schriftsprachkompetenz stehen in einem engen Zusammenhang, so dass man bereits in einem Gespräch auf Schreibschwierigkeiten schließen kann (PASS alpha, 2006). Menschen, die zwar ihren Namen schreiben, aber nur mit großer Mühe die Buchstaben des Alphabets erkennen und sich einfache Silben und Wörter erschließen können, vermögen in der Regel nicht chronologisch und folgerichtig zu erzählen. Namen von Personen, mit denen sie gerade zu tun haben, können sie benennen, Namen relevanter Personen aus der Vergangenheit jedoch nicht. Meist sind sie nur in der Lage, die unmittelbare Gegenwart und ihr Empfinden zu beschreiben. Auf Nachfragen reagieren die Betroffenen oft ratlos. Menschen, die die Buchstaben kennen und bei ausreichender Zeit einfache Wörter und Sätze schreiben können, berichten über Zeitabläufe und über für sie bedeutsame Ereignisse der Gegenwart sowie der jüngeren Vergangenheit, die nicht länger als ein Jahr zurückliegen, relativ gut. Menschen, die zwar sicher schreiben können, aber Schwächen in der Rechtschreibung und Grammatik haben, können Zeitabläufe in der Regel sehr gut mündlich darstellen. Einige Bereiche werden jedoch absichtlich ausgeklammert, z.B. negative Ereignisse aus

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der Schule, der Arbeit und der Familie. Allerdings gibt es auch bei ihnen Probleme in der Perspektivübernahme. Die Schwierigkeiten, die funktionale Analphabeten mit dem Wiedergeben von Informationen beim Sprechen haben, finden sich auch beim Verstehen von mündlich gegebenen Informationen wieder. Zum Beispiel kommt es vor, dass funktionale Analphabeten den Inhalt mündlicher Einladungen oder vorgelesener Briefe nicht verstehen, weil ihnen Informationen über die Person, die Zeit oder den Ort unklar bleiben. Äußerst schwer nachvollziehbar sind chronologische „Vorträge“, z.B. über zukünftige oder zurückliegende Arbeitsabläufe einer Woche. Selbstverständlich gibt es individuelle Unterschiede; insbesondere diejenigen, die ein sehr gut ausgeprägtes Gedächtnis haben, lernen das Gehörte sofort auswendig und können auf entsprechende Nachfragen mühelos antworten.

Lesen und Verstehen Die IALS-Studie der OECD zeigte, dass funktionale Analphabeten einfache Texte zwar lesen, den Inhalt aber nur bruchstückhaft erschließen können. Personen, Zeit, Ort und Handlung können nur teilweise oder überhaupt nicht wiedergegeben werden. Bei komplexeren Texten - in der IALS-Studie war es der Text eines Beipackzettels für ein Medikament - waren funktionale Analphabeten nicht in der Lage zu verstehen, wie oft und wie lange ein Medikament eingenommen werden soll. Häufig können Fragen zum „Gelesenen“ nicht beantwortet werden. Probleme treten auch bei Nummern und Zahlen oder grafischen Darstellungen, z.B. Diagrammen und Tabellen, auf. Die Lesekompetenzen reichen vom langsamen Buchstabieren über das Wiedererkennen einzelner Wörter bis hin zum langsamen, aber flüssigen Lesen. Weitere Anzeichen, die auf typisches Leseverhalten funktionaler Analphabeten hinweisen, sind:

Während des Lesens bewegen sich die Augen entweder gar nicht oder „springen“ von links nach rechts, vom Textanfang in die Mitte bis zum Textende, bis eine gewisse Zeit verstrichen ist, von der die Betroffenen glauben, dass jetzt der Text gelesen sein müsste.

Statt still zu lesen, beginnen die Personen laut und stockend jede Silbe bzw. jedes Wort zu lesen, manchmal unter Zuhilfenahme des Fingers, und fragen nach, ob sie „richtig“ gelesen haben.

Sie bitten darum, dass ein Wort vorgelesen wird; oft suchen sie sich ein langes und kompliziert aussehendes Wort in der Hoffnung aus, dass der ganze Satz oder der Text vorgelesen wird.

Sie bitten, dass ihnen „erklärt“ wird, was sie gerade "durchgelesen" haben.

Das Lesetempo ist sehr langsam, gelesen wird monoton, teils mit Pausen an den „falschen“ Stellen (z.B. am Zeilenende).

Längere Wörter werden durch mehrere laute Leseversuche erschlossen. Das Buchstabieren erfordert mitunter ein so hohes Maß an Konzentration, dass ein gleichzeitiges Erschließen von Textbedeutung und Inhalt nicht möglich ist.

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Schreiben Vor allem der Schreibvorgang wird von funktionalen Analphabeten meist konsequent vermieden. Es wurden bereits verschiedene Vermeidungsstrategien beschrieben (Brille vergessen, Hand bandagiert usw.). Anzeichen für mangelnde Schreibfertigkeiten sind u. a.:

unsichere Feinmotorik, verkrampftes Halten eines Stiftes

sehr geringes Schreibtempo („Malen“ der Unterschrift)

unlesbare Schrift, gemalt statisches oder krakelig ungeübtes Schriftbild

zu kleine oder zu große Schrift

ausschließliche Verwendung von Großbuchstaben

falsche, ausgelassene oder vertauschte Buchstaben (vermeintliche Flüchtigkeitsfehler)

kaum, keine oder falsche Verwendung von Satzzeichen

mehrfache Schreibversuche von Buchstaben und Wörtern (Durchstreichen)

Wie es beim Lesen einen Unterschied zwischen dem Lesevorgang und dem Leseverstehen gibt, muss man auch beim Schreiben zwischen dem Vermögen, einen kurzen Text abzuschreiben, und der Fähigkeit, eigene Texte, z.B. Briefe, inhaltlich, sprachlich und formal korrekt zu verfassen, unterscheiden.

Alltagsmathematik Die soziale Stigmatisierung ist bei mangelnden Mathematikkenntnissen geringer als bei den übrigen Grundbildungsdefiziten. Konsens besteht über die Notwendigkeit, die Grundrechenarten, also Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, zu beherrschen. Weiterreichende Rechenkompetenzen sind ein wichtiges Kriterium für Ausbildungsfähigkeit und haben auch im Alltag enorme Bedeutung: Man muss sortieren, zählen, schätzen oder messen können. Die Renovierung einer Wohnung oder eines Zimmers erfordert bereits zahlreiche Rechenoperationen. Es muss vermessen, in Quadratmeter umgerechnet und mit dem Quadratmeterpreis multipliziert werden. Für Personen mit Grundbildungsdefiziten ist das eine nahezu unlösbare Aufgabe.

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Menschen mit Grundbildungsdefiziten fällt es zudem schwer:

die Höhe ihrer Einkünfte bzw. ihrer Grundsicherung zu benennen

ihre Ausgaben für Miete oder Telefon einzuschätzen

bei einer geplanten Anschaffung Kosten zu kalkulieren

Größen, Mengen, Gewichte und Distanzen zu bestimmen

Flächen und Volumina von Räumen zu erfassen

Zeiten und Orte vereinbarter Termine einzuhalten

Diese Nennungen spiegeln zudem das Unvermögen, Zahlen in Texten zu lesen und zu verstehen. Schwierigkeiten beim einfachen Kopfrechnen führen oft dazu, dass Zahlungen mit einer Bankkarte vorgenommen werden, ohne die auf dem Konto verfügbaren Mittel im Blick zu haben. Ratenkäufe werden oft vorgenommen, ohne in der Lage zu sein, die damit verbundenen finanziellen Belastungen einzuschätzen. Ein Vorgehen, das nicht selten direkt in die Verschuldung führt.

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4 Hinweise und Tipps zu Beratung und Gespr채chsf체hrung


Hinweise und Tipps zu Beratung und Gesprächsführung Die folgenden Hinweise stellen eine Ergänzung der „klassischen“ Beratungsund Integrationsmethodik dar, die auf Information, Kompetenzerfassung, Motivation und Ressourcenorientierung basiert. Darüber hinaus gibt es einige Besonderheiten in der Beratung funktionaler Analphabeten, die vor und in der Beratungssituation beachtet werden sollten.

Gesprächsvorbereitung Wenn Anzeichen mangelnder Grundbildung in der Beratungssituation erkannt werden, sollten weitere Schritte unbedingt dazu führen, für Betroffene ein adäquates Grundbildungsangebot zu finden. Bereits beschriebene typische Verhaltensweisen funktionaler Analphabeten, zum Beispiel Vermeidungsstrategien, erschweren es jedoch, das Problem offen anzusprechen. Darum ist es sinnvoll, sich zunächst die Situation, in der sich die meisten funktionalen Analphabeten befinden, noch einmal zu vergegenwärtigen. Bei den Betroffenen haben sich im Laufe der Jahre große Ängste davor aufgebaut, dass sich schlechte Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Schulzeit wiederholen könnten. Sie haben Angst, erneut zu versagen und niemals Lesen und Schreiben zu lernen. Die Sorge um den Verlust sozialer Integration und Anerkennung ist so groß, dass sie vieles in Kauf nehmen, um nicht aufzufallen.

m., 44 Jahre: „Beim Arbeitsamt ist es jetzt herausgekommen, dass ich nicht schreiben kann, ich habe das sonst immer verschwiegen, habe keine Bewerbungen gemacht, immer Ausreden gehabt. Ich habe auch in Kauf genommen, dass ich eine Geldsperre bekomme. Vor einem halben Jahr kam eine neue Sachbearbeiterin, da bin ich dann aus mir rausgekommen. Ich hatte das die ganzen Jahre immer verschwiegen. Sie hat mich dann in diesen Alphabetisierungskurs geschickt.“

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Funktionale Analphabeten verhalten sich in Beratungssituationen sehr unterschiedlich:

Einige überschätzen sich und glauben, kaum Defizite zu haben.

Einige wissen um ihre Defizite und haben panische Angst, „entlarvt“ zu werden.

Einige gehen offen mit ihren Defiziten um.

Das Ansprechen der Defizite löst bei fast allen Peinlichkeits- und Schamgefühle aus. Besteht für den/die Berater/in die Vermutung, dass Lese- und Schreibprobleme bestehen, ergibt sich die Frage, wie das Gespräch gestaltet werden kann, um gemeinsam die Schwierigkeiten anzusprechen. Das Gespräch sollte in entspannter Atmosphäre stattfinden. Die einführenden Worte sollten daher zum einen informieren und zum anderen das Interesse an der Person und den vorhandenen Kompetenzen und Fertigkeiten unterstreichen. Für das Gespräch sollte ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, denn: wenn Menschen erstmal auf ihre Probleme mit dem Lesen und Schreiben angesprochen werden, kann es sein, dass sie ihre Lebens– und Leidensgeschichte erzählen. Hier sollte absolute Anonymität und Verschwiegenheit zugesichert werden. Es ist wichtig, aktiv zuzuhören, d.h. gedanklich mitzugehen, und z. B. zustimmend zu nicken und Blickkontakt zu halten. Bewertungen oder Schuldzuweisungen sind zu vermeiden. Vielmehr kann die eigene Wahrnehmung formuliert („Ich sehe, welche Schwierigkeiten es Ihnen bereitet, nicht richtig schreiben zu können“) und auf diesem Weg Teilnahme gezeigt werden (APFE E.V, 2008, S. 38 ff).

Grundbildungsdefizite benennen Eine direkte Frage nach bestehenden Grundbildungsdefiziten sollte vermieden werden, denn die Wahrscheinlichkeit, dass funktionale Analphabeten diese verneinen, ist relativ hoch. Dies gilt sogar dann, wenn Grundbildungsdefizite bereits offensichtlich geworden sind (Textunverständnis, mühsamer Schreibvorgang). Angemessen sind in dieser Situation Zurückhaltung und teilnehmendes Interesse ebenso wie sachliches und „wertneutrales“ Fragen, ohne bei den Betroffenen die Angst, als dumm eingeschätzt zu werden, zu erzeugen (APFE E.V, 2008, S. 40):

„Sie möchten das Formular mit nach Hause nehmen. Kann das damit zu tun haben, dass es Ihnen jetzt schwer fällt, es hier auszufüllen?“

„Fällt es Ihnen schwer, hier zu lesen und zu schreiben?“

„Wenn ich unser Gespräch hier überdenke und mir alles noch einmal genauer anschaue, dann sieht es für mich so aus, dass Sie Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben? Sehe ich das richtig so?“

Nur auf der Grundlage einer weitestgehend angstfreien Atmosphäre, die dem Betroffenen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, kann ein offenes Gespräch stattfinden. Dabei ist es sinnvoll und notwendig, den Grund für die Frage nach Grundbildungsdefiziten anzuführen. Schließlich können geeignete Schritte nur dann unternommen und passende Angebote gemeinsam ausgewählt werden, wenn Klarheit über die persönlichen Voraussetzungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten besteht. Das Vermeiden von Lese- oder Schreibanlässen und auch das Ausschlagen von Vermittlungsangeboten („Ich möchte arbeiten, nicht lernen.“) können Anlass geben, be-

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stehende Schwierigkeiten anzusprechen, z.B.: „Was fällt Ihnen hierbei schwer? Was stört Sie?“ Auch Verstimmung und Druck können mit gezielten Nachfragen („Sind Sie traurig? Sind Sie wütend? Erklären Sie es mir.“) reduziert werden. Wenn Berater/innen mit Fragen sensibel und schrittweise vorgehen, empfinden viele funktionale Analphabeten eine sehr große Erleichterung darüber, dass sie „endlich“ mit jemandem über ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten sprechen können. Die Anerkennung von Kompetenzen und Potenzialen hat eine große Bedeutung. Wenn es gelingt, Stärken hervorzuheben und darüber positive Rückmeldung zu geben, ist die Basis dafür geschaffen, dass funktionale Analphabeten ihre Potenziale selbstbewusster nutzen und infolgedessen an ihren Defiziten konstruktiv arbeiten wollen und können.

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Motivation schaffen — Grundbildung annehmen Sind Grundbildungsdefizite benannt, wird die Planung der nächsten Schritte möglich. Nicht alle funktionalen Analphabeten möchten den Versuch unternehmen, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Auf den/die Berater/in kommt dann die schwierige Aufgabe zu, die Betroffenen von einem geeigneten Qualifizierungsangebot zu überzeugen. Ein häufig geäußertes Gegenargument, nämlich die Angst vor der Veränderung des gewohnten Lebens, veranschaulicht folgendes Zitat aus dem Film „Das G muss weg“ (GÜNTHER-GREENE, 2006): "Auf das hier komme ich nicht mehr mit. Ist mir zu hoch, zu viel. Ob ich das überhaupt hinkriege, was sich da alles bei mir verändert. Ich bin ja eigentlich nur gewohnt mit meinem Leben, so wie ich es kenne. Mein Leben verändert sich ja um hundertachtzig Grad, wenn ich dann lesen kann. Es fällt mir zu anstrengend, wenn ich das kann - irgendwie. Das ist zu viel." Lernmotivierung ergibt sich unmittelbar aus dem Auftrag zur Förderung, um Hilfsbedürftigkeit zu verringern, Selbstständigkeit zu erhalten und auszubauen und letztlich Arbeit zu vermitteln. Für Fachkräfte in der Beratung und Vermittlung ist es daher wichtig, gemeinsam mit dem Betroffenen Lernmotive zu erschließen und diese wiederholt als Begründung anzuführen. Gründe, erneut zu lernen, sind vielfältig. Oftmals sind die Betroffenen in eine schwierige Situation geraten, zum Beispiel, wenn ihre Bezugsperson nicht mehr zur Verfügung steht oder sie im Erwerbsleben mit neuen Anforderungen konfrontiert sind. Bekannte Lernmotive anderer funktionaler Analphabeten können hierzu Impulse liefern. Lernmotivation entsteht bei Betroffenen vor allem dann, wenn sie den unmittelbaren Nutzen der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten spüren, zum Beispiel höhere Mobilität (selbstständige Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Erschließung neuer Arbeitsorte, Freizeitgestaltung). Andere kommen darüber hinaus zu der Überzeugung, dass es beim Lernen um die Gestaltung ihrer Zukunft geht und die Alltagsbewältigung durch die Aufrechterhaltung von Täuschungs- und Vermeidungsstrategien nicht einfacher wird. Ein weiteres Beispiel aus dem Film „Das G muss weg“ zeigt den Wunsch nach Unabhängigkeit wie in folgendem Zitat: "Wenn du zur Sparkasse gehst und fragst, ob die helfen könnt’, dann kennst du nur den Spruch: Dürfen wir nicht. Und wenn du leise sagst, dass du Probleme hast, ja interessiert die nicht. Und dann stehst du da". Ist die Lernmotivation geweckt, kann nach einem entsprechenden Angebot für den Betroffenen gesucht werden. Dabei müssen auch Hindernisse und Ressourcen angesprochen werden. Erörtern Sie mit der/dem Gesprächspartner/in, ob

der Kursort gut zu erreichen ist und zusätzliche Fahrtkosten entstehen

die zeitliche Vereinbarkeit mit anderen Maßnahmen und Verpflichtungen gelingt, z. B. ob Kinderbetreuung notwendig oder gewährleistet ist

die Kurskosten angemessen sind

(APFE E.V., 2008, S. 45)

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Diese Fragen vor Beginn eines Kurses zu klären, kann auch ein vorzeitiges Abbrechen verhindern. Oftmals reicht es nicht aus, in der Beratung nur die Anschrift und Kontaktdaten einer Bildungseinrichtung zu nennen. Vielmehr kann es erforderlich sein, den Erstkontakt telefonisch oder - sofern möglich – auch vor Ort herzustellen.

Begleitend beraten Nach gelungener Vermittlung in ein Grundbildungsangebot ist es wichtig, den Lernprozess weiterhin zu begleiten. Insbesondere zu Beginn, wenn hohe Erwartungen und Misserfolge zusammentreffen („Das geht nicht in meinen Kopf.“), kann der/die Vermittler/in motivieren und unterstützen. Die Betroffenen sollten auch weiterhin Gelegenheit erhalten, über persönliche Lebensumstände, alltägliche Probleme, ihre Lernerfolge und Erfahrungen zu sprechen. Mit steigenden Lese- und Schreibkompetenzen wachsen in der Regel das Selbstwertgefühl und die Selbstständigkeit. Das kann allerdings auch zu Konflikten mit der Vertrauens- bzw. Bezugsperson führen, die bislang alle diesbezüglichen Aufgaben wahrgenommen hat. Eine Beobachtung der Rahmenbedingungen, insbesondere der Blick auf das soziale Umfeld, sollte die Lernwegplanung daher begleiten. Der unmittelbare Auf- und Ausbau von Grundbildung sollte in den Beratungsgesprächen dokumentiert, Ziele sollten vereinbart und gegebenenfalls differenziert werden. Positive Rückmeldungen sind auch hier unerlässlich, um die Betroffenen zu ermutigen, das Lernen geduldig auf sich zu nehmen. Trotz aller Bemühungen kommt es dennoch nicht selten zu Kursabbrüchen. In einem solchen Fall ist es wichtig, genau die Ursachen zu erfragen. Lag es an äußeren Rahmenbedingungen (Erreichbarkeit des Standortes etc.) oder war der Kurs zu schwer/zu leicht für den Teilnehmenden, oder entsprach das Angebot nicht seinen Erwartungen. Hilfen durch Experten, wie (Sprach-) Therapeuten, können den Lernprozess unterstützen. Hat sich der Betroffene erst einmal für die Wahrnehmung eines Angebotes zum Erwerb von Grundbildung entschieden, ist ihm auch die Annahme zusätzlicher Hilfen in der Regel leichter möglich.

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5 Einsch채tzen von Grundbildungs kompetenzen


Einschätzen von Grundbildungskompetenzen Sofern das Beratungsgespräch mit einem/r Arbeitssuchenden vermuten lässt, dass die Person Grundbildungsdefizite hat, und sofern diese Person bereit ist, über dieses Thema zu sprechen, besteht die Möglichkeit, vorhandene Grundbildungskompetenzen genauer einzuschätzen. Hierfür können die im Projekt alpha.Z entwickelten Übungen des PreCheck Tool genutzt werden, die beispielhaft in dieses Kapitel integriert sind. Das PreCheck Tool ist Teil umfangreicherer Materialien zur Ermittlung von Grundbildungskompetenzen und erster Baustein eines mehrstufigen Assessmentverfahrens. Anhand dieser Übungen und Fragen wird deutlich, in welchem/n Grundbildungsbereich/en Defizite bestehen und in welchem Ausmaß, um eine Entscheidungshilfe für die Vermittlung in geeignete Qualifizierungs- und Bildungsangebote zu gewinnen. Fachkräfte in der Beratung und Vermittlung Arbeitssuchender erhalten zudem Beispiele und Tipps, welche Unterlagen, Materialien und Fragen sich darüber hinaus für die Einschätzung von Grundbildungskompetenzen eignen. Bereits die folgende Konkretisierung der vier Kompetenzbereiche gibt Anhaltspunkte für mögliche „Beobachtungskriterien“. Übungen, Tipps und Hinweise zur Einschätzung von Grundbildungskompetenzen sind ausgerichtet auf eine in der Regel zeitlich begrenzte Beratungssituation. Im Dialog mit dem/der Beratungssuchenden bieten sie einen Einblick in verschiedene Kompetenzfelder, sind aber weder als klassische Tests einsetzbar noch ersetzen sie ein sprachdiagnostisches Verfahren.

Die vier Kompetenzbereiche Eingeschätzt werden die in den vier Kompetenzbereichen Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen relevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten und zwar auf einem sehr niedrigen und einem mittleren Niveau bis zu einem höheren Niveau, das einen Anschluss bzw. die Vermittlung in weiterführende Bildungsangebote, z.B. zum Erwerb einfacher Schulabschlüsse, den Beginn einer Berufsvorbereitung oder niedrigschwelligen beruflichen Qualifizierung, erlaubt. Das unterschiedliche Niveau der Kompetenzen wird sichtbar anhand der (steigenden) Komplexität von Texten oder Rechenoperationen, die verstanden, wiedergegeben und/oder ausgeführt werden müssen. Hinzu kommt ein variierender Umfang von Hilfen (z.B. durch Auswahloptionen und Beispielvorlagen), die für die Lösung einer Aufgabe bereit gestellt werden. Die Zielgruppen reichen damit von Personen, die über Grundbildungskenntnisse verfügen, jedoch mit einem Kenntnisstand unterhalb eines einfachen Schulabschlusses (Niveau 3), bis hin zu Personen, die kaum Grundbildung erworben haben (Niveau 1). Im Folgenden werden die vier Kompetenzbereiche und dazu die jeweils relevanten und in einer Beratungssituation auch einschätzbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten – also das für einen Einstieg in Qualifizierung und Beschäftigung notwendige Kenntnisniveau – aufgeführt.

Sprechen Zu diesem Kompetenzbereich gehört es, in verschiedenen Anforderungssituationen sprachlich sach-, situations- und adressatengerecht handeln zu können. Sprechen (und Zuhören) sind dann erfolgreich, wenn die Personen fähig sind, verstehend zuzuhören, zu antworten und sich mitzuteilen, miteinander zu sprechen und zu diskutieren und dabei Gesprächsregeln zu beachten.

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Die in der Beratungssituation einschätzbaren Kenntnisse und Fähigkeiten sind: Niveau 1

kurze Sachverhalte und Antworten deutlich und verständlich ausdrücken können

Niveau 2

Sachverhalte und Anliegen klar schildern und Verständnisfragen stellen können

Niveau 3

chronologisch und inhaltlich nachvollziehbar über ein Vorkommnis/einen bestimmten Zeitraum berichten können

Lesen Im Kompetenzbereich Lesen geht es um Fertigkeiten, Texte zu erschließen und sinnverstehend zu lesen. Lesekompetenz hat im Kontext beruflicher Bildung eine zentrale Bedeutung, denn Informationen werden meist in Texten präsentiert und bestimmte Daten müssen aus Texten entnommen werden. Zusammenhängende Texte, Erklärungen und Anweisungen setzen sich zusammen aus einer Abfolge von Sätzen, sind in Abschnitte eingeteilt, haben manchmal einen Untertitel oder werden von schematischen Darstellungen (Listen, Tabellen, Formulare, Grafiken, Zeichnungen) begleitet, die verstanden werden müssen. Die in der Beratungssituation einschätzbaren Kenntnisse und Fähigkeiten sind: Niveau 1

einem einfachen, kurzen Brief/Anschreiben verschiedene markierte Einzelinformationen entnehmen sowie Fragen dazu mündlich beantworten können

Niveau 2

einem Formschreiben mit mehreren Spalten, Text und Zahlen, z.B. einem Vermittlungsvorschlag, nachgefragte numerische und textliche Informationen entnehmen und diese mündlich wiedergeben können

Niveau 3

einem komplexen Text mit Zahlen, variierender Schriftgröße und -art, z.B. einer Anzeige, nachgefragte Informationen entnehmen und diese mündlich wiedergeben können

Schreiben Im Kompetenzbereich Schreiben ist es notwendig, Geschriebenes nicht nur zu verstehen und zu verwenden, sondern selbst über ausreichende Schreibfertigkeiten zu verfügen. Zum adressaten- und situationsgerechten Schreiben gehört nicht nur die inhaltliche, sondern auch die sprachliche Dimension, u. a. die Grammatik, die Rechtschreibung und die Lesbarkeit der Schrift. Die in der Beratungssituation einschätzbaren Kenntnisse und Fähigkeiten sind:

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Niveau 1

in einen einfachen, kurzen Brief vorgegebene Wörter einsetzen und diese grammatikalisch und orthografisch korrekt abschreiben können

Niveau 2

mithilfe vorgegebener Wörter einen formellen Brief verfassen und grammatikalisch sowie orthografisch korrekt formulieren und lesbar schreiben können

Niveau 3

einen formellen Brief adressatengerecht formulieren und strukturieren können und grammatikalisch sowie orthografisch korrekt und lesbar schreiben können

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Rechnen Dieser Kompetenzbereich umfasst, neben dem Beherrschen der Grundrechenarten, einen angemessenen Umgang mit Zahlen, Größen, Mengen und Daten in alltäglichen und beruflichen Situationen. Der häufig verwendete Begriff Alltagsmathematik bezeichnet das Wissen und die Fähigkeit, auf mathematische Anforderungen in alltäglichen Situationen angemessen und zielgerichtet zu reagieren. Rechnen ereignet sich in einfachen Situationen (das Abwiegen von Nahrungsmitteln), in schwierigeren (das Überprüfen eines Kassenzettels unter Zeitdruck an der Kasse) und hoch komplexen Zusammenhängen (das Interpretieren von Statistiken). Die in der Beratungssituation einschätzbaren Kenntnisse und Fähigkeiten sind: Niveau 1

einfache Rechenoperationen, z.B. Addition und Multiplikation, ausführen sowie dreistellige runde Zahlen nach einem Kriterium sortieren bzw. klassifizieren können

Niveau 2

komplexere Rechenoperationen, z.B. Multiplikation mit anschließender Addition, ausführen und dreistellige Zahlen in eine Grafik, z.B. in ein Säulendiagramm, zuordnen bzw. einfügen können

Niveau 3

dreistellige Zahlen und Dezimalzahlen multiplizieren können, einfache Bruch- und Prozentrechnungen ausführen und Zahlenwerte aus einfachen Listen, Schaubildern und Tabellen entnehmen und Zahlenvergleiche vornehmen können

Einschätzen der Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen Übungen und Fragen zur Einschätzung vorhandener Grundbildungskompetenzen sollten in jedem Fall begründet werden: je mehr Informationen über Fähigkeiten und Fertigkeiten der Beratungssuchenden bekannt sind, desto besser lassen sich geeignete Schritte zur Integration in den Arbeitsmarkt planen und umsetzen. Die Übungen bilden typische Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenanforderungen in Alltagssituationen ab. Es geht um Mengen- und Preisangaben, Umrechnungskurse, um die Formulierung und das Lesen und Verstehen formeller Briefe, um das Lese- und Orientierungsvermögen auf Stadtplänen bzw. U- und S-Bahnplänen. Die Auswertung der Aufgaben dient der Einschätzung des Kenntnisstandes. Auf dieser Basis kann eine Vermittlung in Kurse und Angebote bedarfsgerechter erfolgen. Sofern Sie sich für den Einsatz des PreCheck Tool entscheiden, können Sie unter drei Aufgabenpaketen wählen, die jeweils Übungen zu Orientierung und Leseverständnis, zu Schreibfertigkeit, Zahlenverständnis und Rechnen enthalten: Paket A ist für Personen, die vermutlich keine oder nur geringe Grundbildung erworben haben, Paket B für Personen mit lückenhaften Grundbildungskenntnissen (mitunter auch nur in einzelnen Kompetenzbereichen), Paket C für Personen mit vermuteten Grundbildungskenntnissen, jedoch unterhalb eines einfachen Schulabschlusses. Unabhängig vom Niveau der Übungen sind die Beobachtungskriterien je Kompetenzbereich überschaubar und unkompliziert. Durchgehend lautet die erste Frage bzw. das erste Kriterium, ob der/die Gesprächspartner/in die Frage bzw. Aufgabenstellung überhaupt ohne Rückfrage verstanden hat. Drei bis vier weitere kurze Fragen fokussieren dann den Inhalt der jeweiligen Aufgabenstellung, z.B. im Bereich Leseverständnis, ob die textlichen Informationen korrekt wiedergegeben werden konnten und ob dies auch bei den numerischen Informationen der Fall war. Diese Fragen bzw. Grundbildungsanforderungen sind im Folgenden jeweils zu Beginn der einzelnen Grundbildungskompetenzen unter der Bezeichnung „Im Fokus“ aufgeführt. Darauf folgen kurze Informationen zur Umsetzung sowie einzelne Übungen aus dem PreCheck Tool und alternative Übungsbeispiele.

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Sprechvermögen Im Fokus: Kann der/die Beratungssuchende

in zeitlichen Abfolgen erzählen, d.h. Zeiträume und/oder Stationen benennen

Funktionen und Positionen von Personen/ehemaligen Kollegen benennen

ausgeführte Tätigkeiten schildern

sich deutlich und sprachlich korrekt ausdrücken

Die Einschätzung des Sprechvermögens gelingt in der Beratungssituation wohl am leichtesten. Ein Bericht in chronologischer Reihenfolge fällt Personen mit Grundbildungsdefiziten meist sehr schwer und kann deshalb als ein Anzeichen für funktionalen Analphabetismus gelten. Je mehr das Gespräch einem Interview ähnelt, d.h., je mehr Nachfragen und Hilfestellungen erforderlich sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Grundbildungsdefizite vorliegen. Zwei mögliche Sprechanlässe sind im Folgenden kurz skizziert, anhand derer ein erster Eindruck entsteht, ob und inwieweit Defizite im Sprechvermögen bestehen:

Über den beruflichen Werdegang berichten und berufliche Tätigkeiten beschreiben

Aus dem persönlichen Leben berichten/erzählen, z.B. über Wohnortwechsel, die familiäre Situation

Der berufliche Werdegang Lassen Sie sich den beruflichen Werdegang schildern. Fragen Sie ggfs. nach, um das Gespräch nicht stocken zu lassen, z.B. „Von wann bis wann waren Sie in der Firma xy tätig, in welcher Position waren Sie dort tätig, welche Aufgaben haben Sie dort ausgeführt“. Der persönliche Werdegang Stellen Sie ggfs. Fragen nach der Dauer der Schulzeit und/oder Ausbildung, nach eventuellen Ortswechseln, dem Tagesablauf, familiären Verpflichtungen. Alternative Übungen Alternativ bietet sich die Frage nach Aktivitäten/Maßnahmen des zurück liegenden Halbjahreszeitraumes an, v.a. wenn eine MAE-Maßnahme, eine Beschäftigung über ÖBS oder eine Fort- und Weiterbildung, eventuell auch ein Bewerbungstraining oder ein anderes Angebot wahrgenommen wurde.

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Leseverständnis und Orientierungsvermögen Im Fokus: Kann der/die Beratungssuchende

die textlichen Informationen korrekt wiedergeben

die numerischen Informationen korrekt wiedergeben

sich auf einem Stadt- oder U-Bahnplan orientieren, einen Weg finden

eine Strecke/einen Weg korrekt beschreiben

Die Übungen sollten so gestaltet sein, dass mehrere Informationen in einem Text verstanden werden müssen. Um sicher zu gehen, dass der/die Gesprächspartner/in die Informationen tatsächlich verstanden hat, stellen Sie Fragen zum Text. Der/die Beratungssuchende kann den Text still lesen oder vorlesen. Sie stellen Fragen bzw. lesen die Fragen vor, die Ihr/e Gesprächspartner/in dann beantwortet. Sofern Ihr Gegenüber zögert, stellen Sie Fragen wie „Kann ich Ihnen helfen, soll ich die Aufgabe noch einmal erklären?“ Wenn Sie den Eindruck haben, dass die Aufgabe zu schwer ist, können Sie dieselbe Aufgabenstellung aus dem niedrigeren Niveau wählen. Alternativ nutzen Sie die Gelegenheit, nach den Lese- (Schreib- oder Rechen-) schwierigkeiten zu fragen, z.B. „Ich sehe, dass Ihnen das Lesen schwer fällt, woran liegt das, war das schon immer so?“ Beispiele aus dem PreCheck Tool

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1.

Vorschlag einer MAE

2.

Orientierung auf einem U-Bahnplan

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1. Beispiel: Vorschlag einer MAE

Lesen Sie diesen Brief und achten Sie auf Informationen zu: - Tätigkeit - Arbeitszeit pro Woche - Mehraufwandsentschädigung (Arbeitslohn) pro Stunde - Name des Ansprechpartners

JobCenter Berlin Postfach 10412 Berlin Frau Doris Muster Persiusstr. 10 10634 Berlin Berlin, 31.07.2009 Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (Zusatzjob) Gemäß §16 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

Sehr geehrte Frau Muster, im Rahmen einer öffentlich geförderten Beschäftigung schlage ich Ihnen folgende zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeit vor: Bezeichnung der Tätigkeit:

Helfer/-in

Beschreibung/Anforderung:

Kinderbetreuung und Sport

Tätigkeitsort(e):

Berlin

Mehraufwandsentschädigung:

1,50 € je Stunde

Zeitlicher Umfang:

30 Stunden wöchentlich

Dauer der Tätigkeit:

01.09.2009 bis 28.02.2010

Maßnahmenummer:

962/0000/09

Kurzbezeichnung der Maßnahme:

Freizeit und Sport

Träger der Maßnahme:

Sport e.V. Musterstr. 10 10116 Berlin

Bitte melden Sie sich sofort bei:

Ansprechpartner Herr Huber Tel.: 123 456 78

Beantworten Sie folgende Fragen: - Welche Tätigkeit wird Frau Muster vorgeschlagen? - Wie viele Stunden beträgt die wöchentliche Arbeitszeit? - Welche Mehraufwandsentschädigung (welchen Arbeitslohn) pro Stunde - würde Frau Muster erhalten? - Wie heißt der Ansprechpartner?

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2. Beispiel: Orientierung auf einem U-Bahnplan

Sie wollen von der Augsburger Straße zur Heinrich-Heine-Straße mit der U-Bahn fahren. Beschreiben Sie den Weg und nennen Sie die Bahnhöfe, an denen Sie umsteigen.

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Weitere Übungen aus dem PreCheck Tool Das PreCheck Tool enthält Übungen mithilfe eines Bewerbungsschreibens und einer Stellenanzeige sowie mit einem Stadtplanausschnitt, jeweils in abgestuften Schwierigkeitsgraden von A (einfach) bis C (gehoben). Alternative Übungen In der Beratungssituation können sich noch weitere Leseanlässe bieten, bspw. anhand eines Leistungsbescheides zur Grundsicherung, von Broschüren sowie Falt- und Merkblättern (Zuschuss zu Versicherungsbeträgen), Anträgen auf zusätzliche Leistungen (Beihilfen bei chronischen Erkrankungen) oder Informationsmaterialien und Flyer verschiedener Bildungsanbieter.

Schreibfertigkeit Im Fokus: Kann der/die Beratungssuchende

▪ adressatengerecht schreiben bzw. formulieren ▪ formal und inhaltlich korrekt schreiben ▪ leserlich schreiben ▪ flüssig schreiben

Entscheidend für diesen Kompetenzbereich ist, dass Sie eine Schreibprobe erhalten, um einen Eindruck über vorhandene Fertigkeiten zu gewinnen. Meist reichen dafür einige Zeilen. Sollte sichtbar werden, dass der/die Beratungssuchende sich sehr bemüht, können Sie diese Aufgabe abbrechen und die Gelegenheit nutzen, um über die Schwierigkeiten zu sprechen, und die o.g. Nachfragen zu der erkennbaren Unsicherheit oder Überforderung stellen. Beispiel aus dem PreCheck Tool Kurzbrief an das JobCenter

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Kurzbrief an das JobCenter

Sie haben einen Termin bei Ihrem Vermittler. Doch Sie sind krank und kĂśnnen nicht hingehen. Schreiben Sie einen kurzen Brief an den Vermittler und bitten Sie darin um einen neuen Termin.

(Absender)

...................................................... ...................................................... ......................................................

(Datum) ......................................................

(Empfänger)

...................................................... ...................................................... ......................................................

............................................................................

............................................................................................................ ............................................................................................................ ............................................................................................................ ............................................................................................................ ............................................................................................................

............................................................................ ............................................................................

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Weitere Übungen aus dem PreCheck Tool Diese Übung steht alternativ auch mit strukturierenden und inhaltlichen Hilfen zur Verfügung, d.h. als Lückentext bzw. mit Nennung zu verwendender Stichwörter (Niveau A und B). Alternative Übungen Alternativ können verschiedene Formulare genutzt werden, um eine Schreibprobe zu erhalten. Es bietet sich u.a. das Formular „Ihre Bewerbungsbemühungen“ an, in dem die Beratungssuchenden Angaben zu Datum, Firma, Ansprechpartner und Art der Tätigkeit eintragen müssen. Auch die Vorlage für die Eingaben in die Bewerberdatenbank bietet einen Schreibanlass. Und auch Einträge für bzw. in den Profilpass kommen in Frage; hier sind die Beratungssuchenden aufgefordert, unter verschiedenen Kategorien Kenntnisse und Fähigkeiten zu formulieren.

Zahlenverständnis/Rechnen Im Fokus: Kann der/die Beratungssuchende

▪ mit bis zu dreistelligen Zahlen addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren

▪ Prozent- und Bruchrechnen ▪ Dezimalzahlen multiplizieren ▪ einfache grafische Darstellungen/Tabellen verstehen Mit diesen Aufgaben werden grundlegende Rechenfertigkeiten getestet: Erkennen von Zahlen, Erfassen von Mengen, grafische Darstellung von Mengen und Operieren mit Grundrechenarten. Der/die Beratungssuchende kann Finger, Papier und Stift zu Hilfe nehmen. Die Aufgaben sollten jedoch möglichst ohne Taschenrechner gelöst werden. Beispiel aus dem PreCheck Tool 250 € aus einem EC-Automaten

40

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250 € aus einem EC-Automaten

An einem Geldautomaten heben Sie 250 € ab. Der Automat kann den Betrag in Scheinen zu 5 €, 10 €, 20 € und 50 € auszahlen.

Kreuzen Sie die richtigen Kombinationen in den Tabellen an (mehrere Antworten können richtig sein).

Beispiel

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Anzahl

Schein

3

50

5

20

Schein

Anzahl

Schein

Anzahl

10

20

10

5

5

10

3

10

2

5

8

20

Anzahl

Schein

Anzahl

Schein

4

50

2

10

6

5

Anzahl

1

50

10

10

20

5

Schein

Anzahl

Schein

4

5

3

50

2

10

3

20

6

50

3

10

Anzahl

Schein

20

10

2

20

1

5

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Weitere Übungen aus dem PreCheck Tool Es gibt Übungen zur Addition von Münzen und Scheinen, zur Umrechnung in Fremdwährungen, zur Berechnung von Rabatten bzw. Preisnachlässen sowie zur Zuordnung von Mengenangaben in ein Säulendiagramm. Falls der/die Beratungssuchende dabei einen Taschenrechner unbedingt benutzen möchte, achten Sie darauf, ob er/sie die Rechenoperationen, z.B. Addition und Subtraktion, versteht und die entsprechenden Tasten nutzt. Auch hierbei wird schnell sichtbar, ob verschiedene Rechenoperationen bekannt sind und umgesetzt werden können oder nicht. Alternative Übungen Einen ersten Eindruck über das Zahlenverständnis kann bereits die Frage nach der Höhe der Miete oder der Betriebskosten bieten. Sie können darüber hinaus um eine Kalkulation des Zuverdienstes durch eine Tätigkeit bei der Firma xy bitten oder die Mehraufwandsentschädigung für eine Woche oder variierende Monate berechnen lassen.

Zu den einzelnen Übungen bzw. zu den erkennbaren Lese-, Schreib- oder Rechenkompetenzen der Beratungssuchenden können Notizen gemacht oder auch der kurze Auswertungsbogen aus dem PreCheck Tool genutzt werden (s. Folgeseite Beispiel Paket B mittleres Anforderungsprofil). Hierin sind die relevanten Fragen bzw. Beobachtungskriterien je Übung stichpunktartig aufgeführt und eine Ankreuzoption zur Bewertung hinterlegt. Das Auswertungsmuster ergibt dann einen Gesamteindruck über vorhandene Grundbildungskenntnisse bzw. -defizite in den einzelnen Kompetenzfeldern. Personen, die einzelne, mehrere oder alle Aufgaben gar nicht oder fehlerhaft lösen, haben schwere Grundbildungsdefizite, so dass sie nicht in der Lage sind, einfachste Anforderungen im Alltag selbstständig zu bewältigen. Sie benötigen dringend Hilfe in einem geeigneten Grundbildungs– oder Alphabetisierungskurs. Personen, die einzelne, mehrere oder alle Übungen lediglich mit Hilfe, Nachfragen, lücken– oder teilweise fehlerhaft lösen, haben keine ausreichenden Grundbildungskenntnisse, so dass sie den Lese-, Schreib- und Rechenanforderungen des Alltags nur mit Unterstützung gerecht werden können. Eventuell lässt sich hier ein einzelner Kompetenzbereich fokussieren, in bzw. für den passende Angebote ermittelt werden können. Bei Personen, die die Übungen aus Paket C lösen können, kann von einem Kenntnisstand ausgegangen werden, der eine Vermittlung in weiterführende Angebote, z.B. zum Erwerb einfacher Schulabschlüsse oder den Einstieg in eine niedrigschwellige berufliche Qualifizierung, erlaubt.

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Auswertungsbogen PreCheck Tool

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Adäquate Angebote Die Rückmeldung über die gewonnenen Einschätzungen zu Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen kann mit der Frage an die Beratungssuchenden beginnen, welche Übungen schwerer oder leichter zu lösen waren. Der/die Vermittler/in ergänzt diese Aussagen mit seinen/ihren Einschätzungen, wo sich Lehr- und Lernbedarfe gezeigt haben bzw. welche Grundbildungskompetenzen ausgebaut und trainiert werden sollten. Sowohl der/die Beratungssuchende als auch der/die Vermittler/in erhalten so eine Basis für die gemeinsame Auswahl adäquater Angebote, die im Dialog erfolgen kann und für die Beteiligten nachvollziehbar und begründet ist. Das Einschätzen von Grundbildungskompetenzen ist für Fachkräfte der Berufsberatung und Arbeitsvermittlung aber nicht nur ein Gewinn bei der Ermittlung bedarfsgerechter und personenzentrierter Hilfen, sondern ermöglicht auch eine effektivere Kommunikation und Kooperation mit den Beratungssuchenden. Missverständnisse, die durch mangelnde Grundbildungskompetenzen entstehen, können z. B. durch parallele mündliche Absprachen neben formalem Briefwechsel reduziert oder ausgeschlossen werden. Die Angebote für Erwachsene mit Grundbildungsdefiziten sind regional sehr unterschiedlich. Zu den bundesweiten Anbietern von Grundbildungskursen gehören die Volkshochschulen. Sofern Übungen und Auswertung auf vorhandene Grundbildungsdefizite hinweisen, ist es notwendig, auf regionaler Ebene adäquate Angebote verschiedener Bildungs- und Beschäftigungsträger zu recherchieren. Diese Angebote sollten einen intensiveren Check der Grundbildungskompetenzen einschließen. Einen guten Überblick über Grundbildungs- und Alphabetisierungsangebote bieten folgende Webseiten: Deutscher Volkshochschulverband e.V. http://www.dvv-vhs.de/die-vhs/meine-vhs-kurssuche Suchwort: grundbildung; erweiterte Suchfunktion mit Auswahloptionen Bundesland und/oder Postleitzahlen sowie Terminen Bundesministerium für Bildung und Forschung & Deutscher Volkshochschulverband http://www.ich-will-lernen.de Rubrik: Kurse vor Ort http://www.zweite-chance-online.de Rubrik: Kurse vor Ort Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. http://www.alphabetisierung.de Nur telefonische Auskunft unter: 0252 53 33 44 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge http://webgis.bamf.de/BAMF/control Rubrik: Schnellsuche, dann Auswahl Postleitzahl und Integrationskursorte (hier Kursangebote) Im Land Berlin existieren darüber hinaus folgende Angebote: Berliner Volkshochschulen http://www.berlin.de/vhs/spezielle-angebote/alpha Auswahloption: Kursangebote für deutsche sowie für nicht deutsche Muttersprachler/innen Land Berlin http://wdb-berlin.de Weiterbildungsdatenbank Suchwort: alphabetisierung; mit Auswahloptionen Postleitzahl

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Einige Kursanbieter in Berlin Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V. http://alphafamilie.de Projekt „AlphaFamilie“ für Eltern mit geringen Schriftsprachkenntnissen und ihre Kinder im Vorschulalter Lesen und Schreiben e.V. http://www.lesen-schreiben.com/start Voll- und Teilzeitangebote für verschiedene Zielgruppen unter der Rubrik: Unsere Angebote Proson GmbH http://www.proson.de/kurse Auskunft über Grundbildungsangebote telefonisch unter 863 90 30 SALO Bildung und Beruf GmbH http://www.salo-ag.de Auskunft über Grundbildungsangebote telefonisch unter 499 022 33 Zukunftsbau GmbH http://www.zukunftsbau.de Auskunft über Grundbildungsangebote telefonisch unter 443 68 860

Eine Prognose über den notwendigen inhaltlichen und zeitlichen Umfang der Hilfen und Trainingsangebote ist mit der Einschätzung von Grundbildungskompetenzen nicht möglich. Der Erwerb und Ausbau elementarer Grundbildungskenntnisse erfolgt im Grundschulalter innerhalb eines Zeitraums von etwa drei Jahren. Erwachsene deutscher Herkunft mit schweren Grundbildungsdefiziten benötigen mindestens ein 12- bis 18-monatiges Vollzeitangebot, um elementare Kenntnisse zu erwerben. Hinzu kommt, dass es in Bezug auf den Alphabetisierungsgrad sehr viele Abstufungen gibt und diese unterschiedlichen Kenntnisniveaus eine Prognose noch erschweren. Die Fortschritte in einem Grundbildungskurs sind natürlich abhängig von der Lernbiografie, in erster Linie von der Dauer des Schulbesuchs und bereits erworbenen Lernstrategien. Aber auch zahlreiche andere Faktoren und Rahmenbedingungen beeinflussen den Erfolg von Lernprozessen, z.B. die Unterstützung und Motivation durch Freunde und Familie oder die durch den sozialen oder kulturellen Hintergrund bedingten Lebensumstände (BUNDESAMT FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE, 2009). Erfolgreicher Grundbildungserwerb ist daher abhängig von einer laufenden Reflexion der Lern- und Lebenssituation. Wenn es in diesem Prozess gelingt, Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen einen Weg zu eigenverantwortlichem Lernen zu öffnen, das unabhängiger ist gegenüber Rahmenbedingungen und Belastungen des Alltags, kann und wird der Erwerb elementarer Grundbildung nicht die letzte Etappe einer Bildungsbiografie sein.

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Quellenverzeichnis der Abbildungen Seiten 5, 8, 9, 22, 25, 27, 29 Plakate der Sozialkampagne »Schreib dich nicht ab - Lern lesen und schreiben!« des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V., 2006 Seite 14 Nickel, Sven & Döbert, Marion (2000). Ursachenkomplex von Analphabetismus in Elternhaus, Schule und Erwachsenenalter. In: Döbert, Marion & Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Münster, Stuttgart, S. 52.

Quellenverzeichnis der Zitate apfe e.V. - Arbeitsstelle Praxisberatung, Forschung und Entwicklung an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden FH. Menschen, die nicht lesen und schreiben können - Handreichung für Fachkräfte in Bildung, Beratung, Betreuung. Dresden 2008 Belsey, Carole, Die große Angst ist … In: Labour office and clients. Handbuch für BeraterInnen - Verbesserung der Kommunikation zwischen BeraterInnen des Arbeitsmarktservice und deren KlientInnen. BEST Institut für berufsbezogene Weiterbildung und Personaltraining GmbH. Wien 2006 Döbert-Nauert, Marion. Verursachungsfaktoren des Analphabetismus. Auswertung von Interviews mit Teilnehmern der VHS Bielefeld. Deutscher Volkshochschulverband. Bonn und Frankfurt 1985 Drecoll, Frank; Müller, Ulrich. Für ein Recht auf Lesen. Analphabetismus in Deutschland. Frankfurt 1981 Günther-Greene, Renate. Produktion, Regie, Drehbuch „Das G muss weg“, 2005 Hubertus, Peter. Legasthenie, Analphabetismus und Lese-Rechtschreibschwäche. In: alfa-Rundbrief 30/1995

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Literaturauswahl zum Thema Abraham, Ellen; Schroeder Joachim. Lernbedarfe in einfachen Tätigkeiten und Grundbildung als Element betrieblicher Personalentwicklung. In: Report 32/2009 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.). Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs. Nürnberg 2009 Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung (Hrsg.) Arbeitslosigkeit - Arbeit und Beschäftigung. In: Alfa-Forum 71/2009 Döbert, Marion. Beraten ist nicht Testen. Tipps für das Erstgespräch mit funktionalen Analphabeten. In: ALFA-FORUM. Diagnostik 56/2004 Döbert, Marion; Hubertus, Peter (Hrsg.). Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart 2000 Egloff, Birte. Biographische Muster „funktionaler „Analphabeten“. Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. Frankfurt/Main 1997 Genz, Julia. Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung (Hrsg.). Alphabetisierung in Deutschland. Stuttgart, 2005 Grotlüschen, Anke; Linde, Andrea (Hrsg.). Literalität, Grundbildung oder Lesekompetenz? Münster 2008 Huck, Gerhard; Schäfer, Ulrich. Funktionaler Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland. Sachstandsbericht. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung. 26), Bonn 1991 Klein, Rosmarie. Lesen und Schreiben sollten sie schon können. Sichtweisen auf Grundbildung. Göttingen 2009 Linde, Andrea. Literalität und Lernen. Eine Studie über das Lesen- und Schreiben lernen im Erwachsenenalter. Münster 2008 Mitter, Wolfgang; Schäfer, Ulrich. Erwachsenenanalphabetismus und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ein OECD/CERI-Bericht. Frankfurt/Main 1994 Nöller, Simone. Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ursachen, Auswirkungen und Handlungsoptionen. Saarbrücken 2007 Oswald, Marie-Luise; Müller, Horst-Manfred. Deutschsprachige Analphabeten. Lebensgeschichte und Lerninteressen von erwachsenen Analphabeten. Stuttgart 1982 PASS alpha Pro Alphabetisierung – Wege in Sachsen. apfe Institut e.V.. Dresden 2006


PIAAC Programme for the International Assessment of Adult Competencies. OECD. http://www.bmbf.de/de/13815.php. http://www.oecd.org Schneider, Johanna; Gintzel, Ullrich; Wagner, Harald (Hrsg.). Sozialintegrative Alphabetisierungsarbeit. Bildungs- und sozialpolitische sowie fachliche Herausforderungen. MĂźnster 2008 Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph, (Hrsg.). Wer schreibt, der bleibt! - und wer nicht schreibt? Ein internationaler Kongress in Zusammenarbeit mit der Deutschen UNESCO-Kommission. Stuttgart 1998 TrĂśster, Monika, (Hrsg). Berufsorientierte Grundbildung. Konzepte und Praxishilfen. Bielefeld 2002


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