Forschende Kunst 3: Perspektiven des Alterns

Page 31

Dokumentation Forschende Kunst 3 – Perspektiven des Alterns

Wie man alt wird Text: Jörg H. Bauer

Summary: Altern, Identität und Gemeinschaft Altern im psychologischen Sinn ist das Erreichen einer Identität, die von der Bewertung durch andere weitgehend losgelöst ist. Zugleich wird dem Individuum der Wert des Lebens und der zwischenmenschlichen Begegnung klar. Dieser Wandel ist einer vom Haben zum Sein. Diese Identität und die Fähigkeit zur Begegnung wird dann möglich, wenn das Individuum gelernt hat, seine negativen Emotionen auf eine nicht defensive, reife Art zu bewältigen. Der Ursprung der negativen Emotionen ist die Angst vor Verlust von Gemeinschaft – oder abstrakter, die Angst vor dem Nicht-Sein die wir mit dem Verlust der Gemeinschaft assoziieren. Die menschliche Gemeinschaft gewährt Zugang durch Anerkennung, die sich beim Einzelnen als Selbstwert äußert. Selbstwert ist im Lauf des Lebens unmittelbar mit physischer und psychischer Gesundheit verknüpft. Es gibt zwei Formen der Anerkennung: Anerkennung aufgrund von bestimmten Eigenschaften bzw. Fähigkeiten (väterliche Liebe) und bedingungslose Anerkennung (mütterliche Liebe). Der Zugang zu Anerkennung in unser kapitalistischen Gesellschaft ist mehrheitlich an Anerkennung über Fähigkeiten geknüpft. Diese Form von Selbstwert alleine ist jedoch häufig instabil und führt bei Verlust zu Aggression oder Depression. Der radikalindividualistische Gedanke birgt deshalb im Kern die Absicht sich der Kontrolle des Selbstwertes durch die Gemeinschaft per Macht und Status zu entziehen und so selbst die Regeln für die Anerkennung festzulegen. Derjenige, der die anderen nicht braucht, ist heute der wahre Held unserer Gesellschaft. Dies ist zu einem Motor der Vereinzelung und Gewalt geworden. Die Lösung ist liegt jedoch nicht darin sich der Gemeinschaft zu unterwerfen, sondern diese mit einzubeziehen. Dies äußert sich in einer Hinwendung zur Begegnung und damit zum Sein. Diese Einsicht gelingt, so zeigen Forschungen, mit zunehmendem Alter. Wir können anderen nur wirklich unvoreingenommen begegnen, wenn wir gleichzeitig unsere Ängste vor dieser Begegnung in positive und kreative Bahnen lenken, statt uns defensiv über andere zu erhöhen oder uns unterzuordnen. Dieser Veränderung einer ängstlichen Identität hin zu einer integrierten Identität kann im

Gruppenübung aus dem Workshop

Alter gelingen und hat eine wichtige Vorbildfunktion für einen gesellschaftlichen Wandel vom „Haben“ zum „Sein“. Einführung Seit einigen Jahren starre ich wie ein erschrockenes Kaninchen auf das Nähern meines „50sten”. Am meisten irritierte mich an dieser Zahl zunächst, wie vermutlich viele andere auch, der erst symbolische und dann tatsächiche Verlust meiner Jugend und die damit einhergehenden Auswirkungen auf meinen Körper. Was mich dann mit 49 aber mehr und mehr beschäftigte, war eine fühlbare innere Veränderung, ein langsamer, funda- mentaler Wandel in meinen Werten und meiner Sichtweise auf andere. Als arbeitenden Menschen faszinierten mich über die Jahre zwei Phänomene: Was macht das ständige Multitasking mit mir und meinen Kollegen und wo verbleiben unter dem ständigen Druck der Forderungen sei-

tens Dritter eigentlich meine eigenen Bedürfnisse? Vielleicht versteckten sie sich in Tagträumen, die mich am Arbeitsplatz schleichend überfielen? Über diese „Forschungszeit“ wurde schließlich klar, dass mich mein einstmaliger Traumjob nicht mehr befriedigte. Die Wichtigkeit meiner Aufgaben erschloss sich mir nicht mehr. Ende 40 war es jedoch zu früh, um „aussteigen“ – aber auch zu spät, um genau so weiter machen zu können. In dieser „Zwischenzeit“ wurde mir immer mehr klar, dass auch bestimmte Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft mir zunehmend Sorgen bereiteten – besonders die immer größere Wertschätzung von Dingen und die offensichtlich geringe Wertschätzung von Menschen. Waren dies solide Anzeichen einer Midlife Crisis? Vielleicht wurde ich nur durch meine wahrnehmbar abnehmende physische Ausdauer plötzlich empathischer und verletzlicher? Tatsächlich fühlte ich mich in manchen Situationen

31


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.