Momentaufnahme Wien

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Martina Nußbaumer (Hg.)



Moment130 Stimmen aufnahme zur Stadt der Wien Gegenwart

Martina Nußbaumer (Hg.)


Inhalt

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Zum Buch

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Martina Nußbaumer

Öffnungen und Erweiterungen Europa in Wien

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Susanne Scholl · Ivan Krastev · Walther Stöckl · Christiane Erharter · Heidemarie Uhl · Elisabeth Hagen · Ernst Gesslbauer · Michaela Kauer · Anton Pelinka · Martin Pollack

Zusammenleben Ankommen in Wien

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Laura Vargha · Zimin Huang · Nigar Hasib · Nermin Burzic · Özlem Bulut · Faris Cuchi Gezahegn · Yarden Daher · Friedrich Lägler · Nadim Amin · Anastasiia Klysakova

Rassismus und Antirassismus

92

simon INOU · Mirjam Karoly · Alexander Pollack · Vina Yun · Marty Huber · Sha Jahan Khan · Sassan Esmailzadeh · Bini Guttmann · Ümmü Selime Türe · Parissima Taheri-Maynard

Wohin wachsen? Wien wächst in die Breite: Das Fallbeispiel Seestadt Aspern

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Kurt Hofstetter · Johannes Kößler · Mile Savic · Ingrid Spörk · Nils Berger · Teresa Morandini · Heidi Merkl · Julian Walkowiak · Magdalena Bürbaumer · Barbara Ebner · Bianca Rattay und


Vanessa Scheidler · Burak Cetin · Fritz Oettl · Luiza Puiu · Fulya Akcay · Roman Koselsky · Regina Rath-Wacenovsky · Gorji Marzban · Veronika Kühn · Bernhard Janku

Wien wächst in die Höhe: Hochhäuser und Dachausbauten

230

Ute Schneider · Michaela Mischek-Lainer · Andreas Vass · Andreas Kropf · Christian Leiner · Angelika Psenner · Michael Gehbauer · Marta Schreieck und Dieter Henke · Florentine Maier · Reinhard Seiß

Platz für alle? Transformationen des öffentlichen Raums

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Joachim Riedl · Christopher Wurmdobler · Elke Rauth · Udo Häberlin · Tamara Schwarzmayr · Ula Schneider · Stefan Wogrin · Wolfgang Kos · Andrea Seidling · Gabu Heindl · Ewald Locher · Sandra · Marcella Merkl · Mati Randow · Jutta Kleedorfer · Bernadette Feuerstein · Andreas Brunner · Ulrich Leth · Christoph Schwarz · Lilli Lička

Neue Arbeitswelten Spuren des Strukturwandels Monika Grubbauer · Amila Širbegović · Juliane Schiel · Elina Kränzle · Sandra Guinand · Michael Zinganel · Laura Wiesböck · Rosa Emilia Cortés-Aravena und Renate Blum · Bettina Haidinger · Andreas Gugumuck

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Arbeiten in Wien

414

Hristina Lekova · Barbara Laa · Leyla Mehrnama · Milena Paneva · Makenna Idehen Wisdom · Mihaela Pavličev · Jennifer Mory und Alice Müller · Maria Schwarr · Laura M. · Ulla Brodträger

Luxusgut Wohnen? Wohnen als Ware

453

Katharina Ritter · Simon Andreas Güntner · Anita Aigner · Thomas Ritt · Daniel Jelitzka · Karin Schmidt-Mitscher · Tomash Schoiswohl · Anton Holzapfel · Franziska Leeb · Marion Krammer und Margarethe Szeless

Ein gefördertes Zuhause

498

Jasmina Jašarević · Slavica Ranisavljev · Josef Kurka · Isabelle Schmuck · Herta Schwinghammer · Arife und Ibrahim Güner · Vinko und Lenka Tipurić · Jürgen Schneller · Susanne Ried · Rhonda D‘Vine

Alternative Wohnmodelle: Das Fallbeispiel Bikes and Rails

536

G. R. · Georg W. Reinberg · Christoph Laimer · Manuel H. · Zoe · Linda Elias · Ute Fragner · Grigorij „Giga“ Kuklin · Gudrun Peller · Thomas Pilz

Interviewer:innen und Fotograf:innen

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Impressum

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Platz für alle?

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Transformationen des öffentlichen Raums In der dichter werdenden Stadt nutzen immer mehr Menschen den öffentlichen Raum – ob für Erholung, Kommunikation, Sport, Spiel, kulturelle Aktivitäten, politischen Protest oder schlicht als Verkehrsraum. Damit steigt auch das Potenzial für Konflikte: Wem gehören die Straßen und Plätze der Stadt? Wie viel Platz haben Autos, Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen? Welche Nutzungen sind erwünscht, welche werden verboten – oder durch die konkrete Gestaltung unmöglich gemacht? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen kommerziell genutzten und konsumfreien Zonen? 20 Stadtbewohner:innen, professionelle Stadtbeobachter:innen und Aktivist:innen schildern ihre Eindrücke, wie sich der öffentliche Raum Wiens seit 1989 verändert hat.

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„Die große Freitreppe ist eine Einladung: ‚Komm zu mir.‘“

Bis zur Waldheim-Debatte 1986 wurde in Wien die Entstehung eines öffentlichen Raums, der diesen Namen wirklich verdient, unterdrückt, sagt der Autor und Journalist Joachim Riedl. Seither haben immer mehr Initiativen der Zivilgesellschaft die Straßen und Plätze erobert. Auch die Stadt habe gelernt – und mit Bauprojekten wie der 2003 eröffneten Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz neue Qualitäten im öffentlichen Raum geschaffen. „Wie stark die Transformation des öffentlichen Raums war, die in Wien ab Mitte der 1980er Jahre eingesetzt hat, sieht man erst, wenn man ein Stück weiter zurückgeht. Ich bin 1953 geboren und kenne noch das Nachkriegs-Wien. Das war wirklich grau, unwirtlich und abschreckend. Alles, was in Wien einmal Weltstadt gewesen ist, war durch mehrere Wellen historischer Entwicklungen fortgespült worden. Der eigentliche Kulturträger in Wien war ja früher das jüdische Großbürgertum gewesen, und das war ausgerottet. Da ist nichts übrig geblieben außer Fassaden, und die haben gebröckelt. Da war nichts mehr, worauf etwas hätte aufbauen und wachsen können. Und so etwas wie einen öffentlichen Raum gab es nicht, der hat schlichtweg nicht existiert. Wenn wir Jugendliche uns getroffen haben, dann jeden Abend an der gleichen Straßenecke, in ein paar grindigen Jugendlokalen. Man fand sich jeden Abend in derselben

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Treffpunkt Freitreppe: Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz, 7. Bezirk Foto: Klaus Pichler, 7. Oktober 2022

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Situation: Die Zeit verrann in einer ideenlosen und uninspirierten Atmosphäre. Das war keine moderne Stadt, die lernhungrig war, die Kreativität ermutigte, die funktionierte und lebendig war. Aus diesem Grund bin ich dann auch 1980 nach New York gegangen. Der lange Weg bis zum Aufblühen der Gegenkultur Viele, die von diesem entmutigenden Lebensgefühl genug hatten, hatten zwar schon zuvor, 1976, bei der Besetzung der Arena versucht, frischen Wind in die Stadt zu bringen. Die Besetzung des alten Auslandsschlachthofs in St. Marx war ja nicht nur eine Aktion von einem Haufen ungewaschener und wilder Anarchos, sondern da sind an den Sonntagen auch Tausende bürgerliche Leute mit dem Kinderwagen hingekommen. Da hat man gemerkt, wie groß das Bedürfnis in der Bevölkerung nach einem solchen öffentlichen Raum mit Kultur, mit Musik ist, an dem man sich treffen kann – einen Raum, den es bis dahin nicht gab. Aber die Arena wurde niedergewalzt. Richtig aufgeblüht ist die Gegenkultur dann erst mit der internationalen Debatte um die Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten 1986. Dass Österreich einen Mann zum Bundespräsidenten wählt, der seine NS-Vergangenheit verschwiegen und relativiert hatte, war dann der Punkt, wo viele gesagt haben: Jetzt reicht es. Dieser Provinzialismus ist unerträglich. Wir wollen Anschluss an die Welt haben. Und dann hat in den 1990er Jahren auch die Stadtpolitik kapiert: Wir können nicht so weitertun. Wir müssen den Leuten Raum geben. Bürgermeister Helmut Zilk war einer der ersten Politiker, die erkannt haben, dass Stadt auch im öffentlichen Raum stattfindet und Kultur auch rausgehen muss – selbst wenn man die Spektakel-Kultur, die er dann etabliert hat, auch kritisch sehen kann und er nach einem System der repressiven Toleranz agierte. Aber er ließ Veränderungsversuche zu, ermutigte sie sogar mitunter.

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Ein neuer Esprit der Modernität In den 1990er Jahren sind auch immer mehr Initiativen in der Zivilgesellschaft entstanden, die den öffentlichen Raum okkupierten und eine ganz andere Atmosphäre in der Stadt schufen – den Esprit einer Modernität, die es vorher nicht gab. Vorher war ja quasi jede Gruppierung in irgendwelchen Kellerverliesen versteckt gewesen, aber nun trat man selbstbewusst auf, scherte sich nicht mehr um Verbote, postulierte: Der öffentliche Raum gehört uns, nicht dem Magistrat. Und das hat den öffentlichen Raum schon sehr verbessert. Man kann öffentlichen Raum nicht von oben verordnen. Stadt braucht die Energie der Leute, der Bewohner:innen, die hinausgehen und hier aktiv werden, die versuchen, den öffentlichen Raum mitzugestalten – gleichgültig, ob man dann jedes Event toll oder gelungen findet oder nicht. Die Hauptbücherei als soziales Scharnier Ein ganz besonderer Ort, ja ein Solitär, ist für mich der UrbanLoritz-Platz mit der 2003 errichteten Hauptbücherei. Die halte ich für eine der wichtigsten kulturpolitischen Leistungen der Stadt. Da hat die Stadt in Rückbesinnung auf den alten sozialdemokratischen Kultur- und Bildungsauftrag etwas hingewuchtet, was wirklich phänomenal ist: Eine großartig bestückte Bibliothek, in der man gut arbeiten kann und die eine zentrale Scharnierfunktion zwischen ganz unterschiedlichen Bezirken einnimmt. Auf der einen Seite des Gürtels, im 7. Bezirk, sind eher gut verdienende und gut ausgebildete Menschen zu Hause, und auf der anderen Seite des Gürtels, im 15. Bezirk, viele weniger gut verdienende Leute aus den sogenannten bildungsfernen Milieus. Und die treffen dort aufeinander. Ich habe immer wieder beobachtet, wie viele junge Leute mit Migrationsgeschichte dort hinkommen, CDs anhören, im Internet surfen, Hausaufgaben machen. Die haben da einen Raum, den sie daheim oft gar nicht haben, wo sie Ruhe finden, wo niemand sie stört.

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Und das ist wirklich eine kulturpolitische Großtat auf höchstem Niveau. Als die Bücherei eröffnet wurde, war sie auch technisch am letzten Stand und so barrierefrei wie sonst selten ein öffentlicher Bau; es gibt auch keine Zugangskontrollen. Die große Freitreppe macht auch etwas mit der Bibliothek und dem öffentlichen Raum um sie herum, die ist eine große Einladung: ‚Komm zu mir. Schau, was es da gibt.‘ Durch die Treppe entstand ein neuer öffentlicher Raum, der auch wirklich genutzt wird – ich sehe da immer viele Leute in der Sonne sitzen, plaudern, was trinken. Ob einem die Architektur jetzt gefällt oder nicht, ist auf ein anderes Blatt geschrieben. Aber die Treppe und die Bibliothek funktionieren genau in dem Sinne, wie sie funktionieren sollen – als Anziehungspunkte, die den Platz stark zum Positiven verändert haben.“ Joachim Riedl (geb. 1953) ist Autor, Ausstellungsmacher und Journalist. Er schrieb für Der Spiegel, profil und die Süddeutsche Zeitung und leitete von 2005 bis 2020 das Wiener Büro der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.

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Interview und Protokoll: Martina Nußbaumer, 16. September 2022


„Dieses Gefühl, dass du die Stadt erobern kannst, war am Anfang unglaublich.“

Wien hat länger als andere Städte gebraucht, um zu verstehen, dass der öffentliche Raum mehr als ein Transitraum am Weg von A nach B sein kann, sagt der Autor und Performer Christopher Wurmdobler. Seit den 1990er Jahren entdecken jedoch auch hier die Stadtbewohner:innen das Potenzial ihrer eigenen Straßen und Plätze neu. „1989 bin ich zum ersten Mal nach Wien gekommen und war ab da ziemlich oft in der Stadt; ein paar Jahre später bin ich dann auch ganz hergezogen. Im Dorf aufgewachsen, habe ich in Städten wie München oder Berlin gelebt und war es gewohnt, dort immer mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Deshalb habe ich auch schon früh mein Rad nach Wien mitgenommen. Meine Wiener Freund:innen haben damals überhaupt nicht verstanden, was ich denn hier mit einem Fahrrad will! Die haben erst nach und nach entdeckt, dass man die Stadt auch mit dem Fahrrad erobern kann und nicht nur mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die damals sehr teuer waren. Dass man abends auch mal irgendwohin mit dem Fahrrad fahren und wieder zurückfahren kann. Dass es einfach schön ist und Spaß macht, durch die Sommernacht zu radeln. Das war dann für viele ein Erlebnis, und mit der Zeit sind es immer mehr Fahrradfahrer:innen geworden im Freundeskreis. Aber ich war der erste bei uns, mit dem alten Fahrrad.

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