Der Wiener Prater Labor der Moderne
Politik – Vergnügen – Technik
Herausgegeben von
Werner Michael Schwarz
Susanne Winkler
Birkhäuser Basel
Inhalt
10 Vorworte
Michael Ludwig
Veronica Kaup-Hasler
Matti Bunzl
WAS IST DER PRATER?
14 Was ist der Prater?
Werner Michael Schwarz
Susanne Winkler
22 »Nur mit der freien Zugänglichkeit kann der Prater seine Einmaligkeit behaupten«
Silvia Lang und Michael Prohaska im Gespräch mit den Herausgeber:innen
25 Wo sich die Kleinen groß fühlen und die Großen sich an ihrer Angst vergnügen können
Nostalgischer Praterspaziergang eines Psychoanalytikers
Helmuth Figdor
32 Vom Kasperl oder Wurstel
Kleine Mischkulanzen
Elsbeth Wallnöfer
40 Der Prater in der Kartografie Orientierung und räumliche Transformationen
Tobias Hofbauer
55 Der Prater als Ort der Gaumenfreude »Wer sehen will, wie gerne die Wiener essen und trinken, der gehe hieher und er wird staunen«
Susanne Breuss
64 »Der Stolz jedes echten Wieners«
Zur Karriere des Praters als »typisch wienerischer« Ort Martina Nußbaumer
70 Von Josephs Milde zu Kammerers Kröten Eine kurze Literaturgeschichte des Praters (1766 – 2016)
Gernot Waldner
77 Zu den Praterliedern : Alltagsgeschichten und Glücksversprechen
Wolfgang Fichna
Susana Zapke
86 Typen, Massen, Dinge
Der Prater in der Fotografie
Susanne Winkler
99 Landschaftsmalerei
Der Prater als künstlerisches Motiv und Arbeitsstätte
Claudia Koch
Eva-Maria Orosz
106 Das »Autodrom« und andere Praterszenen von Otto Rudolf Schatz
Cornelia Cabuk
111
Welt unermüdlicher Bewegung
Der Prater als Schauplatz im Kino Vrääth Öhner
STADT, POLITIK, MACHT
116 »Was für ein schöner Schau-Plaz!« ?
Wien 1766. Ein kurzes Porträt einer Stadt im Umbruch
Sarah Pichlkastner
122 Aufgeklärte Vergnügungsarchitektur
Das Lusthaus im Prater
Andreas Nierhaus
129 Freie Fahrt in den Prater
Joseph II. und die Entstehung des Pratersterns 1780 / 82 Manuel Swatek
134 Die »Praterschlacht« im Revolutionsjahr 1848
Wolfgang Maderthaner
139 Holprige Verbindung
Stadt- und Verkehrsplanung für den Prater
Béla Rásky
147 Wien, der Prater und die Weltausstellung 1873
Werner Michael Schwarz
156 Das Pratercottage
Ein mondänes Villenviertel am Rand der Wildnis
Andreas Nierhaus
163 Der 1. Mai im Prater
Georg Spitaler
168 Abgebrannt, zerstört, geschleift
Die ephemeren Bauten des Messegeländes
Béla Rásky
173 Choreografierte Theatralik
Politische Massenveranstaltungen im Prater
Béla Rásky
180 Ein Stadion für Wien
Bernhard Hachleitner
185 Der Prater in der Zeit des Nationalsozialismus
Sarah Knoll
196 Der Prater als Reich der »Schlurfs«
Anton Tantner
201 »Das größte Volksfest Wiens«
Das Volksstimmefest – eine kommunistische Tradition seit 1946
Anna Jungmayr
208 Republik Kugelmugel
Kugelhaus und Ministaat im Prater
Elke Wikidal
NATUR UND TECHNIK
213 Von der Aulandschaft zum Landschaftspark
Die flussmorphologische Entwicklung des Praters Severin Hohensinner
220 Der grüne Prater
Urbane Großparkanlage in der ehemaligen Flusslandschaft Lilli Lička
225 Fahrgeschäfte und Technik im Wiener Prater
Eisenbahnkarussell, Hochschaubahn und Tornado
Stefan Poser
232 Pyrotechnische Erzählungen
Der Prater als Veranstaltungsort von Feuerwerken
Ursula Storch
236 Die Geburt der bemannten Luftfahrt in Österreich
1784 aus dem Geist der Prater-Feuerwerke
Martin Scheutz
240 Beim Schnellfotografen
Susanne Winkler
245 Venedig in Wien
Der erste große Themenpark der Welt
Ingrid Erb
253 Praterspatz, Aeroplankarussell und Raketenbahn Luft- und Raumfahrtattraktionen im Wiener Prater
Christian Klösch
258 Das Wiener Planetarium im Prater
Michael Feuchtinger
TIERE
260 Tiere im Prater
Thomas Macho
269 Die Affen sind los!
Affentheater im Prater
Alina Strmljan
273 Der Flohzirkus
Eine letzte Frage
Susanne Winkler
279 Die wechselvolle Geschichte von Prater Nr. 1 (1873 – 1945)
Wie ein Aquarium zu einem Zoo und zu einer biologischen Forschungsanstalt wurde
Klaus Taschwer
284 Im Prater spiel’n wieder die Spechte
Klaus Nüchtern
KÖRPER UND LUST
286 Moderne Körper und moderne Körpergeschichte(n) im Prater
Alys X. George
294 Sex im Prater
Andreas Brunner
300 Präuschers Panoptikum und Anatomisches Museum
Werner Michael Schwarz
Susanne Winkler
308 Julia Pastranas lange Pilgerreise nach Hause
Laura Anderson Barbata
316 Rassistische Spektakel
Das »Aschanti-Dorf« im Wiener Thiergarten 1896
Werner Michael Schwarz
324 Brotlose Kunst
Die Auftritte der Hungerkünstler : innen Riccardo
Sacco und Auguste Viktoria Schenk
Peter Payer
326 Spektakel oder Sport?
Die Ringkämpfe im Zirkus
Bernhard Hachleitner
329 Sportplatz Prater
Bernhard Hachleitner
GROSSES THEATER
341 Himalaya
Imaginäre Reisen, kleine Fluchten und Begegnungen mit dem Fremden im Prater
Ernst Strouhal
351 Visuelle Spektakel im Prater des 19. Jahrhunderts
Marie-Noëlle Yazdanpanah
358 Promenieren, Repräsentieren und Flanieren
Die noble und populäre Prater Hauptallee Elke Wikidal
367 »Versammlung der schönen Welt«
Die drei Kaffeehäuser in der Prater Hauptallee Martina Nußbaumer
375 Zirkusse im Prater
Katalin Teller
380 Der Circus Busch im Prater 1892 – 1920 Katalin Teller
383 Theater im Prater
Mikrokosmos der Theaterstadt Wien 1808 bis 1945
Birgit Peter
394 Der Einzug des Kinos in den Prater
Werner Michael Schwarz
402 Der Prater »is Mega-Lei(n)wand!«
Der Prater in der Malerei oder die Malerei im Prater
Christine Strahner
411 »Jeder wird glücklich, keiner bleibt verschont«
Ein Abriss der Wiener Zauberkunst im Prater
Brigitte Felderer
418 Ein Fest für Mozart
Internationale Ausstellung für Musikund Theaterwesen Wien 1892
Ingrid Erb
420 Das »Fest auf dem Mars« in der Wiener Rotunde 1902
Christian Klösch
422 »Gruss vom Meeresgrund«
Eine Tauchfahrt im Prater
Christine Strahner
424 Automatisierte Heiratsvermittlung?
» … oben wirft man einen Thaler hinein und unten fällt das complete Lebensglück heraus …«
Tabea Rude
428 Clubjahre sind Hundejahre
Die Pratersauna – seit fast 60 Jahren ein Hotspot zwischen Exzess und Erschöpfung
Thomas Mießgang
DAS NEUE PRATERMUSEUM
430 Das erste Pratermuseum
Die Stadtforscher:innen Hans Pemmer und Ninni Lackner
Tobias Hofbauer
434 Vielfalt auf allen Ebenen der Erfahrung
Was ist ein Pratermuseum?
Michael Wallraff
438 Planet Prater
Olaf Osten
444 Autorinnen und Autoren
447 Dank
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»Super 8er Bahn« im Prater, 2013
Foto: Ralf Roletschek
Vorworte
Der Prater ist nicht nur ein Sehnsuchtsort vieler Wiener:innen, sondern auch unzähliger Besucher:innen unserer Stadt. Im Prater blüh’n wieder die Bäume: Der bekannte Robert-Stolz-Klassiker bringt es beinahe programmatisch auf den Punkt. Denn die gesungene Gemütslandschaft – ja, der Prater ist weit mehr als Topografie – verheißt das ultimative Paradox: gleichbleibende Erneuerung. Es muss sich etwas ändern, aber bitte schön nur, solange alles so bleibt, wie es bisher war. Dieser sehr urwienerische Zugang zum Leben sollte die Resilienzforschung vermehrt interessieren, denn er trägt zum Erfolg unserer Zwei-Millionen-Metropole maßgeblich bei. Im Prater hat alles Platz: die Aufgeregtheit des Neuartigen parallel zur Gelassenheit des Althergebrachten.
Das wilde Fahrspiel neben beschaulicher Wiese, der ambitionierte Jogger neben dem müßigen Flaneur, das aktuellste E-Bike neben der historischen Kutsche. Ein Soziotop (aus-)gelebter Ambiguitätstoleranz. Oder mit einfacheren, besseren Worten: ein Ort des Miteinanders. Ein Ort für alle.
Hier gibt es seit jeher keine sozialen Grenzen, weshalb jedes Jahr verlässlich im Prater nicht nur die Bäume blüh’n, sondern wesentlich bedeutender: neue Ideen die Zukunft gestalten. Die persönliche, ganz private – und manchmal auch die Zukunft der großen, weiten Welt.
Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre.
Ihr Bürgermeister
Michael Ludwig
Er ist aus Wien nicht wegzudenken: Der Wiener Prater ist Teil der Identität dieser Stadt. Nur selten spielt ein Vergnügungsareal eine derart große Rolle im urbanen Bewusstsein. Mit der Beschreibung »Entertainment-Park« wird man dem Prater nicht gerecht, denn er steht für viel mehr: für die Entdeckung urbaner Freizeit im 18. Jahrhundert, für den Übergang von einer feudalen zu einer bürgerlichen Gesellschaft bis hin zur Erholung im öffentlichen Raum. Der Prater und seine zahllosen Darstellungen in Literatur, bildender Kunst und Film gehören zu Wien wie der Stephansdom oder die Ringstraße. Diese Geschichte erhält nun eine neue Fassung: ein Museum mitten im Prater, dort, wo der Mythos »Prater« entstanden ist und sich ständig neu auflädt. Michael Wallraff hat den ersten Kulturbau des Landes in einer Holzbauweise konzipiert, die Funktionalität, Ästhetik und Klimaschutz vereint. Es ist ein Ort großer Sichtbarkeit entstanden, an dem Geschichte und Gegenwart des Wiener Praters in der neuen Dauerausstellung gezeigt und vermittelt werden. Dazu kommt ein offener Raum, der –frei zugänglich – Begegnungen ermöglicht. Dieser niederschwellige Zugang zum Pratermuseum spricht eine Einladung an das Publikum aus, sich mit diesem einzigartigen Ort auseinanderzusetzen.
Damit setzt die Stadt Wien ein weiteres kulturpolitisches Signal für eine lustvolle Durchdringung des Lebens mit Kunst, Kultur und Wissenschaft. Mit dem Pratermuseum wird deutlich gemacht, dass der Prater kein kommerzieller Vergnügungspark ist, der beliebig ausgetauscht werden könnte. Der Wiener Prater lebt von seiner tiefen Verwobenheit mit der Stadt, so wie auch diejenigen, die ihn prägen – die Wiener »Praterfamilien«, denen an dieser Stelle Dank für ihre konstruktive Kooperation ausgesprochen werden soll. Auch sie garantieren die Unverwechselbarkeit des Wiener Praters.
Der Prater, in dem seit Jahrhunderten die gesamte Wiener Bevölkerung genauso wie internationale Gäste zusammenkommen, ist ein idealer Mikrokosmos, um sich in der Geschichte der Stadt wiederzufinden – sei es über Kindheitserinnerungen im Wurstelprater, Erlebnisse im Stadion oder Freizeitaktivitäten und Spaziergänge im weitläufigen Erholungsgebiet des grünen Praters.
Der Prater gehört zu Wien und die Wiener:innen zum Prater.
Mag.a Veronica Kaup-Hasler amtsf. Stadträtin für Kultur und Wissenschaft in Wien
Der Prater ist ein Ort der Liminalität. Der einflussreiche Begriff stammt von meinem großen kulturanthropologischen Fachkollegen Victor Turner. Er beschreibt darin einen Schwellenzustand jenseits festgefahrener sozialer Strukturen. In Momenten oder an Orten solcher Liminalität sind die normalen Regeln der Gesellschaft ausgesetzt. Vorübergehende Freiheiten ermöglichen neue Beziehungsmuster und Bedeutungszusammenhänge. Der Wald in Shakespeares Sommernachtstraum ist ein wunderbares Beispiel, genauso wie die Faschingszeit. Und eben der Wiener Prater – ein Schlaraffenland, in dem verbotenes Zuckerzeug Grimm’schen Märchen gleich auf der Straße liegt und sich ängstliche Kinder als heldenhafte Jagdpilot:innen wiederfinden können. Teil der Stadt und doch in vielerlei Hinsicht außerhalb ihrer sozialen Beschränkungen. Teil unserer Zeit und doch immer versucht, die Gegenwart zu überwinden, sei es durch Nostalgie, wie bei der Liliputbahn oder im Spiegelkabinett, oder durch den Futurismus von Attraktionen wie Space-Shot oder Ejection Seat. Im Prater kommt das alles irgendwie zusammen. Er ist ein Ort, an dem man heute das Morgen von gestern erleben kann.
Der Neubau des Pratermuseums sowie die Schaffung einer neuen Dauerausstellung waren ein Herzensprojekt. Ich danke den vielen Mitarbeiter:innen, die es ermöglicht haben, allen voran meiner Co-Direktorin Christina Schwarz. Das Team am Wien Museum hat unermüdlich gearbeitet: die Kurator:innen Werner Michael Schwarz und Susanne Winkler (mit kuratorischer Assistenz von Tobias Hofbauer), die Bauleiter Heribert Fruhauf und Yusuf Özdemir und die Produzentin Karina Karadensky. Großer Dank gebührt auch dem Architekten und Gestalter Michael Wallraff sowie den Grafiker:innen Olaf Osten (Prater-Panoramabild und Ausstellungsgrafik) und Katharina Gattermann (Publikationen). Die Katalogproduktion lag in den bewährten Händen von Sonja Gruber.
Mein tiefer Dank gilt auch zwei weiteren Personen: Ursula Storch, Vizedirektorin des Wien Museums, hat die Pratersammlung mit großer Sorgfalt über Jahrzehnte betreut. Silvia Lang, Präsidentin des Wiener Praterverbands, wiederum ist es zu danken, dass diese Sammlung jetzt in einem neuen Haus zu sehen ist. Es war ihr jahrelanger, unermüdlicher Einsatz, der das Bauprojekt ermöglicht hat.
Matti Bunzl
Direktion Wien Museum
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Joseph Daniel von Huber (zugeschrieben): Plan des Praters (Ausschnitt), 1782, kolorierter Kupferstich; Wien Museum, Inv.‑Nr. 169784
Was ist der Prater?
Was ist der Prater? Um die Einzigartigkeit des Geländes seinen Leser:innen zu vermitteln, zählte Adalbert Stifter in seinem bekannten, 1844 erschienenen Text Der Prater mehrere mögliche Definitionen auf, um sie sofort wieder zu verwerfen. Es sei kein »Park«, keine »Wiese«, kein »Garten«, kein »Wald« und auch keine »Lustanstalt«.1 Es sei alles das »zusammengenommen« und vermutlich, so lässt sich diese Aufzählung interpretieren, noch viel mehr. Stifter verweigerte eine topografisch-historische und statistische Beschreibung des Geländes, einen gelehrten Blick von oben, und führte stattdessen zum Beweis seiner These die Leser:innen gleich in das Geschehen. Denn, so der Autor implizit, man muss den Prater gesehen und erlebt haben, um diesen zu begreifen. Seine Tour, die in der Erzählung einen ganzen Tag in Anspruch nimmt, von morgens bis spätabends dauert und so Teil einer Rhetorik wird, mit der Vollständigkeit wie Subjektivität betont werden, führt an einzelne Orte, zur Hauptallee, zum Wurstelprater, zur Feuerwerkswiese, zu einsamen Wald- und Wiesenpartien. Nur zu einem geringen Teil spielen die äußerlichen Merkmale der verschiedenen Orte eine Rolle, fast ausschließlich werden sie im Text durch ausführliche Beschreibungen davon hergestellt, wie und von wem sie genutzt werden. Stifter, und hier lässt sich eine direkte Verbindungslinie zu den Raumtheorien von Henri Lefebvre oder Michel de Certeau ziehen, versteht den Prater durch die Summe seine Nutzungen oder die »Gesamtheit der Bewegungen, die sich in ihm entfalten«.2 Um das zu betonen, verzichtet er im Gegensatz zu vielen Autor:innen auf die Verwendung einer starken Metapher wie Paradies oder Zaubergarten 3 und vermittelt die Einzigartigkeit des Geländes durch die Addition sachlicher, aber einander ausschließender Begriffe und skizziert ihn so als eigentlich unwirklichen Ort.4
Demokratie im Labor
Springen wir aber an den Ursprung zurück, zum Gründungstext und zur Öffnung des Praters im Jahr 1766. Menschenliebe und Kalkül bilden die beiden Pole der Interpretation, wenn es um die Motive geht, die hinter der Öffnung des Praters für die
Wilhelm Böhm: »Praterharfenist«, Illustration in: Adalbert Stifter, »Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben«, Wien 1844 (nach S. 165), kolorierter Kupferstich: Carl Mahlknecht; Wien Museum, Inv. Nr. 31740/3
Allgemeinheit stehen. Für zeitgenössische Bewunderer und Bewunderinnen Kaiser Josephs II., wie Michael Denis, den Verfasser der Ode auf den Prater (1766), war der Fall eindeutig. Für den aufgeklärten Priester bedeutete das Geschenk des Kaisers eine soziale wie eine politische Tat. Sie brachte alle Menschen in den Genuss der Annehmlichkeiten des Praters und hob das Unrecht auf, das durch die Privilegierung der Aristokratie bestanden hatte.5 In der historischen Interpretation spielt hingegen das Kalkül eine wichtige Rolle, durch die Schaffung von Erholungsräumen die Produktivität zu steigern und im Sinne einer biopolitischen Maßnahme die Gesundheit der Bevölkerung und die hygienischen Verhältnisse der stark wachsenden Stadt zu verbessern.6 So gesehen stand die Öffnung des Praters unmittelbar mit der Etablierung eines neuen Zeitsystems in Verbindung, das die kirchliche Festtagsordnung ablöste und um Arbeit organisiert ein modernes Verständnis von Freizeit begründete, das auch die Idee der besonders rekreativen Kraft der Natur reflektierte. In Begriffen der Freizeitsoziologie zählt der Prater so zu den neuen Räumen der Rekreation und Kompensation, mit denen die zunehmenden Anforderungen, die die Arbeitsdisziplin an die Menschen stellte, ausgeglichen werden sollten.7 Die Anerkennung dieser Bedürfnisse vermittelt zugleich ein von mathematisch-statistischem Denken gelenktes Verständnis von öffentlicher Wohlfahrt im 18. Jahrhundert. Die Öffnung des Praters war aus dieser Perspektive kein singuläres Ereignis, wie das von Zeitgenoss:innen oft gesehen wurde. Auch gibt es Hinweise darauf, dass das Areal zumindest in Teilen bereits vor 1766 für breitere Schichten der Bevölkerung zugänglich war.8 Ab dem 17. Jahrhundert wurden in vielen europäischen Städten fürstliche Jagdgebiete und Gärten für die Allgemeinheit geöffnet, anfänglich zur herrschaftlichen Repräsentation, später aus der Einsicht der Notwendigkeit von Räumen zur Regeneration. Beispiele dafür sind die Villa
Borghese in Rom, die Tuilerien in Paris, New Spring Gardens in London oder der Tiergarten in Berlin.9 Selbst in Wien war der Prater kein Einzelphänomen, denn auch die Festungswälle und das Glacis wurden in dieser Zeit als Erholungsräume adaptiert und in den 1770er Jahren der Augarten sowie Schloss Schönbrunn für die Allgemeinheit geöffnet.10
Dennoch ist der Prater anders, wofür sowohl die Existenz eines öffentlichen Gründungsdokuments wie auch dessen Inhalte sprechen. Das »Avertissement«,11 das am 9. April 1766 im Wiener Diarium erschien, benennt mit knappen Worten die Adressat:innen, den Umfang der Widmung, die möglichen Nutzungen und die dafür vorgesehenen Bedingungen. Es kommt einer Verfassung für das Gelände gleich, man könnte zugespitzt von der ersten modernen Verfassung in Österreich sprechen, die bereits die wesentlichen Leitlinien der vielfältigen und vielschichtigen Nutzungsgeschichte des Praters vorzeichnet. Die Adressat:innen werden als »jedermann« angesprochen, der Umfang der Widmung schließt das gesamte Gelände mit Ausnahme der »abgelegenen Orte und dicken Waldungen« mit ein, die Nutzungen werden nur exemplarisch genannt und lassen betont andere Möglichkeiten zu. Die Freiheit, hier zu »spazieren«, zu »reiten« oder zu »fahren«, wird im Sinn der aufgeklärten Gesellschaftsphilosophie nur vom Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme und der Einhaltung allgemeiner moralischer Verhaltensweisen begrenzt. Der Prater wird als ein Territorium definiert, in dem die Menschen über gleiche Rechte verfügen und auch die Arten, dieses zu nutzen, als gleichberechtigt anerkannt werden. Das Besondere an diesem Gründungstext sind die vagen und offenen Formulierungen und die Zurückhaltung, Ziele, Vorgaben oder