Wien Museum Katalog „Otto Wagner“

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WIEN MUSEUM RESIDENZ VERLAG



OTTO WAGNER


WIEN MUSEUM Herausgegeben von Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz 2

RESIDENZ VERLAG


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OTTO WAGNER


Inhalt

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6 Vorwort Matti Bunzl 8 OTTO WAGNER — EINE ANNÄHERUNG Andreas Nierhaus Eva-Maria Orosz 16 HISTORISCHE VERWERFUNGEN OTTO WAGNER UND DIE IMMER NOCH NICHT BEREINIGTE GESCHICHTE DER MODERNEN ARCHITEKTUR Werner Oechslin 24 „EWIGE DAUER UND ÖKONOMIE“ DIE STOFFLICHKEIT DER GROẞSTADT OTTO WAGNERS Ákos Moravánszky 30 POSITION, OPPOSITION, AFFIRMATION OTTO WAGNER IM URTEIL DER ZEITGENOSSEN Ruth Hanisch

36 OTTO WAGNERS „MODERNE“ JENSEITS DER DOPPELMONARCHIE Iain Boyd Whyte 44 ZEICHNUNG, FOTOGRAFIE, PUBLIKATION, BAU ZUR MEDIALEN KONSTITUTION VON ARCHITEKTUR Andreas Nierhaus

76 KUNST IM GEWERBE — THEORIE UND PRAXIS Eva-Maria Orosz 84 DIE TEXTILIEN DES ARCHITEKTEN Angela Völker

52 GROẞSTADTBAUKUNST

90 DAS NEUE, MODERNE UND ZEITGEMÄẞE ORNAMENT BEI OTTO WAGNER Peter Haiko

OTTO WAGNERS STÄDTEBAU IM INTERNATIONALEN KONTEXT Wolfgang Sonne

96 DES NAGELS KERN UND SEINE HÜLLE

60 DIE KUNST DER BEWEGUNG OTTO WAGNERS THEORIE UND POLITIK DER GROẞSTADT Werner Michael Schwarz 68 OTTO WAGNERS ENTWURFSUND BAUPRAXIS — SEINE ZINSHÄUSER Leo Schubert

ÜBER DIE KONSTRUKTIVE WAHRHEIT DES LEGENDÄREN SCHEINNAGELS Michaela Tomaselli Thomas Hasler 110 OTTO WAGNER UND DER BAROCK Marco Pogacnik


118 OTTO WAGNER UND DIE JUNGE GENERATION INSPIRATION, RÜCKZUG, KRITIK Leslie Topp 126 DIE WAGNERSCHULE ZWISCHEN MYTHOS UND REALITÄT Jindřich Vybíral 136 DIE WAGNER-REZEPTION IM KULTUR- UND IDENTITÄTSPOLITISCHEN KONTEXT DER SPÄTEN HABSBURGERMONARCHIE Michaela Marek 144 EISENBETON MACHT GROẞSTADTBAUTEN WIEN UM 1910: MODERNITÄT ABSEITS DER STILDEBATTE Otto Kapfinger 152 WAGNER UND DAS ROTE WIEN Eve Blau

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Katalog der Bauten und Projekte 481

Katalog der kunstgewerblichen Arbeiten 510 BIOGRAPHISCHE NOTIZEN Renata Kassal-Mikula

522 Literaturverzeichnis 530 Register 540 Autorinnen und Autoren 542 Leihgeber Dank 543 Abbildungsnachweis 544 Impressum

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Vorwort

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Warum übt Otto Wagner bis heute eine ungeahnte Faszination aus? Seine zentrale Rolle in der Wiener Architekturgeschichte ist unbestritten. Und wer durch Wien spaziert, begegnet seinem Werk immer wieder. Aber Gleiches gilt auch für viele andere Architekten – Johann Bernhard Fischer von Erlach, Theophil Hansen, Adolf Loos, Roland Rainer –, die, trotz ihrer nachhaltigen Verdienste, nicht den gleichen Stellenwert im Bewusstsein der Stadt genießen. Sie alle waren große Architekten, die in Wien gebaut haben. Im Gegensatz erscheint Wagner als der Architekt Wiens selbst. Historisch ist dem natürlich nicht so. Wien ist in keiner Weise wie Brasília, das in den 1950er-Jahren von Oscar Niemeyer in einem Guss entwickelt wurde. Die Stadt Wagners war ein Palimpsest von Epochen und Stilen. Und Wagners Karriere selbst reichte vom Historismus seiner Anfangsjahre über den Jugendstil der Jahrhundertwende bis zur nüchternen Funktionalität seines Spätwerks. Trotzdem umweht seine Arbeit ein Geist von Totalität, der umfassende Anspruch an die gebaute Umgebung als organisierte, sinnstiftende Einheit. Es war das Projekt der Moderne, dem Wagner das Wort redete und dessen architektonische und städtebauliche Umsetzung er, erfolgreich wie kein anderer, vorantrieb. Die Stadtbahn – und genereller noch die Entwicklung eines effizienten öffentlichen Verkehrsnetzes – ist das Paradebeispiel, ein radikaler Akt mobilisierender Modernisierung, der die Stadt noch heute prägt. Genauso relevant sind aber auch seine Schriften, besonders die Studie Die Großstadt (1911), die eine unbegrenzte Ausdehnung des städtischen Raumes als möglich und wünschenswert verhandelt. Aus Wagners Werk spricht der Optimismus der Moderne – die Sicherheit, dass die Anwendung rationaler Prinzipien in der Architektur und Stadtplanung zu maximaler Effizienz und Lebensqualität führen können. Das Wien Wagners ist das Wien, das funktioniert. Es ist die Stadt, die Herausforderungen erkennt und mit planerischen Mitteln in den Griff bekommt. Selbstverständlich ist diese Moderne eine Fiktion. Architektur und Stadtplanung können niemals alle Menschen glücklich machen. Aber der Glaube daran kann Stadtentwicklung befeuern. Vielleicht ist Wagner gerade deshalb in aller Munde, steht er doch für eine Vision von Stadt, die sich Dinge, auch große Dinge, zutraut. In der Postmoderne, in der wir leben, sehen wir vor allem die Hybris des modernen Projekts, seine vielen Unzulänglichkeiten, offene wie versteckte Hegemonien. Wir versuchen ihnen durch Pluralisierung zu entkommen und blicken mit ungläubiger Bewunderung auf die funktionale Eleganz und ästhetische Homogenität der Stadtbahnstationen. Vielleicht ist es gerade diese Nostalgie für diese Moderne, die uns Wagner – besonders heute – so faszinierend erscheinen lässt. Die Ausstellung Otto Wagner ermöglicht unseren Besucherinnen und Besuchern, die Faszination des großen Baukünstlers auf ungeahnte Weise zu erleben. Es ist die größte je organisierte Schau über den Architekten, in exemplarischer Weise kuratiert von Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orosz.

Im Mittelpunkt stehen die einzigartigen Zeichnungen aus Wagners Atelier, dazu kommen Modelle, Fotografien und Möbel nach seinen Entwürfen, ergänzt um persönliche Gegenstände. Der Großteil des Nachlasses des Architekten ist im Wien Museum erhalten, dennoch wird die Ausstellung um bedeutende Objekte aus anderen Sammlungen ergänzt. Mein Dank gilt zunächst unserem Kooperationspartner, dem Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste, sowie der Albertina, dem Belvedere, dem Hofmobiliendepot, der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Österreichischen Staatsarchiv, dem Technischen Museum, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv und der Wienbibliothek. Ganz besonders möchte ich mich bei unseren internationalen Leihgebern, dem Parlament in Budapest, der Städtischen Galerie Bratislava und der Ostdeutschen Galerie Regensburg bedanken, nicht zuletzt aber auch bei zahlreichen Privatpersonen, die uns Stücke aus ihrem Besitz anvertraut haben. Neben den Kuratoren gilt mein Dank Isabelle Exinger-Lang als Ausstellungsproduzentin, Laura Tomicek als Registrarin, den Lektorinnen Lisa Wögenstein (Publikation), Julia Teresa Friehs (Ausstellung), und nicht zuletzt dem Team der Restauratorinnen und Restauratoren, allen voran Nora Gasser, Andreas Gruber, Regula Künzli und Karin Maierhofer. Als Assistent der Kuratoren leistete Andreas Winkel wertvolle Arbeit. Die Gestaltung der Ausstellung lag in den bewährten Händen von polar÷, die dem Haerdtl-Gebäude neue räumliche Aspekte abgewinnen konnten. Für die unverwechselbare und präzise graphische Gestaltung der Ausstellung und dieses Buches zeichnete das Bueronardin verantwortlich. Wie die Ausstellung, so möchte auch dieses Buch ein umfassendes Bild von Wagners Schaffen zeichnen. Es ist als ein neues Standardwerk zum Werk Otto Wagners konzipiert und reflektiert den aktuellen Stand der internationalen Forschung. Wenn Ausstellung und Buch unser Wissen über Wagner erweitern und zugleich der wissenschaftlichen Aus­ einandersetzung mit seinem Schaffen neue Impulse geben, dann sind damit wesentliche Aufgaben des Museums erfüllt. Matti Bunzl Direktor Wien Museum


Otto Wagner, Fotografie von Victor Angerer, 1880 Wien Museum

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Otto Wagner — Eine Annäherung Andreas Nierhaus Eva-Maria Orosz

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Im historischen Rückblick markiert der Tod Otto Wagners am 11. April 1918 das Ende einer Epoche. Im Februar war mit Gustav Klimt die zweite Zentralfigur der Wiener Moderne verstorben, Koloman Moser und Egon Schiele sollten im Oktober folgen. Wagner, um Jahrzehnte älter als die übrigen Protagonisten des kulturellen Aufbruchs im Wien des fin de siècle, hatte ihnen mit seinen Bauten, Projekten und Schriften den Weg gewiesen. Mit dem Tod dieser Künstler ging eine Ära zu Ende, die erst mehr als ein halbes Jahrhundert später unter dem folgenschweren Titel „Wien um 1900“ wiederentdeckt und in der Folge zu einer ökonomisch relevanten „Marke“ ausgebaut werden sollte – im Fall Wagners mit der ebenso perfiden wie dramatischen Konsequenz, dass aus dem radikalen und widersprüchlichen Modernisten ein leicht konsumierbarer, harmloser „Jugendstil“Architekt gemacht wurde. Heute gilt es, die überragende Qualität seiner Bauten ebenso wie die Brisanz und Aktualität seiner Schriften in den Vordergrund zu rücken, bilden sie doch die Basis der Architektur des 20. Jahrhunderts. Die Nachrufe, die in den Tagen nach Wagners Tod in den von Frontmeldungen und Kriegspropaganda vollen Wiener Blättern erschienen, waren sich der weit über Österreich hinausreichenden Bedeutung des Verstorbenen bewusst. Das Fremden-Blatt nannte ihn „den größten Architekten der Gegenwart“, die Neue Freie Presse einen „Bahnbrecher“, die Reichspost einen „genialen An- und Aufreger“, für die Arbeiter-Zeitung war er „ein moderner Großstädter“ aus Leidenschaft, für die Wiener Allgemeine Zeitung ein „Mann mit unbeugsamen Energien“.1 Wiederholt wurde das tragische Schicksal der zahlreichen visio­ nären Projekte beschrieben, die am Konservatismus und der Ignoranz seiner Zeitgenossen gescheitert waren; einhellig war aber auch von seinem Optimismus und bis zuletzt jugendlichen Elan die Rede. In Wagners Hauptwerken – der Stadtbahn, der Postsparkasse und der Kirche am Steinhof – erkannte man den Überwinder des Historismus und Begründer einer neuen, auf Zweck, Material und Konstruktion basierenden Architektur, aber auch den geborenen Großstadtarchitekten, der an der Provinzialität seiner Vaterstadt gescheitert sei. Man lobte seine unermüdliche Schaffenskraft, seine Begeisterung für die Gegenwart und das „moderne Leben“, seine Kampfeslust und die Hingabe als Lehrer an der Akademie der bildenden Künste.

Die wenigen kritischen Stimmen nannten Starrköpfigkeit, Unerbittlichkeit und Rücksichtslosigkeit als negative Eigenschaften des Verstorbenen. Einer seiner schärfsten Kritiker hielt schließlich fest: „Als Mensch und Künstler war er eine so ausgeprägte Erscheinung, daß er fast nur enthusiastische Anhänger oder heftige Gegner gefunden hat […].“2 Doch ungeachtet der großen Wertschätzung begann der Stern Wagners rasch zu verblassen. Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Untergang der Donaumonarchie und die Ausrufung der Republik am 12. November 1918 bedeuteten für Österreich den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die großbürgerliche und weltstädtische, optimistisch auf die Zukunft ausgerichtete Architektur Wagners bald wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Ära anmuten musste. Während seine Schüler mit monumentalen Bauten das groß angelegte Wohnbauprogramm des Roten Wien prägten, verkündete die Architektur-Avantgarde in Deutschland – wie ein Vierteljahrhundert zuvor Wagner in Wien – erneut die Loslösung von der Tradition und den Beginn eines radikal funktional(istisch)en Neuen Bauens. Dabei geriet die mehr evolutionäre als revolutionäre Architekturauffassung Wagners,3 der stets auch von der „Schatzkammer der Überlieferung“4 gesprochen sowie den Wert und die zentrale Bedeutung des Ornaments für die Baukunst zu keiner Zeit verkannt hatte, rasch in Vergessenheit. In der heroischen Phase der modernen Architektur war kein Platz für einen selbstkritischen Blick in die eigene Vergangenheit. Daran konnte auch ein 1930 vom Österreichischen Werkbund auf dem Ballhausplatz errichtetes Denkmal nichts ändern: Wagners Architektur war Geschichte. Erst in den 1960er-Jahren, nicht zufällig parallel mit einer zunehmenden Skepsis an der gesellschaftlichen Trag­fähigkeit des nun als geschichts- und gesichtslos empfundenen Funktionalismus in Architektur und Städtebau, begann man sich wieder der Leistungen Wagners zu entsinnen. Galten die Bauten der Jahrhundertwende lange Zeit hindurch pauschal als altmodisch und kitschig, so bildete der bevorstehende Abbruch mehrerer Stadtbahnstationen den akuten Anlass, auf Wagners überragende Bedeutung für Wien hinzuweisen.5 1963 fand im Historischen Museum der Stadt Wien die erste umfassende, von Otto Antonia Graf kuratierte Ausstellung zum Werk des Architekten statt.6 Im Jahr darauf


Pavillon der Stadtbahnstation Karlsplatz während der Wiederaufstellung 1977, Fotografie von Josef Schneider Wien Museum

erschien die Monographie von Heinz Geretsegger und Max Peintner mit einem Vorwort von Richard Neutra.7 Damit war der Weg zu einer Wagner-Renaissance geebnet, die sich nicht nur in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen – allen voran von Otto Antonia Graf, Peter Haiko, Harry Francis Mallgrave und Werner Oechslin – niederschlug, sondern allmählich auch in einer neuen Wertschätzung seiner Bauten bis hin zur bereits erwähnten touris­tischen Vereinnahmung, Banalisierung und Verharmlosung: Die 1970 unter lauten Protesten demontierten, 1977/78 wieder aufgestellten Stadtbahn-Pavillons am Karlsplatz sind heute nur mehr schöne Attrappen.8 Mittlerweile ist der Name Otto Wagner ein so selbstverständlicher Teil des kollektiven Gedächtnisses, dass es wieder an der Zeit ist, auf seine historische Leistung hinzuweisen und ihn in all seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit als visionären Wegbereiter der Architektur des 20. Jahrhunderts verständlich zu machen. Aber auch Fragen der gegenwärtigen Architektur und Stadtplanung lassen sich ausgehend von Wagners Bauten, Projekten und Schriften disku­tieren und neu bewerten.

Wenn Otto Wagner heute zu Recht als der bedeutendste Wegbereiter, als „Pionier“ der modernen Architektur gilt, dann muss hervorgehoben werden, dass er um Jahrzehnte älter war als die anderen Protagonisten der architek­tonischen Erneuerung um 1900.9 Als Erster zog Wagner die Konsequenzen aus der offensichtlichen Aporie der Stilarchitektur des Historismus und trat für eine neue Baukunst ein, die voraus- und nicht zurückblicken, ihre Formensprache aus den Bedürfnissen der Gegenwart und des „modernen Lebens“ entwickeln und alle Errungenschaften ihrer Zeit in sich aufnehmen sollte. Sein beinahe sechs Jahrzehnte umfassendes Schaffen ist durch eine große formale Wandelbarkeit und Vielfalt der Aufgaben geprägt; zugleich war es auf Wien fokussiert, dessen Entwicklung zur Großstadt er kritisch begleitete, aktiv mitgestaltete und wie kein Zweiter prägte. Wagner stand aber auch an einer Zeitenwende: Er war der letzte große Architekt des 19. Jahrhunderts und der erste große Architekt des 20. Jahrhunderts. Karl Friedrich Schinkel, Gottfried Semper sowie seine Lehrer August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll waren Wagners wichtigste Vorbilder – ihre Namen erscheinen als Inschriften im Fries des „Künstlerhofes“, seines letzten, nicht mehr realisierten Miethausprojektes (Kat.-Nr. 159). Schinkels konsequente Neuinterpretation und Weiterentwicklung des klassischen antiken Formenvokabulars für die Bedürfnisse und Ansprüche einer modernen Großstadt, seine intensive Auseinandersetzung mit neuen Baumaterialien und sein umfassender Gestaltungsanspruch übten großen Einfluss auf Wagner aus, der während seines Studiums in Berlin Gelegenheit hatte, die Bauten Schinkels zu studieren. Noch unmittelbarer war der Einfluss Sempers, dessen Wiener „Kaiserforum“ für Wagner das Muster einer monumentalen städtebaulich-architektonischen Planung bildete. Sempers theoretische Schriften boten wichtige Anregungen für Wagners Moderne Architektur von 1896, und von Semper übernahm er auch sein Motto „Artis sola domina necessitas“. Wichtige Anstöße für Wagners Kritik am Historismus kamen auf direktem oder indirektem Wege von Sicard und van der Nüll, deren Wiener Hofoper Wagner als „das beste Bauwerk dieser Epoche“ bezeichnete.10 Bereits 1845 hatte van der Nüll festgehalten, dass man in der Architektur „auf dem Wege der Nachahmung zu nichts gelanget“, und prophezeit, dass es die neuartigen Konstruktionen sein werden, die dereinst zu einer neuen Formensprache führen werden.11 Fast fünf Jahrzehnte später sollte Wagner daran anschließen und seine Vorstellung von einer konsequent aus den Anforderungen von Konstruktion, Material und Funktion entwickelten, von „Poesie“ durchdrungenen Architektur darlegen. Prägend war nicht zuletzt aber auch die Beziehung zu Theophil Hansen, der für den Umbau des Familienhauses in der Göttweihergasse verantwortlich gezeichnet hatte, den jungen Wagner zum Studium nach Berlin schickte, ihn als Bauleiter beim Palais Epstein einsetzte und ihm Aufträge verschaffte. Hansens „griechische Renaissance“ wurde für Wagner zu einem unmittelbaren Anknüpfungs­punkt in seinem Frühwerk und wirkte in seinen späteren Arbeiten strukturell fort. Überhaupt blieb Wagner zeit

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Otto Wagner am Arbeitstisch, Zeichnung von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf, 1900 Privatbesitz

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seines Lebens – und unter der für das Verständnis seines Schaffens fundamentalen „Oberfläche“ der zeitweise mit secessionistischen Ornamenten gefüllten, später mit Platten verkleideten, dann wieder glatt verputzten Fassaden – ein „Klassizist“. Das Baugeschehen an der Ringstraße, dem damals größten Experimentierfeld des Historismus in Europa, prägte Wagner von Anfang an und sollte später zum Ausgangspunkt für seine Kritik an der zeitgenössischen Stilarchitektur werden.12 Er begann seine Laufbahn in den frühen 1860er-Jahren mit dem Bau von Miethäusern, die heute nur mehr zum Teil nachgewiesen werden können. Bereits die ersten bekannten Arbeiten, allen voran die Synagoge in Budapest (Kat.-Nr. 10), zeugen von einem individuellen und selektiven Zugriff auf die historischen Vorbilder. Durch Wettbewerbsbeteiligungen im In- und Ausland machte sich Wagner einen Namen unter den Architektenkollegen, in der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er mit den Fest­ dekorationen zu Ehren des Kaiserhauses 1879 und 1881 (Kat.-Nr. 33 und 40). Ein frühes Hauptwerk war das von 1882 bis 1884 errichtete Gebäude der Länderbank (Kat.-Nr. 45). Auf einer ungünstig geschnittenen Parzelle legte Wagner einen funktional durchdachten Grundriss an, aus dem das komplexe Raumgefüge konsequent und logisch entwickelt wird – klare und übersichtliche Grundrisse sollten auch die späteren Entwürfe des Architekten auszeichnen. Die Hinwendung zum lange verpönten Barock ab etwa 1880 mag für Wagner den Anlass zu einem konsequenteren Überdenken der kanonisierten Stillehre des Historismus

gegeben haben. 1889 war er dann zur Überzeugung gelangt, „daß eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit größtmöglichster Berücksichtigung aller unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungen­schaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein Richtige sei“. Die Stilarchitektur sei „kindisch“, der eigentliche „Zukunftsstil“ werde der „Nutz-Stil“ sein.13 Zu jener Zeit beschäftigte er sich erstmals intensiv mit der künstlerischen Integration des Eisens als neuem Baustoff des 19. Jahrhunderts. Im Entwurf für den Generalregulierungsplan von Wien von 1892/93 (Kat.-Nr. 66) entwickelte Wagner erstmals seine Vision einer modernen, vom Verkehr systematisch erschlossenen, funktionalen Großstadt. In der begleitenden Schrift übte er scharfe Kritik am „Ingenieur- und Maurermeister­ styl“, der Wien verunstalte, und forderte eine baukünstlerische Gestaltung der Stadt. Den „malerischen“ Städtebau im Gefolge Camillo Sittes lehnte Wagner ab, sein städtebauliches Ideal waren großartige urbane Szenerien, wie sie im Paris Haussmanns realisiert worden waren. Im Jahr 1894 wurde Wagner mit der künstlerischen Leitung der Stadtbahn betraut (Kat.-Nr. 71). Dieser Auftrag – einer der größten seiner Zeit – bedeutete einen Wendepunkt in seinem Schaffen: Für das moderne Massen­ verkehrsmittel entwickelte er eine aus der Funktion abgeleitete, unverwechsel­bare Formensprache abseits historischer Schablonen. Als einheitlich gestaltete Großstruktur, die sich der spezifischen urbanen Topographie nicht nur anpasst, sondern diese regelrecht inszeniert, ist die Stadtbahn die bis heute bedeutendste städtebauliche Leistung in Wien nach der


Ring­straße.14 Mit dem Nussdorfer Wehr (Kat.-Nr. 70), das Wagner zu seinen Lieblingsbauwerken zählte, entstand zur gleichen Zeit ein ikonisches Eingangstor in die Stadt, das die im Bauwerk wirksamen Kräfteverhältnisse in Architektur übersetzte. In das Jahr 1894 fällt auch die Berufung an die Akademie der bildenden Künste, wo Wagner mit einer jungen Architektengeneration konfrontiert wurde, die er nach seinen Vorstellungen formen wollte, von der er aber auch wichtige Impulse erhielt. In seiner Antrittsrede rechnete er mit der Stilarchitektur ab und forderte: „der Ausgangspunkt jedes künstle­ rischen Schaffens müssen [...] das Bedürfniss, das Können, die Mittel und die Errungenschaften unserer Zeit sein.“15 Die zugleich überaus produktive und provokative „Wagner-Schule“ wurde bald zum wichtigsten Laboratorium der modernen Architektur in Europa und half, den Ruhm des Meisters zu steigern. Wagners Schüler wirkten später als Professoren an Akademien, Hochschulen und höheren tech­nischen Lehranstalten in den wichtigsten Städten der Monarchie und über sie hinaus. Der Einfluss Wagners reichte bis an die Westküste der USA, wo sein Schüler Rudolph M. Schindler im Verein mit Richard Neutra, einem Bewunderer Wagners, und in Auseinandersetzung mit Frank Lloyd Wright, der ebenfalls von Wagner und seinen Schülern geprägt worden war, eine eigenständige kalifornische Moderne entwickelte.16 Im Rahmen von Wagners Lehrtätigkeit entstand aus VorlesungsMitschriften Max Fabianis die 1896 veröffentlichte Moderne Architektur, das Gründungsmanifest einer vom Historismus emanzipierten neuen Baukunst des 20. Jahrhunderts. Die Schrift – mit Kapiteln über den Architekten, den Stil, die Komposition, die Konstruktion und die Kunstpraxis – geht vom Grundsatz aus, dass der einzige Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens das „moderne Leben“ sein dürfe. Der Architekt als „die Krone des modernen Menschen“ ist der Schöpfer einer neuen Kunstepoche. Die Stilarchitektur wird als „Wahnsinns­ gebäude“ bezeichnet, das „umzureissen“ sei; der neue Stil werde auf anderer Grundlage entstehen: „Alle modernen Formen müssen dem neuen Material, den neuen Anforderungen unserer Zeit entsprechen, wenn sie zur modernen Menschheit passen sollen, sie müssen unser eigenes besseres, demokra­ tisches, selbstbewusstes, ideales Wesen veranschaulichen und den kolossalen technischen und wissenschaftlichen Erfolgen, sowie dem durchgehenden praktischen Zuge der Menschheit Rechnung tragen – das ist doch selbstverständlich!“17 In Hinblick auf die Komposition weist Wagner unter anderem auf die Empfänglichkeit seiner Epoche für „grosse Effecte“ hin, fordert aber auch „künstlerische Oekonomie“: „Das Einfache, Praktische, beinahe möchte man sagen Militärische unserer Anschauungen muss […] voll und ganz zum Ausdrucke gebracht werden.“18 Der Kern von Wagners neuer Kunstlehre ist im Kapitel über die Konstruktion enthalten: „Bedürfniss, Zweck, Construction und Idealismus sind […] die Urkeime des künstlerischen Lebens.“19 Neue Konstruktionen, so schreibt Wagner unter Berufung auf Gottfried Semper, müssen zwangsläufig zu neuen Formen

führen. Durch die Integration der neuen Baustoffe des 19. Jahrhunderts – allen voran des Eisens – werde ein neuartiger Stil entstehen: „Der Architekt hat immer aus der Construction die Kunstform zu entwickeln.“20 Zu diesem Zweck müsse sich der Baukünstler jedoch des vom Ingenieur beherrschten Terrains bemächtigen. Als Alternative zur kostspieligen Steinarchitektur des Historismus schlägt Wagner für Monumentalbauten eine „moderne Bauart“ vor: die Fassaden werden mit Steinplatten verkleidet, die Gesimse bestehen aus Eisenträgern – die Hülle bzw. „Haut“ wird vom konstruktiven Kern getrennt, die Deko­ ration löst sich vom Bau.21 Wagners Hinweise zur „Kunstpraxis“ reichen von der Anlage und Gestaltung der Großstadt – das „Modernste des Modernen in der Baukunst“22 – bis ins Interieur. Sein ausführliches Eingehen auf die Gestaltung der Wohnumgebung im Kontext der Schrift ist kein Zufall. Wagner beschäftigte sich immer wieder mit der Innendekoration und dem weiten Gebiet der Gestaltung von Alltagsgegenständen. Die Fragen zur Formgebung stehen in enger Korrelation zu seinen Anliegen in der Architektur, sodass die Entwicklungen synchron verlaufen. Wenn im Werk Wagners der Entwurf von Alltagsgegenständen im Umfang auch weit hinter der Architektur rangiert, werden gerade hier zentrale Ziele – „NutzStil“, ökonomische Herstellung – mitunter früher umgesetzt. Radikal neue Lösungen wie die gläserne Badewanne in seinem „Absteig­quartier“ legen Zeugnis eines Experimentierens ab, das zu Innovation führt (Kat.-Nr. 82). Wagner greift auf das gesamte Spektrum technischer Möglichkeiten zurück und setzt dabei für die industrielle Produktion im 20. Jahrhundert wichtige Impulse; ebenso verhilft er dem modernen Kunsthandwerk zu neuer Anerkennung. Wie in der Architektur gilt auch hier, dass Wagner von der jüngeren Architektengeneration inspiriert Design­ geschichte schrieb (Kat.-Nr. 94). Vielleicht gerade weil Moderne Architektur kein im strengen Sinn architekturtheoretisches Werk darstellt, sondern theoretische Überlegungen, kulturgeschichtliche Beobachtungen und praktische Erfahrungen miteinander verknüpft, war der Erfolg der Schrift groß – ebenso wie die Kritik jener, die die Argumentation systematisch zu zerlegen wussten und auf Widersprüche innerhalb des Textes, aber auch zwischen Wagners Postulaten und seiner Baupraxis hinwiesen.23 Nach dem Erscheinen des Buches und den kritischen Reaktionen vonseiten der Vertreter der Stilarchi­tektur des Historismus begann Wagners Kampf gegen die Tradition. Der Austritt aus dem Künstlerhaus und der Beitritt zur Secession 1899, als deren „Vater“ er seit ihrer Gründung gegolten hatte, bedeuteten den endgültigen Bruch mit dem Wien der Ringstraßenzeit, führten aber auch zum Verlust jahrzehntelanger Freund- und Seilschaften. Mehr als durch seine Bauten führte Wagner seinen leidenschaftlichen Kampf für die moderne Architektur mit Schriften, Zeichnungen und Publikationen. Begleitet wurde er dabei von ihm gesonnenen Journalisten wie Ludwig Hevesi, Arthur Roessler und Berta Zuckerkandl sowie seinem ersten Biographen Joseph August Lux. Unterstützt wurde Wagner

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durch seine Schüler, die sich als jugendliche Phalanx begriffen und mit martialischen Tönen gegen den Widerstand der Kon­vention antraten. Wagners Projekte führten zu lebhaften Diskus­sionen in den Zeitungen und machten Architektur in Wien erst­ mals seit Jahrzehnten zum Thema öffentlicher Kontroversen. Und je schärfer die Attacken gegen die Tradition, desto stärker fühlten sich deren Vertreter angegriffen. Sein abtrünniger Schüler Leopold Bauer warf Wagner vor, durch sein vehementes, rücksichtsloses und apodiktisches Agitieren der Moderne mehr geschadet als genützt zu haben.24 Obwohl die meisten seiner Projekte keine Aussicht auf Erfolg hatten, erklärte Wagner den Kampf bereits 1901 für beendet: „Die Moderne ist trotz aller gegenteiligen Prophezeiungen und trotz der verwerflichsten Kampfesmittel ihrer Gegner Siegerin geworden und wird es immer bleiben.“25 Während der kurzen Regierungszeit des liberal orientierten Ministerpräsidenten Ernest von Koerber von 1900 bis 1904 fand die Moderne und mit ihr Wagner tatsächlich Unterstützung von höchsten öffentlichen Stellen. Als langjähriges Mitglied des Kunstrates des Ministeriums für Cultus und Unterricht konnte Wagner zudem Einfluss auf die staatliche Kunstpolitik nehmen. Während er den unparteiischen Kaiser Franz Joseph als Garant für die Freiheit der Kunst erachtete,26 erwuchs ihm in der Person des Erzherzogs Franz Ferdinand, der sich zunehmend in öffentliche Kunstangelegenheiten ein­ mischte, sein größter Feind. Die Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo 1914 sollte Wagner später als „ein großes Glück“ für Österreich bezeichnen.27 Wagners höchstes Ziel war die Errichtung eines Monumentalbaus, der beweisen sollte, dass eine auf Funktion, Konstruktion und Material basierende Architektur nicht nur für „Zweckbauten“, sondern auch für Monumentalbauten der einzig mögliche Weg sei. Der Versuch, prestigeträchtige Aufträge vom Kaiserhof zu erhalten, damit der Moderne eine imperiale Aura zu verleihen und zugleich der Repräsentation des Kaisers ein neues Gesicht zu geben, schlug mehrfach fehl; zahlreiche Projekte für öffentliche Bauten, allen voran das Stadtmuseum am Karlsplatz bzw. auf der Schmelz, dessen Planung er 13 Jahre hindurch mit größter Energie verfolgte, blieben Papier. Erst mit der Kirche am Steinhof und der Postsparkasse konnte er im Alter von mehr als sechzig Jahren zwei späte Hauptwerke realisieren: Mit der Kirche demonstriert Wagner, wie die am stärksten von der Tradition bestimmte Bauaufgabe konsequent modernisiert werden konnte – und umgekehrt, dass gerade der Sakralbau immer noch zu Innovationen fähig war; im „Zweckbau“ der Postsparkasse leitet er Monumentalität aus demonstrativer Funktionalität ab. Hier wird offenkundig, dass Wagner die im „bürgerlichen“ 19. Jahrhundert ausgebildeten Kategorien und Hierarchien repräsentativer öffentlicher Bauten mit der Moderne durchdringen möchte, ohne an der Tragfähigkeit dieser Strukturen zu zweifeln. Dies zeigte sich auch beim Wettbewerb für den Friedenspalast in Den Haag 1905 (Kat.Nr. 111), wo Wagners modernes Projekt zwar eine Alternative zu der internationalisierten, nach wie vor auf den historischen

Stilen fußenden Architektur der École des Beaux-Arts darstellte, in seiner Grundhaltung aber an den Konventionen des monumentalen Bauens festhielt. Während er wie nur wenige andere Architekten seiner Zeit auf ökonomische Veränderungen und technische Errungenschaften reagierte und sie sich zunutze machte, stellte Wagner das gesellschaftliche System nicht infrage – er sah wohl auch keinen Anlass dazu. Seine Moderne blieb an die bürgerliche Kultur gebunden. 1911 zog Wagner mit der Studie über die Großstadt die Summe seiner städtebaulichen Überlegungen. Er formulierte damit einerseits das Bauprogramm einer vom Kapitalismus geprägten, unbegrenzt wachsenden und zugleich streng rational und funktional geprägten Metropole mit geraden Straßenzügen, geprägt von uniformen, auf maximale Rendite abzielenden Wohnhäusern und monumentalen, streng symmetrischen Platz­ anlagen; zugleich schlug er unter Hinweis auf die Kommunalisierungsbestrebungen des von ihm verehrten christlichsozialen Bürgermeisters Karl Lueger ein Enteignungsgesetz vor, das den rechtzeitigen Erwerb billiger Baugründe am Stadtrand durch die Gemeinde ermöglichen sollte. Aus dem durch den Wertzuwachs gesteigerten Verkaufserlös dieser Gründe könnten dann nicht zuletzt auch kommunale Wohnbauten errichtet werden. Wagner ging es dabei weniger um soziale Fragen als vielmehr um einen planmäßigen und ästhetisch vollwertigen Ausbau der Großstadt. A. D. F. Hamlin in New York, der Wagner zu der Schrift angeregt hatte, raubte diese Art von „state socialism“ dennoch beinahe den Atem.28 Erst Wagners Schüler sollten im Roten Wien der Zwischenkriegszeit das kommunale Wohnbauprogramm maßgeblich mitgestalten, indem sie die „Volkswohnpaläste“ der 1920er-Jahre auf Basis der monumentalen Phantasieentwürfe der Akademiezeit projektierten. In zeitlicher Nähe zur Großstadt-Studie entstanden um 1910 Wagners letzte Bauten. An den Fassaden der beiden Miethäuser in der Neustift- und Döblergasse sowie der Zweiten Villa in Hütteldorf (Kat.-Nr. 123, 133, 134) wird die formale Reduktion konsequent zu Ende gedacht, jegliches „Ornament“ ausschließlich aus dem orthogonalen Liniennetz und dem Material entwickelt. Unter der dünnen Putzschicht werden die strengen klassischen Proportionen umso deutlicher sichtbar. Von der Plattenverkleidung war Wagner zu jener Zeit wieder abgekommen; auch für Monumentalbauten propagierte er nun den angeblich ewig haltbaren „Edelputz“ – so etwa beim Entwurf für das Stadtmuseum auf der Schmelz von 1912 (Kat.Nr. 135), mit dem sein endgültiges Scheitern in der Museums­frage besiegelt wurde. Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, durch den bedeutende Bauaufträge sistiert wurden, erkrankte Wagners Frau Louise schwer. Er hatte die um 18 Jahre jüngere Liebe seines Lebens 1879 kennengelernt und sich ihretwegen von seiner ersten Frau, Josefine Domhart, scheiden lassen. Die große Liebe zu Louise, von Otto Antonia Graf als der eigentliche Motor seines Schaffens interpretiert,29 kommt


in einem Tagebuch zum Ausdruck, mit dessen Niederschrift Wagner in der Zeit ihrer Erkrankung begann und das er nach dem Tod seiner Frau im Oktober 1915 in Form von Briefen an die Verstorbene bis wenige Tage vor seinem Tod führen sollte.30 Dieses Tagebuch ist zunächst ein Dokument des Verlustes und besteht vor allem aus Anrufungen eines verzweifelten, zunehmend hilflosen Hinterbliebenen an die Verstorbene, enthält aber auch Hinweise auf den Alltag im Hause Wagner und sporadisch Informationen zu seinem Werk. Nicht zuletzt finden sich darin antisemitische Beschimpfungen, zumeist in Verbindung mit der Entente, aber auch aus alltäglichem Anlass. Sie entsprechen dem weitverbreiteten Antisemitismus der Zeit, sind aber gerade im Fall Wagners aufschlussreich, der ein erklärter Anhänger des bekannt antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger war und seit Beginn seines Schaffens stets mit jüdischen Auftraggebern und Geschäftspartnern zusammengearbeitet hatte. Noch 1911 reihte er den Bau der Synagoge in Budapest stolz unter seine Hauptwerke (Abb. S. 520). Eine systematische Auswertung und Analyse dieses Tagebuchs steht noch aus. Wenige Monate nach Wagners Tod und kurz vor dem Ende der Monarchie erwarb die Stadt Wien einen Teil des künstlerischen Nachlasses des Architekten und legte damit den Grundstein für die Wagner-Sammlung des heutigen Wien Museums. Der Großteil der Zeichnungen aus Wagners Atelier verblieb in Familienbesitz und wurde später zerstreut, vieles davon zerstört. Die Geschichte dieses Nachlasses hat Graf im Vorwort zu seinem 1985 erschienenen Werkverzeichnis nachgezeichnet. Der Verlust des Großteils der Korrespondenz, der gesamten Fotografien und Vorlagensammlungen sowie der Bücher und Zeitschriften aus Wagners Besitz erschwert die historisch-kritische Auseinandersetzung und macht jedes Forschungsergebnis noch vorläufiger. Heute besitzt das Wien Museum mit weit über tausend Blättern den größten Teil von Wagners Zeichnungen, gefolgt vom Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste, der Albertina und dem Wiener Stadt- und Landes­archiv. 55 Jahre nach der letzten Ausstellung, die Otto Wagners Gesamtwerk der Öffentlichkeit präsentierte, widmet das Wien Museum im Jahr 2018 einem der bedeutendsten Architekten der Moderne abermals eine umfassende Schau. Das Buch zur Ausstellung enthält Beiträge namhafter Expertinnen und Experten sowie den ersten kommentierten Katalog von Wagners Bauten, Projekten und kunstgewerblichen Arbeiten. Es stützt sich auf die umfassenden Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte, möchte aber zugleich der wissenschaftlichen Auseinander­ setzung mit Wagner neuen Antrieb geben und die Aktualität vieler Aspekte seiner visionären „Weltstadtarchitektur“ – nicht zuletzt für das prosperierende, aber auch von zahlreichen städte­baulichen, architektonischen und baukulturellen Problemfällen geprägte Wien der Gegenwart – sichtbar machen.

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Richard Hoisel: Otto Wagner, in: Fremden-Blatt, 12.04.1918, S. 1-2, hier S. 2; Josef Strzygowski: Otto Wagner, in: NFP, 12.04.1918, S. 4; Karl Holey: Otto Wagners Lebenswerk, in: Reichspost, 12.04.1918, S. 2; Arthur Roessler: Otto Wagner, in: Arbeiter-Zeitung, 16.04.1918, S. 2-3, hier S. 2; Berta Zuckerkandl: Otto Wagner, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 12.04.1918, S. 1-2, hier S. 1. Adalbert Franz Seligmann: Otto Wagner, in: NFP, 13.04.1918, S. 1-3, hier S. 3. Vgl. Oechslin 1994 und 1999. Wagner 1896, S. 39. Czech 1963/1968. Vgl. auch Czech 2017. Graf 1963b; 1930 hatte eine von Max Eisler zusammengestellte Präsentation der Arbeiten Wagners im Wiener Künstlerhaus stattgefunden (vgl. Ausst.-Kat. 1930). Zum 25. Todestag 1943 zeigte das Historische Museum der Stadt Wien im Rathaus die Ausstellung „Otto Wagner und Wien“ (kein Katalog). Geretsegger/Peintner 1964. Vgl. Missing Link 1978. Alfred Messel war zwölf Jahre jünger als Wagner, Louis Sullivan 14 Jahre, Joseph Maria Olbrich und Frank Lloyd Wright 26 Jahre, Peter Behrens 27 Jahre, Josef Hoffmann und Adolf Loos 29 Jahre. Wagner 1912a (zit. nach Graf 1985, S. 652).

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Vgl. Graf 1984b. Vgl. Tietze 1922, S. 6. Otto Wagner: Einige Scizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke, Wien: Selbstverlag 1889, Einleitung. Czech 1963/1968, S. 31. Wagner 1894, S. 530. Zu Frank Lloyd Wright und Wagner vgl. Anthony Alofsin: Frank Lloyd Wright. The lost years, 1910–1922. A study of influence, Chicago/ London 1993. Wagner 1896, S. 37. Ebenda, S. 46. Ebenda, S. 54-55. Ebenda, S. 58. Vgl. Oechslin 1994, insbesondere S. 88-113. Wagner 1896, S. 72. Vgl. Mallgrave 1988 und Mallgrave 1993a. Leopold Bauer: Offener Brief an Otto Wagner, in: NWT, 31.01.1910, S. 9. Moderne Architektur, Vorwort zur dritten Auflage (Oktober 1901), S. 6-7. Vgl. Berta Zuckerkandl: Österreich intim: Erinnerungen 1892 bis 1942, Frankfurt/Main 1970, S. 32. Vorwort zum Tagebuch, Fotokopie im Archiv Otto Antonia Graf im Wien Museum. A. D. F. Hamlin: Einleitung zur englischen Ausgabe von „Die Großstadt“, in: Architectural Record 31 (1912), S. 485-486, hier S. 486. Graf 1997, S. 1193-1225. Eine Fotokopie des Manuskripts sowie eine wortgetreue Transkription (Typoskript) befinden sich im Archiv Otto Antonia Graf im Wien Museum.

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Louise und Otto Wagner, Pastellbildnisse von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf, 1896 Wien Museum, Inv.-Nr. 168.491 und 168.490

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Historische Verwerfungen Otto Wagner und die immer noch nicht bereinigte Geschichte der modernen Architektur Werner Oechslin 16

Geschichte: Moderne – Zäsur/Epoche? „De la certitude de l’Histoire. Toute certitude qui n’est pas démonstration mathématique, n’est qu’une extrème probabilité. Il n’y a pas d’autre certitude historique.“ „Incertitude de l’Histoire. On a distingué les tems en fabuleux & historiques. Mais les tems historiques auroient dû être distingués eux-mêmes en vérités & en fables.“1 Voltaire, in: Diderot/d’Alembert: Encyclopédie, VIII, Neufchastel 1765, S. 223 und S. 224.

Die Zeit lässt sich nicht aufhalten; dies ist die Grundlage und Voraussetzung jeglicher Geschichte und somit auch der Geschichtsschreibung.2 Notierte Ereignisse werden meistens erst hinterher zu einer Geschichte zusammengefasst – und geordnet. Und deshalb gerät sie dann häufig zur Legitimation oder gar zur Propaganda wie in Caesars De bello gallico oder zuvor bei Herodot, der gemäß Voltaire den Sieg und die Überlegenheit des kleinen Volkes der Athener („d’un petit peuple généreux & libre“) über ganz Asien („sur toute l’Asie esclave“) zur Darstellung gebracht hat.3 Die Geschichte erhält aus solcher Akzentsetzung und Charakterisierung ihren Wert und tieferen Sinn; nochmals am Beispiel Herodots und in den Worten Voltaires: „[…] est peut-être ce qu’il y a de plus glorieux chez les hommes“.4 Und wer möchte letztlich nicht einen ‚Sinn‘ aus der Geschichte ziehen, wenn nicht gar das ciceronianische „magistra vitae“ beanspruchen. Die Erwartung provoziert gleich­sam die ‚tendenziöse‘ Deutung eines histo­rischen Sachverhalts. Also spricht Voltaire nicht von Wahrheit, sondern vom Aspekt (oder von der Absicht) einer Wahrheit. Sein kurzer, in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert publizierter Text beginnt so: „HISTOIRE, s. f. c’est le récit des faits donnés pour vrais; au contraire de la fable, qui est le récit des faits donnés pour faux.“5 Ob man nun mit Jean Bodin die Historie als „vera narratio“ einführen will, wobei auch er Menschheitsgeschichte mit dem Attribut „probabilis“ verknüpft,6 oder ob man mit David Chyträus gleich auf die „EXEMPLA illustria“ zusteuert, die dann ‚klugerweise‘ als Regeln weitergegeben werden sollen („[…] utile

est in lectio Historiarum, Exempla […] prudenter accomodare ad Regulas, seu Leges vitae“),7 oder aber ob man mit Voltaire Geschichte grundsätzlich von einer absoluten (mathema­ tischen) Wahrheit abkoppelt, es bleibt ein schwieriges, menschlichem Ermessen häufig mehr als erwünscht überantwortetes und für anderweitige Bedürfnisse oft allzu offenes Geschäft. Umso auffälliger der Anspruch auf Objektivität, den Walter Gropius in seiner Internationalen Architektur (1925, 1927) mit der Beurteilung dessen verbindet, was er nun sichtlich in dieser Absicht aus der Geschichte herauslöst und über sie und gegen sie stellt. „Objektivierung“ und „objektive Geltung“ sind die Zielsetzungen; bei aller Konzession an konkretere historische Räume bevorzugt Gropius ein Schema von „drei konzentrischen Kreisen – Individuum – Volk – Menschheit“, bei dem „der letzte größte“ auch die beiden anderen umspannt: „Daher der Titel: ‚Internationale Architektur‘!“8 Zugeordnet ist die „Sehnsucht“, „die geistigen Werte aus ihrer individuellen Beschränkung zu befreien und zu objektiver Geltung em­por­zuheben“, und der „Wille zur Entwicklung eines einheit­lichen Weltbildes“.9 Erstaunlich ist dabei die Wortwahl – Sehnsucht, Wille –, mit der diese objektive Welt beschworen werden soll. Letzteres erinnert an das „Kunstwollen“, das von Alois Riegl gegen die „Sempersche mechanistische Auffassung“ gesetzt wurde und von Peter Behrens in die Architekturdiskussion eingeführt worden war.10 Ein „zweckbewußtes Kunstwollen“, eine „teleologische“ Auffassung müsse an diese Stelle treten. Und von dieser willensbestimmten, unbedingt nach vorne gerichteten Art sind sämtliche Vokabeln, die Gropius nun für alles, was geschichtliche Abläufe betrifft, einsetzt, um die Zukunftsoptionen umso besser gegen das stets in negative Formulierungen gehüllte Gegebene abzusetzen; Neu gegen Alt, gleichbedeutend mit Gut gegen Schlecht, lautet diese Geschichte ersetzende Schablone, derer sich Gropius und die moderne Propaganda bedient. „Zukunftsweisende Bedeu­tung“ und „Gestaltungswillen“ versus „Niedergang“ und das Versinken des Guten in einem „vergangenen Zeit­ abschnitt“. Dass sich hier Widersprüche ergeben, wenn etwa die „forma­listische Entwicklung“ vorausgegangener Zeit kritisiert, umgekehrt aber ein „neuer Gestaltungsgeist“ gefordert wird, ist schnell erkannt.11 Die propagandistische


Otto Wagner: Moderne Architektur, Wien 1896, Titelblatt

Absicht überdeckt derlei Fragen. Und die überdeutlich he­rausgestellten Kontraste betonen in erster Linie einen Bruch, eine Zäsur und nicht eine Veränderung oder Ent­ wicklung, wie das selbst die Zeitschrift Esprit Nouveau in ihrem ersten Heft durch den Hinweis auf Voraussetzungen im 19. Jahr­hundert in Rechnung gestellt hat; dem „Il y a un esprit nouveau“ fand sich hinzugefügt: „Né dans quelques fortes individualités au XIXe siècle […].“ Dem „Une grande époque vient de commencer“ war eine „èpoque de prépa­­ra­ tion“ zugeordnet und das Ganze durchaus in die geschicht­ liche Entwicklung hineingestellt.12

Doch es ist auch hier deutlich die Rede von einer neuen Epoche.13 Und was zuvor geschah, ist bestenfalls eine „préparation“, ein ‚vorbereitender Weg dahin‘, und nicht eine Erfüllung eigener Vorstellungen und Zielsetzungen. Zäsur und Epoche signalisieren unmissverständlich eine histo­rische Wende, in diesem Fall von einer geschichts­bewussten zu einer geschichtsbefreiten Welt. Daraus sind sonderbare historische Konstrukte entstanden, so der bei Sigfried Giedion in besonderer Weise für das 19. Jahrhundert thematisierte Paralle­lismus einer rückwärtsgewandten ‚geschichtlichen‘ und einer umgekehrt nach vorne orientierten technischen Welt, wo doch beide Welten oft genug in Sym­biose zusammengelebt und in ihren Werken den­selben Verursacher eines Architekten gekannt haben. Auf diese Weise kritisiert Giedion in einem berühmt gewordenen Vergleich in Bauen in Frankreich (1928) selbst Gustave Eiffel, weil er überkom­mene Formen mit modernen Materialien und Konstruktions­weisen verbindet, um dann in Gropius’ Dessauer Bauhaus die neue, endlich erreichte moderne Synthese von Material, Konstruktion und Form nach erfolgter Überwindung des „decorativen Schleims“ zu feiern – und in einer bemerkenswerten Fußnote die in den Materialien liegenden Spannungen als „Spannung im ästhetischen Sinn“ zu deuten.14 Kaum ist der histo­rische Plunder beseitigt, lechzt man nach anderen Möglichkeiten der Schmückungen und Erscheinungsformen. Doch die so eng mit der Vorstellung des Neuen verbundene Zäsur der Moderne hat solche Klimmzüge offensichtlich notwendig gemacht. Die (historische) Vorstellung der Zäsur hat es also in sich. Die Beliebtheit (kunsthistorischer)Bild­vergleiche, die nach dem Schema von ‚vorher/nachher‘ und dessen zwiespältige Überlagerung mit ‚kompliziert/einfach‘ bei Bruno Taut genauso wie bei Paul Schultze-Naumburg in jeweils sehr unterschiedlicher Absicht Anwendung finden, zeigt die ‚Praktikabilität‘ von Bildvergleichen, die dank der Plausibilität der Bilder nur noch der Bildlegenden, aber nicht weiterführender Begründungen bedarf. Die ans Bild herangerückte Kunstgeschichte bietet sich für entsprechend vereinfachende Geschichtsvorstellungen – einfacher Zuordnungen, Abfolgen oder gar geschichtlicher Kausalitäten – an. Gropius stellt 1925 sein Buch Internationale Architektur im ersten Satz des Vorwortes als „ein Bilderbuch moderner Baukunst“ vor; das gestattet ihm, in entwaffnender Naivität eine Kausalität der auf diese Weise inaugurierten Geschichte der neuen, modernen Architektur zu behaupten. In der Zweitauflage von 1927 betont Gropius ebenfalls in einem ersten Satz: „Seit dem Erscheinen der ersten Auflage ist die moderne Baukunst der verschiedenen Kulturländer in überraschend schnellem Tempo der Entwicklungslinie dieses Buches gefolgt.“15 Man ersieht daraus, dass sich die scheinbar ge­schichtslose Moderne sehr wohl von Anfang an um ihre eigene Geschichte – und Geschichtsschreibung – gemäß ihren eigenen Interessen und Maßstäben bemühte. An ‚Visionen‘ mangelte es jedenfalls nicht; der propagandistische Eifer Gropius’ bringt ihn auch noch dazu, den „neuen Baugeist“ auf dem Eroberungszug der „ganzen zivilisierten Welt“ zu sehen,

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während „Gotik, Barock, Renaissance“ lediglich „intereuro­ päische Geltung“ besaßen. Es sind ‚intrinsische‘ Begründungen, die hier Verwendung finden. Man begründet die Sache durch sich selbst. Was Gropius 1927 zu den Folgen seines Buches und dem „unaufhaltsamen“ Eroberungsgang schrieb, hat Schule gemacht und nach 1945, als Geschichte nun wieder eingefordert wurde, zum Modell einer „inner history of the Modern Movement itself“ geführt.16 Reyner Banham hat dies 1955 zum obligaten Bezugspunkt des „New Brutalism“ erklärt und damit gleichsam den ‚Historismus der Moderne‘, wie er kurz danach von Nikolaus Pevsner kritisch vorgeführt wurde, inauguriert.17 Auch das ist ‚intrinsisch‘, ein Resultat der weltbeschwörenden, aber letztlich sich selbst in erster Linie zugewandten Argumentation. Die ‚Zäsur‘ macht’s möglich! Im Artikel „époque“ im fünften Band der Encyclopédie erklärt d’Alembert diesen Be­griff aufgrund etymologischer Ableitungen aus dem Griechischen als „[…] comme des lieux de repos, & pour ainsi dire, des stations où l’on s’arrète pour considérer de-là plus a son aise ce qui suit & ce qui précede & pour lier entre-eux les évenemens“.18 Es geht um besondere „évenemens“, „qui servent comme des points fixes pour y rapporter les autres évenemens“. Es sind mnemotechnische Anliegen, das Besondere und Wichtige aus der angesammelten, unübersichtlichen Geschichtserfahrung herauszuheben. Auf diese Weise erstellt man Chronologie, ZeitOrdnungen und so letztlich auch Geschichte. In d’Alemberts Charakterisierung ist dabei mehr die Verbindung als die Tren­­­nung der auf diese Weise herausgestellten bedeutenden historischen Ereignisse betont. Im Falle der architektonischen Moderne und ihrer Propaganda sind es dagegen Negativurteile, mit denen der historischen Verbindung eine inhaltliche Wertung und damit eine klare Trennung aufgepfropft wurde. Damit ist – wie beim Topos des ‚dunkeln Mittelalters‘ – der Schleier über Positionen und Protagonisten, wie Gottfried Semper, John Ruskin oder Eugène Viollet-le-Duc, gelegt worden. Es hat nicht an weiteren ‚inneren‘ Abgrenzungen gemangelt; es betraf ‚barocke‘ Exzesse der russischen Avantgarde19 oder die innerdeutsche Unterscheidung zwischen ‚deutsch‘ und ‚international‘ anlässlich der Werkbundausstellung am Weißenhof bei Stuttgart 1927 und danach. Doch noch viel prägnanter hat sich diese Zäsur auf eine negative Bewertung der Architektur ‚vor der Moderne‘ ausgewirkt, die bis heute wirksam ist und in Architekturschulen weiterhin wie ein Evangelium vorgeführt wird. Das betraf in ganz besonderer Weise den Umgang mit der Architektur, die vor 1914/18 die Moderne längst auf ihr Programm gesetzt und dieses Ziel auch erreicht hatte.

Die angeblich geschichtslose Moderne und ihre ‚Historiographen‘ ... „[…] a breach has been made with the past which enables us to envisage a new aspect of architecture corresponding to the technical civilisation of the age we live in […].“ Walter Gropius: The formal and technical Problems of modern Architecture and Planning, in: Journal ot the Royal Institute of British Architects, London 1934, S. 679-694.

Geschichte ist also in jedem Fall mehr als nur ein linearer Zeit­ ablauf; und ihre selbst ernannten Protagonisten nehmen an ihrer Gestaltung und Festschreibung regen Anteil. Doch, man entwischt der Geschichte nicht so schnell! Gropius benötigt sie, um sein Modell und seine eigene Rolle in dieser Entwicklung ins richtige Licht zu setzen. Er erklärt sich selbst zum Kronzeugen, weil er vor und nach 1914/18 mit von der Partie war. Die Argumentation folgt – ganz im Sinne des damals propagierten, schon von Behrens gegen Sempers mechanistisches Denken gesetzten „Kunstwollens“ – der Absicht, nunmehr die Geschichte selbst zu ‚wollen‘. Gropius gerät gleich zweifach in den Mittelpunkt solcher Geschichtskonstruktionen, einerseits durch seine eigenen Setzungen, andererseits durch die Thesen von Nikolaus Pevsner, der in ihm gleich auch die Vollendung der Moderne erkennt, um dann das Ganze mit dem Satz „our circle is complete“ zu beschließen.20 Pevsner begreift die Phase von William Morris zu Gropius als „a historical unit understandable as such“.21 Deren Vollender sei Gropius: „Morris laid the foundation of the modern style; with Gropius its character was ultimately determined.“22 Arnold Gehlen hat seiner Leipziger Dissertation Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927) das folgende Zitat von Driesch als Motto voran­ gestellt: „Der ordnende Ichpunkt als Wirklichkeitsteil ist im Urbesitz der Ordnungszüge des Wirklichen.“23 Es macht klar, von welcher Bedeutung die eigene Position bei einer solchen, ‚Setzungen‘ folgenden Geschichtsbildung sein würde. Gropius illustriert dies selbst. In seinem Londoner Vortrag von 1934 legt er seine Sichtweise dar. Er geht vom Führungsanspruch des Bauhauses aus und legt dem die Be­deutung des deutschen Werkbundes und generell die „leading rôle“ [sic] Deutschlands zugrunde. Auffällig ist dabei, dass Gropius die Bedeutung eines neuen Stils („an imaginary ‚Bauhaus Style‘“) und einer „idea of form“ als Grundlage ablehnt und stattdessen „the essence of life behind life’s everchanging forms“ in den Vordergrund stellt. Dies kommentiert er so: „The Bauhaus was the first institution in the world to dare to embody this programme in a definite curriculum.“ Er erhebt Anspruch auf ein Prinzip, das dem lebenslangen Credo von Otto Wagner entsprach, der nicht müde wurde, immer wieder das Leben als den Bezugspunkt einer Vorstellung von Moderne in den Vordergrund zu rücken. In Gropius’ Liste der Vorkämpfer und Gründer der Moderne erscheint Otto Wagner hingegen nicht. Auch ein Le Corbusier kriegt sein Fett ab, wozu Gropius bemerkt:


Otto Wagner: Moderne Architektur / Die Baukunst unserer Zeit, Titelblätter der 2. - 4. Auflage, Wien 1898, 1902 und 1914

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„In 1916 he was still using pilasters and cornices.“24 Gropius’ Liste umfasst lediglich „the precursors of the pre-war era“, präzisiert als „the actual founders of the new architecture up to 1914“. Und dies ist die Liste: „Berlage, Behrens, myself, Poelzig, Loos, Perret, Sullivan and St.Elia.“ Die Liste ist ebenso aufschlussreich wie willkürlich, genauso wie die spätere Kodifizierung dieser neu geordneten Geschichte durch Alison und Peter Smithson unter dem Titel „Prelude to the Heroic Period of Modern Architecture“, an deren Beginn mit dem Datum 1910 Adolf Loos steht und umgekehrt der ansonsten hochgelobte Frank Llyod Wright aus dem Blickwinkel der „objektiven Weltgeltung“ der modernen Architektur herausgenommen wird, weil er zeit seines Lebens ein „architect of the art-nouveau“ und der privaten Welt zugetan blieb.25 So oder anders gab sich der Blickwinkel auf die äußerst vielseitige Architektur vor 1914 massiv eingeschränkt. Ein wirk­ licher Bezug zur Geschichte kümmerte nicht mehr; man war sich selbst seine eigene und selbstgesetzte Geschichte geworden. Der Rest? Die vor 1914 überragende Persönlichkeit, Peter Behrens, ‚überlebt‘, ist an der Weißenhof-Ausstellung beteiligt und führt eine neue, kaum sehr beachtete Schule in Wien. Hendrik Petrus Berlage nimmt seinerseits noch an der Gründungsversammlung der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) in La Sarraz teil und wird dort in einer Ecke sitzend von Giedion bemerkt – und bedauert. Joseph Maria Olbrich ist tot. Friedrich Ostendorf fällt schon 1915 im Krieg. Alfred Messel stirbt ebenfalls früh und lässt Hans Schliepmann 1909 in der Berliner Architekturwelt schreiben: „So danken wir dem Schicksal noch für den Torso der Grösse, den wir erblicken durften!“26

Den Aufsatz leitet er ein: „Wie ein Verzagen an allem edelsten Menschlichen überkommt es uns, wenn wir die Großen auf der Höhe ihres Schaffens plötzlich von ihrem Werk in die Nacht des Schweigens hinabgerissen sehen.“27 Otto Wagner stirbt am 11. April 1918.

... und die aus der Geschichte heraus entwickelte Moderne Otto Wagners „Gewiss muss es jeden Streiter mit Genugthuung erfüllen, wenn er nach jahrelangem Ringen den Sieg seiner Anschau­ ungen constatiren kann. Und dieser Sieg, er ist da!“ Otto Wagner: Moderne Architektur, 2. Auflage, Wien: Anton Schroll 1898, S. 8.

„Die Baukünstler aber, welche dem in dieser Schrift angedeuteten Ziele zustreben, sind dann, was die Architekten aller Epochen waren, Kinder ihrer Zeit: ihre Werke werden den eigenen Stempel tragen, sie werden ihre Aufgabe als Fortbildner erfüllen und wahrhaft schöpferisch wirken, ihre Sprache wird der Menschheit verständlich sein, in ihren Werken wird die Welt das eigene Spiegelbild erblicken, und Selbstbewusstsein, Individualität und Ueberzeugung, die allen Künstlern aller Epochen eigen waren, werden ihre Brust erfüllen.“ Otto Wagner: Moderne Architektur, Wien: Anton Schroll, 1896, S. 101.

So folgt die Moderne – gemäß dem neuen Geschichtsver­­ständnis eines Gropius und der beanspruchten Führerrolle von Werk­­bund und Deutschland28 – ihrer Bestimmung von Sieg zu Sieg. Doch selbst dieses Bild einer siegreichen Bewegung war


Max Ernst Haefeli: Wasserwerkhäuser in Zürich, 1928, in: Henry-Russell Hitchcock, Philip Johnson: The International Style, New York 1932, S. 149

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schon bei Otto Wagner in Szene gesetzt worden. Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Modernen Architektur von 1898 schreibt er: „Gewiss muss es jeden Streiter mit Genugthuung erfüllen, wenn er nach jahrelangem Ringen den Sieg seiner Anschauungen constatiren kann. Und dieser Sieg, er ist da!“29 Auch Gropius’ selbstbezogene Feststellung vom erfolgreichen Gang der Geschichte entlang der eigenen Prämissen hat Otto Wagner – knapp dreißig Jahre zuvor – 1898 vorweggenommen: „Kaum drei Jahre sind seit jener Zeit verflossen, und schneller, als selbst ich es dachte, haben sich meine Worte bewahrheitet; fast überall ist die Moderne als Siegerin eingezogen.“30 Die Moderne war also längst da, bevor die Moderne da war! Unter den „precursors of the pre-war era“, geschweige denn unter den „founders of the new architecture up to 1914“ findet Otto Wagner also keinen Platz. Immerhin erwähnt Gropius 1934 die Postsparkasse und den dabei getätigten mutigen Schritt zu den „plain surfaces“, der gleichzeitig zu Loos’ Haus am Michaelerplatz erfolgte.31 Zwischen die beiden Bauten setzt Gropius den entscheidenden Satz: „Today, it is almost impossible for us to imagine what a revolution such a step implied“, als ob es nicht schon im späten 18. Jahr­hundert in Paris und früh im 19. Jahrhundert derlei ‚nackte‘ Fassaden gegeben hätte. Marc-Antoine Laugier hatte in seinem Essai von 1753 den Gebäuden „où l’on n’employe aucun ordre d’Architecture“ ausdrücklich ein Kapitel gewidmet.32 Dementsprechend war dann vordringlich die Exaktheit der Proportionen und die Eleganz der Formen – auch von Gropius 1913 hervor­ gehoben!33 – und danach die Auswahl und Anordnung von Orna­menten gefragt.34 Der Hinweis zeigt, dass für Gropius entgegen der auf der gleichen Seite vorgebrachten Beteuerung und dem Bekenntnis zum Leben – Wagners Hauptargument! – seine Moderne mit streng formalen Kennzeichnungen verknüpft war. Der entsprechende Gang in die Abstraktion und ein schnell als notwendig erkannter Ausweg aus dieser ‚körperlosen‘, ganz und gar nicht architektonischen Situation führte schon damals zu sonderbar gedrehten, spitzfindigen Argumenten. Die Autoren von The International Style hatten deshalb 1932 dem „A first principle: Architecture as Volume“ ein Kapitel „Surfacing material“ nachgeordnet, in dem zuallererst „rough stucco“ abgelehnt wurde, weil dies gegen Ästhetik und „sharpness of design“ gerichtet sei.35 Weil den Autoren nur eine bei Streiflicht aufgenommene fotografische Ansicht der Wasserwerkhäuser von Max Ernst Haefeli in Zürich vorlag, richtete sich diese Kritik in erster Linie gegen ihn: „[…] rough stucco break the effect of surface“.36 Man laboriert am Bild – und am Bilderbuch! Ganz anders geht Otto Wagner das Problem an, indem er die Erscheinung der Bauten im Stadtbild zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Er berücksichtigt „das moderne Auge“ und meint damit die Gewöhnung „an weniger abwechslungsreiche Bilder, an längere gerade Linien, an ausgedehntere Flächen, an grössere Massen“ und schließt: „Der Architekt wird daher bei Miethhäusern, welche doch immer die Hauptfactoren des Strassenbildes bleiben werden, durch

Decorirung der Fläche, in untereinander constrastirenden Bil­dern, durch einfache und richtig gewählte Details, durch deutliche Betonung der Construction zu wirken suchen, ohne dass dies, wie es leider nur zu häufig beliebt ist, in ein gegenseitiges Uebertrumpfen auszuarten braucht.“37 Nicht formale/abstrakte Prinzipien, sondern die – moderne! – Wahrnehmung, beispielsweise die „wohlerwogene Sehdistanz“,38 und letztlich das „Gefühl“ sollen den Weg hin zu einer modernen Architektur bestimmen: „[…] unser Gefühl muss uns aber heute schon sagen, dass die antikisirende Horizontallinie, die tafelförmige Durchbildung, die grösste Einfachheit und ein energisches Vortreten von Construction und Material bei der künftigen fortgebildeten und neuerstehenden Kunstform stark dominiren werden.“39 Fortbilden und Neuerstehen! Es wird eine Entwicklung angestrebt. Und diese richtet sich auf den „schönheitlichen Ausdruck“, in dem sich die Bedürfnisse unserer Zeit und der moderne Mensch spiegeln.40 Otto Wagners Credo, dass es stets in erster Linie um den Menschen gehe, wird hier ganz konkret bis in das Erscheinungsbild der Architektur hinein weitergedacht. Architekten sind „Kinder ihrer Zeit“. Die Modernität misst sich daran, wie sie sich anschicken, ihre Zeit zu verstehen und diesem Verständnis Ausdruck, nun genauer „schönheitlichen Ausdruck“, zu verleihen. Es war schon im Vorwort zur ersten Auflage der Modernen Architektur von 1896 als Imperativ festgeschrieben.


Otto Wagner: Miethaus Neustiftgasse 40, um 1910, in: Einige Skizzen IV, Blatt 45

Bekanntlich ist Städtebau ein Stiefkind jener – zweiten – Moderne nach 1918. Man muss an „histo­ rische Bildung“ appellieren, wie es Fritz Schumacher 1919 tut, wenn man diese architektonische Aufgabe ernst nehmen will.45 Er kritisiert, dass wir „den eigen­ willigen Egoisten [hätschelten] und als originell [bewunderten], was eigentlich nur ungezogen war“. Heute wüssten wir, „daß die Harmonie der Gesamtheit einer architektonischen Erscheinungsgruppe das Wichtigste und das Schwerste ist, dem wir nach­ streben müssen“.46 Man muss Sigfried Giedion attestieren, dass er Otto Wagners Ansichten zum Städtebau ernst nahm und die richtigen Folgerungen zog. Er hätte eingesehen, dass man die Erweiterung der Städte nicht einfach dem blinden Zufall überlassen könne. Doch andererseits warf er ihm – bezogen auf seinen Vorschlag von 1911 in Die Großstadt – „a sort of paralysis“ vor.47 Derlei Kritik hat auch noch die jüngste städtebauliche Diskussion, wo immer eine reguläre Stadtform angestrebt wurde, eingeholt. Andererseits haben Wagners konkrete Vorstellungen der Gestaltung des Straßenbilds, des Repertoires von Horizontallinien und der „tafelförmigen Durch­ bildung der Fläche“ im Hinblick auf jenen „schönheit­ lichen Ausdruck“ gerade im Umfeld der durch die IBA 84 (Internationale Bauausstellung 1984) ausgelösten Diskussion wieder Schule gemacht. Es betrifft stets Erscheinungsformen der Architektur, die gemäß Vitruv in der „imago […] picta“48 von Fassadenaufrissen vorweggenommen werden. Letzt­lich bildet sich da­raus das Gesicht einer Stadt. Manch­mal sind es auch bloß Metallbolzen und deren Aluminiumköpfe, die – viel bewundert – derlei ‚schönheitliche‘ Formen in das Stadtbild setzen. Es müsse die Erkenntnis durchgreifen, „dass der einzige Ausgangspunkt unseres künstlerischen Schaffens nur das moderne Leben sein soll“.41 Was konstant bleibt, ist also die Veränderung im Leben und der sie aufnehmenden Architektur. In der letzten Ausgabe von 1914 – nunmehr verdeutlicht unter dem Titel Die Baukunst unserer Zeit – setzt Otto Wagner unter den Abschnitt zum Gefühl und den damit verknüpften formalen Möglichkeiten der Architektur, wie Einfachheit und Linien, und insgesamt zum „schönheitlichen Ausdruck“ die in Klammer gesetzte Bemerkung hinzu: „(So geschrieben vor 20 Jahren, wird ewig wahr bleiben! A. d. V.)“42 Eine solche dynamische Vorstellung von Architektur und ihren Zielsetzungen kann nicht ohne Geschichte aus­kom­men. Otto Wagner nennt es einen Fehler „unserer Vorfahren“, „dass sie pietätslos die Werke ihrer eigenen Vorgänger un­be­­achtet liessen oder zerstörten“.43 Wer die Stadt als sein Arbeitsgebiet gewählt hat, kann nicht an dieser Tatsache eines geschichtlich gewor­ denen komplexen Organismus vorbeisehen; Otto Wagner nennt es die „plastische Illustration der Geschichte der Kunst“.44

Geschichte – die wirkliche Zäsur 1914/18 und der Untergang der alten Ordnungen „Das Geschichtliche ist das Scheiternde, aber das Ewige in der Zeit.“ Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: R. Piper 1949, S. 290.

Kaum etwas, womit sich die spätere Diskussion der ‚BauhausModerne‘ und des „International Style“ beschäftigt haben, ist nicht schon bei Otto Wagner gegenwärtig. Es sind auch Formulierungen, die wir irrtümlicherweise mit der Avantgarde des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringen: der Hinweis auf den „Kampf“ und „das eruptive Auftreten der Moderne“ im Vor­wort zur dritten Ausgabe der Modernen Architektur, die ekstatische Bewunderung der Architektur als eines „höchsten

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Ausdrucks menschlichen, an das Göttliche streifenden Könnens“, was Le Corbusiers Ausführungen zur Vorstellung des „hommedieu“ zu Beginn von Une maison, un palais erahnen lässt.49 Seine Einführung in die Diskussion der Figur des Architekten beginnt er mit der Definition: „Als die Krone des modernen Menschen in seiner glücklichen Vereinigung von Idealismus und Realismus wurde der Architekt gepriesen.“50 Doch die größte Differenz zu späteren Lobpreisungen betrifft wohl die Einstellung zur Geschichte. Otto Wagner betont mit dem Bezug der Architektur zum Leben die ständige, nie an­haltende Veränderung. Und gerade deshalb ist es ihm ein Anliegen, dass wir mit Geschichte korrekt und mit Respekt umgehen und anerkennen, dass sich Dinge stets in ihrer jeweiligen geschichtlichen Zeit abspielen und man so auch einem Olbrich, einem Semper und einem Ferstel Gerechtigkeit widerfahren lassen soll.51 „Hoffen wir, daß die Nachwelt auch hier eingreift und die unrichtige Kritik richtigstellt.“52 Eine gewaltige Zäsur hat Otto Wagner in die Geschichte ‚relegieren‘ lassen und die Vorstellung, dass er ‚zuvor‘ eine moderne Architektur zur Reife – und zum „Sieg“! – gebracht hat, vernachlässigt. Der Krieg von 1914 bis 1918 hat das alte System mitsamt dem habsburgischen Kaiserreich zu Fall gebracht. Die Großstadt, mit der Otto Wagners Vorstellung der „Moderne“ aufs Engste verknüpft war, verliert in mancher Hinsicht ihren realen Hintergrund. „Das Geschichtliche ist das Scheiternde, aber das Ewige in der Zeit“, schreibt Karl Jaspers nach einer weiteren Weltkatastrophe 1949. Im Vorwort zu seinem Vom Ursprung und Ziel der Geschichte hebt er umso deut­licher die Notwendigkeit des „forschenden Nachsuchens“ als Folge des ersten Satzes hervor: „Die Geschichte der Menschen ist der Erinnerung weitgehend entschwunden.“53 Geschrieben 1949! Und heute? Erschreckend ist, wie hartnäckig sich die einmal – durch Propaganda – festgezurrten Geschichtsbilder trotz der umfassenden Neukenntnisse halten. Es gibt Abgründe. Man muss beides, die Geschichte als „in eins Geschehen und Selbstbewusstsein dieses Geschehens, Geschichte und Wissen von Geschichte“ zusammenhalten. Die drohenden Abgründe „bewußt zu sehen“, so Jaspers am Ende, „steigert den Sinn für das eigentlich Geschichtliche“.54 Vieles ist übersehen und verdrängt worden und die Geschichte kommt an diesen ‚Abgründen‘ nicht vorbei. Zu der Zuordnung von ästhetischen und gesellschaftlichen („Leben“!) Fragen in unterschiedlicher Brechung bei Otto Wagner oder Walter Gropius kommt noch manches hinzu, was auch diesen – oben diskutierten – Blickwinkel als einseitig relativiert. Auch die Bauhaus-Moderne, sie mochte noch sosehr nach objektiver Geltung streben, stand nicht einfach kristallin in der Landschaft. Im Augustheft von 1929 der Zeitschrift Werk, deren Redakteur damals Hans Bernoulli war, veröffentlichte Ernst Kállai aus Anlass der Basler Bauhausausstellung einen Rückblick auf die Entwicklung. Hätte man am Weimarer Bauhaus „zunächst von geist, menschlichkeit und totalität“ gesprochen, so seien diese Begriffe aus dem Dessauer Bau- und Schulprogramm restlos

„ausgemerzt“ worden. Die Forderungen, „die gropius jetzt an das neue bauen und an die neue bauerziehung stellte, sind ausschliesslich von erwägungen der wirtschaftlichkeit diktiert“.55 Was als ästhetische Frage gelten mochte, ist jetzt „zwangsläufig auf dem wege einer art mechanistischer ausscheidung zum abstreifen jedes formalen übermasses“ weitergediehen. Eine „standardisierende vereinfachung“ habe stattgefunden. Also fallen künstlerische Überlegungen zu „modisch-flacher flächenornamentik“ oder zu „formelhafter geometrialität“ weg. Hannes Meyer, auf dessen Reformen Kállai hoffte, gäbe „dem neuen baubegriff einen sozial-humanistischen sinn“.56 Das erscheint alles hochaktuell. Wir wissen von Claude Schnaidt, dass Gropius noch spät in das Geschick der Monographie zu Hannes Meyer eingegriffen hat. Auch das ist Geschichte. Davon unabhängig bleibt dann der „Wille zur einfachen menschlichen Zweckdienlichkeit“ – für die Architektur ein allseits kaum bestrittener gemeinsamer Nenner.


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Von der Gewissheit der Geschichte. Jeder Gewissheit, die nicht mathe­ matisch erwiesen ist, kommt nur größtmögliche Wahrscheinlichkeit zu. Es gibt keine anderweitige historische Gewissheit (S. 223). Ungewissheit der Geschichte. Man hat zwischen sagenhaften und historischen Zeiten unterschieden. Aber auch die historischen Zeiten hätten in solche der Wahrheit und der Fabel unterschieden werden müssen (S. 224). (Übersetzung Werner Oechslin). 2 Die folgenden Überlegungen gehen auf die früheren Untersuchungen des Autors zurück, die sich zusammen­ gefasst in Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architektur (Oechslin 1994) finden. Dem besonderen Problem der ‚geschichtslosen‘ Moderne ist der deutsch nur in dem Beitrag „Moderne Architektur – welche Geschichte?“ (in: Neue Zürcher Zeitung, 07.01.2012) vorliegende Aufsatz gewidmet. 3 Voltaire: Histoire, in: [Denis] Diderot, [Jean le Rond] d’Alembert: Encyclo­ pé­d ie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 8, Neufchastel 1765, S. 220-225, hier S. 222. 4 Ebenda. 5 Ebenda, S. 220. 6 Hier zitiert nach der Ausgabe: Jean Bodin: Methodus, ad facilem historiarum cognitionem; ab ipso recognita, et multo quam antea locupletior, Paris: Apud Martinum Iuvenem 1572, S. 11. 7 David Chytraeus: De Lectione Historiarum recte instituenda, Straßburg: Apud Christianum Mylium 1563, Bd. A4 r und v. 8 Walter Gropius: Internationale Architektur, Passau: Passavia 1927 [1925], S. 7. 9 Ebenda. 10 Vgl. Peter Behrens: Über den Zusammenhang des baukünstle­ rischen Schaffens mit der Technik, in: Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin 7.–9. Oktober 1913, Bericht, Stuttgart: Ferdinand Enke 1914, S. 251-265, hier S. 253. 11 Gropius 1927 (wie Anm. 8), S. 6. 12 Esprit Nouveau, in: Paul Dermée (Hg.): L’Esprit Nouveau. Revue Internationale d’Esthétique, No 1, Paris: Édition de l’Esprit Nouveau, o. J., S. [3].

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Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge und Dokumentationen in: Daidalos 52 (1994): Das Neue. 14 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton, Leipzig/Berlin: Klinkhardt & Biermann [1928], S. 48-49. Immerhin lobt Giedion – als Bewunderer des Eiffelturms – den „Mut“ Eiffels zur „funktionelle[n] Verbindung von Glas und Eisen“ in der „Glaswand“. 15 Gropius 1927 (wie Anm. 8), S. 5 und S. 9. 16 Vgl. Werner Oechslin: „Neo-Brutalis­ mus“ – Moderne zwischen Stil, Geschichte und Kunstgeschichte: „une architecture autre“ [2002], in: [Wüstenrot Stiftung (Hg.)]: Brutalismus, Akten der Tagung von 2014, im Druck. 17 Vgl. Nikolaus Pevsner: The Return of Historicism, in: Journal of the Royal Institute of British Architects 68 (1961); wieder abgedruckt in: Nikolaus Pevsner: Studies in Art, Architecture and Design, Bd. 2, London 1968, S. 242-259. – Vgl. zu dieser Problematik auch: Werner Oechslin: „… und die Geschichte macht selbst wieder Geschichte …“. Geschichtliches und Anderes zur ‚Historismus‘-Frage, in: Hannes Böhringer, Arne Zerbst (Hg.): Die tätowierte Wand, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 363-378. 18 ‚O‘ [d. i. d’Alembert]: Époque, s. f. (Histoire), in: Diderot/d’Alembert: Encyclopédie, Bd. 5, Paris: Briasson/ David/Le Breton/Durand 1755, S. 834. 19 Vgl. Werner Oechslin: Die Tabuisierung des russischen Beitrages zur modernen Architektur [1991], in: Ders.: Moderne entwerfen, Köln: Dumont 1999, S. 268-291. 20 Nikolaus Pevsner: Pioneers of the Modern Movement. From William Morris to Walter Gropius, London: Faber & Faber 1936, S. 42. 21 Ebenda. 22 Ebenda.

23 Vgl. dazu: Werner Oechslin: Moderne Architektur – welche Geschichte?, in: Neue Zürcher Zeitung, Literatur und Kunst, 07.01.2012, S. 64. 24 Ebenda, S. 68. 25 Vgl. Alison Smithson, Peter Smithson: The Heroic Period of Modern Architecture, New York: Rizzoli 1981. 26 Vgl. Hans Schliepmann: Alfred Messel, in: Berliner Architekturwelt 12 (1909) 2, S. 43-44, hier S. 43. 27 Ebenda. 28 Vgl. Walter Gropius: The formal and technical Problems of modern Architecture and Planning, in: Journal of the Royal Institute of British Architects, London 1934, S. 679-694, hier S. 683: „If I stress the fact, as I do, that Germany played the leading rôle [sic] in the development of the new architecture, I should like to add that I am not exactly a persona grata with the Chauvinists.“ 29 Wagner 1898a, S. 8. 30 Ebenda, S. 7-8. 31 Gropius 1934 (wie Anm. 28), S. 683: „In Austria, Otto Wagner had built his Post Office Savings headquarter in Vienna at the turn of the century. Wagner dared to expose plain sur­ faces kept entirely free of decoration and mouldings. Today, it is almost impossible for us to imagine what a revolution such a step implied.“ 32 [Marc-Antoine Laugier]: Essai sur l’Architecture, Paris: Duchesne 1753, S. 121-131. 33 Gropius hatte die dem „nackten Zwecke“ von Fabriken und dergleichen zugeordneten „ästhetischen Gesichtspunkte“ mit „Geschlossenheit der Form“, Farbe und „Eleganz des ganzen Eindrucks“ verbunden. Vgl. Walter Gropius: Die Entwicklung moderner Industriebaukunst, in: Die Kunst in Industrie und Handel. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, Jena: Eugen Diederichs 1913, S. 17-22; hier S. 17. 34 Laugier 1753 (wie Anm. 32), S. 122-123. 35 Henry-Russell Hitchcock, Philip Johnson: The International Style: Architecture since 1922, New York: W. W. Norton 1932, S. 50. 36 Ebenda, S. 50, 148 (Bildlegende), 149.

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Wagner 1896, S. 83. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 99-100. Ebenda, S. 100: „Selbstredend muss der schönheitliche Ausdruck, welchen die Baukunst den Be­dürfnissen unserer Zeit geben wird, mit den Anschauungen und der Erscheinung moderner Menschen stimmen.“ 41 Ebenda, S. 8. 42 Wagner 1914, S. 137. 43 Ebenda, S. 101. 44 Ebenda. 45 Fritz Schumacher: Grundlagen der Baukunst. Studien zum Beruf des Architekten, München: Callwey [1919], S. 49. 46 Ebenda. 47 Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture. The Growth of a new Tradition, Cambridge Mass.: Harvard University Press 1941, S. 506. 48 Vgl. Vitruv I, II, 2: „Orthographia autem est erecta frontis imago modiceque picta rationibus operis futuri figura.“ 49 Wagner 1896, S. 13; Le Corbusier: Une maison, un palais, Paris: Crès [1928], S. 2: „Éveiller le dieu qui est en nous, véritable et profonde joie de ce monde.“ 50 Wagner 1896, S. 11. 51 Vgl. Wagner 1914, S. 134. 52 Ebenda. 53 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: R. Piper 1949, S. [5]. 54 Ebenda, S. 290-291. 55 Ernst Kállai: Bauhausausstellung in Basel, in: Das Werk 16 (August 1929), S. 246-249, hier S. 248. 56 Ebenda, S. 249.

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„Ewige Dauer und Ökonomie“ Die Stofflichkeit der Großstadt Otto Wagners Ákos Moravánszky

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Der Experimentator und Entdecker Terrakotta, Bronze, Plattenmosaik, Kupfer, Aluminium, Marmor, Blei, Granit, Porphyr, Sienit sowie Gold- und Silber-Überfangglas – diese ungewöhnlichen Material-Ingredienzen, die Otto Wagner in der Beschreibung seines Projektes für das Stadtmuseum von 1912 (Kat.-Nr. 135) aufzählt, beschreiben nicht nur die Grundzüge seiner Materialästhetik, sondern fassen auch den widersprüchlichen Charakter seiner Modernität zusammen.1 In Bezug auf Baumaterialien war Wagner „immer ein unermüdlicher Experimentator und Entdecker“, attestierte ihm sein Biograph Joseph August Lux: „Ewige Dauer, unversehrt bleibender Glanz und unantastbare Reinheit waren die Probleme, denen er mit Erfolg auf den Leib rückte.“2 Kaum ein Architekt wurde zuvor als Experimentator bezeichnet, das Wissen war fest im Boden der historischen Tradition verankert. Wagner war der erste moderne Baukünstler, der in der Suche nach dem radikal Neuen diesen gesicherten Grund verließ. Das Experiment bezeichnet in der Wissenschaftstheorie eine technische Vorgehensweise, die Beobachtung und theoretische Interpretation der Ergebnisse mit einschließt. Es werden Fragen an die Natur gestellt, deren Beantwortungen gewisse Hypothesen bestätigen oder wider­ legen sollen. In der Kunst wird das Experimentieren meistens als eine Tätigkeit außerhalb von „dominanten“ Strukturen, Institutionen und auch außerhalb des herrschenden Mainstreams gesehen.3 Mit der Offenheit des Experiments scheint jedoch Wagners Anspruch auf ewige Dauer sowie unversehrt bleibenden Glanz im Widerspruch zu stehen. Lux sah Wagners Modernität in enger Verbindung mit der Materialität seiner Architektur, die mit den objektiven, funktionalen Prinzipien der Zeit im Einklang stehe: Der Architekt „predigte“ das Holzzementdach, „weil es am stärksten trotzt und keiner Reparatur bedürftig wird; er erfand das Marmornit [sic] als Gebäudeanwurf, weil es das Einsetzen von Ruß und Schmutz an den Fassaden verwehrt; opalwirkendes farbiges Glas entdeckte er sich als neues Dekor und seine Träume verweilten bei Monumenten aus Gold, Email, farbigem Glas und ähnlichen Stoffen, die anscheinend keiner Veränderung unterliegen.“4 Lux nennt zuerst pragmatische, sachliche Argumente von Nützlichkeit und Haltbarkeit, verbindet diese aber im selben

Satz mit Wagners „Träumen“, mit seiner ästhetischen Vision, die mit dieser „Sachlichkeit“ wenig zu tun habe. Wagner selbst begründete seine Materialwahl ähnlich pragmatisch, wenn er etwa die Verwendung des Flachdaches erklärte: Einzig ein „Eisenbeton-Schlackenbeton-Asphaltsand-Dach“ sei möglich, da es „jede Reparatur, Schneeabschaufelung etc. überflüssig macht“.5 Ein Architekt des Wagner-Kreises wie Josef Hoffmann verband allerdings das flache Dach bereits vor 1900 mit der „ursprünglichen Natürlichkeit“ der vernakulären Architektur der mediterranen Küste, er empfahl es als Vorbild, obwohl seine Verwendung in Mitteleuropa bautechnisch am Anfang eher problematisch als vorteilhaft war.6 Otto Wagners Großstadtvision war von der Dialektik von Dynamik und Stasis gekennzeichnet. Die räumliche Ordnung der modernen Stadt sah er in der Psychologie des „geschäftigen Menschen“ in der kapitalistischen Gesellschaft begründet, der „über den kleinsten zeitraubenden Umweg ungehalten ist. Die letzten Jahrzehnte tragen eben die Worte: ‚Zeit ist Geld‘ im Panier.“7 In der Großstadt, wo Rationalität, Anonymität und Ökonomie herrschen, bilden die Monumente Kontrapunkte eines zeitlosen Stillstands. In der Begründung seiner Materialwahl für einen „Monumentalbrunnen“ am Karlsplatz (Kat.Nr. 104) wies Wagner zuerst auf die „mit Ruß geschwängerten Niederschläge“ in den Großstädten hin, um dann vorzuschlagen: „Der Unterbau und das Becken des Brunnens sind aus poliertem Granit angenommen, während der Oberbau aus Metallbeton hergestellt ist. Dieser ist mit 10 mm starken Glasplatten, opakes Glas, weiß, schwarz, blau, gold, in verschiedensten Größen bekleidet.“8 Die allegorischen Figuren des Brunnens sollten aus graubraunem Porzellan, ihre Gewänder aus Gussaluminium und getriebenem Kupfer, vergoldet und mit Glassteinen inkrustriert sein. In Bezug auf „ewige Dauer und Ökonomie ist das Resultat das denkbar günstigste, da die Glasflächen sicher unveränder­ licher und unverwüstlicher als das härteste Steinmaterial sind“.9 Durch die Stasis der monumentalen Bauwerke werden die Rhythmen der Stadt erst sichtbar. Ihre Oberflächen müssen dem schleifenden Strom des metropolitanen Lebens standhalten. Die unteren Zonen der Fassaden sind deshalb mit einer entsprechenden Armierung versehen, und selbst bei seinem Entwurf für die Kolonnaden in Karlsbad (Kat.-Nr. 113),


Otto Wagner: Denkmal der Kultur vor dem Kaiser-Franz-Josef-Stadtmuseum, 1909, in: Einige Skizzen IV, Blatt 14

Transformationsakt war mit einer alchemischen Verwandlung der Stoffe verbunden: Materialien, die in der Kunst als Symbole von Macht galten, wurden durch ihre modernen Äquivalente ersetzt: Aluminium steht für Silber; Tombak, eine kupfer­ haltige Legierung, für Gold. Für den Friedens­palast in Den Haag (Kat.-Nr. 111) sah Wagner eine Materia­ lität vor, welche die Identität des Ortes durch eine solche Material­transformation veranschaulichte: Die modernen Industrieprodukte sollten „auf die dort blühende Porzellan­manufaktur, also eine bodenstän­ dige Technik hinweisen“. Dementsprechend war eine Marmorverkleidung vorgesehen, die mit einer „Inkrustation mit Porzellan in Gold und Blau“ ornamentiert wurde.12

Großstadt und Materialwahrheit: Der Steinbau und die Surrogate

die aus Eisenbeton ausgeführt werden sollten, schlug Wagner vor, „daß jene Teile, welche dem Mutwillen besonders ausgesetzt sind, durch eiserne, mit Kupfer überzogene Ringe geschützt werden“.10 Schützende Überzüge in Form von Manschetten oder Leisten aus Metall verwendete Wagner auch bei seinen Möbeln an Stellen, wo sie mit dem Boden oder mit dem menschlichen Körper in Berührung kommen. Die großartigen Stadtperspektiven, mit denen Wagner seine Ideen präsentierte, zeigen seine Überzeugung anschaulich: Die Infrastruktur in sich, die Eisenkonstruktionen des Ingenieurs, der nur auf die statische Berechnung und auf den Kostenpunkt Rücksicht nehme, sprechen „eine für die Menschheit unsympathische Sprache“ und müssten von dem Architekten zur Baukunst transformiert werden.11 Dieser

Die dem Wagner-Kreis nahestehende Wiener Zeit­ schrift Der Architekt veröffentlichte in ihrem ersten Jahrgang (1895) einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel „Der Steinbau und die Surrogate“. Der Verfasser, Heinrich Schmid, behauptete, dass der österreichischen Hauptstadt nur „echte“ Fassadenmaterialien würdig seien.13 Wagners Haltung zur Lehre der Material­wahrheit war allerdings zumindest ambivalent. In Die Baukunst unserer Zeit betonte er, dass Beton und Eisen jene Materialien sind, welche die moderne Bauweise bestimmen. Die „struk­tiven Eigenschaften“ dieser Baustoffe seien „so außerordentliche, daß sie fast jede Forderung zu erfüllen imstande sind“.14 Im 19. Jahrhundert war die „Fleischlosigkeit“ der dünnen Eisenkonstruk­tionen allgemein kritisiert worden, auch Gottfried Semper warnte vor der Entmaterialisierung, die er in den filigranen, gerüsthaften Hallen von Henri Labrouste in Paris verspürt hatte. Wagner seinerseits war von den neuen Möglichkeiten begeistert und beklagte sich darüber, dass viele Künstler mit den „besten Errungenschaften unserer Technik […] nichts anzufangen“ wüssten.15 Obwohl man noch am Anfang einer Entwicklung stehe, gäbe es bereits Bauten, „welche durch die Anwendung des Eisens und des Betons konstruktiv und dadurch ästhetisch beeinflußt werden“; so würden neue Möglichkeiten der Raumgestaltung entstehen: un­beschränkte Raumgrößen, die Öffnung des Raums durch Pfeilersysteme, „die freie Wahl jeder Deckenform mit beliebiger Raumbelichtung“, die „starke Verminderung der Mauerstärken“ oder „die verringerte Bauzeit“.16 Wagner verurteilte jene Formen, „bei denen die Herstellungszeit nicht dem Effekte oder dem Herstellungsmaterial entspricht“ – diese hätten „immer etwas

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Otto Wagner: Postsparkasse, Portal, 1905, in: Joseph August Lux: Otto Wagner, München 1914

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Lügenhaftes oder Gequältes“.17 Im Sinne der Material­wahrheit lehnte er „Konsolen und Tragsteine, welche nicht tragen“, und „Putzbauten, welche völlige Steinstruktur aufweisen“, ab.18 Er kritisierte Semper, der sich „mit einer Symbolik der Konstruk­tion beholfen“ habe, „statt die Konstruktion selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen“, und nicht den Mut gehabt habe, seine Theorien wie Darwin zu vollenden.19 In seiner Architektur vertrat Wagner allerdings eine Position, die von der Lehre der Materialwahrheit wesentlich abweicht, wie von dem Münchner Architekturtheoretiker Richard Streiter bereits 1898 bemerkt und scharfsinnig kommentiert wurde.20 Wagner habe nur „infolge eines theoretischen Mißverständnisses“ den Einwand gegen Semper machen können, dass dieser seine Formen nicht direkt von Material und Kon­ struktion ableite; er brauche in seinem eigenen Werk sehr wohl die „Symbolik der Konstruktion“, behauptete Streiter.21 Diese Symbolik beginnt mit dem Baukörper, der im Sinne der Typologie Sempers gegliedert und materialisiert wurde. Die Sockelzone der Postsparkasse (Kat.-Nr. 99) als Bereich der Stereotomie ist mit 10 cm dicken Granitplatten mit schattenwerfendem Wellen­ profil verkleidet. Die Präsenz des Daches (Tektonik) wird durch

ein markantes Gesims betont, dessen Form als maschinenhafttechnische Metamorphose des antiken Tempelgebälks gelten kann. Die Fläche der oberen Geschoße wurde mit 2 cm dünnen Sterzinger Marmorplatten bedeckt, mittels Eisenbolzen auf das tragende Mauerwerk „genagelt“. Die Bolzenköpfe sind mit Aluminiumkappen versehen. Die Marmor­platten sind allerdings in einem Mörtelbett verlegt; laut Wagner sollten die Bolzen den Stein halten, bis der Mörtel bindet. Die Inszenierung dieser Lösung durch Materialverwandlung ist wesentlich wich­tiger, als Wagner es zugeben möchte: Die moderne Errungen­schaft der Material- und Zeitersparnis durch die Verwendung dünner Steinplatten statt schwerer Steinblöcke wurde erst durch die Bolzenköpfe an der Fassade sichtbar gemacht. Einem ähnlichen ikonographischen Programm folgt die Fassaden­ gestaltung der Kirche St. Leopold am Steinhof (Kat.-Nr. 93): „Das Ausführungsmateriale der Außenflächen des Bauwerkes besteht im Sockel aus nur in den Fugen bearbeiteten Steinen, welche in unmittelbarer Nähe der Baustelle gebrochen werden, im folgenden Unterbau sind Steine der gleichen Provenienz, bei welchen auch die Stirnflächen bearbeitet sind, verwendet. Die darüber liegenden Fassaden sind mit 2 cm starken Marmorplatten bekleidet, welche Platten durch 30 cm hohe, aber 4 cm starke Riemenschichten gehalten sind. Die Befestigung letzterer geschieht durch Kupferknöpfe, welche an in die Mauern eingelassene Eisendornen angeschraubt werden.“22 Wagners architektonisches Werk ist eine Enzyklopädie der Möglichkeiten des Stoffwechsels, der symbolischen Verwandlung der Materialien: Die Metallzelte als Vorbauten zum Postsparkassenamt, zur Steinhofkirche oder zum Hofpavillon der Stadtbahn oder die farbigen Fliesenteppiche zeigen, dass Wagner das kreative Potenzial der Semper’schen Theorie für die moderne Architektur voll entfalten konnte.23 Seine Bauten führen überzeugend vor Augen, dass die Stoffwechseltheorie mit dem Fall des Historismus keinesfalls obsolet geworden war, im Gegenteil: Ihre ästhetischen Möglichkeiten konnten gerade durch Einbeziehung moderner Werkstoffe wesentlich erweitert werden.

Monumentalität und beschleunigte Bauweise In Die Baukunst unserer Zeit kritisierte Wagner das Wiener Burgtheater von Semper und Hasenauer als „missverstandene Bauweise“ und verglich es mit der eigenen „modernen Bauart“. Das Theater wurde „in Steinschichten durchgeführt und das Material mit großem Aufwande an Zeit und Geld beschafft“.24 Er habe die Fassade des Postsparkassenamtes mit Platten verkleidet, die dünner sind als die Fassadenbekleidung des Burgtheaters, dafür aber aus edlerem Material bestehen. Als Resultat sinken die Dimensionen der Steinplatten auf ein Zehntel bis ein Fünfzigstel der alten Bauweise, „die monu­men­tale Wirkung wird durch das edlere Material erhöht, die aufgewandten pekuniären Mittel fallen um Ungeheueres und


Otto Wagner: Majolikahaus, keramische Fassadenverkleidung, in: Allgemeine Bauzeitung 65 (1900), Blatt 10

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die Herstellungszeit wird auf ein geringes und erwünschtes Maß herabgedrückt“.25 Aus dieser Idee kann der Architekt eine neue Ästhetik mit neuen künstlerischen Motiven entwickeln, „deren Durchbildung dem Künstler nicht nur sehr erwünscht sein wird, sondern nach welchen er mit Hast und Eifer greifen muß, um in der Kunst wahrhaft fortbildend zu wirken“.26 Lux schrieb in seiner Wagner-Biographie von Entmaterialisierung: Die neuen Konstruktionen und Baustoffe würden das „Gefühl des Gelenkigen, Funktionellen, Organischen, fast Skelettartigen, Entmaterialisierten, Abstrakten“ erhöhen.27 Dieser neuen Leichtigkeit gab das Aluminium – das Material des Fliegens – Auftrieb, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts

in reiner Form hergestellt werden konnte. Die Entdeckung der Elektrolyse in den 1880er-Jahren ermöglichte die Produktion in industriellem Maßstab. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts tauchte Aluminium in der Architektur vor allem in Innenräumen, z. B. als Gitter von Aufzügen und Treppen, auf. Otto Wagner verwendete Aluminium als Erster für die Gestaltung von Konstruktionselementen wie Stützen und Konsolen, nicht nur wegen seiner Leichtigkeit, sondern vor allem wegen seiner seidenmatt glänzenden, metallischen Oberfläche, die anders als Eisen keinen Korrosionsschutz benötigt. Das Portal für das Depeschenbüro der Zeit in Wien (Kat.-Nr. 94) wurde vollständig aus dem neuen Metall konstruiert. Die Bolzenkappen an der


Otto Wagner: Portal des Depeschenbüros „Die Zeit“, in: Der Architekt 8 (1902), S. 47

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Die bekleidete Großstadt

Fassade der Postsparkasse, die dünnen Stützen des Vordachs, die Ummantelungen der Pfeiler im Kassensaal und nicht zuletzt die frei stehenden Säulen mit den Öffnungen der Luftheizung sind ebenfalls aus Aluminium gefertigt. Für Wagner war der matte Silberglanz dieses Metalls noch wichtiger als seine Leichtigkeit. Bei seinen Möbeln, wie bei den Armlehnstühlen für die Postsparkasse (Abb. S. 80), verwendete er Aluminiumbeschläge kombiniert mit dunkel gebeiztem Buchenholz, Samt und Seide. Der Chronist der Secession Ludwig Hevesi schrieb über das Aluminium, das „herrschende sichtbare Metall“ in diesem Gebäude, dass seine Verwendung „nachgerade zur Wohltat“ werde, weil es „nicht oxydiert, also nicht geputzt zu werden braucht“.28 Hevesi hob die atmosphärische Gesamtwirkung hervor: „In diesem metallischen Silbergrau schimmern auch die hallentragenden Pfeiler und die Reihen runder Heizkörper des glasgedeckten Kassen­saales, die Heizungsgitter der Säle und die Beleuchtungskörper. Das stimmt zu dem tonigen Weiß des ganzen Baues, zu einer weißlichen Harmonie der Säle […].“29 Dieses Interesse für farbliche Stimmungen war eng mit dem Prinzip der Bekleidung verbunden, das Semper postuliert hatte und von Adolf Loos bestätigt wurde.

Für Gottfried Semper war Textilkunst die Urkunst – er nahm an, dass das Wort Wand mit dem Gewand etymologisch verwandt sei, und postulierte: „Die Bekleidung der Mauern war also das Ursprüngliche, seiner räumlichen, architectonischen Bedeutung nach das Wesentliche; die Mauer selbst das Sekundäre.“30 Die Bemalung der Tempel von Selinunt bezeichnete er bereits in einem frühen Text als „Farbenbekleidung“.31 Dabei war er von der Vorstellung der farblichen Einheit von Bauwerk und natürlicher Umgebung und nicht von dem früheren Bild, dem weißen Marmortempel in Kontrast zur Landschaft, geleitet: „In einem hellen, zehrenden Südlichte, in starkgefärbter Um­ gebung brechen sich gut geordnete, aber ganz nebeneinander gestellte Farbentöne schon so mildernd, daß sie das Auge nicht beleidigen, sondern besänftigen.“32 Die atmosphärische Farbwirkung der antiken Architektur schilderte Wagner mit ähnlichen Worten: „Ein mit lebhaften Farben bemalter griechischer Tempel, der Hain mit bunten Statuen geziert, ein schöner kurzgeschürzter Grieche mit brauner Haut, der heilige, farbig stimmende Ölbaum, der tiefblaue Himmel, die erhitzte zitternde Atmosphäre, die sich scharf abhebenden Schatten – das ist doch ein Bild, eine Symphonie.“33 Bereits das Frühwerk Wagners zeigt sein Interes­se für polychrome Wirkungen. Die orthodoxe Synagoge in Budapest (Kat.-Nr. 10) ist mit einem Fassadenteppich von blau glasierten Keramikfliesen und steinartig bearbeiteten Putzfeldern bekleidet, die den Einfluss der ebenfalls orientalisierenden Dresdner Synagoge Sempers (1838) und das Studium (vor allem britischer) Vorlagenwerke über maurische Ornamentik nahelegen. Der Kunsthistoriker Josef Strzygowski schrieb in seinem 1907 veröffentlichten Buch Die Bildende Kunst der Gegenwart, dass die Fassade des Majolikahauses den Eindruck erwecke, „als wenn daran ein bunt bemalter Vorhang befestigt wäre“, und verglich diese Lösung mit der Fassade einer Moschee in der türkischen Stadt Konya.34 Wagners Beschreibungen seiner Entwürfe ver­bin­ den die zur Bekleidung verwendeten Materialien mit bestimmten Stimmungswerten. „Alle geschützt liegenden Teile der Eisen­konstruktion“ der Brücke über den Donaukanal (Kat.Nr. 105) „erhalten weißen Anstrich, während die Fassaden aus Granit und Aluminium hergestellt angenommen werden. Die Farbwirkung der Brücke wird daher eine Stimmung von grau und Metallglanz sein.“35 Die Materialität der Architektur Wagners ist der direkte Ausdruck jener dialektischen Spannung, die der Wiener Moderne zugrunde liegt. Ein Pol dieser Dialektik ist die These von der neuen Freiheit und Anonymität der Großstadt, die von Wagner anschaulich formuliert wurde, wenn er von den Bewohnern spricht, die es „vorziehen, in der Menge als ‚Nummer‘ zu verschwinden“.36 Der andere Pol ist die Großstadt als histo­ risches Gebilde, als Ort der Kultur, die vom Stadtbewohner und Stadtbesucher eine ritualisierte Form des Umgangs mit der Kunst verlangt, wenn sie „den ‚Martergang‘ zum vorhandenen


Otto Wagner: Orthodoxe Synagoge in Budapest, Fotografie von Michael Frankenstein, um 1880 Wien Museum

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Schönen und zu den Kunstspeichern der Großstadt antreten“.37 Die Präsenz einer zeitlosen „Kultur“ inmitten des zerstöre­ rischen Stroms der Zeit führt in Wagners Architektur zu einer Ästhetik, in der sich Aluminium und Goldmosaik, Linoleum und Tombak zu einer Gesamtvision zusammenfügen. Wagners Großstadt-Studie (Kat.-Nr. 131, Abb. S. 54-55) zeigt bereits jene Dialektik von Raster und Monument; es ist die Bekleidung der Fassaden, die seine Stadt von Ludwig Hilberseimers monotoner Großstadt (1927) unterscheidet, wo „der allgemeine Fall, das Gesetz“ verehrt und „die Nuance weggewischt“ wird.38 Wagner dagegen bestand auf der Individualisierung der einzelnen Elemente der Stadt durch entsprechende Oberflächenbekleidungen. Er wollte die Kunst und die Künstler zu Wort kommen lassen, um „den die Schönheit vernichtenden Einfluß des Ingenieurs für immer zu brechen und die Macht des Vampyrs ‚Spekulation‘, der heute die Autonomie der Großstädte nahezu illusorisch macht, auf das Engste einzudämmen“.39 Sein Werk ist ein früher Versuch, radikale technisch-materielle Erneuerung und kulturelle Kontinuität zu versöhnen. Bald sollten die Zeichen der alten Kultur, die Alu­miniuminkrustationen und Majolikafliesen, als „Tätowierungen“ von den Oberflächen der Stadt entfernt werden. Wagners Gesamtkunstwerk Stadt sollte erst in den 1940er-Jahren wieder aktuell werden, als die Grundsätze der Moderne von Sigfried Giedion, Josep Lluís Sert oder Louis I. Kahn im Namen einer „neuen Monumentalität“ revidiert wurden.40

Vgl. Otto Wagner: Wettbewerbs­ entwurf für das Kaiser Josef Stadt­ museum. Kennwort: OPUS = IV, Wien 1912 (ES IV), zit. nach Graf 1985, S. 657-670, hier S. 665. 2 Lux 1914, S. 158-159. 3 Ákos Moravánszky, Albert Kirchengast (Hg.): Experiments. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst / Architecture Between Sciences and the Arts, Berlin 2011. 4 Lux 1914, S. 158-159. 5 Otto Wagner: Erläuterungen zur Höhen- und Sonnenlicht-Heilstätte Palmschoss bei Brixen, Wien 1914 (ES IV), zit. nach Graf 1985, S. 741-745, hier S. 743. 6 Josef Hoffmann: Architektonisches aus der österreichischen Riviera, in: Der Architekt 1 (1895), S. 37; ders.: Architektonisches von der Insel Capri, in: Der Architekt 3 (1897), S. 13. 7 Wagner 1914, S. 88. 8 Otto Wagner: Nachtrag zum Projekte für das Kaiser Franz Josef-Stadt­ museum (ES III, 1906), zit. nach Graf 1985, S. 463-467, hier S. 467. 9 Ebenda. 10 Otto Wagner: Entwurf zur Verbindung der Mühlbrunn-, Marktbrunn- und Schloßbrunn-Kolonnade in Karlsbad, Kennwort: Fontes unitae, zit. nach Graf 1985, S. 535-543, hier S. 539-540. 11 Wagner 1914, S. 62-63. 12 Otto Wagner: Zur Ergänzung: Konkurrenz für den Friedenspalast im Haag, zit. nach Graf 1985, S. 520. 13 Heinrich Schmid: Der Steinbau und die Surrogate, in: Der Architekt 1 (1895), S. 9-11. 14 Wagner 1914, S. 69. 15 Otto Wagner: Villa, XIII. Bezirk, Hüttelbergstrasse 28, zit. nach Graf 1985, S. 648-649, hier S. 510. 16 Wagner 1914, S. 70. 17 Ebenda, S. 65. 18 Ebenda. 19 Ebenda, S. 61. 20 Vgl. Streiter 1898, S. 102-103. 21 Ebenda, S. 103.

22 Otto Wagner: Die Kirche der Nieder­ österr. Landesheil- und PflegeAnstalten, Wien 1904, zit. nach Graf 1985, S. 400-405, hier S. 403. 23 Vgl. Ákos Moravánszky: Stoffwechsel. Materialverwandlung in der Architektur, Basel 2017. 24 Wagner 1914, S. 65-66. 25 Ebenda. 26 Ebenda, S. 67. 27 Lux 1914, S. 74. 28 Ludwig Hevesi: Der Neubau der Postsparkasse (18.02.1907), wieder abgedruckt in: Hevesi 1909, S. 245-248, hier S. 246. 29 Ebenda. 30 Gottfried Semper: Vergleichende Baulehre. 10. Kapitel (Manuskript), in: Wolfgang Herrmann: Gottfried Semper. Theoretischer Nachlass an der ETH Zürich. Katalog und Kommentare, Basel/Boston/Stuttgart 1981, S. 191-204, hier S. 197. 31 Ebenda, S. 234. 32 Ebenda, S. 236. 33 Wagner 1914, S. 34. 34 Josef Strzygowski: Die Bildende Kunst der Gegenwart. Ein Buch für jedermann, Leipzig 1907, S. 89-90. 35 Otto Wagner: Erläuterungsbericht zum Projekte für den Neubau einer Donaukanalbrücke im Zuge der Rotenturmstraße–Lilienbrunngasse, Wien 1904, zit. nach Graf 1985, S. 489-492, hier S. 490. 36 Otto Wagner 1911a, S. 21. 37 Ebenda, S. 5. 38 Ludwig Hilberseimer: Großstadt­ architektur, Stuttgart 1927, S. 103. 39 Wagner 1911a, S. 17. 40 Ákos Moravánszky: Das Monu­ mentale als symbolische Form. Zum öffentlichen Auftritt der Moderne in den Vereinigten Staaten, in: Ders.: Lehrgerüste. Theorie und Stofflichkeit der Architektur, Zürich 2015, S. 184-199.

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Position, Opposition, Affirmation Otto Wagner im Urteil der Zeitgenossen Ruth Hanisch

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Der Nestor der Moderne 1889 erschien der aufwendig gestaltete erste Band von Einige Scizzen, Projecte u. ausgeführte Bauwerke, publiziert von „Otto Wagner Architect u. k. k. Baurat […] Im Selbstverlage“. In den knappen einleitenden Worten beschrieb der Architekt seinen Werdegang bis dahin: „Die publizierten Blätter bringen mehrere Arbeiten aus meiner letzten, zirka zehnjährigen Thätigkeit, und es zeigen dieselben beinahe durchwegs, daß ich, ohne einen Seitenweg einzuschlagen, die einmal betretene Straße ruhig fortging. Die Experimente mit den verschiedenen Stilrichtungen, welche vom größten Teile der architektonischen Welt in den letzten zwanzig Jahren durchgejagt wurden und die Bauweisen von Jahrtausenden, mehr oder minder karrikiert, mit der Hast unserer Lebensweise verbrauchten, sind ziemlich spurlos an mir vorübergezogen“, erläuterte er selbstbewusst und setzte fort, „und so bin ich schließlich zur Überzeugung gelangt, daß eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit größtmöglichster Berücksichtigung aller unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungenschaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein Richtige sei […].“1 Wagner präsentierte damit sein zu diesem Zeitpunkt nicht sehr umfangreiches gebautes Œuvre als Ausweg aus der Krise des Historismus. In einer Besprechung in der Neuen Freien Presse 1891 äußerte sich Joseph Bayer, Lehrer für Ästhetik an der Technischen Hochschule und wichtigster Wiener Theoretiker, positiv über den Prachtband; er fand dort eine „verwandte Anschauung“ im „Weiterbilden, die Entwicklungsreihen fortsetzen, nicht nachbilden […]“.2 Durch den Sieg im Wettbewerb um einen Generalregulierungsplan für Wien, die Beteiligung am Bau der Stadtbahn und die Berufung an die Akademie der bildenden Künste gelangen Wagner in rascher Folge wichtige Etappensiege bei der öffentlichen Anerkennung seines Weges. Die Begründung des Kollegiums der Akademie der bildenden Künste für seine Wahl fiel ermutigend aus: „Der mit großer Majorität an erster Stelle genannte Baurath Otto Wagner hat sich speziell auch dadurch hervorgethan, dass er es versteht die Bedürfnisse des heutigen Lebens sowie die Verwendung von modernen Baumaterialien und Construc­tionen mit den künstlerischen Erfordernissen mit nicht

gewöhnlichem Geschick in Verbindung zu bringen.“3 Wagners Reformbemühungen wurden durch dieses Votum von der höchsten künstlerischen Institution der Monarchie anerkannt. 1896 legte Wagner seine Vorlesungen an der Aka­demie unter dem Titel Moderne Architektur als Buch vor. Programmatisch begann er seine Schrift mit einem Kapitel über die Stellung des Architekten, den er als „Krone des modernen Menschen“4 bezeichnete. Er sah die zentrale Position des Architekten von zwei Seiten bedrängt, einerseits durch die aufstrebende Ingenieurskunst und andererseits durch die Praxis des Kopierens nach historischen Vorbildern. Dem Ingenieur sei der Architekt aufgrund seiner individuellen Begabung überlegen, da „man ein bedeutender Techniker sein kann, ohne auf den Titel Künstler Anspruch machen zu können“.5 Wagner positionierte die Architektur als einzige „wirklich schaffende und gebärende“ Kunst, denn in der Baukunst würde „der höchste Ausdruck menschlichen, an das Göttliche streifenden Könnens erblickt“.6 Die Unabhängigkeit des Künstlers vom historischen Vorbild leitete er aus der Geschichte ab: „Ob Dürer, Michel Angelo, Rubens, Fischer v. Erlach u. s. f. ein Bauwerk, ein Bild, eine Allegorie, ein Porträt schufen, stets trägt das geschaffene Kunstwerk den ureigenen Stempel des Meisters und der Zeit, und nie ist es solchen Künstlern eingefallen, ihren Werken eine Stilunterlage zu geben oder die Ausdrucksweise vergangener Jahrhunderte zu copiren.“7 Wagner machte die Praxis des Kopierens für den Verfall der Baukunst verantwortlich, legte aber dem modernen Architekten ausdrücklich nahe, „in die Schatzkammer der Ueberlieferung zu greifen, das Gewählte aber nicht copiren, sondern durch Neugestaltung seinen Zwecken anzupassen“.8 Die gesamte Schrift stellte er unter sein persönliches – von Gottfried Semper übernommenes – Motto „Artis sola domina necessitas“.9 Einzig die Notwendigkeit darf die Autonomie des Architekten einschränken, nicht die Konvention in Form des historischen Vorbilds. Explizit war das Lehrbuch an seine Schüler gerichtet, implizit zeugte die wiederholte Betonung der Bega­ bung des Architekten und ihre spezielle Bedeutung für die Erneuerung der Architektur auch von Wagners Selbsteinschätzung. Moderne Architektur löste umgehend substanzielle Kritik aus: 1897 erschien unter dem reißerischen Titel Moderne Architektur. Prof. Otto Wagner und die Wahrheit über beide eine anonyme Gegenschrift in Buchform. Dort konnte man über


Otto Wagner, Aquarell von Egon Schiele, 1910 Wien Museum, Inv.-Nr. 96.030/1

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„Die Männer vom Karlsplatz“, Karikatur, in: Die Zeit, 9. Jänner 1910

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Wagners Absichten lesen: „Der dicke rothe Strich in der Welt- und Kunst­ geschichte wäre also gezogen, deutlich sichtbar für Jedermann. Was jenseits dieses Striches liegt, ist gewesen, was diesseits liegt, ist, ist moderne Kunst. So wissen wir seit dem Tage, an welchem Herrn Professor Otto Wagners neues Evangelium: ‚Moderne Architektur‘ im Buchhandel erschienen ist.“10 Der ano­ nyme Verfasser warf Wagner vor, mit jeder Tradition zu brechen und sich selbst zum neuen Anfang zu erklären. 1898 stellte der Münchner Architekt Richard Streiter im Rahmen eines umfangreichen Essays zu Architektonischen Zeitfragen 11 Wagners Schrift in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu den zeitgenössischen ästhetischen Debatten zwischen den Vertretern der Klassik und der Romantik: „Otto Wagner stand bisher und steht wohl auch jetzt noch auf der Seite der Klassizisten. So kann es nicht Wunder nehmen, daß seine Vorstellungen von moderner Architektur von den Schönheitsidealen der Antike und der romanischen Völker beherrscht sind, und zwar mehr, als für die architektonische Ausgestaltung unserer deutschen Städte heilsam sein dürfte.“12 Die hier erstmalig sichtbare Janusköpfigkeit Wagners – Geschichtsverleugner und Klassizist – wird die Beurteilung von seiner Position in den folgenden Jahrzehnten prägen. Die rasche und umfangreiche kritische Aufnahme der Schrift eines Autors, der zwar als Praktiker Erfolge vorweisen konnte, aber bisher außerhalb der akademischen ästhetischen Diskurse der Zeit gestanden war, zeigte, wie sehr Wagner den Nerv der Zeit getroffen hatte. Die offiziellen Organe in Wien reagierten verhalten auf Moderne Architektur, der Österreichische Ingenieurund Architektenverein überhaupt erst anlässlich der Zweitauflage von 1898: „Der ideale Zug und der praktische Sinn, der durch das Capitel ‚Der Architekt‘ geht, macht dieses Buch zu einem der lehrreichsten Wegweiser für Schule und Familie […].“13 Gleichzeitig lösten sich die Interpretationen des Buches von Anfang an von Wagners gebautem Werk; Theorie und Praxis Wagners schienen schon für seine Zeitgenossen im Widerspruch zu stehen: Mancher wollte Wagner vor sich selbst retten – wie der Wiener Kritiker Franz Arnold 1898 in

der Neuen Freien Presse in einem Artikel über den Wiener Styl: „Aber merkwürdig genug! Der selbe Architekt, der theoretisch die Nothwendigkeit als die Gebieterin der Kunst proclamiert, huldigt in der Praxis ganz anderen Grundsätzen. In ihm ist der Künstler mächtiger als der Theoretiker. Seine Werke widerlegen ihn. Er hat in den Wiener Stadtbahnhöfen gezeigt, wie eine Künstlerhand das schwierige Problem löst, die Nothwendigkeit


Otto Wagner, Wiener-Werkstätte-Postkarte Nr. 251, Lithographie, 1911 Wien Museum, Inv.-Nr. 101.968/104

der Schönheit unterzuordnen und mit der individuellen Freiheit der Formgebung die Anpassung an den localen Stadtcharakter zu vereinen.“14 Mit den ersten Ausstellungen und Publikationen von Entwürfen aus den ersten Jahrgängen der Wagnerschule ab 1895 und der Gründung der Wiener Secession unter Mitwirkung von Wagnerschülern und Mitarbeitern 1897 rückte Wagners Position als Lehrer und damit sein Einfluss auf die nächste Architektengeneration ins Zentrum der Beurteilungen. Schon 1895 lobte Max Fabiani in der ersten Nummer der Zeitschrift Der Architekt: „Ein unbefangener, schneidiger Geist, der überaus befreiend und befruchtend auf seine Umgebung wirkt, spricht aus jedem seiner Worte und Werke.“15 Seine Rolle als Katalysator bei der Entstehung der Secession wurde von Ludwig Hevesi hervorgehoben: „In der geistigen Bewegung, deren Wirbel sich vor etwa vier Jahren in der Wiener Secession einen Mittelpunkt schuf, war die treibende Kraft dieser echten Sauer­ teignatur schon eine gute Weile früher zu spüren gewesen.“16 Ein enthusiastischer Hermann Bahr bejubelte 1899 Wagners Führungsqualitäten: „Es hat erst ein Stärkerer kommen müssen, ein agitatorischer Künstler, ein Führer, der die Jugend zu seinen Gedanken zwang. Dies ist unser Otto Wagner.“17 Wagner war zum Ausgangspunkt einer Bewegung geworden. Der „Kampf“ zwischen den „radical Modernen“ und den „Historischen“ wurde von beiden Seiten mit Verve vorangetrieben. Die Bewunderung Wagners kannte kaum noch Grenzen; sein Schüler Leopold Bauer etwa erklärte pauschal die Entwicklung der Architektur seit der Antike im Vergleich mit Wagner für obsolet: „Dieses neue Bauelement, welches unserem heutigen Zustande entspricht, haben wir in dem Zinshause von Otto Wagner. Es ist seit der Antike das erste Mal der Fall, dass die Architektur ein neues Element höherer Ordnung hervorgebracht hat.“18 Seine Kritiker hielten sich ebenfalls nicht zurück. Camillo Sitte urteilte 1903 über den Wettbewerbsentwurf für das Kaiser-Franz-JosefStadtmuseum neben der Karlskirche: „Aber dem gegenüber ist dieser von allen Seiten her kompilatorisch und schemenhaft zusammengestoppelte Stil nicht nur durchaus nicht der Ausdruck unserer Zeit, sondern er entbehrt auch den Charakter des Monumentalen; denn er ist nicht naiv, nicht historisch gewachsen, nicht bodenständig, nicht ehrlich.“19 Knapp und treffend fasste Hermann Bahr Otto Wagners polarisierende Wirkung auf seine Zeitgenossen so zusammen: „Ein genialer An- und Aufreger, hat Joseph Bayer einmal von Semper gesagt. Das Wort würde auf unseren Otto Wagner passen.“20 Wagner war aber nicht nur das geistige Gravitations­ zentrum für seine Schüler und Mitarbeiter, sondern hatte einen Zirkel von Künstlern und Intellektuellen um sich versammelt, die sich regelmäßig im Café Museum trafen, wie sich sein späterer Biograph Joseph August Lux erinnerte: „Jedenfalls war die Atmosphäre in diesem Kreis ideengeladen wie nirgends, täglich wurde die Welt niedergerissen und neu und schöner wiederaufgebaut. […] Es war Protest auf allen Linien gegen die Sünden der Väter. Protest gegen die Bauweise, gegen den Hausrat, gegen die Gesinnung, gegen die Anschauungen von gestern.“21 Durch seinen

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Austritt aus dem Künstlerhaus und den Eintritt in die Secession 1899 sowie durch die Aufmerksamkeit der Tagespresse für den Streit um das Kaiser-Franz-Josef-Stadtmuseum neben der Karlskirche wurde Wagner zur Celebrity, zur Galionsfigur der Modernen und zum Prellbock der Traditionalisten. Geschickt bediente er selbst die modernen Massenmedien und ein breites Publikum mit seinen suggestiven Zeichnungen, prachtvollen Modellen, imaginativen Ausstellungsgestaltungen und aufwen­ digen Broschüren.22 Überarbeitete Neuauflagen von Moderne Architektur erschienen 1898, 1902 und 1914, er publizierte weitere drei Bände von Einige Skizzen und nicht zuletzt trugen die Schülerpublikationen Aus der Wagner-Schule zur Verbreitung seiner Ideen bei. Die etablierte Wiener Architekturpublizistik schien ihn dagegen beinahe zu ignorieren: Die traditionsreiche Allgemeine Bauzeitung fand über Jahrzehnte hinweg nur die Wohnhäuser am Rennweg und an der Wienzeile sowie das


Joseph August Lux: Otto Wagner, München 1914, vorderer Einbanddeckel

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Schützenhaus am Donaukanal aufnahmewürdig; die technik­ orientierte Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architektenverbandes brachte keine Würdigung seiner StadtbahnBauten; und selbst Der Architekt, das publizistische Sprachrohr der Modernen, publizierte keine Besprechung von Moderne Architektur. Ludwig Hevesi brachte das prekäre Verhältnis der Wiener Architektenschaft zu Wagner 1907 auf den Punkt: „Der Karpfenteich verträgt diesen Hecht nicht.“23

Vollender des 19. Jahrhunderts Nach dem endgültigen Scheitern des Museumsprojektes am Karlsplatz 1910 (Kat.-Nr. 86) begann die Opposition gegen Wagner abzu­ebben. Sein 70. Geburtstag bot 1911 die Gelegenheit für erste Einschätzungen des Lebenswerkes. Es gab eine offizielle Jubelfeier und zahllose Glückwunschadressen in der Presse.24 Auch Adolf Loos gratulierte pünktlich am 13. Juli in der Reichspost. Mitten in den Debatten um sein Haus am Michaelerplatz nutzte Loos den Artikel auch, um einmal mehr

seine Ablehnung des modernen Ornaments klarzumachen. Allerdings versuchte er Wagner vor seinen eigenen Anschuldigungen zu retten, indem er die Auswüchse der „Ranken und Regenwürmer“ dessen Schülern zuschreibt. Loos resümierte: „Man sieht, daß ich nicht alles gut finde, was aus Wagners Werkstatt hervorgegangen ist. Ich bin ein Anhänger der Tradition, Wagner verleugnet sie. Und doch müssen wir, die Freunde und auch die Gegner, mit Stolz bestätigen, daß der größte Baukünstler von heute ein Österreicher ist und in Wien lebt. Dieses sind die Marksteine in der Entwicklungsgeschichte der Architektur des 19. Jahrhunderts: Schinkel, Semper, Wagner.“25 Loos’ Trias Schinkel – Semper – Wagner suggerierte eine Entwicklung der Architektur, die in Wagner einen Abschluss gefunden hätte. Es schwingt etwas von der Überheblichkeit des Spätgeborenen mit, vergleich­bar mit Philip Johnsons Lob für Frank Lloyd Wright als „the greatest architect of the nineteenth century“.26 Joseph August Lux, der 1914 die erste umfassende, reich bebilderte Monographie über Otto Wagner veröffentlichte, bezeichnete ihn als den größten Baukünstler Österreichs seit Johann Bernhard Fischer von Erlach.27 Lux war es, der Wagner am deutlichsten als einsames Genie der ignoranten Wiener Kulturpolitik gegenüberstellte: „Seit beinahe zwanzig Jahren wird dieser Kampf mit ungleichen Waffen geführt; das kleinliche Wien gegen den großen Meister, die Masse ignoranter Fachmenschen und streberischer Architekturmacher gegen den überlegenen Künstler, die Reaktionäre gegen den Begründer einer neuen Kunstanschauung, der Pöbel gegen den ungewöhnlichen Künstler.“28 Damit übertrieb Lux in Wagners Fall nicht völlig, der „Kampf am Karlsplatz“ wurde mit großer Heftigkeit in der Öffentlichkeit geführt und die monumentalen Aufträge von Kommune und Kaiserhaus blieben aus. Dennoch bemerkt man Lux’ dramaturgische Absicht, Wagner in eine Genealogie unverstandener Wiener Künstler seit Mozart ein­zuordnen: „Allen Großen ist es hier so ergangen.“29 Nach Wagners Tod am 11. April 1918 wurde seine Bedeutung in zahllosen Nachrufen in der in- und ausländischen Presse ausgelotet. Eine erste Meldung erschien bereits am nächsten Tag in der Neuen Freien Presse: „Ein Großbaumeister der Großstadt Wien ist mit Otto Wagner, dessen Hinscheiden wir heute beklagen, gestorben.“30 Angesichts der aussichtslosen Lage der Stadt gegen Ende des Ersten Weltkriegs demonstrierte dies deutlich die Position, die Wagner 1918 in der öffentlichen Wahrnehmung innehatte. Die wohl umfangreichsten Nekrologe erschienen 1919 in der ersten Nachkriegs-Nummer von Der Architekt. Neben der obligatorischen Würdigung seiner Lebensleistung sowie der Aufzählung seiner bedeutendsten Bauten und Schriften war vor allem sein Nachfolger an der Akademie Leopold Bauer, aber auch Dagobert Frey bemüht, Wagners Beitrag zur Entwicklung der Moderne in einem Atemzug zu würdigen und zu begrenzen. Wagners „Materialismus“ wäre nun – 1919 – endgültig vom Zeitgeist überholt; jetzt vollzöge sich „in der Kunst eine Verschiebung, vom Formalen zum Inhaltlichen, vom Materiellen zum Geistigen“.31


Pionier der Neuen Sachlichkeit Doch schon in den folgenden Jahren wurde Wagners Materia­ lismus im Zuge der Neuformulierung einer österreichischen kulturellen Identität und der Ausprägung der Neuen Sachlichkeit neue Aktualität zugesprochen. Am ernsthaftesten widmete sich Hans Tietze dem „Österreichertum“ Wagners in seinem 1922 erschienenen Buch Otto Wagner. Tietze spricht vom „Über­ wienertum“32 Wagners und führte seine üppige Ornament­ verwendung auf eine habsburgische Eigenheit zurück: „Die gleiche Umformung, die romanischer, gotischer und Barockstil hier in Österreich, auf dem Boden uralter Grenzkultur, gefunden haben, wird auch dem modernen Zweckstil zuteil […].“33 Tietze sah einen Widerspruch zwischen den sachlichen strukturellen Neuerungen Wagners und der Verwendung von Ornamenten. Im Spiegel der ornamentlosen Architektur der frühen 1920erJahre wurde Wagners Ornamentverwendung zum Hauptziel der Kritik: Gerade seine zunehmend anerkannte Vorarbeit für die Ziele der Sachlichkeit machten sein gleichzeitiges „renitentes“ Festhalten am Ornament unverständlich. Anlässlich des zehnten Todestages analysierte Lux Wagners Einfluss auf die aktuelle Entwicklung; aus der historischen Distanz war er „größer geworden und gewinnt immer mehr an Tragweite“.34 Lux setzte in Richtung Deutscher Werkbund nach: „Die neue Sachlichkeit wurde schon um 1900 von Otto Wagner und seinem Kreis gelehrt, von Josef Hoffmann in entscheidender Weise ausgebildet, von Peter Behrens, der geistig zu uns gehört, in seinen Industrie- und Kulturbauten verkörpert.“35 Der Erfolg seiner Schüler im Wohnbauprogramm des Roten Wien und im Österreichischen Werkbund verhalf Wagner indirekt zu bleibender Aktualität, die 1930 in einer Personale im Künstlerhaus und der Errichtung eines von Josef Hoffmann entworfenen Denkmals vor dem Leopoldinischen Trakt im Volksgarten (Abb. S. 116) gipfelte.36 Kein Architekt war je so prominent in unmittelbarer Nähe zum Zentrum der politischen Macht verewigt worden – nicht Johann Bernhard Fischer von Erlach, nicht Gottfried Semper, nicht Carl von Hasenauer, obwohl sie im Gegensatz zu Wagner in unmittelbarer Nähe monumentale Bauten errichtet hatten. Zur offiziellen Enthüllung der schlichten Steinstele im Rahmen der Tagung des Deutschen Werkbundes in Wien sprachen in Anwesenheit von Bundespräsident Wilhelm Miklas der Präsident des Österreichischen Werkbundes und spätere Wiener NS-Bürgermeister Hermann Neubacher sowie Peter Behrens, Wagners indirekter Nachfolger an der Akademie und Gründungsmitglied des Deutschen Werkbundes. Wagner wurde somit simultan als nationale Kulturgröße vereinnahmt und als Stammvater der internationalen Moderne bestätigt.

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Wagner 1889, Einleitung. Joseph Bayer: Aus der Mappe eines Architekten, in: NFP, 16.09.1891, S. 1-4, hier S. 1. Zu Joseph Bayer und Otto Wagner siehe Oechslin 1994. Antrag der Akademie der bildenden Künste auf die Ernennung Otto Wagners zum Nachfolger des gestorbenen Professors Carl von Hasenauer, 31.05.1894, wieder abgedruckt in: Vybíral 2010, S. 469. Wagner 1896, S. 11. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 12-13. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 55. Anonym 1857, S. 6. Streiter 1898. Zu Streiters Diskussion von „Moderne Architektur“ siehe: Mallgrave 1993a. Streiter 1898, S. 124. O. A.: Bücherschau, Moderne Architektur. Von Otto Wagner, 2. Aufl., in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines 51 (1899) 18, S. 308. Franz Arnold: Der Wiener Styl, in: NFP, Abendblatt, 09.11.1898, S. 2. Max Fabiani: Wagner-Schule, in: Der Architekt 1 (1895), S. 53-54, hier S. 54. Ludwig Hevesi: Otto Wagner, in: Zeitschrift für bildende Kunst 12 (1901), S. 13-16, 25-30, wieder abgedruckt in: Hevesi 1906, S. 272-282, hier S. 272. Hermann Bahr: Architektur, in: Die Zeit, 11.03.1899, S. 154-155; zitiert nach dem Wiederabdruck unter dem Titel „Otto Wagner“, in: Hermann Bahr: Kritische Schriften IV, hg. von Claus Pias, Weimar 2007, S. 93-98, hier S. 95. Leopold Bauer: Die alte und die neue Richtung in der Baukunst. Eine Parallele mit besonderer Rücksicht auf die Wiener Kunstverhältnisse. III. Preis, in: Der Architekt 6 (1898), S. 32.

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Camillo Sitte: Sezession und Monumentalkunst, in: NWT, 05./06.05.1903, wieder abgedruckt in: Camillo Sitte: Gesamtausgabe, Bd. 2, Schriften zu Städtebau und Architektur, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 564-576, hier S. 573. 20 Bahr 1899 (wie Anm. 17), S. 93. 21 Joseph August Lux: Wanderung zu Gott, Paderborn 1926, S. 61. 22 Zur Medienarbeit Wagners und seiner Schule siehe Nierhaus 2012. 23 Ludwig Hevesi: Otto Wagners Stadtmuseum (24.11.1907), wieder abgedruckt in: Hevesi 1909, S. 254-259, hier S. 254. 24 Vgl. Pichler 2016. 25 Adolf Loos: Otto Wagner, in: Reichspost, 13.07.1911, S. 1-2, hier S. 2. 26 Philip Johnson: The Seven Crutches of Modern Architecture, in: Perspecta 3 (1955), S. 40-45, hier S. 44. 27 Lux 1914, S. 8. 28 Ebenda, S. 14. 29 Ebenda, S. 8. 30 Josef Strzygowski: † Otto Wagner, in: NFP, 12.04.1918, S. 4. 31 Leopold Bauer: Otto Wagner, in: Der Architekt 22 (1919), S. 1-8, hier S. 3. 32 Tietze 1922, S. 4. 33 Ebenda, S. 15. 34 Lux 1928, S. 203. 35 Ebenda. 36 Zum Denkmal siehe Nierhaus 2009. Das Denkmal steht seit 1959 leicht verändert vor der Akademie der bildenden Künste an der Makartgasse.

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Otto Wagners „Moderne“ jenseits der Doppelmonarchie Iain Boyd Whyte

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Im größeren europäischen Rahmen wurde Otto Wagner zu Lebzeiten vorerst nicht als Lehrer oder Theoretiker, sondern als praktizierender Architekt wahrgenommen. Bekannt wurde er mit seinen Wettbewerbsentwürfen für den Berliner Dom, das Parlament in Budapest und den Berliner Reichstag. Beim Wettbewerb für die Amsterdamer Börse 1884, den der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage gewann, reichte Wagner einen relativ konventionellen „klassizistischen“ Entwurf ein (Kat.-Nr. 50). Berlage, obwohl in diesem Fall der Konkurrent Wagners, war ein großer Bewunderer seines Wiener Kollegen. So lobte er in seiner Rezension der Berliner Jubiläumsausstellung von 1886: „Een kunstenaar van den eersten rang blijkt to zijn Otto Wagner, door zijn project voor een parlementsgebouw te Pesth. […] Otto Wagner heeft ook getoond een meester in de penteekenkunst zu zijn, want op dit gebied behoort het ontwerp tot het fraaiste wat de tentoonstelling oplevert. Een allerliefst project voor eene villa te Hütteldorf bij Weenen bewijst die ton tweeden male.“1 Wagners Schwierigkeiten begannen erst, als er sich gewagteren, von der Moderne geprägten Projekten widmete. Die Ablehnung von Wagners Moderne in Wiener Architekturkreisen ist gut belegt. So steht in einem kurzen Kommentar zu Wagners 70. Geburtstag in Deutsche Kunst und Dekoration: „Der irische Schriftsteller Bernard Shaw nannte Wien die zweitrückständigste Stadt Europas, in der Menschen und Dinge, die dem XX. Jahrhundert angehören, mindestens noch weitere hundert Jahre nicht verstanden werden. Das klingt, auch dem Nicht-Lokalpatrioten, übertrieben, erweist sich jedoch durch viele Beispiele als wahr, unter denen das Schicksal Otto Wagner’s das markanteste ist. Daß Oberbaurat Professor Otto Wagner der genialste Baukünstler unserer Zeit ist, weiß und würdigt man in der ganzen Welt […] nur in Wien nicht, das ja seine Vaterstadt ist.“2 Mit einer Auflistung von Ehrenmitglied­ schaften bei namhaften Architekturinstituten in Europa und Nordamerika weist der Text auf das Ansehen Wagners außerhalb von Österreich. Angesichts dieser internationalen Reputation stellt sich die Frage, was im Ausland an Wagners Entwürfen und Schriften geschätzt wurde, das zeitgenössische Wiener Kritiker nur zu beanstanden wussten. Der heimische Widerstand gegen Wagner formierte sich zunächst in Reaktion auf sein polemisches Werk Moderne Architektur, das auf seiner Antrittsvorlesung für die Wiener

Akademie der bildenden Künste von 1884 beruhte. Zweifels­ ohne war die Verwendung des Wortes „modern“ der Hauptstreitpunkt für einheimische Kritiker. Der Begriff „modern“ ist schwer zu definieren, die damit einhergehenden Unklarheiten begünstigen Feindseligkeit: Aggression ist eine Standardreaktion der Ignoranz, der Unsicherheit und des Zweifels. Ein Definitionsproblem der Moderne ist, wann genau sie begann. Wie Denis Diderot in seinem Artikel „Moderne“ in der Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1772) schreibt, begann die moderne Literatur mit Boethius um 500 n. Chr., die moderne Astronomie bei Kopernikus, die moderne Philosophie bei Descartes und die moderne Physik bei Newton. Basierend auf diesem Modell der sukzessiven Entdeckung stellt sich nun die Frage: Wann begann die moderne Architektur? Eine mögliche Antwort darauf ist, dass sie mit Wagner begann, nachdem er im späten 19. Jahrhundert einer der Ersten war, die diesen Begriff bewusst verwendeten. Der Titel von Wagners Buch wurde als so bedrohlich empfunden, dass er in der 1897 in Wien erschienenen anonymen Broschüre Moderne Architektur: Prof. Otto Wagner und die Wahrheit über beide gegen ihn selbst eingesetzt wurde. In den Augen des Kritikers war Wagner ein versierter Klassizist, der seine Seele an die Moderne verkauft hatte: „Aus dem in sich abgeschlossenen Künstler hat sich ein Kunst-Experimentator entpuppt, ein der Originalitätssucht ergebener Effect­hascher, ein Schleppträger der Mode, ein Huldiger des affectirten, brutalen gallischen Architektur-Materialismus.“3 Wagners Position wurde in zweierlei Hinsicht als Provokation gewertet: Er befürwortete eine Architektur, die die Anforderungen des modernen Lebens reflektierte; darüber hinaus klang „Moderne“ auch nach „modisch“ – in beiden Aspekten war der „gefährliche“ Unterton französischer Kultur zu vernehmen. In den Augen des Anonymus war Moderne Architektur also nicht nur eine Beleidigung der Wiener Architektur­ geschichte und Baupraxis, sondern auch ein Anschlag auf die solide österreichische Kultur, die Wagner für eine gefallsüchtig-französische Manier aufgegeben habe. 1897 wurde die Debatte um Wagner so lebhaft, dass das oben zitierte Pamphlet selbst in der Zeitschrift Neubauten und Concurrenzen rezensiert wurde. Diese stellte zwar ebenfalls den französischen Einfluss auf die Wagnerschule


fest, hatte aber wenig daran auszusetzen. „Aber besehen wir uns einmal die modern französische Schule. Die Richtung, welche Professor Otto Wagner in seiner Schule einschlägt, ist sehr wenig verschieden von jener. Auch dort wird wie hier lebhaft empfunden, dass ein Kunstwerk den Anforderungen des modernen Lebens voll und ganz entsprechen müsse.“4 Wenn Wagners Geschmack und Überzeugungen tatsächlich so „gallisch“ waren, müsste man davon ausgehen, dass im Gegenzug auch in Frankreich besonderes Interesse an Wagners Werk bestand – eine Annahme, die einen guten ersten Ansatz für die Erforschung der Wagner-Rezeption außerhalb der Doppelmonarchie bietet. Im Land der großen Konstrukteure überrascht es nicht, dass die französischen Kommentatoren besonders von jenen Passagen in Moderne Architektur angetan waren, die sich dem technischen Fortschritt und der Baukonstruktion widmeten. Die Zeitschrift L’Architecture veröffentlichte im Jänner 1898 einen Beitrag des Architekten Jacques Maurice-Poupinel, der Wagner 1897 am vierten Internationalen Architekten-Kongress in Brüssel getroffen und später auf dessen Einladung Wien besucht hatte, um Wagners neueste Bauten aus erster Hand zu studieren. Poupinel legte sein Augenmerk zunächst auf Wagners Entwürfe für die Stadtbahn: „Il ne faut pas laisser impressionner parce que je parle de bâtiments bordant de voies ferrées.“5 Insbesondere galt Poupinels Aufmerksamkeit Wagners Verwendung der von funktioneller Form eingeschränkten Dekoration: „Ensuite, M. Otto Wagner a une façon toute personelle de traiter ou d’orner les piles, les culées, les limons d’escalier en fer, les colonnettes supportant les passerelles ou les marquises; il leur donne un cachet artistique.“6 Um zu betonen, dass die Funktion auch eine bewusst künstle­ rische Dimension haben konnte, illustrierte Poupinel seinen Text mit Zeichnungen von Haltestellen und Brücken aus dem 1897 erschienenen zweiten Band von Einige Skizzen. Wagners Argumentation in Moderne Architektur umschreibt er wie folgt: „[…] l’architecte et l’architecture doivent suivre l’evolution de leur époque; […] il faut que l’architecte soit de son temps, de son pays, et se serve de tous les moyens nouveaux que la science, toujours en progrès, met à la disposition de l’humanité; quels que soient les matériaux ou la forme scientifique que la théorie leur donne, il doit, dans leur usage, rechercher l’élégance s’il ne peut arriver au beau, bref, en tirer un parti artistique. Il n’y a pas décadence, il y a évolution, de nos jours.“7 Ähnlich evolutionistische Ansätze zum Fortschritt und zur Eigenart des modernen Zeitalters wurden auch in der Lehre eines der einflussreichsten Professoren der École des Beaux-Arts in Paris, Julien Guadet, zitiert. Guadet eröffnete sein Atelier 1872, doch sein Lehrbuch Eléments et theories de l’architecture, das sich auf ein in über vierzigjähriger Tätigkeit entstandenes pädagogisches Programm stützen konnte, erschien erst 1902. Während ein Großteil des Werks, das mit den klassischen Säulenordnungen einsetzt, streng konventionell ist, lassen sich darin auch rationalistische Argumente finden,

die jenen Wagners sehr nahestehen. Zum Beispiel schreibt Wagner in Moderne Architektur: „Alle modernen Formen müssen dem neuen Material, den neuen Anforderungen unserer Zeit entsprechen, wenn sie zur modernen Menschheit passen sollen, sie müssen unser eigenes besseres, demokratisches, selbstbewusstes, ideales Wesen veranschaulichen und den kolossalen technischen und wissenschaftlichen Erfolgen, sowie dem durchgehenden praktischen Zuge der Menschheit Rechnung tragen – das ist doch selbstverständlich!“8 Auf sehr ähnliche Weise appelliert Guadet an seine Studenten: „Le technicien est un réalisateur, mais ce n’est pas lui qui crée ou qui gouverne les aspirations de son temps, il ne peut que s’y adapter au mieux des intérêts de l’art. Au-dessus des oeuvres, au-dessus de programmes spéciaux, il y a le programme des programmes, c’est la civilisation même de chaque siècle, la foi ou l’incrédulité, l’artistocratie ou la démocratie, la sévèrité ou le relâchement des moeurs […]. Aujourd’hui, notre état social est à la fois démocratique et raffiné, ses instincts à la fois utilitaires et luxueux. Vous y êtes trop mêlés vous-mêmes pour pouvoir y échapper – et d’ailleurs pourquoi vous isoleriez-vous dans l’anachronisme? Soyez les artistes de votre temps – cela peut toujours être une noble mission.“9 Julien Guadets Sohn Paul, der auch Architekt war, knüpft in einem 1906 erschienenen Artikel eine noch direktere Verbindung zu Wagner, wobei er dem Wiener Architekten als Konstrukteur sein größtes Interesse schenkt: „[…] ses si intéressantes œuvres d’architecture officielle à Vienne, où il construisit les gares et les viaducs du chemin de fer métropolitain; nous y constatons une etude de métallurgie élégante et rationelle.“10 In Folge zitiert Guadet eine der Grundthesen aus Wagners Moderne Architektur: „Jede Bauform ist aus der Konstruktion entstanden und successive zur Kunstform geworden“,11 und schließt: „Ce sont là préceptes de rationalisme sain et fécund et l’on ne peut qu’y applauder.“12 Während Guadet Wagners strukturellen Rationalismus guthieß, war er von der ornamentalen Gestaltung weniger überzeugt und verwies auf das Eckhaus an der Wienzeile und auf die Postsparkasse, die in seinen Augen einen Mangel an narrativer Kraft aufwiesen. „Le principe cependant est bon: en Architecture comme dans tous les Arts, if faut du symbole; mais point trop n’en faut, sous peine de tomber dans l’hiéroglyphe incomprehensible.“13 Der „Wiener Impuls“ hinterließ dennoch einen bleibenden Eindruck in Paul Guadets eigenen Bauten, wie der 1910 fertiggestellten französischen Botschaft im montenegrinischen Cetinje. Guadet war eng mit dem renommierten französischen Architekten Auguste Perret befreundet und der Stahlbetonrahmen des Gebäudes – der erste am Balkan – wurde vom Bauunternehmen Perret Frères hergestellt. Die Form dieses Rahmens widerspiegelnd, teilen Streifen aus Keramikfliesen die straßen­seitige Fassade strikt in rechteckige Fenster- und Wandfelder; auch über dem Bossenwerk läuft ein ornamentales Band aus bunten Fliesen und umrahmt den Eingang. Der Effekt ist eindeutig wienerisch, erinnert aber eher an Josef Hoffmann als an Otto Wagner.

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Paul Guadet: Französische Botschaft in Cetinje, Montenegro, 1910 Paris, Centre d’archives d’architecture du XXe siècle

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Im benachbarten Deutschen Reich war Wagners Einfluss weniger in Entwurf und Konstruktion als vielmehr in der Stadtplanung zu spüren. Eine der wichtigsten Stellungnahmen zu diesem Thema war Karl Henricis Rezension von Moderne Architektur. Der Aachener Architekturprofessor war nicht nur eine einflussreiche Stimme in den zeitgenössischen Debatten zur Stadtplanung, sondern auch ein enger Vertrauter von Camillo Sitte, Wagners Erzrivalen in Wien.14 Wie nicht anders zu erwarten, war Henrici von Wagners Buch nicht überzeugt. Im Anschluss an die Bemerkung, dass Wagners selbst erkorene Aufgabe, eine moderne urbane Architektur zu formen, in den USA bereits gelöst worden sei, kritisierte Henrici den ausschließlichen Fokus auf das Leben in der modernen Großstadt: „Es will mir scheinen, als ob die Lehre O. W.’s unter einer gewissen Einseitigkeit litte, sofern sie fast ausschliesslich an die technischen Errungenschaften der Neuzeit, an die modernen, noch immer grösserer Vervollkommnung gegenwärtiger Verkehrsmittel und das Grosstadtleben knüpft.“15 Während die Großstadt Wagners von Horizontalität und den Ansprüchen des Verkehrs bestimmt war, behauptete Henrici, dass sich Stadtplaner von der Tyrannei der geraden Linie zu befreien hätten. Die Fixierung auf Transport und Handel würde Uniformität in das Leben der Bewohner bringen und ihre spontanen und lokalen Instinkte unterdrücken: „Ich will nicht bestreiten, dass damit der Theil des Zeitgeistes, der dem modernen Großstadtleben entströmt, einen treffenden künstlerischen Ausdruck finden würde, kann aber nicht zugeben,

dass eine Nothwendigkeit vorläge, nur ihm zu frönen. Ein Anderes ist es, was den Künstlern aller Länder vor allem am Herzen liegen sollte, nämlich die Pflege einer ausgeprägt nationalen Kunst.“16 Ein Architekturtheoretiker und Lehrer, so Henrici, sollte demnach nicht nur die Kleinstadt und die Metropole thematisieren, sondern sich auch der lokalen und nationalen Qualitäten der vernakulären Architektur und der jahrhundertelangen Stadtentwicklung bewusst sein. Der moderne Rasterplan, der als Totalität auf dem Zeichenbrett eines Entwerfers entstand, war ihm ein Gräuel. Eine gemäßigtere Reaktion auf Moderne Architektur wurde 1898 von dem Architekten Richard Streiter veröffentlicht, der sich schon 1896 in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Das deutsche Kunsthandwerk und die englisch-amerikanische Bewegung“ mit den materiellen Rahmenbedingungen des modernen Lebens auseinandergesetzt hatte. Streiter befürwortete angloamerikanische Zweckmäßigkeit und Pragmatismus in Bereichen wie Kleidung, Möbel, Textilien und sanitären Anlagen nicht aus modischen Gründen, sondern weil er sie als nützlich, komfortabel und hygienisch ansah. Sein wichtigster Begriff, der in Folge auch von Wagner übernommen wurde, war „Realismus“: „Realismus in der Architektur, das ist die weitgehendste Berücksichtigung der realen Werdebedingungen eines Bauwerks, die möglichst vollkommene Erfüllung der Forderungen der Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit, Gesundheitsförderlichkeit, mit einem Wort: die Sachlichkeit.“ Der Charakter eines Baues solle jedoch nicht allein aus seiner Zweckbestimmung, sondern auch „aus dem Milieu, aus der Eigenart der jeweilig vorhandenen Baustoffe, aus der landschaftlich und geschichtlich bedingten Stimmung der Oertlichkeit“ heraus entwickelt werden.17 Indem Streiter ebenso eindringliche, doch unscharf definierte Begriffe wie Realismus, Verismus und Wahrheit einsetzte, war er ein natürlicher Verbündeter Wagners, wie auch aus dem Titel seiner 1898 erschienenen Publikation Architektonische Zeitfragen. Eine Sammlung und Sichtung verschiedener Anschauungen mit besonderer Beziehung auf Professor Otto Wagners Schrift ‚Moderne Architektur‘ herauszulesen ist.18 Streiter schreibt: „Also das ‚ideale Streben nach Wahrheit in der Kunst‘ ist es, wovon WAGNER das Heil, den modernen Stil, das uns eigene Schönheitsideal erwartet: die Parole des Realismus, des Verismus, der in den letzten 25 Jahren so viel gehörte Kampfruf der ‚Moderne‘ soll nun auch in der Architektur eine junge Generation zu neuen, befreien­ den Thaten anfeuern!“19 Doch obwohl Streiter Wagners Grundsätze unterstützte, konnte er in Moderne Architektur keine theoretischen Ansätze finden, die einem Architekten dabei helfen würden, den realistischen Fokus auf die Konstruktion in Kunst umzuwandeln: „Mit dem Realismus, mit der Sachlichkeit allein, ist noch keine moderne Kunst, kein moderner Stil gewonnen, sondern nur eine gesunde natürliche Grundlage hiefür.“20 Wagners Versäumnis, den Weg von der funktionellen Konstruktion zu ästhetisch ansprechender Architektur zu skizzieren, war für Streiter ein Hindernis. Zudem war er


Vladimir Apyshkov: Haus Chaev, Moskau, Ansicht und Grundriss, 1906/07, in: Zodchii [Der Architekt], 1908

enttäuscht, dass Wagners eigene Bauwerke, die in Streiters Augen auf klassischen und barocken Vorbildern basierten, keine Anhaltspunkte für seine Theorien boten. Die Prinzipien des Realismus und des Verismus in Wagners Schriften würden die Ablehnung solch historischer Modelle fordern, so Streiter, „von solcher Konsequenz zeigen aber WAGNERS eigene Bauten und Entwürfe nichts“.21 Streiter formulierte diese Kritik freilich 1898 und damit bevor Wagner seinen reifen Stil ent­wickelt hatte, wie er in der formal zurückhaltenden und zugleich symbolisch expressiven Architektur der Kirche am Steinhof (Kat.-Nr. 93) und der Postsparkasse (Kat.-Nr. 99) zum Ausdruck kam. Die modernistischen Tendenzen in Westeuropa in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts fanden auch in Russland ein deutliches Echo. Ein 1899 von G. Ravich veröffentlichter Artikel in Stroitel’ bot eine ausführliche Studie progressiver Strömun­ gen in Österreich, Belgien, Frankreich und Deutschland, illustriert mit Projekten von Wagner, Victor Horta, Joseph Maria Olbrich, Rudolf Tropsch und Hector Guimard. Auch die Zeitschrift Zodchii wurde eines der wichtigsten Vehikel westlicher Architekturtheorie. In einem Artikel aus Zodchiis Februar­ ausgabe 1902 etwa übernahm der Diplomingenieur und Kritiker Pavel Makarov Wagners Begriff „modern“ als bezeichnend für die zeitgenössische Architektur und folgerte, dass Wagner der Anführer der progressiven Bewegung in Westeuropa sei.22 Im darauffolgenden Jahr druckte Zodchii eine Kritik Aleksandr Dmitrievs zu Wagners Eingangsportal für das Depeschenbüro der Zeit von 1902 (Kat.-Nr. 94). Der Autor applaudierte Wagners geradliniger Komposition und sah darin eine „klassische Auf­ hebung“ der ausschweifend-kurvigen Linienführung von Art Nouveau und Jugendstil.23 Wagners wichtigster Unterstützer in Russland war Vladimir Apyshkov, der 1905 nach Wagners Vorbild ein kurzes Textbuch mit dem Titel Rational’noe v noveishei arkhitekture (Das Rationale in der neuesten Architektur) für seine Studenten an der Akademie für Bauingenieurwesen in St. Petersburg veröffentlichte. Wie auch Wagner beharrte Apyshkov darauf, dass nur die praktischen Anforderungen des modernen Lebens Ausgangspunkt für den Architekten sein könnten.24 In der Ebene des Grundrisses wird der Einfluss Wagners auf Apyshkov auch in der strengen Diagonalität des Hauses für den Moskauer Ingenieur S. N. Chaev (1906/07) sichtbar, in dem der virtuose Grundriss des Eckhauses an der Wienzeile (Kat.-Nr. 80) nachklingt. Auch die Kombination der kräftigen trommelförmigen Ecklösung mit den anschließenden flachen geometrischen Fassaden, die von einem markanten Gebälk abgeschlossen werden, spiegelt sich in den Außenansichten des Hauses Chaev wider.25 Eine der intensivsten kulturellen Beziehungen hatte Wien in den Jahren um 1900 mit dem britischen Arts and Crafts Move­­­ment. Walter Crane veröffentlichte regelmäßig Zeich­ nungen, Buchillustrationen und Entwürfe für Glasmalereien und Tapeten in Ver Sacrum, der Zeitschrift der Wiener Secession.

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Giuseppe Sommaruga: Palazzo Castiglioni, Mailand, 1901–1904, in: L’architettura di Giuseppe Sommaruga, Mailand o. J., Tafel 1

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Charles Rennie Mackintosh und sein Kreis wiederum beteiligten sich an der VIII. Ausstellung der Secession, auf der auch Charles Robert Ashbee mit Möbelentwürfen vertreten war.26 Der Tausch von Ideen funktionierte in beide Richtungen, und so traf auch Wagner in Großbritannien auf ein aufgeschlossenes Publikum. Eines der wichtigsten Medien dieses österreichisch-britischen Austauschs war das 1893 gegründete Magazin The Studio, das ein besonderes Augenmerk auf die Ausstellungen der Wiener Secession richtete. Über das in der XXIII. Ausstellung präsentierte Modell der Kirche am Steinhof vermerkte Amelia Sarah Levetus: „There is so much new in this, such a richness of thought and expression, so many admirable ideas as regards material, form, surroundings, etc.“ und pries Wagner als „the father of modern architecture“.27 Im Sommer 1906 war Wagner anlässlich des siebenten Internationalen Architektenkongresses in London, allerdings beschränkten sich seine Beiträge als Repräsentant der Gesellschaft österreichischer Architekten auf Verwaltungsaufgaben.28 Interessanter für die Rezeption Wagners in Großbritannien sind die Rezensionen der Imperial Austrian Exhibition, die im Juni 1906 im Londoner Earl’s Court eröffnet wurde. Das Studio widmete der Großveranstaltung eine Spezialausgabe mit

einem Architekturteil des Connaisseurs und Galeristen Hugo Haberfeld. Für ihn begann die neue Blüte der österreichischen Kunst mit der Architektur – und Wagner als deren Schlüssel­ figur.29 Haberfeld lobte die Kirche am Steinhof sowie die Postsparkasse und gab eine detaillierte Beschreibung der nicht realisierten Projekte für die Akademie der bildenden Künste, die Kapuzinerkirche und das Stadtmuseum. Mit Betonung der Kontroverse über das Stadtmuseum präsentierte Haberfeld Wagner als missverstandenes Genie, das seiner Zeit voraus war. Zudem schrieb er Wagner größte Bedeutung als Initiator der neuen Bewegung zu und erkannte in ihm nicht zuletzt auch den Mentor einer jungen, radikalen Generation – J. M. Olbrich, Josef Hoffmann, Josef Plečnik, Leopold Bauer, Jan Kotěra –, welche die Hoffnung der Zukunft war. Während die Londoner Kunstpresse Wagner als den ständig in tödlichem Kampf mit Ignoranz und Reaktion stehenden Bannerträger der Moderne feierte, schien seine Arbeit als Stadtplaner wenig Resonanz in Großbritannien gefunden zu haben. Wagners eigenes Urteil über London in Moderne Architektur war eher abschätzig.30 Diese Miss­achtung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn über­raschenderweise wurde Wien auf der großen Londoner Kon­ferenz zur Stadtplanung am Royal Institute of British Architects 1910 kaum beachtet. Wagner war weder anwesend, noch war sein Generalregulierungsplan für Wien Thema. Die einzige Erwähnung Wiens auf der Kon­ ferenz bestand aus drei Werken als Teil einer Ausstellung über Karten, Pläne, Zeichnungen und Modelle in der Royal Academy: eine Karte des westlichen Teils der Ringstraße und der Altstadt von der Votivkirche bis zum Schwarzenbergplatz; eine des Karlsplatzes vor der Einwölbung des Wienflusses; und eine Vogelperspektive über den Umbau des Karlsplatzes, hergestellt von Wagners großem Wiener Rivalen Friedrich Ohmann. Wie Henrici bereits bemerkt hatte, war die architektonische Zukunft, für die Wagner in Moderne Architektur plädiert hatte, in den USA bereits gegenwärtig. Chicago war nach dem großen Brand von 1871 zum Muster einer rasterförmigen Großstadt mit Hochhäusern aus Eisen- und Betongerüsten ausgebaut worden. Die Fragen, die Wagner in den 1890er-Jahren stellte, waren demnach nicht selten bereits im vorhergehenden Jahr­ zehnt von amerikanischen Architekten untersucht worden, um mit der rasanten Expansion US-amerikanischer Städte Schritt halten zu können. Ein Symposium der „Illinois State Associ­ ation of Architects“ in Chicago stellte zum Beispiel schon 1887 die Frage – „To what extent is it necessary in design to emphasize the essentially structural elements of a building?“ –, die der deutsch-amerikanische Architekt Frederick Baumann folgendermaßen beantwortete: „I merely know style – not a style – which Gottfried Semper comprises under ‚harmony of a building with the conditions primary to its coming into existence‘.“31 Semper war Wagners viel zitierter Mentor, dessen Auffassung von Architektur als einem dynamischen Prozess, der von Technologie und sozialen Notwendigkeiten vorangetrieben wird, breiten Zuspruch in den USA fand, nachdem John


Antonio Sant’Elia: Studie für ein Elektrizitätswerk, 1913 Como, Musei Civici

Emil Hoppe: „Studie“, in: Wagner-Schule 1902, Wien 1903, S. 31

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W. Roots 1869 Sempers Abhandlung Über Baustile übersetzt hatte. Dies erklärt auch die positive Rezeption Wagners in den Vereinigten Staaten. Wagners wichtigster Kontakt in den USA war der Architekturprofessor Alfred Dwight Foster Hamlin von der Columbia University, der Wagner 1894 in Wien getroffen und von ihm ein Exemplar seiner Erläuterungsschrift zum General­ regulierungsplan für Wien erhalten hatte. In Folge wurde Hamlin zu einem Verfechter von Wagners Ideen, wie aus einem 1902 in New York veröffentlichten Artikel über zeitgenössische amerikanische Architektur hervorgeht, in dem der Schwerpunkt zwar auf Hamlins eigener Forschung lag, Wagners Einfluss jedoch betont wurde: „Prof. Otto Wagner of Vienna, noted both for his marvelous fertility of design and his thoughtful and incisive writing says: ‚It is indeed to be assumed as demon­strated that art and artists always represent their period‘.“32 In Reaktion auf die Einladung Hamlins, während des Kongresses zur Stadt­ planung eine Vorlesung an der Columbia University in New York

zu halten, veröffentlichte Wagner im März 1911 eine schmale Broschüre mit dem Titel Die Großstadt (Abb. S. 54-55). Die englische Übersetzung ist mit einem Vorwort Hamlins versehen, das Wagner und dessen Werk größte Anerkennung zollt. Hamlin präsentierte den Architekten als „the unquestioned leader of his profession in the Austro-Hungarian Empire and one of the most fertile and original of modern architectural designers“.33 Diese Bewunderung beruhte durchwegs auf dem „Konstrukteur“ Wagner und vermied Analysen seiner dekorativen Entwürfe: „A thoroughly scientific constructor, he designed nothing that does not appear to be rationally and soundly put together; and a certain dignity and simplicity of mass, silhouette and proportion characterizes all his works.“34 Wagners Rezeption in New York war jedoch nicht durchgehend positiv, da Hamlin Einwände gegen die explizit demokratische Tendenz, die Wagner in der Großstadt kundtat, erhob: „It goes so far in the direction of what is sometimes called municipal paternalism, sometimes state socialism, as to almost take away an American’s breath.“35


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In Europa war Wagners gesellschaftspolitische Haltung im Vergleich zu seinem Einfluss als Gestalter kaum relevant. Trotz politischer Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Italien und der starken irredentistischen Strömungen der Zeit übten Wiener Vorbilder zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Einfluss auf italienische Architekten aus, wobei Camillo Boitos Architekturklasse an der Accademia di Brera in Mailand Wagners Ideen besonders intensiv rezipierte. Boito war eng mit der Zeitschrift L’arte italiana decorativa e industriale verbunden, die regelmäßig Artikel über zeitgenössische Entwicklungen in Deutschland und Österreich veröffentlichte. Einer seiner Studenten war auch Giuseppe Sommaruga, dessen Palazzo Castiglioni am Corso Venezia in Mailand (1901–1904) so deutlich von Wagners Wohnarchitektur beeinflusst war, dass ein deutscher Kritiker bemerkte: „Hier hat einer seiner Phan­tasie völlig die Zügel schießen lassen, sei es, daß er sich von den Bestrebungen Wagners hat beeinflussen lassen, sei es, daß er selbst nach einem eigenen Ausdruck seiner Kunst suchte.“36 Obwohl Wagners Moderne Architektur vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht ins Italienische übersetzt wurde, beeinflusste sie auch schon früher italienische Ver­ öffentlichungen wie Pietro Rem Piccis Buch L’architettura e l’arte dell’avvenire von 1902, das hervorragend über Wagners Werk und das seiner Studenten informiert war. 1910 veröffentlichte der österreichische, aus Görz stammende Kunsthistoriker Leo Planiscig, der zu dieser Zeit bei Julius von Schlosser an der Universität Wien promovierte, einen Aufsatz über Otto Wagner, in dem er Parallelen zwischen der römischen Seicentoarchitek­ tur und dem Potenzial der Moderne des 20. Jahrhunderts feststellte und Wagner mit Gian Lorenzo Bernini gleichsetzte.37 In seiner Bewunderung der Majolikaverkleidung der Wienzeilenhäuser betonte Planiscig die Abwesenheit klassischer Details: „Una linea ritmica soddisfa i bisogni estetici del nostro tempo meglio che tutti motivi d’età passate.“38 Demnach gab Wagner grundlegenden Werten eine moderne Ausdrucksform: die Postsparkasse sei „una sinfonia in marmo ed alluminio“, die Kirche am Steinhof „un documento eterno per il nostro tempo, per la nostra religiosità“.39 In seiner Anerkennung von Wagners Anreiz für junge Architekten beendete Planiscig seinen Text mit einem Aufruf zur architektonischen Revolution: „Noi al principio del XX secolo siamo alle porte di una nuova vita: mai come ora avvenne nei campi dell’arte e massime nell’architettura un cambiamento cosi repentino. Ciò che in età passate si svolse lentamente nel corso di generazioni, ora si effetua instantaneamente, con una febbre di creazione che corrisponde alla nostra vita animata, sospinta da mille fattori invisibili ad una meta che non conosciamo chiaramente, ma che sentiamo in noi.“40 Das ist die Sprache des Futurismus, und das Vorbild Wagners und der Wagnerschule spiegelte sich im Werk eines der berühmtesten Absolventen der Brera wider – Antonio Sant’Elia, Autor des im Juli 1914 veröffentlichten Manifesto dell’architettura futurista. Obwohl er Wien nie besucht hatte, konnte sich Sant’Elia 1911 anhand der Interieurs im österreichischen Pavillon der „Esposizione Internazionale“ in Rom persönlich mit der

Wagnerschule vertraut machen – einerseits durch die Beteiligung von Wagners ehemaligen Studenten und Assistenten Emil Hoppe, Marcel Kammerer und Otto Schönthal, andererseits durch ausgestellte Arbeiten, darunter das Modell der Kirche am Steinhof, neun Zeichnungen Wagners, zwölf von Josef Hoffmann und zehn aus dem gemeinsamen Büro von Hoppe, Kammerer und Schönthal. Sant’Elia besuchte die Ausstellung als Student und seine oft aus niedrig angesetzter Perspektive gezeichneten dynamischen Skizzen und Entwürfe für die città nuova zeigen eindeutige Anlehnungen an den Zeichenstil der Wagnerschule, insbesondere Emil Hoppes. Die futuristische Vision einer dynamischen und mobilen Stadt könnte sogar direkt aus Wagners eigenen Zukunftsprognosen hervorgegangen sein: „Die Art zu leben, wie es unsere Zeit erheischt, wird noch viele Dinge zeitigen, von denen wir heute kaum eine Vorstellung haben, so beispielsweise das fahrbare Haus […] und vieles andere.“41 Zwei Jahrzehnte nach Wagners Großstadt-Vision von 1911 würdigte Otto Schönthal den Einfluss seines Meisters mit den folgenden Worten: „Wenn mit Recht gesagt werden konnte, daß seit dem älteren Fischer von Erlach kein einzelner Baumeister das Bild der Stadt Wien so tiefgreifend bestimmt hat wie eben Otto Wagner, so gilt dies nicht so sehr für die Form wie für die Gesinnung des neuen Bauens. Durch diese greift übrigens Wagners befruchtender Einfluß über die Grenzen Wiens und des Vaterlandes, ja selbst Europas hinaus. In ihm wurzelt schlechtweg die internationale Formensprache der zeitgenössischen Architektur.“42 Aus dem Englischen übersetzt von Julia Secklehner.


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„Betrachtet man sein Projekt für das Parlament in Pest, so scheint Otto Wagner ein erstrangiger Künstler zu sein. […] Otto Wagner ist offensichtlich ein Meister der Zeichnung, und in dieser Hinsicht ist sein Entwurf der schönste in der Ausstellung. Ein reizendes Projekt für eine Villa in Hütteldorf bei Wien bestätigt diesen Eindruck.“ (Übersetzung der Zitate hier und folgend: Andreas Nierhaus). Hendrik Petrus Berlage: Indruk van de Jubileum-Tentoonstelling te Berlijn, in: Bouwkundig weekblad 6 (21.08.1886) 34, S. 206. Vgl. auch Whyte 1993. A[rthur] R[oessler]: Professor Otto Wagner – Wien (Kleine Kunst-Nachrichten), in: Deutsche Kunst und Dekoration 28 (1911), S. 289. Anonym 1897, S. 8. „Moderne Architektur“ und „Moderne Architektur: Prof. Otto Wagner und die Wahrheit über beide“, in: Neubauten und Concurrenzen: Organ für das Hochbaufach und seine Interessenten 3 (März 1897) 3, S. 18. „Man darf sich nicht durch den Umstand irreführen lassen, dass ich von Bauten entlang von Eisenbahngeleisen spreche.“ Jacques Maurice-Poupinel: Causerie, in: L’Architecture 11 (15.01.1898) 3, S. 24. „Des Weiteren behandelt und schmückt Herr Otto Wagner Pfeiler, Widerlager, eiserne Treppenwangen und die dünnen Säulen der Perronund Vordächer auf eine sehr persönliche Art und verleiht ihnen künstlerischen Charakter.“ Ebenda. „Der Architekt und die Architektur müssen der Entwicklung ihrer Epoche folgen; […] der Architekt muss seiner Zeit, seinem Land entsprechen und sich aller neuer Mittel bedienen, die die immer fortschreitende Wissenschaft der Menschheit zur Verfügung stellt; egal welche Materialien oder theoretisch-wissenschaftlich begründete Formen – er muss in ihrem Gebrauch, wenn er schon nicht zum Schönen gelangen kann, nach Eleganz streben, kurz: künstlerisch Partei ergreifen. Das ist nicht Deka­ denz, es ist die Evolution unserer Tage.“ Ebenda, S. 25. Wagner 1896, S. 37.

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„Der Techniker ist ein Gestalter, doch ist er nicht für das Streben seines Zeitalters verantwortlich, er kann sich ihm nur im Interesse der Kunst anpassen. Über den Werken, über den speziellen Programmen liegt das Programm der Programme, die jedem Jahrhundert eigene Zivilisation, Glauben oder Unglauben, Aristokratie oder Demokratie, Härte oder Lockerung der Sitten. […] Heute ist unsere Gesellschaft zugleich demokratisch und verfeinert, ihre Instinkte sind zugleich auf den Nutzen wie auf den Luxus ausgerichtet. Sie sind selbst zu sehr darin verstrickt, um dem zu entkommen – und warum überhaupt isolieren sie sich im Anachronismus? Seien Sie Künstler Ihrer Epoche – das wird für alle Zeiten eine erhabene Mission sein.“ Julien Guadet: Eléments et theories de l’architecture, Bd. 1, Paris: Libraire de la construction moderne, 1901, S. 135-136. 10 „[…] seine interessanten offiziellen architektonischen Arbeiten in Wien, wo er die Bahnhöfe und Viadukte der Stadtbahn konstruierte; wir sehen darin eine elegante und rationelle Studie über die Metallverarbeitung.“ Paul Guadet: L’Œuvre du Professeur Otto Wagner, in: L’Architecte 1, 15.12.1906, S. 89. 11 Wagner 1896, S. 56. 12 „Dies sind Gebote eines gesunden und schöpferischen Rationalismus, denen man nur applaudieren kann.“ Ebenda, S. 89. 13 „Das Grundprinzip jedoch ist gut: in der Architektur bedarf es, wie in allen Künsten, des Symbols; doch weniger ist mehr, und man läuft Gefahr, in unverständliche Hieroglyphen zu verfallen.“ Ebenda, S. 91. 14 Zum Verhältnis von Wagner und Sitte vgl. den Beitrag von Wolfgang Sonne in diesem Band. 15 Karl Henrici: Moderne Architektur, in: Deutsche Bauzeitung 31 (1897), S. 14. 16 Ebenda, S. 14-15. 17 Streiter 1898, S. 75-76. 18 Zu Streiter vgl. auch den Beitrag von Ruth Hanisch in diesem Band. 19 Streiter 1898, S. 47. 20 Ebenda, S. 78. 21 Ebenda, S. 94. 22 Vgl. William Craft Brumfield: Mitteleuropa to Moscow: German Links with Russian Architecture, in: Gennady Barabtarlo (Hg.): Cold Fusion: Aspects of the German Cultural Presence in Russia, New York 2000, S. 172. 23 Ebenda, S. 175.

24 Vladimir Apyshkov: Rational’noe v noveishei arkhitekture, St. Peters­ burg: T-vo Khudozhestvennoi Pechati 1905, S. 58. Zu Wagners Einfluss in Russland vgl. B. M. Kirikov: Otto Wagner i stanovlenie peterburgskogo moderna, in: Ders.: Arkhitektura Peterburga kontsa XIX-nachala XX veka: Eklektika, Modern, Neoklassi­t sizm, St. Petersburg 2006, S. 229-231. 25 Für eine detaillierte Beschreibung von „Haus Chaev“ vgl. Richard Anderson: Russia. Modern architecture in histories, London 2015, S. 54-55. Anderson stellte außerdem fest: „The flat surfaces and formal simplicity of Gavril Baranovskii’s apartment house in St. Petersburg of 1897 attests to the resonance of Wagner’s principles in Russia.“ Ebenda, S. 45. 26 Vgl. Roger Billcliffe, Peter Vergo: Charles Rennie Mackintosh and the Austrian Art Revival, in: Burlington Magazine 119 (November 1977) 896, S. 739-746. 27 Amelia Sarah Levetus: The TwentyThird Exhibition of the Vienna Secession, in: The Studio 35 (1905) 147, S. 53. 28 Für den vollständigen Bericht zur Londoner Konferenz 1906 vgl. VIIth International Congress of Architects, 16–21 July 1906: Summary of Proceedings, in: Journal of the Royal Institute of British Architects 13 (November/Oktober 1906) 3. 29 Hugo Haberfeld: The Architectural Revival in Austria, in: Charles Holme (Hg.): The Art-Revival in Austria, London: The Studio 1906, S. c i und c iv. 30 „In London [haben] die Bodenbesitzverhältnisse für diesen Zweck eine Bautype hervorgerufen, von welcher zu behaupten ist, dass sie beinahe auf jede Mitwirkung der Kunst verzichtet.“ Wagner 1896, S. 81. 31 Vgl. Inland Architect 9 (Mai 1887) 6, S. 59-61, hier S. 61. 32 Anonym: The American Artistic Instinct, in: New York Commercial Advertiser, 04.10.1902. 33 Vgl. Wagner 1911a, S. 485. 34 Ebenda. 35 Ebenda, S. 486.

36 Dagobert Joseph: Geschichte der Architektur Italiens von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, Leipzig: Baumgärtners Buchhandlung 1907, S. 486. 37 Planiscig 1910, S. 104-106. 38 „Eine rhythmische Linie genügt den ästhetischen Bedürfnissen unserer Zeit besser als alle Motive vergangener Epochen.“ Planiscig 1910, S. 106. 39 „eine Symphonie aus Marmor und Aluminium“; „ein ewiges Dokument unserer Zeit, unserer Religiosität“. Ebenda, S. 109 und 112. 40 „Wir stehen zu Beginn des 20. Jahr­hunderts vor den Toren zu einem neuen Leben: nie zuvor ist es auf dem Gebiet der Kunst und insbeson­ dere der Architektur zu einem so plötzlichen Umbruch gekommen. Was sich in vergangenen Epochen im Lauf von Generationen langsam entwickelte, ist heute sofort fertig, mit einem schöpferischen Fieber, das mit unserem intensiven Leben korrespondiert, von tausend un­sichtbaren Faktoren zu einem Ziel getrieben, das wir nicht klar er­kennen, das wir aber in uns spüren.“ Ebenda, S. 115-116. 41 Wagner 1911a, S. 22. 42 Emil Hoppe, Otto Schönthal: Zur Einführung, in: Wiener Architekten. Emil Hoppe und Otto Schönthal. Projekte und ausgeführte Bauten, Wien/Leipzig 1931, S. 5-7, hier S. 5.

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Zeichnung, Fotografie, Publikation, Bau Zur medialen Konsti­tution von Architektur Andreas Nierhaus 44

Ein antikes Architekturidyll steht am Beginn von Otto Wagners erster Publikation Einige Scizzen, Projecte u. ausgeführte Bauwerke von 1889. Über einer Inschrifttafel lehnt links im Schatten eines Baumes ein nackter Knabe, der selbstvergessen den Aulos bläst, auf einer Balustrade im Vordergrund hat sich ein ebenfalls nackter Jüngling niedergelassen, der mit kritischem Blick die mächtigen Bauten vor seinen Augen mit der Zeichnung in seinen Händen zu vergleichen scheint. Schon am Titelblatt macht uns Wagner damit auf das komplexe Verhältnis von gezeichneter und gebauter Architektur aufmerksam. Im Vorwort des exklusiv ausgestatteten Tafelwerks im monumentalen Großfolio-Format (60,7 × 46,6 cm), das er vor allem an hochgestellte Persönlichkeiten verschenkte,1 kündigt der 48-jährige Wagner, der bis dahin Miethäuser, eine Synagoge, ein Bankgebäude und ephemere Festdekorationen errichtet hatte, vollmundig eine neue Architektur an, den „Nutz-Stil“ der Zukunft, der in seinem bisherigen – zum Großteil ungebauten – Werk bereits angelegt sei.2 Die 63 Heliogravüren entstanden im k. u. k. Militärgeographischen Institut in Wien, das durch die Qualität seiner Produkte – in erster Linie handelte es sich um militärisches Kartenmaterial – zu den weltweit führenden Anstalten seiner Art zählte.3 Die nach zahlreichen Vorstufen 1879 von Karl Klič in Wien technisch vollendete, überaus kostspielige Helio­ gravüre erlaubte erstmals den Druck differenzierter Halbtöne und eignete sich damit nicht nur zur originalgetreuen „künstlerischen“ Wiedergabe detailreicher Federzeichnungen, sondern auch zur Reproduktion von Fotografien. Wagners Erfahrungen mit der Heliogravüre gehen zumindest auf das Jahr 1879 zurück, als er zwei großformatige Zeichnungen zur Publikation des Festzugs anlässlich der Silberhochzeit des Kaiserpaares im selben Jahr beisteuerte (Kat.-Nr. 33).4 Die Ansichten des Festplatzes und des Festzeltes – letztere mit einem Selbstbildnis Wagners – zählte Heinrich Kábdebo, Redakteur der Kunst­chronik, zu den „Perlen der Collection“, jedoch nicht aufgrund ihrer künstle­ rischen Vollendung, sondern weil die minutiösen Federstrichzeichnungen ohne jegliche Lavierungen „im festen Zusammenhange mit dem Wesen und der Innerlichkeit der heliographischen Technik gefertigt sind“.5 Die Tafeln von Einige Scizzen – sie beruhen zum Großteil auf Zeichnungen von Rudolf Bernt, den Wagner im Vorwort als „meine Hand“ und einen „Meis­ter der Darstellung“ bezeichnete6 – standen dem um nichts nach.

Für Wagner machte sich die beträchtliche Inves­ tition in die Publikation seines Werkes bezahlt: Der Kunstkritiker Joseph Bayer widmete der zweiten, 1891 bei Anton Schroll verlegten Auflage ein vier Seiten langes Feuilleton in der Neuen Freien Presse und sprach von „köstlichen Blättern“, die „insbesondere in den geistreichen und effectvollen Perspectiven einen reinen Genuß der Betrachtung“ gewährten.7 Im Lauf der Jahre setzte Wagner die Publikation durch weitere Lieferungen bzw. Hefte fort, die 1897, 1906 und – posthum – 1922 zu drei weiteren Bänden vereinigt wurden, womit am Ende eine fast 250 Tafeln und zahlreiche erläuternde Texte umfassende Werkauswahl vorlag: Eine visuelle tour de force vom Histo­rismus in die Moderne, wie bereits ein Vergleich der Titelbilder von 1889 und 1906 anschaulich macht. Es war Wagners Schicksal als zugleich leidenschaftlicher und rücksichtsloser „Pionier“ der modernen Architektur, aber auch seiner enormen kreativen Energie geschuldet, dass die Zahl der unausgeführten Projekte im Lauf der Jahre die der gebauten bei Weitem überstieg. Wenn also Adolf Loos 1911 meinte, man könnte „vor Wut weinen, daß diese herrlichen Gedanken nicht zur Ausführung kamen“,8 dann ist zugleich an den agitatorischen Charakter vieler der hier versammelten Blätter und Projekte zu erinnern, deren Zweck mit ihrer Publikation bereits erfüllt zu sein schien, während Wagner schon mit dem nächsten, verbesserten Entwurf beschäftigt war. Die „Waffen“ in Wagners jahrzehntelangem „Kampf“ für die moderne Architektur waren nicht aus Stein, sondern aus Papier: Zeichnungen, Fotografien, Publikationen. Ihr strategischer Einsatz wird im Folgenden schlaglichtartig untersucht. „Architektur“ wird dabei als ein sich insbesondere seit den gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts immer weiter ausdeh­nender diskursiver Raum verstanden, der Zeichnungen, Bauten, Sprache, Texte, Fotografien, Reproduktionen, Publi­kationen, Ausstellungen etc. umfasst. Es sind also unterschiedlich beschaffene, miteinander interagierende „Medien“, aber auch Anordnungen und Handlungen, die Architektur herstellen und verändern, ihre Wahrnehmung und das Wissen über sie bestimmen.9 Beatriz Colomina hat, ausgehend von Adolf Loos und Le Corbusier, die Architektur der Moderne nicht nur als „Massenmedium“ bezeichnet, sondern ihre spezifische Modernität aus ihrer Medialität zu erklären versucht.10


Otto Wagner: Titelblatt des ersten Bandes von Einige Scizzen, 1889

Otto Wagner: Titelblatt des dritten Bandes von Einige Skizzen, 1906

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Ein tiefes, in den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts wurzelndes Bewusstsein von der medialen Konstitution der Architektur prägte bereits das Werk Otto Wagners, der sich damit auch in dieser Hinsicht als einer der wichtigsten Wegbereiter des 20. Jahrhunderts erweist.

Zeichnung als Zukunftsbild Die Diskrepanz zwischen den zum Teil spektakulären Entwürfen des ersten Bandes von Einige Scizzen und den bis dahin verwirklichten Bauten des Architekten macht den hohen, beinahe autonomen Stellenwert der Zeichnung im Werk Wagners offensichtlich.11 Wie nur wenigen Architekten seiner Zeit gelang es Wagner, die spezifischen Eigenschaften der Zeichnung als visuelles Medium für den Architekturdiskurs zu (re-)aktivieren. Mit seinen Blättern trat er aus dem engen und begrenzten Rah­men der Fachzeitschriften hinaus in die weitaus diversere Öffentlichkeit der Kunstausstellungen und damit der Feuilletons, die über seine Zeichnungen berichteten.12

Jedes Präsentationsblatt, das auf der Basis von Handzeichnungen unter seiner Aufsicht von Mitarbeitern im Atelier gezeichnet wurde, war ein sorgfältig komponiertes Schauobjekt: von der Organisation der Zeichnung in der Fläche und der Wahl der technischen Mittel über die Kombination unterschiedlicher Ansichten bzw. Schnitte und die Inszenierung der Perspektiven bis hin zur Rahmung und Einbettung der Bauten in den urbanen Alltag. Das Ziel war eine durch die Wahl der Darstellung und zeichnerische Bravour bedingte maximale Wirkung beim Betrachter, ohne die präzise und verlässliche Informationsübermittlung – ein wesentliches Kriterium der Architekturzeichnung – zu vernachlässigen. Wagner „popularisierte“ die Zeichnung, um die Architektur – die öffentlichste aller Künste, über die zugleich kaum jemand spricht – wieder zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion zu machen. So ergänzte er sein Projekt für den Generalregulierungsplan von 1892/93 (Kat.-Nr. 66) um vier von Joseph Maria Olbrich gezeichnete Ansichten, die aus der Perspektive des Passanten die Integration der Verkehrsanlagen in das Stadtbild zeigen. Sie machten ein auf den ersten Blick technisch-infrastrukturelles Thema mit künstlerischen Mitteln


Otto Wagner: Staffelei für die Studie „Die Moderne im Kirchenbau“, V. Ausstellung der Secession, 1899, in: Einige Skizzen III, S. 7

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Otto Wagner: Staffelei für die II. Ausstellung der Secession, 1898 Wien Museum

allgemein verständlich und wiesen zugleich auf die Bedeutung der Kunst im Städtebau hin.13 Dass Wagner beim Wettbewerb einen ersten Preis, im Jahr darauf den Auftrag für die Stadtbahn (Kat.-Nr. 71) und die Professur an der Akademie der bildenden Künste erhielt, mag auch an der Überzeugungskraft seiner Zeichnungen gelegen haben.14 In Wagners akademischer Lehre, die er im Herbst 1894 mit einer programmatischen Rede gegen die historischen Stile und für eine Kunst „unserer Zeit“ 15 aufnahm, baute er im intensiven kreativen Austausch mit den um eine Generation jüngeren Schülern die Zeichnung zum zentralen Medium im Diskurs der modernen Architektur aus.16 Zwar stand die Aus­bildung mit ihrem Schwerpunkt auf einer sukzessiven Vollendung der zeichnerischen Fähigkeiten der Schüler und den Phantasieprojekten des dritten Jahres als krönendem Abschluss unter dem Einfluss der École des Beaux-Arts in Paris, doch traten die Schüler von Beginn an und unter dem Namen des Lehrers geschlossen in die Öffentlichkeit der Zeitschriften – die Wagnerschule begriff sich bald als jugendliche Kampftruppe für die Moderne, die ihre Publikationen als „Flugblätter“ und „Propaganda für den Gedanken der modernen Kunst“ begriffen.17 Nicht zufällig sind die wesentlichen Äußerungen Wagners zu Form und Funktion der Architekturzeichnung in der 1896 aus seiner akademischen Tätigkeit hervorgegangenen Modernen Architektur zu finden. Er hält sich nicht etwa mit

theoretischen Erörterungen oder einer Geschichte der Architekturzeichnung auf, sondern setzt bei einer empirischen Beobachtung an: dem Desinteresse des zeitgenössischen Ausstellungspubli­kums an architektonischen Entwürfen.18 Damit ist gleich zu Beginn der primär öffentliche Charakter des Mediums Zeichnung festgestellt. Die mangelhafte Wirkung der Zeichnungen liege an der oberflächlichen Betrachtung durch das Publikum ebenso wie an der uninspirierten Darstellung. Um Abhilfe zu schaffen, verwirft Wagner „jede sogenannte flotte Manier“ und mahnt den Baukünstler, seine Gedanken „möglichst klar, scharf, rein, zielbewusst und überzeugungs­voll zu Papier zu bringen“. Nie dürfe vergessen werden, „dass Künftiges, nicht Bestehendes dargestellt werden soll“. Wagner geht es um künstlerische und visuelle Wahrhaftigkeit: „Die Sucht, ein möglichst täuschendes Zukunftsbild zu bieten, ist schon deshalb als Fehler zu bezeichnen, weil sie eine Lüge involviren muss.“ Dagegen rät er, „durch eine, sagen wir secessionistische, mit Symbolen geschmückte Darstellung das Werk, Interesse erweckend und mit Gedanken erfüllt, dem Beschauer vor das Auge zu führen“.19 Durch Randleisten und Aufschriften könne „selbst die harmloseste orthogonale Projection in ein sehenswerthes Kunstwerk verwandelt werden“. Der Baukünstler solle sich nur solcher Darstellungsweisen bedienen, „von welchen bei geringem Zeitaufwande die grösste Wirkung erhofft werden kann, und welche eine leichte und schöne Reproduction nicht ausschliessen“.


Auswahl von Bildpaaren aus der dritten Auflage von Moderne Architektur, 1902

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Zwar finden sich in Moderne Architektur keine Anweisungen zum „richtigen“ Arrangement der Zeichnungen in Ausstellungen, doch belegen mehrere Skizzen mit stets streng symmetrischen Hängeplänen,20 dass Wagner auch diesen Bereich zu kontrollieren bemüht war. Die adäquate Präsentation moderner Architekturentwürfe führten Wagner und seine Schüler mit dem Projekt zum Neubau der Akademie der bildenden Künste zum ersten Mal in der Eröffnungsausstellung der Secession im Olbrich-Bau 1898 vor. Ludwig Hevesi sah darin „eines der meistbewunderten Stücke der Ausstellung. Während in früheren Ausstellungen die Architektursäle so menschenleer waren, daß verliebte Pärchen sich in ihnen zum Stelldichein trafen, war dieses Otto Wagner-Zimmer stets voll von Neugierigen. Die moderne Inszenierung schon war in der Tat äußerst anziehend. Die Wände und Sockel waren mit goldgelber Seide behangen, von der sich braune Blumen, in Samt und Seide gestickt und applikiert, abhoben. Und außer einer Reihe farbiger Blätter, die dem Laien ein über­ sichtliches Bild der Zukunftsakademie boten, sah man da auf schön dekoriertem Sockel ein großes Modell des Hauptgebäudes, aber nicht gewohnheitsmäßig in dürrem Gips gezogen, sondern von künstlerisch geschulter Hand (Tischler Hollmann), aus weißem, poliertem Ahorn gefügt und über und über auf das zierlichste mit Goldbronze ornamentiert. Dieses Modell, das man auf den ersten Blick für irgendein japanisches

oder indisches Elfenbeinkunstwerk halten konnte, ist schon an sich ein Ziergegenstand, das dem reichsten Salon zum Schmuck gereichen würde.“21 Ein Jahr später zeigte Wagner in der Secession die Blätter zur programmatischen Studie Die Moderne im Kirchenbau, diesmal unter großen Glasplatten, die auf einer schlichten Staffelei montiert waren, wodurch die ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Zeichnungen selbst gelenkt wurde. In der Tat war die mittig angeordnete Perspektivansicht (Abb. S. 333) ein Schaustück eigener Qualität: Aus einer – von Heinrich Vogelers Radierung „Frühling“ (1896) inspirierten – „Rahmenhandlung“, die zugleich als Hintergrund fungiert, blickt ein junges Mädchen, ein Buch in der Hand, auf die steil aufragende „Gasometer“Kirche; quer über das Blatt ist als trompe-l’œil ein blühender Kirschzweig gelegt, wodurch die Zeichnung auf beinahe bizarre Weise „lebendig“ wird. Eine Chance auf Realisierung hatte keines dieser Projekte, vielmehr sollten sie die Möglichkeiten der Moderne im monumentalen Fach ausloten. Wagner begann zu dieser Zeit, mitten in der Planung und Ausführung der Stadtbahnbauten, aus eigenem Antrieb und schier unermüdlich Projekt um Projekt vorzulegen: von der Vollendung des Kaiserforums (Kat.-Nr. 76) über den Neubau der Kapuzinerkirche (Kat.-Nr. 84) und die Moderne Galerie (Kat.-Nr. 85) bis zur „Agitation“ für das Stadtmuseum am Karlsplatz (Kat.-Nr. 86). Je stärker in den Jahren


Doppelseite aus der dritten Auflage von Moderne Architektur, 1902

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nach 1900 die Kritik an der Moderne wurde, so scheint es, desto intensiver wurde Wagners mediale Agitation, zu der sich nun auch immer öfter pointierte und nicht selten polemische Texte gesellten.

Fotografie als Schauvorbereitung Angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit der Wirkung der Zeichnung verwundert es kaum, dass Wagner auch zum Medium Fotografie, das als globales visuelles Reservoir und Repertoire die Architektur der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts begleitet und entscheidend geprägt hatte, einen ebenso eigenwilligen wie eigenständigen Umgang fand. Zwar spielten Fotografien in seiner Werkpublikation – trotz der im Lauf der Jahre stark steigenden Zahl an realisierten Bauten – eine auffällig untergeordnete Rolle,22 erhielten dafür aber im Rahmen von Moderne Architektur einen exklusiven

Platz. War die erste Auflage von 1896 noch ohne Abbildungen ausgekommen, so illustrierte er die zweite von 1898 mit acht Reproduktionen nach Fotografien seiner Bauten. Sowohl die Auswahl der Motive als auch die auf architektonische Details fokussierenden Ausschnitte zeigen einen eigenwilligen und im Kontext der zeitgenössischen Architekturfotografie innovativen Umgang mit dem fotografischen Bild und seinem Einsatz als Textillustration. Die Bedeutung der Abbildungen wird aus dem Vorwort ersichtlich, in dem sich Wagner überdies als Autor der Fotografien deklariert: „Durch Beigabe einiger Clichés nach Aufnahmen, welche von mir nach meinen Arbeiten hergestellt wurden, glaubte ich die Verständlichkeit des Geschriebenen zu heben.“23 Der Umstand, dass eine der Aufnahmen Wagners Frau Louise im Garten der Villa in Hütteldorf zeigt – ein im Kontext einer Architekturpublikation ungewöhnliches Motiv –, lässt seine Urheberschaft tatsächlich plausibel erscheinen. Darüber hinaus impliziert Wagners Hinweis auf seine Autorschaft den Anspruch, durch die Fotografie den Blick des Architekten auf die eigene Arbeit zum Ausdruck zu bringen und zu einem


Otto Wagner: Erläuterungen zum Projekt für den Friedenspalast in Den Haag, 1905

schweifenden Blick des Betrachters – beinahe möchte man meinen, des Flaneurs – auf das Ganze wie auf Einzelheiten seiner Bauten nachzeichnen bzw. antizipieren: Ein und dasselbe Motiv wird durch Wiederholung in leicht versetzten Ausschnitten rhythmisiert. Die Fotografien scheinen einzelne Gebäude zu umkreisen, nähern sich ihrem Gegenstand und entfernen sich wieder. Durch Beschneidung und Montage, im Wechsel zwischen repräsentativen Totalen und, viel öfter, nur scheinbar flüchtig erfassten Details, werden die Fotografien nun tatsächlich als Anleitung zum Betrachten der Bauten und Objekte verständlich.25 Dass sich Wagner – wie auch Camillo Sitte26 – für die zu jener Zeit intensiv diskutierte Psychologie der visuellen Wahrnehmung von Architektur interessierte, belegt eine Passage in Moderne Architektur, wo er bereits 1896 die „Schauvorbereitung“ als wesentlichen kompositionellen Parameter anspricht und die sinnliche Aufnahme des Gebauten so erklärt, „dass zuerst das Allgemeinbild unklar erfasst wird und sich erst wenige Momente später Blick und Eindruck langsam auf einen Punkt concentriren, wobei Silhouette, Farbfleckverteilung, Einfassung, Gesammtdisposition etc. noch fortwirken. Es ist die Augenruhe eingetreten. Dann erst zeigt sich das Bedürfniss, die Wirkung der Einzeltheile und des Details, bei steter Veränderung des Standpunktes aufzunehmen.“ Die künstlerische Lösung dieses Problems bezeichnet er als den „Contrapunkt der Architektur“.27 In den Fotografien von Moderne Architektur wird dieser Zugang zum architek­tonischen Entwerfen visuell nachvollzogen, sie dienen auch als „Schauvorbereitung“ für Wagners Bauten.

Publikation als Agitation

„richtigen“ Sehen seiner Bauten anzuleiten. Wagner wird damit zu einem prominenten Vorläufer späterer Architekten-Fotografen, die wie Le Corbusier unter technisch weitaus einfacheren Umständen das Medium auch als künstlerisches Ausdrucksmittel einzusetzen wussten.24 Zu einer vom Text beinahe unabhängigen visuellen Erzählung, zu einem „Bilddiskurs“ wurde die Fotografie dann in der 1902 veröffentlichten dritten Auflage von Moderne Architektur: Jede der 185 Textseiten ist mit einer Fotografie nach Bauten, Interieurs, Möbeln und kunstgewerblichen Objekten Wagners versehen, die von gezeichneten Vignetten (Kat.-Nr. K 30.8) eingefasst wird – ein „Filmstreifen“, der sich ohne Unterbrechung durch das gesamte Buch zieht. Angesichts der hohen Zahl und der professionellen Anmutung dürfte der Großteil der Aufnahmen wohl kaum von Wagner selbst stammen; Ausnahmen bilden die vergleichsweise intimen Ansichten des Gartens der Hütteldorfer Villa, auf denen nun weitere Familienmitglieder auftreten. Wagner arbeitet nun noch konsequenter mit Ausschnitten und Ver­ größerungen, die gleichsam den fokussierenden und zugleich

Moderne Architektur war als eine Kampfschrift angelegt, die nach dem Willen ihres Verfassers nichts weniger als „die Basis“ der herrschenden Anschauungen über die Baukunst verschieben sollte.28 Seine Veröffentlichungen hatten Wagner bereits zuvor immer wieder auch als „Waffen“ gedient, mit denen er die zeitgenössische Architektur Wiens scharf angriff – so etwa in seinem offenen Brief an den Wiener Bürgermeister zur Rettung des Karlsplatzes (Kat.-Nr. 62) oder in den Erläuterungen zum Generalregulierungsplan (Kat.-Nr. 66). Mehr als dreißig der rund siebzig bekannten Erläuterungsschriften Wagners, die oft über den eigentlichen Gegenstand hinausgingen und zu allgemeinen Themen Stellung nahmen, wurden nach seinen Vorgaben gestaltet und gedruckt. Allein zum Projekt für das Stadtmuseum am Karlsplatz (Kat.-Nr. 86) wurden auf diese Weise sieben Broschüren herausgebracht, die nicht zuletzt dem Gemeinderat und anderen maßgeblichen Personen als Argumentationsgrundlage dienen sollten. Anlässlich der Vollendung seiner späten Hauptwerke, der Postsparkasse und der Kirche am Steinhof, veröffentlichte Wagner auf eigene Kosten und in kleiner Auflage mit Fotografien illustrierte Broschüren, die wohl an einflussreiche Persönlichkeiten verteilt wurden. Einzelne dieser Veröffentlichungen – wie etwa die auf Französisch verfassten

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Nussdorfer Wehr und Stadtbahn-Viadukt am Gürtel, Ansichtskarten, um 1900 Wien Museum

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Erläuterungen zum Projekt für den Friedenspalast in Den Haag – ließ Wagner, gleichsam als Faksimile, in Einige Skizzen wieder abdrucken und unterstrich damit ihren medialen Eigenwert. Von den rund dreißig Veröffentlichungen wiederum, die Wagner unabhängig von konkreten Bauprojekten herausbrachte, wurde ein gutes Drittel unter seiner Leitung gestaltet – allen voran die vier Bände von Einige Skizzen, die vier Auflagen von Moderne Architektur bzw. Die Baukunst unserer Zeit und nicht zuletzt Die Großstadt. Die ebenso zurückhaltende wie prägnante Gestaltung dieser gegen den „malerischen“ Städtebau gerichteten Schrift besteht aus einem System ineinander gesetzter linearer rechteckiger Rahmen bzw. Felder, die sowohl die Seitenränder einfassen als auch den Schriftspiegel verorten. Die strenge Form scheint Wagners Argumentation für gerade Straßen, einheitliche Wohnhäuser und die in jeder Hinsicht funktionale und dennoch „schöne“ Großstadt der Zukunft zu entsprechen. In seiner „Anatomie“ des Architekturbuchs hat André Tavares jüngst die Parallelen und Bezüge zwischen Bauten und Büchern untersucht; Architekten, die Bücher gestalten, so Tavares, würden diese „spatially equivalent“ zu ihren Bauten denken.29 Damit ist ein naheliegender Ansatz gegeben, auch die Publikationen Wagners als mediale Schnittstellen zu begreifen, an denen Zeichnungen, Bauten, Fotografien und Texte aufeinandertreffen und miteinander zu interagieren beginnen. Die Grenzen zwischen Bauten und Bildern verschwimmen, Bauten werden zu „Medien“.

Bauten als Medien Dass Wagner auch seine Bauten als „Medien“ im Architektur­ diskurs begriff, sie sogar mitunter allein zu diesem Zweck kon­zipierte, zeigt das Beispiel des Hofpavillons der Stadtbahn in Hietzing (Kat.-Nr. 71).30 Die ursprünglichen Pläne hatten keine kaiserliche Haltestelle vorgesehen, und offenbar bestand auch kein Bedarf danach. Auf Anregung Wagners wurde nachträglich ein

solcher Bau genehmigt, allerdings unter der Auflage, das Budget nicht zusätzlich zu belasten. Wagner bekam damit Gelegenheit zu einem Bauwerk, dem durch die imperiale Aura größte mediale Aufmerksamkeit sicher sein konnte. In diesem Sinne wurde auch gleich zu Beginn der ausführlichen und erwartbar enthusias­ tischen, mit Fotografien und Zeichnungen illustrierten Besprechung in der Secessions-Zeitschrift Ver Sacrum hervorgehoben, dass hier der Moderne zum ersten Mal Gelegenheit gegeben worden sei, „die Umgebung für ein gekröntes Haupt zu schaffen“, um gleich darauf den „herrlichen und, man darf wohl hoffen, folgenschweren Sieg“ durch „einen ihrer grössten Feldherren“ zu verkünden.31 Am Schluss des Textes wird der Pavillon dann zu einem Gründungsbau der modernen Architektur stilisiert, der „der Nachwelt über unsere Zeit mehr erzählen [wird], als mancher traurige Monumentalbau, den wir erstehen sehen mussten. Er bedeutet einen Triumph der modernen Kunstprincipien […].“32 Dass Kaiser Franz Joseph den Pavillon nur zwei Mal benützte, war angesichts der medialen Präsenz des Bauwerks durchaus verkraftbar. Der große kaiserliche Auftrag, den sich Wagner mit dieser nicht ganz uneigennützigen architektonischen Verneigung vor seinem Herrscher auch erhofft haben dürfte, blieb allerdings aus. Der Hofpavillon aber wurde zu einem der meistfotografierten und damit bekanntesten Gebäude der Stadtbahn. Mit den im Weichbild Wiens omnipräsenten Stadtbahnbauten, aber auch dem ikonischen Nussdorfer Wehr schuf Wagner Wahrzeichen des neuen Wien, die rasch zu beliebten Ansichtskartenmotiven wurden. In einem heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaß waren diese Bauten Stadtgespräch, wie Ludwig Hevesi im Sommer 1899 schrieb: „Die Stadtbahn ist die Löwin des Tages, des ganzen Sommers. Einen solchen Bärenerfolg, bei einer solchen Bärenhitze, hat hier schon lange nichts gehabt. […] Hoch Otto Wagner! Die meisten wissen zwar nicht, daß er der Mann der Stadtbahn ist, aber sie sind doch thatsächlich lauter Wagnerianer.“33 Und Joseph August Lux beschrieb spektakuläre architektonische Interventionen wie das Nussdorfer Wehr im Rückblick 1914 als öffentliche „Sensationen“: „Zum erstenmal begann sich die Menge für Architektur zu


interessieren, die bis dahin etwas Archäologisches, Museales, Unvolkstümliches, Lebensfremdes hatte. Erst Otto Wagner hat den Bann gebrochen. Seine Architektur wurde Ausdruck des modernen Lebens und hatte dessen suggestive Gewalt.“34 Bildlich und unmissverständlich kommt die weit über den unmittelbaren Zweck hinausgehende Zielrichtung von Wagners Bauten in einem Detail des 1898/99 errichteten Eckhauses an der Wienzeile (Kat.-Nr. 80) zum Ausdruck: Die seitlich die Fassadenfläche begrenzenden Lisenen verwandeln sich über der Dachtraufe in vier weibliche Büsten – die „Ruferinnen“ von Othmar Schimkowitz haben die Hände als Schalltrichter vor den weit geöffneten Mund gehalten und verkünden Wagners Moderne bis heute in alle Richtungen.35

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Ein heute in der Wienbibliothek im Rathaus befindliches Exemplar enthält eine Widmung an den Wiener Bürgermeister, vgl. auch einen diesbezüglichen Brief Wagners an Andreas Streit vom 20.04.1890, WBR, H.I.N. 32138. Eine zweite Auflage von Einige Scizzen erschien 1891 im Verlag Schroll & Co. Wagner 1889, Einleitung. Vgl. Michael Ponstingl: „Der Soldat benötigt sowohl Pläne als auch Karten.“ Fotografische Einsätze im k. (u.) k. Militärgeographischen Institut zu Wien, in: Fotogeschichte 21 (2001) 81, S. 39-56 (Teil 1) und 83 (2002), S. 53-82 (Teil 2). Huldigungs-Festzug der Stadt Wien […] in Lichtkupferstichen des k. k. Militär-Geographischen Institutes nach den im Stadtarchiv befindlichen Cartons Wiener Künstler, Text von Oskar Berggruen, Wien: Verlag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, 1881. In einem Brief Wagners an einen Herrn von Weihs vom 26.09.1879 ist von technischen Schwierigkeiten bei der Herstellung der Heliogravüren die Rede und davon, ein neues Musterblatt durch Karl Klič herstellen zu lassen. Außerdem gibt Wagner Anweisungen zum Erscheinungsbild: „Colorirt soll gar nicht werden, wer Mandelbögen haben will soll sichs selbst machen lassen.“ WBR, H.I.N. 94738. Heinrich Kábdebo: Wiener calco­ graphische Prachtwerke, in: Österreichisch-Ungarische Kunstchronik IV (15.05.1880) 2, S. 26-28, hier S. 28. Wagner 1889, Einleitung.

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Joseph Bayer: Aus der Mappe eines Architekten, in: NFP, 16.09.1891, S. 1-4, hier S. 1. Adolf Loos: Otto Wagner, in: Reichspost, 13.07.1911, S. 1-2, hier S. 1. Zum Verhältnis von Architektur und Medien vgl. u. a. Beatriz Colomina: Introduction: On Architecture, Production and Reproduction, in: Dies. (Hg.): Architectureproduction, New York 1988, S. 7-23; Irene Nierhaus: Raumgrafik. Mediale Differenzen, in: Die Freiheit der Anderen. Festschrift für Viktoria Schmidt-Linsenhoff, hg. von Annegret Friedrich, Marburg/ Lahn 2004, S. 119-125; Annette Geiger u. a. (Hg.): Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung, Berlin 2006; Wolfgang Sonne (Hg.): Die Medien der Architektur, München 2011; Andreas Beyer u. a. (Hg.): Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit in der Baukunst, München 2011. „It is actually the emerging systems of communication that came to define twentieth-century culture – the mass media – that are the true site within which modern architecture is produced and with which it directly engages. In fact, one could argue […] that modern architecture only becomes modern with its engagement with the media.“ Beatriz Colomina: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge (Mass.) 1994, S. 14. Zur Architekturzeichnung bei Wagner vgl. zuletzt Thomine-Berrada 2014; Nierhaus 2012. Über die Höhe der Auflage von Wagners Publikationen ist aufgrund des Verlustes des Verlagsarchivs von Anton Schroll & Co nichts bekannt.

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Vgl. die ausführliche Analyse bei Kolb 1989, S. 154-203. Joseph August Lux behauptet, das 1889 in Einige Scizzen veröffentlichte Artibus-Projekt sei ausschlaggebend für die Professur gewesen. Lux 1914, S. 59-60. Wagner 1894, S. 530. Vgl. Nierhaus 2012. Karl Maria Kerndle: Aus der WagnerSchule – 1902/03 und 1903/04, zit. nach Marco Pozzetto: Die Schule Otto Wagners, Wien 1980, S. 156. Wagner 1896, S. 69. Danach auch die folgenden Zitate. In der dritten Auflage von 1902 ist „secessionistische“ durch „individuelle und impressionistische“ ersetzt. Solche skizzenhafte Hängepläne haben sich u. a. zum Projekt für die Akademie der bildenden Künste (Kat.-Nr. 79, AbK, Inv.-Nr. 29119), zur Kirche in Währing (Kat.-Nr. 83, AbK, Inv.-Nr. 29122), zum Ausbau der Hofburg (Kat.-Nr. 76, AbK, Inv.-Nr. 29124, und WM, Inv.-Nr. 119.248/2) und zum Stadtmuseum (Kat.-Nr. 86, WM, Inv.-Nr. 96.006/49 [verso]) erhalten. Ludwig Hevesi: Otto Wagners Akademieprojekt (29.12.1898), in: Hevesi 1906, S. 97-100, hier S. 97. Der erste Band von Einige Scizzen enthielt 13 Fotografien, der zweite vier, der dritte gar nur zwei und der vierte elf. Wagner 1898a, Vorwort. Vgl. Nathalie Herschdorfer, Lada Umstätter (Hg.): Le Corbusier und die Macht der Fotografie, Berlin/ München 2012. In der vierten Auflage, 1914 unter dem Titel Die Baukunst unserer Zeit publiziert, wurde wegen des größeren Satzspiegels die Anzahl der Seiten und damit der Aufnahmen auf 137 reduziert.

26 Vgl. Gabriele Reiterer: Augensinn: Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau, Salzburg 2003; Michael Mönninger: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes, Braunschweig/Wiesbaden 1998. 27 Wagner 1896, S. 51. 28 Ebenda, S. 8 (Vorwort). 29 André Tavares: The Anatomy of the Architectural Book, Zürich 2016, S. 9. 30 Vgl. Nierhaus 2014. 31 V. S.: Der Hofpavillon der Wiener Stadtbahn, in: Ver Sacrum 2 (1899), S. 3-13, hier S. 3. 32 Ebenda, S. 13. 33 Ludwig Hevesi: Kunst im Sommer, in: Pester Lloyd, 13.08.1899, o. S. 34 Lux 1914, S. 37. 35 Auf einer in Privatbesitz befindlichen Fotografie des Ateliers der Ersten Villa in Hütteldorf ist eine Alabaster(?)-Reduktion des Modells der „Ruferin“ mit der Aufschrift „Secession“ am Sockel zu erkennen. Die Fotografie wurde auch als Illu­ stration für Moderne Architektur (3. Aufl., S. 170, 4. Aufl., S. 109) verwendet. Die „Ruferinnen“ kommen in der 3. und 4. Auflage jeweils drei Mal (S. 39, 47, 121 bzw. 9, 121, 123) vor. Vgl. auch Kat.-Nr. K 30.5.

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Großstadtbaukunst Otto Wagners Städtebau im internationalen Kontext Wolfgang Sonne

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Otto Wagners städtebauliches Werk wird von der Geschichtsschreibung zumeist widersprüchlich dargestellt und beurteilt: Sieht er die Stadt eher funktional, von Infrastrukturen geprägt, oder eher künstlerisch, aus öffentlichen Räumen geformt? Bilden die Alltagsbauten der Miethäuser oder die Monumental­ bauten für die Öffentlichkeit den Kern seines Stadtideals? Ist Wagner der späte Vollender des Wiens der Ringstraße oder der frühe Begründer eines modernen Städtebaus? Diese scheinbaren Dichotomien entstehen aus der bis heute prägenden Vorstellung, dass modern im Städtebau nur der Funktionalismus sei – eine nachwagnerianische Vorstellung, die erfolgreich von den Vertretern des Funktionalismus propagiert wurde. Sie ahistorisch auf die Zeit Otto Wagners zu projizieren, ist jedoch weder angemessen noch hilfreich. Zielführender ist vielmehr, das städtebauliche Werk Wagners vonseiten der Intentionen seines Autors und im internationalen Kontext seiner Zeit zu beleuchten. Dabei werden hier vor allem zwei Aspekte verfolgt: Wagners künstlerische Auffassung des Städtebaus, die nicht bei der praktischen Erfüllung funktionaler und technischer Anforderungen Halt machte, sowie Wagners großstädtische Auffassung des Städtebaus, die sich von kleinstädtischen und gartenstädtischen Reformmodellen abhob. In diesem Sinne kann man bei Wagner von einer Großstadtbaukunst sprechen, mit der er passende Antworten auf die Herausforderungen seiner Zeit geben wollte. Deshalb ist – so die These – Wagners Städtebau gerade in seiner künstlerischen Auffassung und großstädtischen Monumentalität modern.

Stadtbaukunst Dass die Modernität von Wagners Städtebau vor allem in seiner funktionalen und technischen Auffassung, weniger aber in seiner künstlerischen Bestrebung gesucht wurde, lag vor allem daran, dass er im Kontrast zu seinem Zeitgenossen und städtebaulichen Antipoden Camillo Sitte gesehen wurde, der bekanntlich den „Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ behandelt hatte.1 So charakterisierte Carl E. Schorske Sitte als „romantic archaist“, Wagner dagegen als „rational functionalist“.2 Dieser Kontrastierung liegt das Missverständnis zugrunde, dass der Unterschied zwischen den beiden in der Differenz zwischen

einer funktionalen und einer künstlerischen Auffassung des Städtebaus gelegen habe. Doch Wagner wie Sitte sahen in der Erfüllung der Anforderungen der Gegenwart eine unumgängliche Grundlage des modernen Städtebaus, und beide sahen im Städtebau zugleich auch eine künstlerische Aufgabe. Der Unterschied lag stattdessen in ihrem jeweiligen künstlerischen Ideal: Während Sitte tendenziell eine Ästhetik des kleinstädtisch Malerischen vertrat, war Wagner der Agent großstädtischer Erhabenheit. Und selbst in dieser ästhetischen Hinsicht waren die großen Widersacher ursprünglich gar nicht so weit voneinander entfernt wie in späteren Entwürfen, hatten doch beide ihre Positionen aus dem Vorbild Gottfried Sempers entwickelt, auf den sie sich zeitlebens immer wieder beriefen.3 Das Wiener Kaiserforum war für Wagner und Sitte gleichermaßen ein städte­bauliches Ideal, wie Wagners Artibus-Projekt von 1880 (Kat.-Nr. 39) und Sittes neues Rathausforum, das er 1889 im Städtebau publizierte, deutlich machen. Ja, man könnte sogar Wagners Artibus-Projekt eine ähnliche Intention wie Sittes Projekt unterstellen: Wollte Sitte die offene Raumlosigkeit der Ringstraßenzone durch Randbebauung in geschlossene Stadträume verwandeln, so umgab auch Wagner im Artibus-Projekt eine idealisierte Karlskirche mit einer idealen Vorplatzarchitektur, die die Gestaltlosigkeit des realen Karlsplatzes in eine fiktive Form goss. Beide mögen also mit ihren Projekten Kritik an den unbestimmten Räumen der Ringstraßenzone geübt haben – allerdings nicht in toto, sondern mithilfe eines der größten Ringstraßenprojekte selbst. An der räumlichen Einordnung der Karlskirche sollte sich Wagner auch 1892 mit seinem auf eigene Initiative hin entwickelten Projekt zur Regulierung des Karlsplatzes (Kat.-Nr. 62) versuchen. Dabei ging es vor allem um die Verhinderung eines Wientalbahnprojekts, „welches ohne Rücksicht auf die ästhetischen Anforderungen […] nur dem Verkehre allein Rechnung tragen würde“.4 Wagner sprach sich gegen allseits beliebte englische Gartenanlagen auf Stadtplätzen und stattdessen für eine formale Ordnung aus. Ganz im Duktus Camillo Sittes meinte er im Erläuterungstext des Projekts: „Mit Recht werden die Plätze die Prunksäle der Städte genannt.“5 Wenn Wagner seinem Beitrag zum Wettbewerb für den Generalregulierungsplan von Wien (Kat.-Nr. 66) das ins Lateinische übertragene Semper-Zitat „Artis sola domina


Gottfried Semper, Carl Hasenauer: Kaiserforum, Aquarell von Rudolf Alt, 1873 Wien, Burghauptmannschaft

necessitas“ als Motto beigab, meinte er damit ebenso wenig wie sein Vorbild, dass sich der Städtebau in der Erfüllung praktischer Zwecke erschöpfen solle. Wagner sah in der künstlerischen Formung der Stadt seine Hauptaufgabe und konstatierte folglich im Erläuterungsbericht, dass er „als Architekt […] selbstverständlich auf die künstlerische Seite der Frage das Hauptgewicht gelegt“ habe.6 Dieses primär künstlerische Verständnis des Städte­ baus behielt Wagner zeit seines Lebens bei. Auch in seiner Studie zur Großstadt von 1911 (Kat.-Nr. 131) forderte er, dass im Städtebau „die Kunst allem Entstehenden die Weihe verleihen muss“.7 Sitte wie Wagner handelten aus der Überzeugung, dass es neben ingenieurtechnischem, ökonomischem und sozialem Fachwissen der künstlerisch-gestaltenden Hand des Architekten bedürfe. Damit setzte sich der moderne Städtebau Wagners und Sittes vom ökonomischen und technischen Städtebau der Landvermesser und Bauingenieure des 19. Jahrhunderts ab. Dieses umfassende Verständnis des Städtebaus gliedert sich bruchlos ein in den internationalen Diskurs der modernen Stadtbaukunst im frühen 20. Jahrhundert.8 Das Primat des Künstlerischen erlaubte es Wagner, das Ornament als einen wesentlichen Bestandteil in den Städte­ bau zu integrieren. Modernität bedeutete für Wagner nicht, das künstlerisch Gestaltete zugunsten des Funktionalen zu überwinden oder das Ornament zugunsten einer vermeintlichen konstruktiven Wahrheit abzuschaffen, sondern vielmehr, für das Funktionale eine angemessene künstlerische Form zu finden bzw. die Konstruktion durch das Ornament zu verbildlichen. Als einen Grundbaustein der Stadt, der durch angemessenen Schmuck zum Kunstwerk Stadt beizutragen hat, verstand Wagner das Zinshaus, das er in zahllosen Varianten während seiner Karriere – auch als Unternehmer – realisierte. Wenn über die Jahrzehnte eine stilistische Entwicklung und Vereinfachung von den stark plastischen Renaissance­-

fassaden hin zu flächig-abstrakten Kom­positionen festzustellen ist, so verzich­tet Wagner dennoch nie auf das Ornament als Schmuck- und Ausdrucksmittel sowie auf den künstlerischen Anspruch bei der Gestaltung dieser sonst oftmals den Baumeistern und Spekulanten über­lassenen Bauaufgabe. Einen weiteren Baustein der Großstadt bilden die privaten und öffentlichen Geschäfts- und Verwaltungsbauten, die Wagner in Kubatur und Fassadenwirkung in das einheitliche Stadtbild einfügte. Auch hier liegt in den sich wiederholenden Raumanforderungen der Grund für eine prinzipiell repetitive Gestaltung. Gleichwohl ist jedes ein­ zelne Haus an seinem Ort vom Künstler mit kreativer Hand durchgestaltet, um somit als vollwertiger Bestandteil des Stadtkunstwerks wirken zu können. Mit der Verwendung von Kolossalgliederungen klingt ein Thema an, das zeitgleich Alfred Messel und Peter Behrens in Berlin als Leitmotiv einer modernen uniformen Großstadt­architektur im Sinne Karl Schefflers verwandten. Als Diamanten in der Kette fungierten gleich­sam die Monumentalbauten, die Wagner ebenfalls als einen zen­tralen Bestandteil der Großstadtarchitektur ansah. Sie formten zwar mit ihrer Lage und Kubatur, ihren hervor­ gehobenen Motiven wie etwa der Kuppel und mit ihrer künstle­­risch intensiven Gestaltung den Höhepunkt des Stadtbildes, waren aber zugleich stadträumlich, in ihrem Maßstab sowie ihrer Farb- und Material­wirkung in das einheitliche Groß­stadtbild miteinbezogen. Sie bildeten keinen Kontrast, sondern eher eine Steigerung der Alltagsbauten, wie es am eindrücklichsten die Vogelschau der Großstadtstudie von 1911 zeigt (Kat.-Nr. 131). Selbst moderne Infrastrukturbauten, wie die Stationen und Viadukte der Stadtbahn oder die Wehre, Kaianlagen und Brücken des Donaukanals, erschöpften sich keineswegs in rein ingenieurtechnischer Konzeption, sondern inszenierten die jeweils meist avancierte Bautechnik mit künstlerischen Mitteln. Dabei wusste Wagner ebenso klassische Formen an die neuen Bauaufgaben zu adaptieren wie auch aus neuen technischen Formen ausdrucksvolle Ornamente zu entwickeln. Insbesondere die künstlerische Durchgestaltung der Stadtbahn als ein das Erscheinungsbild der gesamten Stadt prägendes Element war ein bis dahin weltweit einmaliges Unterfangen. Mit Hector Guimards Metrostationseingängen konnte Paris 1900 diesen Gedanken eines modernen imageprägenden Stadtdesigns aufnehmen; so umfassend wie Wagners Stadtbahn waren dann erst wieder die Metrostationen in Moskau unter Stalin 1935 oder in Washington von Harry Weese 1969 als stadtbildprägende Infrastrukturen konzipiert.

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Otto Wagner: Die GroĂ&#x;stadt, eine Studie Ăźber diese, Wien 1911, Situationsplan des 22. Bezirks und Gesamtplan von Wien

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Camillo Sitte: Rathausplatz in Wien, in: Camillo Sitte: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889, S. 165

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Großstadt Wagners städtebauliche Vorstellungen bildeten sich im Wesentlichen an der bestehenden Großstadt Wien heraus. Dies zeigt sich im induktiven Entstehen seines Stadtideals: Nicht wie bei Ildefons Cerdà als vorgängiges theoretisches Modell, von dem dann einzelne Maßnahmen wie etwa in seinem Erweiterungsplan für Barcelona 1859 deduziert werden, sondern als späte Synthese seiner lebenslangen einzelnen Stadtbauerfahrungen entstand dieses Ideal. Beginnend mit der Realisierung von zahlreichen Miethausbauten in Wien, entwickelt über zahl­reiche Infrastruktur- und Monumentalbauten, entstand schließlich 1911 die Studie zur Großstadt, die alle diese Einzelerfahrungen zu einem kohärenten Stadtideal zusammenfasste. Eine erste Chance, seine einzelnen Bauerfahrungen im Konzept für eine Großstadt zusammenzuführen, bot Wagner der Wettbewerb für den Generalregulierungsplan von Wien 1892/93. Nach den Stadterweiterungsplanungen des 19. Jahrhunderts war dieser der erste umfassende Großstadtwettbewerb, der eine gesamte Großstadt mit ihren Innen- und Außenbereichen, mit ihrem Straßennetz für den privaten und ihrem Bahnnetz für den öffentlichen Verkehr sowie mit ihren Erholungsmöglichkeiten als umfassendes System zur Aufgabe machte. Bezeichnend für Wagners aus der realen Stadtentwicklung generiertes Großstadtverständnis ist seine Ordnung der Gesamtstadt im Wettbewerbsbeitrag, mit dem er einen ersten Preis neben Josef Stübben errang. Er entwarf kein ideales Ordnungssystem, zu dem ihn etwa Reinhard Baumeisters Unterscheidung von Rechtecksystem, Dreiecksystem und Radialsystem hätte anregen können und wie es beispielsweise sein Mitkonkurrent und Träger eines der zweiten Preise, Eugen Fassbender, vorgelegt hatte.9 Vielmehr setzte er das bereits vorhandene und sukzessiv entstandene System aus Radial- und Ringstraßen fort, wie es sich aus einer kontinuier­lichen Stadt­entwicklung entlang radial verlaufender Überlandstraßen und der Besiedlung der dazwischenliegenden Flächen ergab. Dabei modernisierte er das Ring- und Radialstraßensystem, indem er es mit öffentlichen Bahnen und Infrastruktur­ einrichtungen an den Schnittpunkten, den sogenannten „Stellen“, komplettierte. Zwischen diesem sich aus der Zentral­ ortfunktion jeder Stadt ableitenden Radialsystem arrangierte er – ganz ähnlich wie das James Hobrecht bei seinem Stadt­ erweiterungsplan für Berlin 1862 getan hatte, wie er es aber auch in den Wiener Vorstädten des 18. Jahrhunderts vorfand – die einzelnen Stadtquartiere auf Straßenrastern, die mit pragmatischen Unregelmäßigkeiten der jeweiligen örtlichen Situation und den notwendigerweise abweichenden Winkeln der Radialstraßen angepasst wurden. Dieses System prägte auch seinen modellartigen Großstadtentwurf von 1911, den er als Idealplan am konkreten Beispiel von Wien entwarf. Auffällig wird das programmatische Festhalten am prinzipiell unbegrenzt fortsetzbaren radialkonzentrischen System mit rasterförmigen Quartieren angesichts der lokal und international diskutierten Alternativmodelle.

Keineswegs durchschnitt Wagner seine rasterförmigen Quar­tiere mit Diagonalstraßen, wie sie nach dem Vorbild der Haussmann’schen Boulevards die Pläne der amerikanischen City-Beautiful-Bewegung prägten, die damit das diagonale Erschließungsproblem amerikanischer Rasterstädte zu lösen suchte. So sehr etwa der Plan of Chicago von 1909 von Daniel Burnham und Edward Bennett in seiner hohen Einheitlichkeit der Stadtbebauung von Wagners Großstadt glich, so sehr verzichtete doch Wagner auf das zentrierende und verteilende Element der Diagonalerschließung. Ebenfalls verzichtete Wagner auf zusammenhängende Grünsysteme, die den ungebrochenen Zusammenhang und die ungehinderte Ausdehnung seiner Großstadtbebauung gestört hätten. Weder der in Wien von Heinrich Goldemund 1905 propagierte Wald- und Wiesengürtel noch ein von Frederick Law Olmsted in Boston entwickeltes zusammenhängendes Park System und auch nicht die von Bruno Möhring und Rudolph Eberstadt im Wettbewerb Groß-Berlin 1910 vorgeschlagenen Grünkeile zerschneiden Wagners Großstadt. Stattdessen fügte er als Rückgrat jeden Quartiers ein „Luftzentrum“ ein, das sich in seiner formalen Strenge nahtlos in die Geometrie des Stadtplanes einpasst und von der Mall als streng formal gestaltetem öffentlichem Grünraum im Plan für Washington von Daniel Hudson Burnham, Charles Follen McKim und Frederick


Daniel Hudson Burnham, Charles Follen McKim, Frederick Law Olmsted Jr.: Washington, Mall, Vogelschau, 1902

Law Olmsted Jr. von 1902 inspiriert ist.10 Keineswegs ignorierte also Wagner internationale Entwicklungen; er wählte jedoch nur das aus, was seinen Stadtvorstellungen entgegenkam. So präsentierte er gerade diese adaptierte Mall als Herz seines idealen Großstadtquartiers in der einzigen Vogelschau zu seinem Projekt. Von besonderer Raffinesse – und hier zeigt sich der Künstlerarchitekt Wagner, der als Zeichner eigentlich nicht einmal des erläuternden Wortes bedürfte – ist der gewählte Ausschnitt der Vogelschau, wenn man sie im Verhältnis zum Plan betrachtet. Denn die Vogelschau fokussiert nicht, wie man zunächst denkt, den „Hauptplatz“ im Zentrum des Quartiers, sondern dessen Rand: Gezeigt wird der Sakralbau am Rand der zentralen Mall. Dahinter ist jedoch die Stadt nicht zu Ende, sondern setzt sich fort – mit dem anderen Rand der Mall und somit mit demselben Quartier. Damit hat Wagner allein mit zeichnerischen Mitteln verdeutlicht, dass sich seine Großstadt potenziell um das immer gleiche Quartier erweitern kann – ein Grundkonzept, das er tatsächlich für die ungeübten Betrachter auch im begleitenden Text sprachlich zum Ausdruck bringt. Noch deutlicher widersprach Wagner dem von Ebenezer Howard 1898 entwickelten und seitdem zu großer Beliebtheit gelangten Leitbild der Gartenstadt. Howard wollte das Wachstum der Großstadt beschränken und sie mit kleinen begrenzten Siedlungseinheiten umgeben, in denen sich wiederum Stadt und Land auf kommunalem Grund zu einer neuen Entität vereinigten. Wagners Großstadt war in allem das Gegen­ teil: potenziell unbegrenzt, auf marktwirtschaftlicher Basis, im größtmöglichen Kontrast zum Land. Er nahm gegen das Einfamilienhaus in der Gartenstadt und für das großstädtische Miethaus Stellung: „Das ersehnte Einzelwohnhaus in der noch ersehnteren Gartenstadt kann nie die allgemeine Befriedigung hervorrufen, weil durch den Zwang der Lebensökonomie, durch Vermehrung und Verminderung der Familienmitglieder, durch die Änderung des Berufes und der Lebensstellung etc.

ein beständiger Wechsel des Erwünschten der Millionenbevölkerung eintritt. Die Wünsche, die aus diesen Tatsachen entspringen, können nur durch das Miethaus und nie durch das Einzelwohnhaus erfüllt werden.“11 Für Wagner bedurfte es aufgrund der Vorzüge der Großstadt und des daraus resultierenden Mehrheitswillens keiner Alternative zur modernen Großstadt: „Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die Mehrzahl der Menschen lieber in einer Großstadt wohnt, als in einer kleinen Stadt, oder auf dem Lande. […] Erwerb, gesellschaftliche Stellung, Komfort, Luxus, eine niedrige Sterblichkeitsziffer, das Vorhandensein aller geistigen und physischen Hilfsmittel, Zeitvertreib im guten und schlechten Sinne und schließlich die Kunst sind die Motive dieser Erscheinung.“12 Vor allem die Errungen­ schaften der Stadtkultur machten die zentrale Qualität der Großstadt aus, der auch ein großstädtisch-urbaner Lebensstil entspreche, der die individualitätsbeschützende Anonymität wertschätze: „Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, in der Menge als ‚Nummer‘ zu verschwinden, ist bedeutend größer als die Zahl jener, welche täglich einen ‚guten Morgen‘ oder ‚wie haben sie geschlafen‘ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzelwohnhaus hören will.“13 Entsprechend dieser anonymen Lebensweise präferierte Wagner die mehrgeschoßige Blockrandbebauung mit Miet­ häusern als angemessene urbane Bauweise. Bei Wagner verband sich die Kultiviertheitsvorstellung des alten Urbanitäts­ begriffs mit der positiven Bewertung des von Georg Simmel charakterisierten modernen Großstadtlebens, für das er ein städtebaulich-gestalterisches Ideal entwarf.14 Auch ästhetisch könnte der Kontrast zur Gartenstadt nicht größer sein: War die Gartenstadt in der Ausprägung von Raymond Unwin und Richard Barry Parker dörflich-malerischvielfältig gestaltet, so war Wagners Stadt großstädtischerhaben-uniform entworfen. Wagner war mit dieser Großstadt­ ästhetik Bestandteil eines ästhetischen Großstadtideals, das seinerzeit nicht nur international diskutiert, sondern auch als international verstanden wurde. Dieses ästhetische Leitbild der uniformen Großstadt begründeten seine Vertreter als Folge der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedürfnisse ihrer Zeit. Als Urheber und Verbreiter dieser Argumentation kann der Berliner Kunstschriftsteller Karl Scheffler angesehen werden, der 1903 die einheitliche Erscheinung der modernen Großstadt auf die einheitlichen Bedürfnisse in der zeitgenössischen Demokratie zurückführte. Diese bewirkten zunächst eine Vereinheitlichung der Wohnungsgrundrisse und folglich einheitliche Fassaden. Daraus ergab sich dann für ihn das ästhetische

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Daniel Hudson Burnham, Edward Herbert Bennett: Plan of Chicago, Vogelschau eines Boulevards, in: Burnham/Bennett: Plan of Chicago, Chicago 1903, Tafel CXII

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Leitbild der modernen demokratischen Stadtgesellschaft – die uniforme Großstadt: „Das Ziel einer neuen Stadtbaukunst ist: Die Uniformität, das Zusammenfassen ganzer Häuserblocks. Aus der sozialen Forderung des uniformen Grundrisses geht die künstlerische hervor, alle Gebäude gleicher Art – der Mietspreis ist das Entscheidende – zu einer Einheit zu verschmelzen.“15 Wagner war ähnlicher Ansicht: „Unser demokratisches Wesen, in welches die Allgemeinheit mit dem Schrei nach billigen und gesunden Wohnungen und mit der erzwun­ genen Ökonomie der Lebensweise eingepresst wird, hat die Uniformität unserer Wohnhäuser zur Folge. […] aus ihrer Zusammenlagerung entstehen daher lange und gleiche Straßen­einfassungsflächen. Die Kunst unserer Zeit hat durch breite Straßen diese Uniformität zur Monumentalität erhoben und weiß dieses Motiv durch glückliche Unterbrechungen künstlerisch voll zu verwerten.“16 Die international diskutierte moderne Großstadt war einheitlich, homogen, uniform oder harmonisch, so die Vokabeln der Zeit. Sie bestand aus einem Meer von gleichförmigen Wohnblöcken, alle gleich hoch und mit zurückhaltenden Fassaden, die einen zusammenhängenden Stadtkörper bildeten. Öffentliche Bauten waren in die einheitliche Erscheinungsweise mitein­be­ zogen, konnten sich aber durch Lage und Gestaltung von der

Masse der Wohnbauten abheben. Ihr Straßennetz war meist rasterartig, jedoch nicht schematisch, sondern pragmatisch den Bedingungen angepasst: Die Straßen konnten gerade oder geschwungen sein, hatten aber zumindest imponierende Ausmaße. Sie verliefen meist ins Unendliche, kein bedeutungsvoller point de vue setzte der programmatischen Unbegrenztheit der Großstadt ein Ende. Monumentalität erhielt die Großstadt vor allem durch Repetition. Damit unterschied sie sich von anderen ästhetischen Leitbildern der Zeit – wie der malerischen Stadt, die eher kleinstädtisch operierte, der Gartenstadt, die sich eher dörflich gab, der Beaux-Arts-Stadt, die sich aus repräsentativen klassizis­ tischen Solitären zusammensetzte, oder der Hochhausstadt.17 Von ihren Vertretern als Folge und Ausdruck der Weltwirtschaft verstanden, war die einheitliche Großstadt tatsächlich ein internationales Ereignis. Daniel Hudson Burnham in Chicago 1909, Hermann Jansen in Berlin 1910, Otto Wagner in Wien 1911, Eliel Saarinen in Canberra 1911 sowie in Helsinki 1915 und 1918, Hendrik Petrus Berlage in Amsterdam 1917: Sie alle schufen mit ihren Plänen und Vogelschauen Inkunabeln der modernen einheitlichen Großstadt. In diesem internationalen Betrachtungsrahmen ist ebenfalls von Bedeutung, dass sich Wagner seit Beginn seiner Karriere selbstbewusst international positionierte, indem er immer wieder an wichtigen Wettbewerben teilnahm und internationale Projekte entwarf: Vom Dom in Berlin 1867, über das Rathaus in Hamburg 1876, den Reichstag in Berlin 1882, das Parlament in Budapest 1882, die Börse in Amsterdam 1884, den Friedenspalast in Den Haag 1905 bis zu einem anonym beauftragten House of Glory in den USA 1907 reicht seine Projektliste. 1914 war er von Walter Burley Griffin als Preisrichter im Wettbewerb zum Parlament in Canberra eingeladen, wurde jedoch nach Kriegsbeginn als „enemy subject“ wieder ausgeladen.18 Und schließlich ist die summa seiner Großstadtbaukunst, die Studie über die Großstadt, aus einer internationalen Einladung 1910 auf einen Civic Art-Kongress in New York durch Alfred Dwight Foster Hamlin von der Columbia University hervorgegangen.19 In dieser Perspektive wird deutlich, wie sehr Wagner Teil der internationalen Städtebaukultur vor dem Ersten Weltkrieg war. Dabei interessierten ihn nicht alle Bestrebungen gleichermaßen. Ganz im Gegenteil: Wie er auch in seiner Heimatstadt kritisch gegenüber ihm missfallenden Richtungen – etwa dem malerischen Städtebau, einem rein verkehrstechnischen Städtebau oder den Grüngürtelbestrebungen – war, so kritisch wählte er auch international aus und wandte sich beispielsweise vehement gegen die Gartenstadtmode des beginnenden 20. Jahrhunderts. Umso konformer ging er mit dem Leitbild der modernen Großstadt. Wagners internationale Positionierung könnte deshalb lauten: Großstadt statt Gartenstadt, oder: Burnham statt Howard. Am bemerkenswertesten erscheint das Selbstbewusstsein, mit dem Wagner diese Tendenzen am Ort reflektierte. Das Prägende seines Stadtverständnisses war stets die Großstadt Wien, aus deren Wachstum und Erscheinung er sein


Eliel Saarinen: Wettbewerbsprojekt für Canberra, Vogelschau, 1912 National Archives of Australia, A710, 33

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Großstadtideal aufbaute. Internationale Bestrebungen integrierte er nach reiflicher Beurteilung. Für Wagner war weder international städtebaulich alles besser, noch musste er Wien als ultimativen Höhepunkt der Stadtbaukunst zum Dogma erheben. Stattdessen brachte er Lokales und Internationales zwanglos am jeweils konkreten Ort der Stadt zusammen. In Wagners Fähigkeit zur künstlerischen Synthese liegen schließlich auch die Antworten auf die eingangs erwähnten drei Fragestellungen begründet, deren Gegensätze für Wagner selbst eben keine Alternativen darstellten, sondern in der Stadtbaukunst zu verbindende Pole. So bestand für ihn zwischen der Funktionalität der Stadt mit ihren Infrastrukturen und dem Künstlerischen der Stadt mit ihren öffentlichen Räumen kein Gegensatz, der einer modernen bzw. antimodernen Haltung entsprochen hätte. Gerade in der künstlerischen Durchformung auch der Infrastrukturen zeigte sich Wagners moderner Zugriff auf die Aufgaben des zeitgenössischen Städtebaus. Ebenso hätte er niemals die Alltagsbauten der Miethäuser gegen die Monumentalbauten für die Öffentlichkeit ausgespielt: Beide wa­ren notwendige Bestandteile seiner Großstadt und beide galt es, mit angemessenem Ornament für ihre Rolle im modernen Stadtbild auszustatten. Und schließlich muss sich der Historiker auch nicht entscheiden, ob er in Wagner eher den Vollender des Ringstraßen-Wien des 19. Jahrhunderts oder den Begründer eines modernen Städtebaus des 20. Jahrhunderts sieht: Denn hier reicht eine ungebrochene großstädtische Linie vom Ring­ straßen-Wien zum Roten Wien oder kurz: vom Heinrichhof zum Reumannhof. Der link ist Wagners Großstadtbaukunst.

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Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. Carl E. Schorske: Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1979, S. 100. Ruth Hanisch, Wolfgang Sonne: Camillo Sitte als „Semperianer“, in: Rainald Franz, Andreas Nierhaus (Hg.): Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Kunst und Industrie“, Wien 2007, S. 97-111. Otto Wagner: Regulierung des Stadtteiles an der Elisabethbrücke, Wien, Karlsplatz, 1892, zit. nach Graf 1985, S. 79-85, hier S. 79. Ebenda, S. 81. Otto Wagner: Erläuterungs-Bericht zum Entwurfe für den GeneralRegulirungs-Plan über das gesammte Gemeindegebiet von Wien mit dem Kennworte „Artis sola domina necessitas“, 1. Aufl., Wien 1893, hier zit. nach dem Abdruck der 2. Aufl. von 1894 in Graf 1985, S. 88-121, hier S. 89. Wagner 1911, S. 2. Wolfgang Sonne: Stadtbaukunst. Die Disziplin Städtebau als kulturelles Projekt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Katia Frey, Eliana Perotti (Hg.): Anthologie zum Städtebau, Band II.1, Das Phänomen Großstadt und die Entstehung der Stadt der Moderne, Berlin 2014, S. 93-181; Wolfgang Sonne: Stadtbaukunst alter und neuer Zeit, in: Christoph Mäckler, Wolfgang Sonne (Hg.): Dortmunder Vorträge zur Stadtbaukunst, Bd. 2, Sulgen 2010, S. 10-29; Wolfgang Sonne: „The entire city shall be planned as a Work of Art.“ Städtebau als Kunst im frühen modernen Urbanismus 1890–1920, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte (2003) 66, S. 207-236.

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Reinhard Baumeister: Stadt-Erwei­terungen in technischer, baupolizei­ licher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876; Eugen Fassbender: Erläuterung zum Entwurfe eines General-Regulierungsplanes über das gesammte Gemeindegebiet von Wien, Wien 1893; vgl. Markus Jager: „Regulierung“ und Gestaltung der Großstadt. Karl Mayreder, Heinrich Goldemund und der Generalregulierungsplan für Wien, in: Markus Jager, Wolfgang Sonne (Hg.): Großstadt gestalten. Stadtbaumeister in Europa, Berlin 2017, S. 74-103. Wolfgang Sonne: Die Repräsentation des Staates in der Stadt. Die Mall als Leitmotiv in Hauptstadtplanungen des frühen 20. Jahrhunderts, in: Heike Mayer, Fritz Sager, Anna Minta, Sara Zwahlen (Hg.): Im Herzen der Macht? Hauptstädte und ihre Funktion, Berner Universitätsschriften, Bd. 58, Bern 2013, S. 207-235. Wagner 1911a, S. 21. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 21-22. Wolfgang Sonne: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahr­ hunderts, Berlin 2014, S. 14-36. Karl Scheffler: Ein Weg zum Stil, in: Berliner Architekturwelt 5 (1903), S. 295. Wagner 1911a, S. 3-4. Wolfgang Sonne: Stadtbildideale um 1900. Hellerau im Kontext des internationalen Städtebaus, in: Ralph Lindner, Hans-Peter Lühr (Hg.): Gartenstadt Hellerau. Die Geschichte ihrer Bauten, Dresden 2008, S. 10-19. Wolfgang Sonne: Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century, München/ London/New York 2003, S. 184-186. Wagner 1911a (amerikanische Ausgabe).

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Die Kunst der Bewegung Otto Wagners Theorie und Politik der Großstadt Werner Michael Schwarz

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In der ersten Ausgabe der alternativen Stadtzeitung Falter im Juni 1977 wurden Otto Wagner und sein architektonisches Erbe prominent gewürdigt. Anlass war die Umgestaltung des Karlsplatzes, der die Stadtbahnpavillons Wagners beinahe zum Opfer gefallen wären. Die im Kollektiv produzierte Zeitung war von der Arena-Besetzung im Jahr davor inspiriert und verstand sich als Gegenöffentlichkeit zu den dominanten, vielfach noch parteipolitisch beeinflussten (Print-)Medien. Mit dem Novum eines auch als Plakat verwendbaren Programmteils wurden die Vernetzung alternativer politischer und kulturpolitischer Initiativen und schlicht die Belebung der Stadt im Interesse junger Menschen angestrebt. „Cafés nach 12“ hieß eine Rubrik, die anfangs nur wenige Adressen zu bieten hatte. Bei der Arena-Besetzung hatte sich, wie vielfach beschrieben, ein heterogenes Bündnis von Kulturschaffenden, links und alternativ orientierten Studierenden, Sozialarbei­ te­r­Innen und Jugendgruppen das beachtliche Areal des auf­gelassenen Schlachthofgeländes in St. Marx angeeignet. Die BesetzerInnen forderten ein von der Stadt unterstütztes, selbst verwaltetes, basisdemokratisch organisiertes Kulturzentrum, das sich vor allem gegen die hoch subventionierte, im Stadtzentrum konzentrierte Hochkultur positionierte.1 Mit der Behauptung des vom Abriss bedrohten Geländes opponierten die BesetzerInnen auch gegen einen Denkmalbegriff, der die industriellen Hinterlassenschaften kaum würdigte, und gegen eine Kulturpolitik, die insbesondere die Neubauviertel an der Peripherie vernachlässigte. Dementsprechend hoch war der Anteil von (angehenden) Architekten unter den AktivistInnen. Die zeitweilig breit unterstützte Arena-Bewegung wird als grundlegende Infragestellung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung gesehen, wie sie in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war und die trotz oder gerade wegen der sozialen Sicherheiten, die sie bot, von einer jungen Generation zunehmend als autoritär und schlicht langweilig abgelehnt wurde. Das betraf die politischen Parteien im engeren Sinn, die städtische Verwaltung und insbesondere eine Planung, der eine Zer­ störung der Stadt und des Städtischen durch die Förderung des Autoverkehrs, die Errichtung von Trabantensiedlungen an der Peripherie und die damit verbundene Preisgabe der gründerzeitlichen Stadt angelastet wurde. Selbstbestimmung

und die Ablehnung traditioneller Kollektive (wie Parteien, Standesvertretungen, Familie etc.) zugunsten frei gewählter, zeitlich begrenzbarer, zielgerichteter und basisdemokratisch organisierter neuer Gemeinschaften. Das inkludierte politische Initiativen, freie Gruppen von KünstlerInnen und Kulturschaf­ fenden, Mediengründungen wie eben den Falter oder Startups in der neuen Beiselszene. Wie schon die Besetzung des aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stammenden Industrie­geländes zeigt, war eine der neuen Perspektiven auf die Stadt erinnerungspolitisch ausgerichtet. Bereits seit den 1960er-Jahren in einer jungen Architekten- und Kunstszene – in der künstlerischen Fotografie, im experimentellen Film, später auch im Erzählkino – zeigten sich skeptische, forschende, analytische Blicke speziell auf die von Abriss und Missachtung bedrohten Reste der einstigen Metropole, auf das Wien der Gründerzeit und der Moderne um 1900. Es entstanden neue Wienbilder mit Patina und Rissen, zornig, vorwurfsvoll und melancholisch. Die Frage nach dem verlorenen Potenzial der Stadt wurde mit jener nach der histo­rischen Schuld während der NS-Zeit und gegenläufiger Erinnerung verknüpft. Otto Wagner und seine architektonischen Hinterlassenschaften erhielten dabei eine besondere Bedeu­ tung. Sie waren zum politischen Kampfobjekt geworden, konnten nur teilweise und mit Mühe gerettet werden und insbesondere Details (wie die Stadtbahngitter) wurden zu Icons eines nekro­ politanen Wien. In einer als kleinlich, beengend, provinziell, „überberuhigt“ beschriebenen Stadt, wie es in Peter Patzaks Film Zerschossene Träume (A 1976) heißt, die zudem kontinuierlich schrumpfte und sich unverhältnismäßig (auf den öffentlichen Verkehr bezogen) ausdehnte, wirkten auch Wagners Texte in ihrer scheinbar ungeteilten Großstadt-Euphorie befreiend. Auch konnte man sie wegen ihrer polemischen Qualitäten gut gegen die Kontrahenten in der Stadtverwaltung und in den Planungsbüros wenden. Das bestätigt die Besonderheit seiner Texte, zeigt aber auch (nun wieder ein bis zwei Generationen später) einige Paradoxien dieser Erinnerungspolitik. Hätte man also Otto Wagners Großstadt-Texte ganz anders lesen und verwenden können, wenn die politischen Voraussetzungen andere gewesen wären?


Wiener Stadtbahnstation, Fotografie von Catja Rauschenbach, 1973 Wien Museum

Wagners Theorie der Großstadt Die Frage nach diesen Paradoxien, die sich eventuell direkt aus den „Wiener Paradoxien“ der Zeit um 1900 fortgeschrieben haben, wie das Siegfried Mattl nannte,2 also die Frage nach Otto Wagners Großstadt (Wien) richtet sich an die beiden dafür aussagekräftigsten Schriften, den Erläuterungs-Bericht zum Entwurfe für den General-Regulirungs-Plan über das gesammte Gemeindegebiet von Wien von 1893 (zweite Auflage 1894) und die bekannte Studie Die Großstadt (1911). Der große zeitliche Abstand zwischen den beiden Texten gibt Gelegenheit, nach Veränderungen in Wagners Denken zu fragen – insbesondere vor dem Hintergrund der großen ökonomischen, (alltags-)kulturellen und politischen Verschiebungen in diesem Zeitraum. Im Erläuterungs-Bericht formulierte Wagner seine theoretischen und praktischen Überlegungen zum 1892 ausgeschriebenen „General-Regulirungs-Plan“ (Kat.-Nr. 66). Dieser war nach längeren Anläufen ein erster Versuch, die Politik der Selbst-

regulation, die im Hochliberalismus dominiert hatte, durch eine planmäßige Entwicklung der Stadt abzulösen oder, wie es wört­lich in der Ausschreibung hieß, „der organisierten und ziel­ bewussten Stadtentwicklung auch in fernerer Zukunft Rechnung zu tragen“.3 Unmittelbarer Anlass war die Eingemeindung der Vororte, mit der die Stadt gebiets- und einwohnermäßig beträchtlich angewachsen war. Gefragt waren, neben Detailplanungen (Stubenviertel), Vorschläge für eine sozialräumliche Gliederung der Stadt, die Schaffung eines „einheitlichen Ver­-kehrsnetzes“ sowie die Berücksichtigung „ästhetischer Gestaltung“. Der Ausschreibungstext war, wie Günter Kolb in seiner Arbeit über die Wiener Stadtbahn urteilt, widersprüchlich, formulierte ambitionierte Ziele, die den aktuellen Stand der noch jungen Planungstheorie reflektierten, engte aber zugleich die Spielräume der Teilnehmer durch detaillierte Vor­­gaben wieder ein.4 Das dürfte Wagner ermuntert haben, sich ganz auf seine urbanistischen und ästhetischen Überlegungen zu konzentrieren, diese an einzelnen Orten (Karlsplatz, Museumstraße, Kaiserin-Elisabeth-Platz, Hochbahn-Viadukt Meidling, Abb. S. 282-284) in Zeichnungen detailliert darzustellen, sonst aber viele Fragen nur zu streifen und beunruhigende, wie noch zu zeigen sein wird, ganz wegzulassen. Das hatte Erfolg und Wagners Beitrag wurde neben jenem des Kölner Archi­tekten Joseph Stübben mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Seinen 1893 erstmals publizierten ErläuterungsBericht 5 eröffnet Wagner mit mehreren rhetorischen Gesten: Auf einen Aufruf zur Versachlichung („Chaos“ versus „Licht­ strahl“), eine Demutsbekundung („mein Schärflein [sic] zur Lösung der gigantischen Aufgabe“), eine Bekräftigung des Willens zur Kooperation (mit „Bahn- und Wasserbautechnikern“) folgen eine vernichtende Kritik des Baugeschehens der letzten Jahrzehnte und eine scharfe Polemik gegen die Kollegenschaft. Die Ringstraßenarchitektur verwirft er als „Scheinmonumental­ bauten“, die in Wahrheit „Zinskästen“ seien und so eine „architektonische Lüge“. Die Bautätigkeit in den Vorstädten qualifiziert er schlicht als „Vorstadtprachtbauten der Maurermeister“. Von den 2.660 Personen, die sich laut Lehmanns Adressbuch – so Wagner – mit „selbstständigen Bauausführungen“ beschäftigen, verdienten gerade einmal 60 den Titel „Baukünstler“. Sein besonderer Spott gilt aber dem nicht namentlich genannten, aber als Vertreter des „Malerischen“ sofort identifizierbaren Architekten Camillo Sitte. Auf die Konkurrenz der beiden wurde vielfach hingewiesen, mit der starken Tendenz, die heftigen posthistoristischen Architektur- und Stadtdebatten des aus­ gehenden 19. Jahrhunderts auf einen Gegensatz zwischen ihren Positionen zuzuspitzen. Spätestens mit Carl Schorske stand der „romantische Archaiker“ Sitte dem „rationalen Funktionalisten“ Wagner gegenüber.6 Dabei waren sie sich in der Ablehnung des Historismus ebenso einig wie bei der Bedeutung der Kunst für den modernen Städtebau. Auch hatten beide die moderne Ökonomie als Herausforderung klar vor Augen, aber wo Sitte für die Baukunst in der Großstadt Freiräume suchte (Orte der Ruhe, Kontemplation und Gemeinschaft) und sich dabei an historischen Vorbildern orientierte, argumentierte Wagner mit

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Lager im Schacht, Fotografie von Hermann Drawe, 1904 Wien, Österreichisches Volkshochschularchiv

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ihrer Bedeutung als deren integraler Bestandteil. Als die beiden „wichtigsten Fak­toren“ des modernen Großstadtlebens nennt er „Zeit und Geld“ und setzt so Kapitalismus und Urbanismus als soziale Realität voraus. So erhebt er die „gerade Linie“ und den „kürzesten Weg“ zur Maxime künftiger Stadtgestaltung (auch gegen die Vertreter des „Malerischen“ gerichtet), wofür er ein Netzwerk aus Ring- und Radialstraßen vorsieht, das von getakteten Massenverkehrsmitteln frequentiert wird. An Kreuzungspunkten integriert er sogenannte „Stellen“, die der öffentlichen Ver- und Entsorgung dienen (Abb. S. 280). Das Netzwerk an der Oberfläche ist von unsichtbaren Netzen durchzogen, die Wagner der leichten Zugänglichkeit wegen unter angehobenen Gehsteigen unterzubringen vorschlägt. Dabei berücksichtigt er neben Gas und Wasser auch die in Wien gerade brandneuen Kommunikations­medien wie Telefon oder Rohrpost. Das Stadt­ ideal Wagners zielt auf Bewegung, auf möglichst störungsfreie (saubere, hygienische), effiziente und darum produktive Abläufe. Auch sind seine Überlegungen ausschließlich auf die öffentliche Sphäre, insbesondere auf Straßen und Verkehrswege gerichtet und berühren nie die private – und wäre es auch nur in Form von Hochrechnungen über den zukünftigen Verbrauch städtischer Versorgungsgüter. So sieht Wagner den Wasserbedarf der privaten Haushalte als gedeckt an (anders als für öffentliche Brunnenanlagen), ohne die auch zeitgenössisch bereits heftig kritisierten, niedrigen sanitären Standards der meisten Mietwohnungen zu berücksichtigen. Wer aber sind für Wagner die idealen NutzerInnen dieser Stadt? Der aufgeklärte, rational handelnde Bürger, der keine Gemeinschaft sucht, unvorhergesehene Begegnungen und Berührungen meidet, in der öffentlichen Sphäre seine Geschäfte erledigt, die er strikt von seinem privaten Leben fernhält – oder der „moderne Großstadtmensch“, der weniger durch sich selbst als durch die Umstände seiner ökonomischen Existenz mobilisiert wird, zugespitzt der Eilende oder der „Gehetzte“.7 In Wagners Großstadt, könnte man argumentieren, wird Letzterer automatisch zu Ersterem. So zumindest lässt sich der aus sozialhistorischer Sicht äußerst verwegene Satz interpretieren, dass die „Existenzbedingungen der Menschen in den Großstädten täglich ähnlicher werden“. Wagners Großstadt erscheint als eine Zivilisierungsmaschine, die noch ganz dem liberalen Universalismus verpflichtet ist und so bei der gerade noch liberalen Stadtregierung (bis 1896) sicher auf Gegenliebe stieß. Denn tatsächlich lässt Wagner kein Wort über soziale Fragen im engeren Sinn fallen oder spielt nur auf die Möglichkeit differenter Erfahrungen und Lebensbedingungen an. Das war in der doppelten Bedeutung des Wortes auch nicht gefragt. Allerdings hielten sich nicht alle Wettbewerbsteilnehmer an diese Vorgabe. Zumindest zwei von 15 bezogen soziale Fragen in ihre Überlegungen ein: Die Gebrüder Mayreder regten den Bau von Arbeitervierteln an (auch zu ihrer „Entdichtung“ im Sinn einer besseren Kontrolle), Eugen Fassbender schlug einen „Volksring“ vor, der als Grüngürtel der armen Bevölkerung zur Erholung dienen sollte.8 Wie Günter Kolb bemerkte, hat Wagner allerdings bei den Ent- und Versorgungsstellen besonders die

Zweckmäßigkeit von „Leichenhallen“ betont, die einen raschen Transport der Toten inklusive des Trauerkondukts via Bahn zum Zentralfriedhof gewährleisten sollten. Es ist nicht schwer zu argumentieren, dass die große Mehrheit der BewohnerInnen in Wagners Großstadt 1894 in erster Linie als ein Problem der Entsorgung berücksichtigt wird. Die Ausblendung der sozialen Frage war in der Wiener (bürgerlichen) Öffentlichkeit, von Expertenzirkeln und philanthropischen Vereinigungen abgesehen, allerdings generell besonders hartnäckig und ausdauernd. Das kann auch der Literatur der Zeit attestiert werden, in der anders als in Paris oder London das Großstadtleben und insbesondere die Lebensbedingungen der Proletarier selten direkt angesprochen wurden. Die Brisanz aber, die psychologische, ästhetische und wahrnehmungstheoretische Fragen insbesondere ab der Mitte der 1890er-Jahre hatten, wird auch als Widerschein der sozialen Krise interpretiert. In ein breiteres Bewusstsein gelangte diese überhaupt erst ab den 1880er-Jahren, nach­dem die Liberalen in der Regierung abgelöst und erste Maßnahmen für staatliche Sozialfürsorge (auf der Grundlage des Versiche­rungsgedankens) und für Arbeitsschutz (Einführung der Gewerbe-Inspektionen 1883) gesetzt wurden.9 Hinzu kam der Druck der sich formierenden Arbeiterbewegung und ihrer Medien, der 1886 von Victor Adler gegründeten Gleichheit


(1889 verboten) oder der Arbeiter-Zeitung (1889). Gerade Wagner als Architekt und Bauherr kann die 1888 erschienene, großes Aufsehen erregende Reportage Adlers über die skan­ dalösen Arbeits- und Lebensbedingungen der Ziegelarbeiter am Wienerberg nicht entgangen sein, allerdings mag er da mehr an die Kosten seiner künftigen Bauvorhaben gedacht haben. Es waren Journalisten wie Max Winter oder Emil Kläger, die der Thematik um 1900 eine große Öffentlich­keit verschafften. Insbesondere die Lichtbildvorträge Emil Klägers und des Amateurfotografen Hermann Drawe über die Wohnstätten der Obdachlosen in der Kanalisation oder in den Praterauen wurden förmlich gestürmt,10 wobei die Biographien bürgerlicher Absteiger besonders schockierten und damit die Brüchigkeit bürgerlicher Existenz.11 Oder sind die idealen BenutzerInnen der Wagner’schen Großstadt „TouristInnen“ und der Plural bei der Angleichung der Lebensbedingungen „in den Großstädten“ ganz bewusst gesetzt? So wären weniger die BewohnerInnen die AdressatInnen der städtebaulichen Ambitionen, sondern GroßstädterInnen, die wiederum andere Großstädte besuchen? Das zumindest könnte man mit Blick auf die am Eingang des Texts angesprochene Städtekonkurrenz (Paris, Berlin, London) argumentieren, mit Wagners Ehrgeiz, Wien „zu einer der schönsten Städte der Welt“ zu machen, und mit dem explizit genannten Vorbild Paris. Das leitet auch zur Frage nach der Rolle der Kunst und der Stadtgestalt in Wagners Großstadt über. Obwohl er GeorgesEugène Haussmanns Umgestaltung von Paris explizit als radikal ablehnt, zeugt die provokante Betonung der „schnurgeraden“ Straße, die Wichtigkeit „perspektivischer Wirkung“ und die Nennung der großen Pariser Durchstiche von der Bedeutung des Vorbilds. Walter Benjamin hat Haussmanns „urbanistisches Ideal“, die langen Straßenfluchten und perspektivischen Durchblicke mit der „Neigung“ der Zeit erklärt, „technische Notwendigkeiten durch künstlerische Zielsetzungen zu veredeln“, und sie als „Apotheose“ der Herrschaft des Bürgertums bezeichnet.12 Ihren wahren Grund sieht er allerdings in der Sicherung der Stadt gegen den Bürgerkrieg. Die Breite der Straßen wäre so ausgelegt gewesen, um den Bau von Barrikaden zu verhindern (was sich allerdings während der Pariser Kommune als Irrtum herausstellte). Der Absicherung vor revoltierenden Arbeitermassen war, so Benjamin, auch die Pariser Straßenpflasterung geschuldet, wo Holz statt Stein verwendet wurde. Selbiges schlägt auch Wagner 1894 vor, allerdings argumentiert er mit der Vermeidung von Staubbildung. Wagner zeigt sich allerdings nicht nur von der Anlage des neuen Paris, sondern auch vom Leben der „wogenden Menge“ auf den Boulevards tief beeindruckt: er kenne unter den „modernen Stadtbildern nichts Schöneres und Anheimelnderes“. Es ist jenes Paris, das Walter Benjamin zur „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ erklärte und das die Kulturwissenschaften auf dieser Grundlage in den letzten Jahrzehnten eingehend untersuchten: als jenen Ort, wo sich erstmals ein großstädtisches Alltagsleben zeigt, das auch breitere Schichten der Bevölkerung über Konsum und neue visuelle Medien

(illustrierte Presse, Plakate, Kino etc.) an der industriellen Produktion und am öffentlichen (Straßen-)Leben teilhaben lässt, wo (bürgerlichen) Frauen neue Orte der Distribution wie Warenhäuser partiell den Eintritt in diese Öffentlichkeit ermöglichen13 und wo die angesprochenen Medien den (großstädtischen) Alltag als neuen Erfahrungsraum „spektakularisieren“, wie das Vanessa R. Schwartz beschreibt, und so mitproduzieren.14 1900 berichtet der schon zitierte Journalist und spätere sozialdemokratische Politiker Max Winter über die Weltausstellung in Paris und ist ähnlich wie Wagner von den Annehmlichkeiten der Stadt tief angetan: von der Sauberkeit der Straßen, der Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel, der Disziplin ihrer NutzerInnen, der Lebendigkeit des Straßenhandels oder dem maßvollen Verhalten der öffentlichen Ordnungskräfte. Und er resümiert: „In Paris ist ungemein viel zu lernen, namentlich für die Wiener, die immer Großstädter zu sein glauben, weil sie Bewohner einer großen Stadt sind. Von einer großen Stadt aber bis zu einer wirklichen Großstadt ist noch ein weiter Weg.“15

Die Kunst der Bewegung Von diesen Pariser Annehmlichkeiten ist Wien 1894 noch weit entfernt, aber entspricht das auch tatsächlich Wagners Vision? Hier kommt er zum Kern seiner Überlegungen: zur Frage der (Bau-)Kunst in der Großstadt. Wagner diagnostiziert nicht nur den „Existenzbedingungen“ in den Großstädten eine Tendenz zur „Angleichung“, sondern auch der Architektur, insbesondere der „Wohnbauweise“. Viele Häuser aneinandergereiht „müssen also folgerichtig noch um ein Bedeutendes langweiliger sein“. Dieser „Langeweile“ könne aber die Kunst abhelfen, die mit „architektonischen und figuralen Monumenten“ über so „gewaltige Mittel“ verfüge, um für eine „schönheitliche Abwechslung“ in den Großstädten zu sorgen. Das klingt defensiv, die Kunst (nur) als ein Mittel der „Abwechslung“. Wagner scheint diese Lesart bewusst zugelassen zu haben, um als (alltags-)praktische Begründung zu überzeugen. Tatsächlich könnte man die Frage so formulieren: Wie muss diese Kunst beschaffen sein, um der Großstadt adäquat zu sein und in ihr zu bestehen? Die Antwort kann lauten: Sie muss sich aus dem grundlegenden Prinzip der Großstadt ableiten, wie es Wagner davor darzulegen versuchte – aus der Bewegung. Es ist eine Kunst, die auf visuelle Effekte abzielt, die sich wiederum aus den Bewegungen der BetrachterInnen ergeben. Das vermitteln sowohl einzelne Begriffe in Wagners Text wie jene Entwürfe, die er als „Perspektiven“ für den Wettbewerb ausgearbeitet hatte. Als „Schauvorbereitung“ bezeichnet er Monumente, die wie Markierungen an bereits bestehende Kunstwerke so heranführen, dass sie ideal betrachtet werden können. Das zeigt Wagner am Beispiel der Karlskirche, auf die eine monu­mentale Stiegenanlage „vorbereitet“ (Abb. S. 65). Einen anderen Effekt nennt er „Auge-Fixpunkt“. Damit sind Monumente am Ende langer, gerader Straßen gemeint, die als Orientierung dienen und ihre visuelle Wirkung durch die schrittweise Annäherung

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entfalten; weiters zählt er sich überraschend öffnende Plätze dazu. Die in der „Perspektive“ für das Hochbahn-Viadukt in Meidling einander kreuzenden Bewegungen (auf und unter der Brücke) lassen sich wiederum als eine Montage in einer Einstellung beschreiben. Wagner arbeitet mit jenen Effekten, wie sie von den visuellen Medien im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, von den Panoramen, Dioramen, Presseillustrationen, Plakaten und dann insbesondere vom Kino. In diesem Zusammenhang wird auch die Polemik gegen den deutschen Architekten und Stadtplaner Karl Henrici verständlich, der eine „schnurgerade Pappelallee“ gegenüber einer Wanderung im „Hochgebirge“ als „langweilig und ermüdend“ dargestellt habe. Wagner hingegen implementiert diese Effekte in die Großstadt im Sinn einer „künstlichen Erfahrungswelt“, wie sie Rem Koolhaas dem New York um 1900 attestiert und als dessen Laboratorium er den Vergnügungspark Coney Island ausmacht.16 Wagners Baukunst in der Großstadt ist diesen visuellen Effekten, dem Vergnügen am Schauen und einer Schule des Sehens geschuldet. Das vermittelt auch sein auf den ersten Blick verblüffender Vorschlag für einen neuen Umgang mit Denkmälern. Denn anders als in der gängigen Praxis sollten zunächst der Ort und erst danach ein dafür geeignetes Denkmal bestimmt werden. Wagner, so kann man das verstehen, war ausschließlich am Gegenstand im unmittelbaren Sinn, an seiner objektiven Form, nicht aber an dessen symbolischen Bedeutungen interessiert. Dies lässt an das frühe Kino denken und die Faszination, Dinge (wie Meereswellen oder Blätter im Wind) wie zum „ersten Mal“ zu sehen, was wiederum zur Frage der idealen BetrachterInnen zurückführt. Das musste wohl jemand sein, die/der auch tatsächlich in der Lage war, diese Effekte, das Zusammenspiel von Bewegung und Sehen auch tatsächlich wahrzunehmen. Das konnten aber nur bedingt die alltäglichen StadtnutzerInnen sein.

Der Baukünstler als Hausherr Blendet man zu Otto Wagners 1911, also knapp zwanzig Jahre später publizierten Text Die Großstadt, so zeigen sich trotz Übereinstimmungen nun deutliche Verschiebungen in seiner Perspektive.17 Der Text behauptet eine für Großstädte allgemeine Gültigkeit, bezieht sich aber in fast allen Details auf Wien, dessen gewachsene Struktur – das System von Radial- und Ringstraßen, wie Eve Blau betont –, Wagner zu einem allgemein gültigen Modell erhebt.18 Auch wird die christlichsoziale Stadt­regierung und -verwaltung unter Karl Lueger explizit als beispielgebend vorgestellt. Aber zunächst ähnelt die Eröffnung des Texts wieder jenem rhetorischen Muster von vor zwanzig Jahren. Der Aufruf zur Versachlichung (zwischen „Radikalismus der Stürmer“ und „Gejammer der Historiker“) endet mit einer Polemik, u. a. gegen die „Heimatkunst“. Das Urteil Wagners fällt knapp aus: „nichts als Phrasen“. Wenn es in seinem Wettbewerbsbeitrag 1894 in erster Linie um eine der Zeit angemessene Baukunst geht, die Wagner aus seiner Theorie der Großstadt ableitet, rückt diese

Frage nun deutlich in den Hintergrund. In dieser Beziehung zieht er eine nüchterne Bilanz, wenn er attestiert, dass es in Wien trotz „günstigster Voraussetzungen“ in den letzten sechzig Jahren – vom Kaiserforum und dem Schwarzenbergplatz abgesehen – nicht gelungen wäre, ein „auf hoher künstlerischer Stufe stehendes großstädtisches Bild“ hervorzubringen. Auch unterscheidet er nun zwischen „schönheitlich“ und „schön“, zwischen einer „angenehmen Stadtphysiognomie“ und dem „vorhandenen Schönen“ beziehungsweise der Kunst, die in den öffentlichen „Kunstspeichern“ lagert. Das kann man auf zweierlei Arten lesen – als Resignation oder doch eher als Einsicht, dass die Großstadt – ihre „Mimik“, wie es wörtlich heißt –, also das großstädtische Leben selbst nun für ausreichende Abwechslung und Annehmlichkeit sorgt. Das würde auch die großen Veränderungen in der Stadt in den unmittelbar vorangegangenen Jahren reflektieren, die gerade im Alltagsleben Wien den internationalen Vorbildern deutlich näher rückten und in der sozialhistorischen Forschung als ein Prozess der Verdichtung bzw. als eine Tendenz zur Homogenisierung charakterisiert werden, wo es nicht mehr in erster Linie um das quantitative Stadtwachstum geht.19 Technische, ökonomische und sozialrechtliche Innovationen bedeuten nun auch für größere Bevölkerungsgruppen wie Beamte, Angestellte und hoch qualifizierte Facharbeiter einen großstädtischen Alltag, einen geregelten Rhythmus von Arbeit und arbeitsfreier Zeit, von Konsum und Vergnügungen. Das steht im Kontext der Etablierung großbetrieblicher Organisationen (Industriebetriebe, Warenhäuser) neben dem für die Wiener Ökonomie lange Zeit typischen Kleinhandel und -gewerbe, dem kräftigen Ausbau der Einzelhandelsketten (Lebensmittel, Schuhe) auch außerhalb der innerstädtischen Zonen, der rasanten Verbreitung des Kinos über nahezu das gesamte Stadtgebiet (1914 sind es bereits 150 Betriebe), einer zum Bevölkerungswachstum überproportionalen Zunahme der innerstädtischen Mobilität (insbesondere der öffentlichen Verkehrsmittel) und der Ausdehnung der Telefonund Elektrizitätsnetze, die nun auch langsam die Arbeiterviertel erreichen. Noch 1902 musste nachts der Gegensatz zwischen der hell erleuchteten Innenstadt, wo bereits mehr als 213.000 Glühlampen brannten, und den nur mit Gaslicht beleuchteten Bezirken wie Simmering enorm gewesen sein, wodurch sich die häufig verwendete Metapher der „dunklen Vorstadt“ auch in der Alltagserfahrung bestätigte. 1902 wurden hier gerade 343 Glühlampen gezählt, 1913 waren es immerhin schon knapp 9.000.20 Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die soziale Lage, insbesondere die Wohnungsfrage für den Großteil der Bevölkerung nach wie vor dramatisch zeigte, ihr „Alltag“ von Kleinstwohnungen, Bettgehertum und häufig erzwungenem Wohnungswechsel dominiert war. Neben einer planmäßigen Entwicklung der Stadt steht 1911 nun die Wohnungsfrage im Vordergrund der Überlegungen Wagners, die er allerdings nicht mehr progressiv, sondern auffallend reaktiv argumentiert, indem er von einem „Schrei“ der Allgemeinheit nach billigen und gesunden Woh­ nungen spricht oder von einem „Zwang der Ökonomie“.


Otto Wagner: Karlskirche mit „Bahneinschnitt und Monument“, Perspektive zum Generalregulierungsplan, 1892/93, in: Einige Skizzen II, Blatt 11

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Wagner, so könnte man überspitzt sagen, scheint 1911 von der Rolle des Baukünstlers in die Rolle des Ökonomen, Soziologen und Politikers zu wechseln. Die Großstadt repräsentiert in diesem Sinn nicht mehr in erster Linie eine inspirierende Quelle der modernen Kunst, sondern eine ökonomische, soziale und politische Tatsache, die es rational zu verwalten gilt. Das, in Verbindung mit der häufigen Argumentation mit „Zwängen“, verdeutlicht wohl am stärksten sein berühmter Plan von Wien, mit dem er die Idee der unbegrenzten Ausdehnung der Großstadt illustriert (Abb. S. 55). Die Stadt ist ganz an den Bildrand gerückt, lässt kein Umland mehr erkennen und auch die topographischen Unterschiede (Wienerwald) sind weitgehend eingeebnet. Eve Blau hat diese Idee mit der Nationalitätenfrage der späten Habsburgermonarchie in Verbindung gebracht und die Wagner’sche Großstadt als eine Art Assimilierungsmaschine gedeutet, in der sich die Unterschiede und Konflikte durch ökonomische Zwänge und Annehmlichkeiten aufheben.21 Da­rauf weist auch Wagners „Soziologie“ des Großstadtmenschen hin, der lieber als „Nummer“ in der Großstadt verschwindet,

als auf dem Land oder in Kleinstädten zu leben. Man kann diese Netzstruktur, die betont technisch ausgeführt ist, jeglicher Grandiosität entbehrt und mehr Unentrinnbarkeit vermittelt (wie eine große Zentrifuge), aber auch als politisches Kalkül lesen. Ihre grobe Skizzenhaftigkeit steht auch in einem auffallenden Gegensatz zur imposanten Vogelschau auf den künftigen 22. Bezirk. Wenn es nun um die Wohnungsfrage geht, dann erweist Wagner zunächst sehr eindringlich der christlich­sozialen Wiener Stadtregierung seine Referenz, die 1911 noch ganz im Bann des Todes des populären Bürgermeisters Karl Lueger im Jahr davor steht. Wagner lobt die Kommunalisierung der öffentlichen Verkehrsmittel und der Betriebe zur städtischen Versorgung mit Gas und Elektrizität. Das waren allerdings keine Akte der sozialen Reform (allerdings einer Modernisierung), denn in den Genuss der städtischen Leistungen kam nur, wer dafür bezahlte. Die Überschüsse flossen ins städtische Budget, zu dem die Ärmeren so überproportional viel beitrugen, obwohl sie im Wahlrecht nach wie vor stark benachteiligt wurden. Politisch wurde die Kommunalisierung als Einlösung


Besichtigung der Schablone des geplanten Stadtmuseums am Karlsplatz durch Bürgermeister Karl Lueger und den Gemeinderat, 12. Jänner 1910 Wien Museum

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einer christlich­sozialen, „antikapitalistischen“ Gemeindepolitik vermittelt, diente aber auch stark einer direkten politischen Patronage.22 Die Zahl der städtischen Bediensteten erhöhte sich in diesem Zeitraum von 2.000 auf 30.000. Wie John Boyer resümiert, endete die Modernität der Christlichsozialen bei „Familie und Eigentum“.23 Wagner erwies sich nicht nur mit diesem Text als Sympathisant der Christlichsozialen, er hatte bereits früh Lueger und seine Partei unterstützt. So war er seit 1900 Mitglied der „Wiener Bürgervereinigung“, eines Zusammenschlusses von Männern, an die das „Bürgerrecht“ (ein Ehrenrecht) verliehen worden war. Lueger bezeichnete die Mitglieder dieser Vereinigung als seine „Grenadiere der Ordnung“ und John Boyer nennt sie in seiner politischen Biographie Luegers dessen „Volk“. Von den mehr als 9.000 Männern, die in seiner Amtszeit (1897–1910) mit dem „Bürgerrecht“ ausgezeichnet worden waren (als Voraussetzung zum Beitritt der Vereinigung), waren 70 % Selbstständige (Unternehmer, Haus- und Grundbesitzer), 94 % verheiratet, 97 % katholisch. Kein einziger Jude befand sich unter ihnen.24 Einer der vielen

Belege, dass Luegers Antisemitismus keineswegs nur Rhetorik war. Wagner war es auch, der 1908 anlässlich des Kaiserjubiläums die Fahne der Vereinigung entwarf (Kat.-Nr. K 23). Seine Referenz setzte er im Text mit einer saloppen Verurteilung der „Macht des Vampyrs Spekulation“ als Ursache der Wohnungsnot fort. Unter Spekulation verstand er allerdings ausschließlich die Bodenspekulation. Nach Peter Feldbauer, der die zeit­ genössischen (bürgerlichen) Debatten um die Wohnungsfrage analysierte, war diese Begründung für das Versagen der Marktmechanismen am Wohnungsmarkt insbesondere unter Hausbesitzern populär, die ansonsten jede Reform blockierten und zudem die stärkste Gruppe innerhalb der Christlichsozialen im Gemeinderat bildeten.25 Der Gemeinde empfiehlt Wagner, Grundstücke zur Stadterweiterung auf Vorrat anzukaufen und sie später gegen Gewinn zu veräußern. Von einer „Wertzuwachssteuer“ rät er hingegen ab. Die Mittel aus diesen Wieder­ verkäufen, die in einen „Stadtzuwachsfonds“ fließen sollten, würden der Gemeinde weitere Investitionen zum „Aufblühen der Stadt“ in die Hand geben. Hier nennt er (neben Monumenten,


Theatern etc.) an erster Stelle „Volkshäuser, Volkswohnhäuser und Volkssanatorien“. Von Siedlungen am Stadtrand rät er zugunsten von mehrgeschoßigen Häusern ab und bezeichnet die Motive dafür als „abgeschmackt“. Zusätzlich empfiehlt er ein Enteignungsgesetz, um Hindernisse bei der Ausdehnung der Stadt aus dem Weg zu räumen. Nimmt man diese Vorschläge zusammen, dann bilden sie weniger die Voraussetzungen für eine fortschrittliche, rationale Großstadtplanung denn ein Programm, das die eigenen Interessen Wagners zusammenführte: jene des Hausherrn, Bauherrn und Baukünstlers. Am bestehenden Besitz würde so nicht gerüttelt werden, auch gebe es keine neuen Steuern und dem Investor am Wohnungsmarkt (der Wagner immer war) würden bei Stadterweiterungen voraussichtlich günstige Grundstücke zufallen, zu welchen er sich als Parteigänger vermutlich auch einen bevorzugten Zugang ausrechnen konnte. Und dann fließe all das viele Geld als Investition der Gemeinde in öffentliche Bauvorhaben in bis dahin ungeahnten Dimensionen. Auch die Empfehlung für die Errichtung von „Volkswohnhäusern“ weist auf ein politisches und ökonomisches Kalkül Wagners hin. Es war absehbar, dass die Christlichsozialen bei fair durchgeführten Wahlen in Wien den Sozialdemokraten unterliegen würden. Das geschah tatsächlich noch im selben Jahr. Bei den Reichsratswahlen 1911, die anders als in Wien nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für alle männlichen Staatsbürger abgehalten wurden, erlitten die Christlichsozialen eine vernichtende Niederlage. Wagner, so kann man das interpretieren, empfahl der Partei, ihre politische Basis über einen öffentlichen Wohnungsbau (finanziert durch Grundstücksspekulation) in das Arbeitermilieu hinein zu verbreitern. Falls dennoch die Sozialdemokraten an die Macht kämen (was tatsächlich 1919 geschah), wäre er bereits davor für den Bau von „Volkswohnhäusern“ eingetreten. Wenn also Wagner den sozialen und ökonomischen „Druck“, die „Unentrinnbarkeit“ der Großstadt betont, dann war das vermutlich auch ein Appell an die christlichsoziale Stadtregierung, zu handeln. Eine Durchsicht seines Tagebuchs (eigentlich Briefe an seine verstorbene Frau Louise), das er von 1915 bis zu seinem Tod 1918 führte, bekräftigt diese Lesart.26 Bis knapp vor seinem Tod war er, trotz des für ihn sehr schwerwiegenden Verlusts seiner Frau und gesundheitlicher Probleme, mit zahlreichen Bauprojekten beschäftigt. Zum einen waren es öffentliche Aufträge, zum anderen erlahmte Wagners Elan nicht, selbst und auf eigene Kosten zu bauen bzw. zu planen, zum Beispiel einen „Ottohof“ (Kat.-Nr. 150). Die während des Krieges stark angestiegenen Bodenpreise machten das zunichte. Er reagierte darauf in christlichsozialer Manier: mit wütendem Antisemitismus.

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Vgl. Leonhard Weidinger: Arena im ehemaligen Auslandsschlachthof St. Marx, in: Martina Nußbaumer, Werner Michael Schwarz (Hg.): Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern (Ausst.-Kat. Wien Museum), Wien 2012, S. 96-100. Vgl. Siegfried Mattl: Wiener Para­ doxien: Fordistische Stadt, in: Roman Horak, Wolfgang Maderthaner, Siegfried Mattl, Gerhard Meißl, Lutz Musner, Alfred Pfoser (Hg.): Metropole Wien. Texturen der Moderne, Bd. 1, Wien 2000, S. 22-96. Vgl. Kolb 1989, S. 89-90. Vgl. ebenda, S. 98. Otto Wagner: Erläuterungs-Bericht zum Entwurfe für den GeneralRegulirungs-Plan über das gesammte Gemeindegebiet von Wien mit dem Kennworte: „Artis sola domina necessitas.“, 1. Aufl. Wien 1893, 2. Aufl. Wien 1894. Im Folgenden zitiert nach der 2. Auflage. Vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt/Main 1982, S. 94. Vgl. Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/New York 2000, S. 107ff. Vgl. Kolb 1989, S. 138-142. Vgl. Peter Eigner, Andrea Heilige: Österreichische Wirtschaftsund Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/München 1999, S. 102ff. Vgl. Margarethe Szeless: Emil Kläger & Hermann Drawe. „Durch die Quartiere des Elends und Verbrechens“, in: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York (Ausst.-Kat. Wien Museum), Wien 2007, S. 99-103.

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Vgl. Siegfried Mattl: Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers, in: Schwarz/ Szeless/Wögenstein 2007 (wie Anm. 10), S. 111-117. Vgl. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/Main 1977, S. 181. Vgl. Mica Nava: Women, Consumption and Modernity, in: Horak (u. a., Hg.) 2000 (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 23ff. Vgl. Vanessa R. Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley, Los Angeles 1998. Zit. nach: Gerhard Meißl: Hierar­ chische oder heterarchische Stadt? Metropolen-Diskurs und MetropolenProduktion im Wien des Fin-deSiècle, in: Horak (u. a., Hg.) 2000 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 284. Vgl. Rem Koolhaas: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan, Aachen 1999. Wagner 1911a. Vgl. Eve Blau: Die Kodifizierung von Identität und Differenz. Otto Wagners Großstadt als Form und Idee, in: Moritz Csáky, Peter Stachel (Hg.): Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001, S. 216. Vgl. Meißl 2000 (wie Anm. 15), S. 284ff. Vgl. ebenda, S. 351-352. Vgl. Blau 2001 (wie Anm. 18), S. 231. Wolfgang Maderthaner: Dem Volke, was des Volkes ist. Die Erfindung des politischen Populismus im Wiener Fin-de-Siècle, in: Axel Rüdiger, Eva-Maria Seng: Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie, Berlin 2006, S. 423. Vgl. John W. Boyer: Karl Lueger (1844–1910): Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, Wien/Köln 2010, S. 191. Vgl. ebenda, S. 186. Vgl. Peter Feldbauer: Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsver­sorgung in Wien 1848 bis 1914, Wien 1977, S. 212ff. Fotokopie des Manuskripts und Transkription im Archiv Otto Antonia Graf im Wien Museum.

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Otto Wagners Entwurfsund Baupraxis — seine Zinshäuser Leo Schubert

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Otto Wagners Bautätigkeit ist eng mit dem Wiener Miethaus, von ihm bevorzugt Zinshaus genannt, verbunden. In keiner anderen Stadt, so Wagner, spielte es eine „so große Rolle“; dementsprechend war es auch ein geeignetes Übungsobjekt für seine Schüler an der Akademie, um sie „in bezug auf Kon­ struk­tion und Wahrnehmung der Bedürfnisse recht sattelfest zu machen“.1 Wagners Zinshäuser – geerbt, entworfen, erbaut, selbst bewohnt und schließlich wieder verkauft – ermöglichten ihm einen groß­bürgerlichen Lebensstil.2 Als 34-Jähriger errich­ tete er an der Ecke Wiedner Hauptstraße/Schönburgstraße sein erstes bekanntes Zinshaus, bei dem er als Bauherr und Architekt in Personalunion auftrat (Kat.-Nr. 23), zwei Jahre später dann das Haus Schottenring 23 (Kat.-Nr. 28). Von 1880 bis 1882 investierte er in den Bau zweier benachbarter Zinshäuser in der Stadiongasse (Kat.-Nr. 36 und 44), in denen er nacheinander wohnte und arbeitete, die er aber innerhalb weniger Jahre wie­der verkaufte. Mit dem Erlös des Wohnhauses Stadiongasse 6-8 finanzierte Wagner den Bau der Sommervilla in Hütteldorf (Kat.-Nr. 53). Im Jahr 1887 investierte er erneut in ein Zinshaus, diesmal in der Universitätsstraße 12 (Kat.-Nr. 55), und ab 1889 baute er sich ein repräsentatives Palais mit zwei flankierenden Zinshäusern am Rennweg (Kat.-Nr. 58-59). Auch diese Bauten wurden verkauft, wohl um die Kosten seiner neuen Zinshäuser an der Linken Wienzeile (Kat.-Nr. 80-82) zu tragen. Mit dem Verkauf der Letzteren und seiner Villa in Hütteldorf dürfte er 1912 die benachbarte Zweite Villa (Kat.-Nr. 134) und die beiden Zinshäuser Ecke Neustiftgasse/Döblergasse (Kat.-Nr. 123) und Döblergasse 4 (Kat.-Nr. 133) finanziert haben. Die Zweite Villa wurde bereits 1916, einige Monate nach dem Tod seiner Frau, wieder veräußert. Das Haus Döblergasse 4 wurde zu Wagners letzter Wohn- und Arbeitsstätte.3 Nur wenige Monate vor seinem Tod veräußerte er die Häuser in der Neustiftgasse und in der Döblergasse mit der Absicht, sein letztes Zinshaus (Kat.-Nr. 159) zu errichten. Diesen Plan konnte er nicht mehr verwirklichen.4

rationale Ausnutzung des Baugrundes Um eine möglichst große Verzinsung des Anlagekapitals zu erzielen, musste der Architekt den Baugrund maximal aus­ nützen. Dieser wurde durch die Baulinie begrenzt, die maxi­male

Bauhöhe wurde vom Niveau gemessen; beide waren durch die Gemeinde festgesetzt. Zudem galt es die Bauordnung zu berücksichtigen, die sich aus älteren Vorschriften gegen die Brandgefahr und zur Wahrung der Hygiene entwickelt hatte. Die Bauordnungen von 1829, 1859 und 1868 prägten ent­ sprechend mit zunehmender Präzision das Stadtbild, die Bau­ordnung von 1883 blieb bis 1929 in Kraft.5 Die maximale Bauhöhe von rund vierzehn Metern (auf die Dachrinne gemessen) wurde 1859 auf 25 m erhöht. Diese Liberalisierung sollte die Stadterweiterung im Rahmen der Ringstraßenplanung fördern; dabei wurde erstmals auch die Abgabe von Baugrund zur Straßenerweiterung reguliert. Ab 1883 wurde die maximale Höhe der Bauten nach Straßenbreite und Zonen festgelegt. Für 25 m hohe Gebäude war die Stockwerkzahl auf fünf beschränkt. Das Erdgeschoß konnte aber mit einem Mezzanin unterteilt werden, auf überschwemmungssicheren Gründen waren auch 2 m unter dem Straßen­ niveau liegende Räumlichkeiten bewohnbar; de facto waren also bis zu sieben bewohnbare Stockwerke realisierbar. Hof­seitige Zimmer und Küchen konnten mit Fenstern zum Gang errichtet werden. Da die Bauordnungen von 1868 und 1883 größere Mauerstärken für mehr als sechseinhalb Meter tiefe Räume vor­gaben, wurden die Parzellen als Erstes in drei parallel zur Straße liegende, maximal sechseinhalb Meter auseinanderliegende Mauern geteilt; die verbleibende Fläche blieb für Stiegenhäuser, Höfe und Lichtschächte frei. Bei tiefen Parzellen wurde ein weiterer Trakt errichtet, dessen Fenster sich zu einem Hinterhof öffneten. In der Regel durften nicht mehr als 85 % der Fläche des Baugrundes überbaut werden. War das Gebäude jedoch auf mehreren Seiten zu breiten Straßen hin frei, konnten die Höfe zu Lichtschächten reduziert und dichter bebaut werden: So im Fall der Zinshäuser in der Rathausstraße (ca. 93 %), in der Universitätsstraße (ca. 90 %), in der Stadiongasse (ca. 88 %) und an der Linken Wienzeile (Eckhaus ca. 90 %). Wagners Geschick für eine vollendete Form der rationalen Ausnutzung des Grundstücks zeigt sich am Beispiel seines Grund­risses für die tiefste der drei Parzellen an der Linken Wienzeile: Der ausgeführte Plan unterschied sich nur geringfügig von dem in der Zeitschrift Der Architekt 1896 publizierten Entwurf seines Schülers Gustav Rossmann, war aber regelmäßiger und streng


Otto Wagner: Miethäuser an der Linken Wienzeile kurz vor der Fertigstellung, 1899 Wien Museum

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axialsymmetrisch.6 (Abb. S. 70) Wagners besondere Aufmerksamkeit galt dem Stiegenhaus, das meist in der Achse des Eingangs oder in einer Diagonale des Hofes gelegen war. Er legte Wert auf bequeme, niedrige Stufen, was zu besonders langen Stiegenrampen führte.7 Die Grundrisse der einzelnen Wohnungen hingegen folgten der gängigen, größtenteils durch die Bauordnung bestimmten Praxis: Die Mittelmauer enthielt die Rauchfänge (jeder bewohnbare Raum musste beheizbar sein) und die Kanalisationen für Ab- und Regenwasser. Die Decken ruhten auf der Außenmauer, der Mittelmauer und der Hofmauer, leichte Trennwände ermöglichten eine verhältnismäßig freie Unterteilung in Zimmer und Wohnungen, deren Räume eine Enfilade bildeten. Die Größe der Wohnungen war in der Regel nicht an der Fassade erkennbar, die Räume konnten auch als Büros vermietet werden. An belebten Straßen waren das Erd­ geschoß für das Gewerbe vorgesehen und die Hauseingänge, wenn möglich in einer Nebenstraße situiert, um keine Verkaufsfläche zu opfern.

Ausnahmen bildeten jene palastartigen Häuser, die Wagner am Schottenring und am Rennweg errichtete. Am Schottenring unterschied sich die Wohnung im ersten Stock von der klassischen Zinshauswohnung durch eine breite Glas­ tür, welche die Mittelmauer durchbrach und den straßenseitigen Salon mit dem hofseitigen Speisezimmer verband. Dieses besaß, bedingt durch die maximale Ausnutzung der bebaubaren Fläche, lediglich Gangfenster. Am Rennweg hingegen unterschied Wagner deutlich zwischen dem zentralen Palais und den flankierenden Zinshäusern. Während er für Letztere die Höhe je nach Straßenniveau für die maximal zulässigen Stockwerke voll ausnutzte, verzichtete er für sein Palais auf das oberste Geschoß. Auch der Grundriss war unüblich: Ähnlich der Ersten Villa in Hütteldorf war der zentrale Raum (Atelier im Parterre und „Wohnzimmer“ im ersten Stock) von zwei Flügeln gesäumt, welche die Mittelmauer und die Fassade durchbrachen und hier mit einer Loggia versehen waren. In den letzten Zinshaus­ projekten kehrte Wagner auch für seine eigene Wohnung


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Gustav Rossmann: Entwurf für ein Miethaus, in: Der Architekt 2 (1896), S. 50

Otto Wagner: Linke Wienzeile 40, Grundriss, in: Moderne Städtebilder. Neubauten in Wien, Berlin 1900, Tafel 18

wieder zum gebräuchlichen Schema der Enfilade zurück und ging schließlich so weit, seine Zweite Villa in Hütteldorf (1912) nach demselben Prinzip wie die Zinshäuser zu bauen (tragende Straßenfassade, tragende Mittelmauer, tragende „Hoffassade“).

waren nur an der Neustiftgasse vorgesehen, wo die Räume entsprechend möglichst tief sein mussten. Auf seinem mit Bleistift im Maßstab 1 : 100 gezeichneten Entwurf für den ersten Stock entschied er sich an der Neustiftgasse für eine lichte Weite von 5,85 m, hofseitig für 5 m. Im Trakt entlang der Döblergasse kehrte er den Abstand der tragenden Mauern um: Straßenseitig waren es hier 5 m, hofseitig 5,75 m, um mehr Platz für einen Gang zu ermöglichen – der aber bewirkte, dass eine Reihe von Diensträumen keine Fenster zum Hof hatte. Die Tiefe des Hofes ermöglichte Stiegenläufe mit 19 Stufen von entsprechend nur 10 cm Höhe,9 während der hintere Hoftrakt 5 m tiefe Zimmer und 2,2 m tiefe Diensträume vorsah. Schwieriger war das Festlegen der Fensterachsen. Wie häufig auf Wagners Zeichnungen sind deren Berechnungen auf dem Blattrand notiert und zeugen von seiner Hingabe, sie bis auf den Zentimeter genau festzulegen. In einem ersten Anlauf versuchte Wagner, die Fassade der Neustiftgasse in zehn Fensterachsen von je 267 cm zu unterteilen, bemerkte aber, dass sie circa einen Meter zu lang gezeichnet war. Entsprechend radierte er alle Achsen aus und

Grundriss, Baulinie und Stockwerkzahl Die zum Haus in der Neustiftgasse im Wien Museum erhaltenen Zeichnungen von 1909 erlauben es, Wagners Vorgehen beim Entwerfen zu rekonstruieren.8 Die tiefe Parzelle und der unebene Baugrund eigneten sich für ein Haus mit Straßentrakt und Hof­ trakt, deren um ein halbes Stockwerk versetzte Böden durch eine gemeinsame Treppe verbunden wurden. Die in einem Plan enthaltenen Baulinien waren gegenüber dem Vorgängerbau um mehrere Meter zurückversetzt und Wagner entschied sich, einen Teil des Grundstückes entlang der Döblergasse für den zwei Jahre später errichteten Nachbarbau zu reservieren. Geschäfte


Otto Wagner: Neustiftgasse/Ecke Schrankgasse (später Döblergasse), Situationsplan mit Baulinie, vor 1909 Wien Museum, Inv.-Nr. 139.691 (Detail)

Otto Wagner: Miethaus Neustiftgasse 40, Grundriss 1. Stock Wien Museum, Inv.-Nr. 139.617/1 (verso)

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zeichnete diesmal die Fassade im Maßstab richtig 28,9 m lang, um sie in elf Fensterachsen von je 252 cm zu unterteilen. An der Döblergasse teilte er die Fassade in 13 Fensterachsen von je 256 cm, was ihm ermöglichte, den Eingang und das dahinterliegende Stiegenhaus in die Symmetrieachse zu legen, was aber eine um einen Meter zu kurze Fassade ergab. Auf den erhaltenen Bauplänen (die nur wenige Zentimeter vom ausgeführten Bau abweichen) verzichtete Wagner auf den zentrierten Eingang (14 anstatt 13 Fenster) und vereinheitlichte so an beiden Fas­saden die Fensterachsen auf 248 cm (wobei deren Fenster unterschiedlich breit sind). Ebenso vereinheitlichte er die Raumtiefen zu den Straßen auf 5,5 m. Um die vorgeschriebene Höhe von 20 m möglichst auszunutzen, setzte er die Dachrinne auf einem provisorischen Bauniveau fest, das 1,536 m über dem von der Gemeinde vorgeschriebenen Niveau lag. Auf diese Weise realisierte er eine 21,5 m hohe Fassade, die sechs bewohnbare Stockwerke umfasste – das Doppelte des Palais am Rennweg bei gleicher maximaler Bauhöhe. Die unüblich hohen Eingänge beider Häuser in der Döblergasse hätten es ermöglicht, das Straßenniveau sukzessive auf das von der Gemeinde festgesetzte Niveau zu erhöhen, was hier aber nie geschah.

Konstruktive Lösungen Die Bauordnung gab die Stärke der obligatorischen Ziegelmauern vor, die in Funktion der Höhe, des Abstandes zwischen den Mauern und der gewählten Deckenkonstruktion variierte. Seit 1868 war für die Außenmauer bei den gebräuchlichen lichten Weiten von bis zu 6,5 m eine Mindeststärke von 47 cm (45 cm mit Einführung des metrischen Systems) für das oberste Geschoß vorgegeben, wobei je nach Deckenkonstruktion bei zunehmender Stockwerkzahl die Mauer um eine halbe Ziegellänge (15 cm) alle paar Stockwerke verstärkt wurde (gut sichtbar z. B. im Hof des Hauses in der Döblergasse). Frei war die Wahl der Träger, welche aber in den Einreichplänen angegeben werden mussten. Ab den 1870er-Jahren wurden Holzdecken zunehmend durch sogenannte Traversenböden aus standardisierten Metallprofilen verdrängt. Zwischen den Metallprofilen (Traversen) war entweder eine leichtere Holzdecke (bei Zimmern) oder ein flaches Ziegelgewölbe (bei feuchten oder feuergefährdeten Räumen wie Untergeschoßen, Badezimmern und Küchen) eingefügt. Traversen hatten den Vorteil, dass sie mittig zwischen den Fensterachsen angebracht werden konnten, wo meistens auch die Trennwände zu liegen kamen, und auf


Otto Wagner: Miethaus Neustiftgasse 40, Aufriss Wien Museum, Inv.-Nr. 116.631/12

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diese Weise die Mauerstärke nicht nach unten zunehmen musste. Ab 1900 wurde vermehrt Eisenbeton verwendet, der es ermöglichte, die Gesamtdicke der Decken von ungefähr 40 bis 50 cm um 10 cm zu verringern.10 Die Konstruktionsart der Decken hatte jedoch kaum Einfluss auf die Grundrisse: Im Fall des Eckhauses zur Neustiftgasse waren auf den Einreichplänen 1909 noch Traversen vorgesehen, die wenige Monate später in den Auswechslungsplänen durch Eisenbeton ersetzt wurden.11 Die Bauordnung schwieg hingegen über die Beschaffenheit der Fassadenverkleidungen. Es erstaunt hinsichtlich der standardisierten Konstruktionsweise der Mauern und Decken und der strengen Vorschriften nicht, dass die Architekten diese Freiheit ausnutzten. Das dauerhafteste (und teuerste) Material, um Fassaden zu verkleiden, war Naturstein. In Wien, das über keine nahe gelegenen Steinbrüche verfügte, war Naturstein allerdings bis zum Bau der Eisenbahnen nur beschränkt erhält­lich und daher Kirchenbauten sowie Gesimsen, Säulen und Zierelementen reicher Privatbauten vorbehalten. Entsprechend wurde Kalkstein, Granit und Marmor (mit teilweise großem Geschick) schon früh und häufig imitiert. Erst mit dem Bau der Votivkirche und der Oper, gefolgt von anderen Monumental­bauten, wurde in großem Maßstab Naturstein verbaut.12 Das reiche Bürgertum

und der Adel folgten, doch blieb Naturstein für Zinshäuser – im Gegensatz etwa zu Paris – die Ausnahme. In der Hierarchie der Baustoffe für Fassaden folgten dekorative Terrakotta-Elemente großer Wiener Ziegelhersteller sowie Klinker und polychrom verglaste Fliesen und schließlich das kostengünstigste und in Wien traditionelle Material, der Verputz aus Mörtel. Dieser wurde glatt und großflächig in Lichtschächten und Hinterhöfen verwendet und diente straßenseitig, zusammen mit Zementgussornamenten, am häufigsten der Imitation reicherer Materialien. Wagners Palais von 1877 am Schottenring ist dafür ein Beispiel: Der verputzte Sockel imitierte eine Verkleidung aus senkrechten Steinplatten, die als Schutz besonders geeignet waren – im selben Jahr war Theophil Hansens Akademie der bildenden Künste mit ihrem Sockel aus mächtigen Granitplatten vollendet worden. Die Mauer des Mezzanins schien ebenfalls aus Stein zu bestehen, war aber wie die Fensterlaibungen der darüberliegenden Stockwerke, die verzierte Terrakotta-Elemente vortäuschten, aus Zement. Wenige Jahre zuvor hatte Heinrich Ferstel für das Museum für Kunst und Industrie echte Terrakotta für die Fensterlaibungen verwendet. Hier waren Teile der Fassade auch in Sgraffito ausgeführt, einer Renaissance­technik, von der Gottfried Semper 1868 schrieb, sie beim Bau der Dresdner Hofoper wieder eingeführt


zu haben.13 Wagner hatte seine für die Stadt-Baugesellschaft am Bauernmarkt 1875 erstellten – nicht erhaltenen – Zinshäuser aufgrund ihres Fassadenschmucks als „Sgraffitohäuser“14 bezeichnet und imitierte am Schottenring mit Farbe diese Technik, die im Auftragen mehrerer Schichten verschiedenfarbigen Putzes bestand, wobei die Deckschicht zum Erhalt polychromer Dekorationen teilweise wieder abgekratzt wurde. Anders war die Verwendung des Verputzes an seinen Bauten in der Universitätsstraße (1887) und am Rennweg (1890): Die Rocailledekorationen waren dem verwendeten Material gemäß in Stuck ausgeführt, auch wenn die Sockelzone weiterhin Steinquader imitierte. Auch die Häuser an der Linken Wienzeile waren – mit Ausnahme des Majolikahauses – verputzt und mit teils vergoldeten Stuckornamenten versehen. Großflächige Keramik­ verkleidungen hatten in Wien schon zuvor Verwendung gefun­den, etwa aus hygienischen Gründen in Innenhöfen oder für Werbezwecke, wie an der Fassade des 1878 errichteten Porzellanhauses Wahliss in der Kärntnerstraße 17. Bei seinen letzten Zinshäusern bevorzugte Wagner jedoch ähnlich den Sgraffitoverputzen mit Glasstaub und Pigmenten versetzte Edelputze. Diese übertrafen seiner Meinung nach Stein an Dauer, waren leichter zu reinigen und konnten mit Glas, Keramik oder Aluminiumdekorationen versehen werden.15

zu überbrücken. Diese Lösung hatte jedoch den Nachteil, dass die Bekrönungen den vor Regen schützenden Dachvorsprung unterbrachen; ein Grund wohl, weshalb Wagner sie bei seinen letzten gebauten Zinshäusern in der Döblergasse aufgab und deren Fassaden seitlich bloß mit einem im Verputz eingelassenen Zierband aus kolorierter Keramik und einer Fuge abgrenzte. Eine weitere Aufgabe der Fassadengestaltung war deren traditionelle Gliederung in Sockel, Aufbau und Bekrönung. Der Umstand, dass die Bauordnung das Mezzanin zum Erdgeschoß mit einrechnete und der erste Stock de facto erst ab dem zweiten Stock gezählt wurde, spiegelte sich in Wagners Fassaden wider, wo das Erdgeschoß und das Mezzaningeschoß eine meist horizontal gegliederte Einheit bildeten. Dabei legte er Wert auf eine sorgfältige Einbindung der Geschäftsinschriften und bevorzugte vorgeblendete, verandaartige Glasflächen oder ornamental hervorgehobene Pfeiler gegenüber der Auflösung des Sockels durch großflächige Schaufenster. Obwohl Wagner schon 1896 geschrieben hatte, dass mit der Einführung des Aufzuges die palastartige Hierarchie der Fassaden – mit Herren­wohnung in der Beletage und Wohnungen mit geringerem Mietwert in den oberen Stockwerken – obsolet geworden war, bewohnte er in der Döblergasse den ersten Stock, wo seine Wohnung 24 cm höhere Räume hatte und auf der Fassade durch Majolikadekorationen hervorgehoben war.16 Erst seine letzte geplante Wohnung im Künstlerhof wäre vermutlich im obersten Geschoß unter der Attika gelegen.17

Der Entwurf der Fassaden Nachdem die Fensterachsen im Grundriss und die Zimmerhöhen im Schnitt festgelegt waren, blieb die Oberfläche der Fassaden zu gestalten. Die Parzellenlage im Häuserblock – Eckhaus oder Straßenverband – bestimmte den Fassadentypus. Spitze Ecken wurden im Allgemeinen entweder abgeschrägt, abgerundet oder mit Türmen und Vorbauten versehen. Falls die Ecke rechtwinklig war, hatte die Seitenfassade in Korrespondenz zum Eckzimmer keine oder weniger Fenster, eine Wahl, die Wagner im Fall seiner Zinshäuser in der Universitätsstraße, am Rennweg und in der Neustiftgasse mit Dekorationen, Nischenfiguren, Inschriften oder Vorsprüngen betonte. Risalite halfen auch, vom Nachbarhaus abzugrenzen – ein gestalterisches Problem, das Wagner besonders am Herzen lag: Da die mit Gebälken und Gesimsen reich ausgestatteten Fassaden meist ohne Kenntnis des Entwurfes des Nachbar­ hauses errichtet wurden, kam es an den Parzellengrenzen oft zu grotesken Überschneidungen. Wagner nutzte zwei architektonische Kunstgriffe, um dies zu verhindern: die in Wien verbreiteten, häufig mit Bossenquadern verblendeten Eckrisalite, wobei er anstelle der verbreiteten Erker Loggien bevorzugte, sowie die weitaus originellere Lösung zweier links und rechts die Fassade rahmender verzierter Lisenen. Diese durchbrachen, mit obeliskenförmigen Aufbauten, Vasen oder Statuen bekrönt, die Dachrinne und halfen bei den Häusern am Schottenring, am Rennweg, an der Linken Wienzeile und in der Köstlergasse, die unterschiedlichen Traufhöhen oder Dachaufbauten optisch

Der Bauschmuck Der Unterschied zwischen ausgeführten und auf den Einreichplänen gezeichneten Dekorationen lässt darauf schließen, dass Wagner diese zuletzt, wahrscheinlich bei schon vollendetem Rohbau, ausarbeitete und deren Ausführung zum Teil Schülern oder Künstlern überließ: So stammen zum Beispiel das Portal des Wohnhauses in der Köstlergasse von Josef Plečnik, die florale Dekoration der Fassade des Majolikahauses an der Linken Wienzeile von Alois Ludwig, die Medaillons am Nachbarhaus von Koloman Moser und die bekrönenden Skulpturen von Othmar Schimkowitz.18 Das Orchestrieren der Künstler gehörte nach Wagner zur „Strategie der Baukunst“, worunter er „das richtige Zusammenwirken mit den Schwesterkünsten Sculptur und Malerei“, ohne „den Commandostab aus der Hand [zu] legen“, verstand.19 Die Wahl der von Wagner für die Fassaden verwendeten Ornamente durchlief eine Entwicklung, welche die (ab den 1890er-Jahren auch von Wagner selbst mitgeprägte) Auseinandersetzung um die Legitimation historischer und zeitgemäßer Ornamente widerspiegelte. Im Gegensatz zu vielen seiner berühmten Berufskollegen, welche die Verwendung historischer Ornamente mit weitreichenden, selbst erarbeiteten archäologischen Kenntnissen untermauern konnten, fehlte Wagner eine auf eigenhändige Vermessung historischer Denkmäler basierende Autorität.20 Umso fruchtbarer war seine

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Miethaus „Künstlerhof“, Aufriss, Fotomontage der Blätter Wien Museum, Inv.-Nr. 139.605/13 und 11

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Auseinandersetzung mit architekturtheoretischen Schriften, vor allem mit den von ihm zitierten Werken Gottfried Sempers und deren späteren Interpreten – und Kritikern.21 Bei Semper war die Verwendung historischer Ornamente für klassische Bauglieder – Quadermauerwerk, Basen, Kapitelle, Gebälke, Kassetten etc. – durch deren Symbolgehalt gerechtfertigt: Sie erinnerten an den Ursprung der Architektur, der nicht in der Imitation der Natur zu suchen war, sondern in der Verwendung erhältlicher Werkstoffe zum Stillen elementarer Bedürfnisse – mit Ausnahme des bildhauerischen oder malerischen Bauschmuckes, der ursprünglich das Aufhängen und Anheften von Trophäen und Opfergaben an den Wänden und Gebälken antiker Tempel imitierte. Während Bildhauerei und Malerei unangefochtene Bestandteile der Monumen­talarchitektur blieben, wurde in den 1890er-Jahren der Ruf nach neuen, aus der Verwendung moderner Werkstoffe her­geleiteten, zeitgemäßen Ornamenten immer lauter.22 In seiner Schrift Moderne Architektur nahm sich Wagner 1896 dieser These an und erarbeitete später daraus eine Formensprache, in der materialgerechte Konstruktion und Funktion zum Ausgangspunkt neuer Ornamente wurden, ohne aber auf (stilisierte) aus der Vergangenheit stammende Ornamente oder auf Bauschmuck zu verzichten – so wie weiterhin traditionelle Bautechniken verwendet wurden.23 Dass das Ornament aber eben­falls dazu diente, Hie­rar­chien zu unterstreichen, zeigt Wagners Verwendung stockwerk­übergreifender, monumentaler Säulenordnungen, die er – allerdings abstrahiert – für das von ihm bewohnte Zinshaus in der Köstlergasse aufgriff und bei seinem letzten Zinshaus­ projekt, dem Künstlerhof, vorsah, obwohl er schon 1896 in Moderne Architektur geschrieben hatte, dass beim modernen Zinshaus „architektonische Durchbildungen, welche ihre Motive in der Palastarchitektur suchen, als völlig verfehlt zu bezeichnen sind“.24 Am Beispiel seiner Zinshäuser lässt sich Wagners evolutionäre und nicht revolutionäre Haltung in der Baupraxis erkennen, auch wenn seine Schriften die Entwicklung häufig vorwegnahmen und polemisch verfasst waren. Seine Zins­ häuser hielten sich streng an die zeitgenössische Bauweise, die Grundrisse waren rational, aber wie bei allen Zinsbauten aus der damaligen Konstruktionspraxis und Bauordnung hergeleitet, und dienten der Maximierung der Rendite.25 Ornament und plastischer Schmuck erlaubten es Wagner hingegen, seinen baukünstlerischen Absichten Ausdruck zu geben. Der Bauschmuck der Fassade seines letzten Zinshauses, des Künstlerhofes (Kat.-Nr. 159), ist sprechend: Unter der Traufe „aufgehängte“ Lorbeerkränze sollten die Namen seiner Meister – die Architekten van der Nüll, Schinkel, Semper und Sicardsburg – und bevor­zugter Schüler – Hoffmann, Olbrich und Plečnik – tragen, was impliziert, dass sich Wagner als wichtiges Bindeglied einer aus seiner Sicht dem Fortschritt verpflichteten Entwicklung sah.

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Wagner 1896, S. 81; Wagner 1894, S. 530. Zur Anzahl seiner Zinshäuser (die genaue Zahl ist nicht bekannt) siehe Graf 1985, S. 811, und Haiko 1974. 1880 starb Wagners Mutter, die ihm eine Haushälfte in der Göttweihergasse 1 vererbte; siehe den Eintrag „Otto Wagner“ in: Architektenlexikon Wien 1770–1945, Onlineausgabe des Architekturzentrums: www.architektenlexikon.at/de/670.htm [30.05.2017]. Vgl. Graf 1985, S. 647. Wagner verkaufte die Häuser am 16. Jänner 1918 (Graf 1985, S. 801; Haiko 1984, S. 61, Anm. 176), um an der Rechten Wienzeile die Häuser mit den Nummern 7 und 9 zu erwerben, deren Kauf aber trotz Angebot nicht zustande kam (Tagebucheintrag vom 23.01.1918). Zur Bauordnung Wiens siehe Hugo Schmid: Die Baugesetzgebung in Wien, in: Rudolf Tillmann (Hg.): Festschrift herausgegeben anlässlich der Hundertjahrfeier des Wiener Stadtbauamtes, Wien 1935; Anna Hagen: Wiener Bauordnungen und Planungsinstrumente im 19. Jahrhundert (Materialien zur Umweltgeschichte Österreichs Nr. 6, hg. vom Zentrum für Umwelt­ geschichte), Wien 2015. Vgl. Aus der Wagnerschule der Akademie der bildenden Künste Wien, in: Der Architekt 2 (1896), S. 45-50, hier S. 50. Für sein letztes Projekt sah Wagner 6 ½ cm hohe und 47 cm tiefe Stufen vor (Tagebucheintragung vom 16.03.1918). Die Bauordnung von 1883 schrieb maximal 16 cm hohe Stufen vor. Wien Museum, Inv.-Nr. 139.617/1-11. Im ausgeführten Bau sind es 15 Stufen, die 13 cm hoch sind. Zu den Bautechniken siehe Manfred Wehdorn: Die Bautechnik der Wiener Ringstraße (Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 11), Wiesbaden 1979, S. 77-80; zu Wagners Entwicklung im Verwenden von Baustoffen und den daraus abgeleiteten Formen siehe Schubert 2012. Schachel 1977, S. 155. Vgl. Alois Kieslinger: Die Steine der Wiener Ringstraße: ihre technische und künstlerische Bedeutung (Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 4), Wiesbaden 1972.

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Vgl. Gottfried Semper: Die SgraffitoDekoration, in: Manfred und Hans Semper (Hg.): Gottfried Semper. Kleine Schriften, Stuttgart 1884, S. 508-516, hier S. 508 (schon 1868 im Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst publiziert). Promemoria, zit. nach Haiko 1974, S. 293; Graf 1985, S. 22. Siehe z. B. Otto Wagner: Wettbewerbsentwurf für das Kaiser Josef Stadtmuseum. Kennwort: OPUS = IV, Wien 1912, zit. nach Graf 1985, S. 657670, hier S. 662. Vgl. Wagner 1896, S. 82. Auf zwei im Wien Museum erhaltenen eigenhändigen Aufrissentwürfen (Inv.-Nr. 139.605/8, 139.605/10) ist eine Wagner ähnlich sehende Figur am Balkon unter dem Dachgesims skizziert. Vgl. Graf 1985, S. 647. Der Entwurf für das Portal in der Köstlergasse 3 wurde 1898 unter „Architekturskizzen von Josef Plečnik“ publiziert: Der Architekt, Supplementheft Nr. 2: Aus der Wagnerschule 1898, S. 15; zu Alois Ludwig siehe Architekten­ lexikon Wien 1770–1945, Onlineausgabe des Architekturzentrums: www.architektenlexikon.at/de/670.htm [18.08.2017]. Vgl. Wagner 1896, S. 52-53. Theophil Hansen etwa war in Griechenland gewesen, Friedrich Schmidt Steinmetz in der Kölner Dombauhütte. Von Wagner sind keine eigenhändigen Aufrisse historischer Bauten bekannt, die sonst fester Bestandteil der akademischen Ausbildung oder deren Krönung im 19. Jahrhundert (Rom-Preis) waren. Vgl. Schubert 2014. Siehe hierzu zahlreiche Beiträge in den wichtigsten deutschsprachigen Bauzeitungen der späten 1880er- und 1890er-Jahre, z. B. Otto Gruner: Die Lüge in der Baukunst, in: Allgemeine Bauzeitung 1888, S. 85-95, oder Heinrich Schatteburg: Gedanken über Stylbildung, ebenda, S. 77-79. Als neu entwickelte Ornamente können beispielsweise die zahlreichen, zum Befestigen von Wandverkleidungen verwendeten Bolzen oder die Leisten aus Aluminium zum Schutz der Kanten gelten; traditionell (weil „richtig“) blieb das symbolische „Aufhängen“ von Bauschmuck. Wagner 1896, S. 82. Bezeichnend ist, dass Wagner in der 3. Auflage (1902) „an solchen Zellen-Konglomeraten“ hinzufügt, was die vom Bauherrn selber bewohnten und sich, so Wagner, auf dem „Aussterbeetat“ befindenden, in der Tradition der Palais stehenden Zinshäuser auszuschließen scheint. Vgl. hierzu Otto Wagner: Miethaus, VII., Neustiftgasse 40, zit. nach Graf 1985, S. 604-605, hier S. 605.

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Kunst im gewerbe — Theorie und praxis Eva-Maria Orosz

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Die Gründung der Secession 1897 und die Institutionalisierung der „Moderne“ in Wien eröffneten Debatten, die Otto Wagner dazu bewogen, sich dem Kunstgewerbe in Theorie und Praxis intensiver zu widmen. In seiner Schrift Moderne Architektur hatte er 1896 die Richtlinien für das baukünstlerische Schaffen formuliert: Bedürfnis, Zweck, Konstruktion und Idealismus haben den Künstler zu leiten.1 Diese Anweisungen fußten u. a. auf der von Gottfried Semper in Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten von Zweck, Material und Verarbeitungstechnik hergeleiteten Entstehung eines künstlerischen Produkts.2 Ebenso rezipierte er die Kunstgewerbetheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Wien durch Jakob von Falke, Mitbegründer des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, eine einflussreiche Stimme hatte.3 Wagners Richtlinien, ergänzt durch die wesentliche Forderung, dass moderne Formen den neuen Materialien und den neuen Anforderungen der Zeit entsprechen sollen, waren für Architektur wie Kunstgewerbe bindend. Wagners Schrift Moderne Architektur ist ein Beitrag zur Designtheorie im späten 19. Jahr­hundert; zugleich ist sie, neben seinem Artikel Die Kunst im Gewerbe 4 von 1900, die aufschlussreichste Quelle im Hinblick auf seine Haltung gegenüber dem Kunstgewerbe. Die Neuauflagen von Moderne Architektur 1898 und 1902 beinhalten Erweiterungen, die die Spannungen im Wiener Kunstleben zwischen Traditionalisten und Modernisten, zwischen Künstlern und Industrie widerspiegeln. Diese Spannungen werden im Folgenden beleuchtet, wobei Wagners Einfluss auf die Erneu­erung des Wiener Kunstgewerbes und seine inno­vative eigene Entwurfstätigkeit im Zentrum stehen.5

„Moderne Architektur“ und das Kunstgewerbe In der ersten Auflage von Moderne Architektur (1896) kam Wagner nur kurz auf das Kunstgewerbe zu sprechen. Er stellte aber bereits klar, dass „der moderne Baukünstler zum Träger des Kunsthandwerks“ geworden ist.6 Sichtbar sei dies bereits in den Innenraumgestaltungen und im Entwurf von Gebrauchsgegenständen, wo die „Moderne“ bereits fort­ geschrittener wäre als in der Architektur.7 Wagner legte dar,

wie der traditionelle Kunsthandwerker mit der Umstellung auf die industrielle Produktion im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Bildfläche verschwunden war, der Arbeiter zur Maschine gemacht worden und dem Architekten die künstlerischen Aufgaben zugefallen waren.8 Damit beschrieb er die unvermeid­lich gewesene Aushöhlung des ursprünglich kunstverständigen Handwerks durch die arbeitsteilige Fabrikation. Dieser Arbeitsteilung war im 19. Jahrhundert spätestens seit Karl Friedrich Schinkels zusammengetragenen Vorbildern für Fabrikanten und Handwerker (1821–1837) eine Grundlage gegeben. Im Vorwort dieses Vorlagenwerks wurden Handwerker und Fabrikanten angewiesen, nicht selbst zu entwerfen, sondern dies Künstlern zu überlassen.9 Dem fortschreitenden Qualitätsverlust und Geschmacksverfall durch die industrielle Erzeugung wurde europaweit ab den 1850er-Jahren mit der Gründung von Kunstgewerbemuseen, regem Ausstellungswesen und umfassenden Berichterstattungen in Zeitungen in der breiten Öffentlichkeit entgegengewirkt. In Wien wurde 1864 das Museum für Kunst und Industrie eröffnet, 1867 die Kunstgewerbeschule gegründet, die jedoch kaum freischaffende Künstler oder Kunstgewerbler hervorbrachte, sondern vom Kopieren historischer Vorbilder geprägte Zeichner und Entwerfer für die Kunstindustrie sowie Lehrer für gewerbliche Fachschulen.10 Architekten übernahmen daher häufig den Entwurf kunstgewerblicher Produkte. Schließlich betrachteten Akademien wie Architekten die Baukunst in einem der Antike folgenden Kunstverständnis als Mutter aller Künste und die angewandten Künste als deren Derivate.11 Aus dieser Dominanz der Architektur bezog auch Wagner seine Autorität, die durch seine starke Persönlichkeit noch gestützt wurde. In der zweiten Auflage von Moderne Architektur von 1898 erklärte er, dass Kunstindustrie und Kunsthandwerk, um deren stilistische Verbesserung sich die staatliche Kunst­ gewerbereform im Historismus bemühte, „nur Phrasen“ seien.12 Die Anstrengungen, Kunst und Handwerk wieder zu vereinigen, seien weitgehend erfolglos geblieben, so Wagner.13 Denn „Industrie und Handwerk drängen naturgemäß immer zur fabriksmässigen Herstellung, winkt doch nur von dieser Seite der Lohn, das Geld; fabriksmässige Herstellungen sind aber mit der Kunst unvereinbar“.14 Wagner lehnte die „Kunstindustrie“, einen Schlüsselbegriff des Historismus, daher fortan ab und


begann ihn aus seiner Publikation zu streichen.15 Letztendlich war dies ein Versuch, mit der „Plagiatskunst“ des 19. Jahrhunderts auch sprachlich abzuschließen. Wagners intensivere Auseinandersetzung mit dem Kunstgewerbe hatte zur Zeit der zweiten Auflage seiner Schrift einen aktuellen kulturpolitischen Grund. 1897 wurde Arthur von Scala zum Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie bestellt. Damit begannen Diskussionen über das Museum und die ihm angeschlossene Kunstgewerbeschule sowie schrittweise Veränderungen beider Institutionen, an denen Wagner mitwirkte. Scala, der sich von der Museumspolitik seiner den histo­ ristischen Anschauungen verpflichteten Vorgänger absetzte, ebnete der „Moderne“ im Kunstgewerbe den Weg, ohne ihr dezidierter Freund gewesen zu sein.16 Kurz nach seiner Bestellung legte er dem Aufsichtsrat ein sogenanntes Aktionsprogramm vor, das eine Reihe von Reformideen beinhaltete, u. a. ein stärkeres Einbeziehen der „Moderne“, deren Vorbild er in England suchte.17 Nicht mehr ausschließlich historische Vorbilder seien vom Museum zu vermitteln, sondern ebenso die Fortschritte und Wandlungen des Geschmacks, „welche die Kunst und das Kunsthandwerk auf neue Wege führen“.18 Damit wurde der kreativen Fähigkeit von Künstlern und Künstlerhandwerkern wieder Vertrauen geschenkt und nicht mehr ausschließlich den Kunstwissenschaften wie in den Jahrzehnten zuvor. Scalas Maßnahmen, die zwischen Historismus auf der einen Seite und Innovation durch Künstler auf der anderen Seite changierten, waren Wagner jedoch nicht weitreichend genug. Er war seit 1895 Mitglied der KunstKommission des Ministeriums für Cultus und Unterricht, später des Kunstrates, und wurde Ende November 1898 als Mitglied in das neu ernannte Kuratorium des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie berufen.19 In der Kuratoriumssitzung vom 30. Jänner 1899 stellte er sofort klar, dass Scalas Aktions­programm nicht ausreiche, um das Niveau der Institution zu heben. Die Institution solle, so Wagner, in Kunstfragen die Führerrolle einnehmen, die Kunstgewerbeschule reorganisieren und Neuankäufe nur mehr in Hinblick auf das aktuelle Gewerbe tätigen.20 Wagner verlangte (!), dass „sich das Institut […] deutlich für die ‚Moderne‘ aussprechen“ solle.21 In der Kuratoriumssitzung vom 15. Februar 1899 brachte er sechs Anträge ein, deren durchschlagendster und wichtigster sein Vorschlag für die Berufung von vier Künstlern als Professoren in der Kunstgewerbeschule war. Die Namen der Künstler wurden nicht ins Protokoll aufgenommen, es besteht jedoch die Vermutung, dass er Josef Hoffmann, Koloman Moser, Joseph Maria Olbrich und Gustav Klimt oder Alfred Roller nominiert hatte.22 Wagner begründete seine Empfehlungen mit den Argumenten: „Alle sind selbstredend ‚Moderne‘, schaf­fende, gebärende Naturen. Alle haben sie einen auserlesenen Geschmack und sind, wie es die Moderne fordert, Denker; zwei davon auch ausgezeichnete Musiker, alle sind ausgezeichnete Arbeitskräfte und im Werden begriffene Künstler. Sie sind des Ornaments völlig mächtig, eine Eigenschaft,

ohne welche überhaupt kein Künstler an das Institut zu berufen ist, Schrift, Placat, Möbel, Muster etc. liegen völlig in ihrem Schaffensgebiete, sie haben also ein beinahe unbegrenztes Arbeitsfeld.“23 Die Reform der Kunstgewerbeschule und ihres Unterrichts begann mit der Bestellung des Secessions­ mitglieds Felician Myrbach im Jänner 1899 als Leiter der Kunstgewerbe­schule. In den Folgemonaten holte Myrbach Gleichgesinnte, nämlich nach Wagners Empfehlungen Hoffmann, Moser, Roller und Arthur Strasser auf die Lehrstühle. Damit war Wagners kulturpolitisches Agitieren, das in anderen Fällen oft wirkungslos verhallte, für das moderne Wiener Kunstgewerbe erfolgreich gewesen. Scala jedoch, der nicht alle Künstler aus einem Lager holen wollte, war Gegner der Secessionisten, womit eine Frontlinie im Wiener Kunst- und Kulturleben gezogen war. Anlässlich der Winterausstellung 1902 im Museum kritisierte schließlich Hugo Haberfeld, dass Scala gegenüber den Einsendungen der Kunstgewerbeschule und der Secession wenig gastfreundlich gewesen sei. Davon war auch Wagner betroffen. Sein Reformbesteck (Kat.-Nr. K 19) präsentierte Scala bewusst unvorteilhaft, nämlich „versteckt“.24 1902 ging Wagner in der dritten Auflage von Moderne Architektur mit den Kunstgewerbetreibenden hart ins Gericht.25 Diese kunstunverständigen Unternehmer, die aus dem arbeitsteiligen Produktionsprozess der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgegangen waren, brächten – so Wagner – ohne Künstler nichts Gutes hervor.26 Von Profit­ gier und Neuerungssucht angetrieben, würden sie unter der „Parole ‚Secession‘“ falsch Verstandenes produzieren.27 Worüber sich Wagner empörte, beschreibt eine Rezension von Berta Zuckerkandl, die ein fehlendes Kunstverständnis des Publikums skizziert: „Es merkt nicht im geringsten, wenn ein Kasten aus einem Untersatz besteht, der dem Van der Velde nachgezeichnet ist, und aus einem Aufsatz, der die Linien von Hoffmann zeigt.“28 Wagner kritisierte außerdem die schlechte Bezahlung der Entwurfsarbeit und warf den Kunstgewerbetreibenden vor, sich auf Kosten der Künstler zu bereichern.29 Den Secessionisten und Wagner ging es um die Stellung der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft. Daher musste er beanstanden, dass sich (Kunst-)Gewerbetreibende in Ausstellungen profilierten und dabei den verantwortlichen Künstler hintanstellten.30 Wiederholt mahnte er die notwendige Anerkennung der Künstler in finanzieller und urheberrecht­ licher Hinsicht ein.31 Einige Überlegungen und Anträge, die er als Kuratoriumsmitglied des Museums für Kunst und Industrie und in seinem Artikel Die Kunst im Gewerbe in Ver Sacrum formuliert hatte, flossen in die dritte Auflage seiner Schrift ein. So sein Plädoyer für ein größeres Mitspracherecht der Künstler in Kommissionen und Komitees, die künstlerische Werke zu beurteilen hätten.32 In der bebilderten zweiten Auflage von Moderne Architektur hatte sich Wagner bereits als Möbelentwerfer vorgestellt.33 In der reich illustrierten dritten Auflage wies er sich schließlich auch als Innenarchitekt und als Designer von Gebrauchsgegenständen aus und bildete Tafelgeschirr ab (vgl. Kat.-Nr. K 18).

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Speisezimmer in der Ersten Villa Wagner, Einrichtung 1886, Fotografie um 1901 Privatbesitz

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Aufsatzvitrine aus dem Boudoir des Wohnhauses Rennweg 3, 1890 Fotoarchiv Asenbaum

Der „Nutzstil“ im Alltagsgegenstand

Industrielle Produktion

Wagners eigene Entwürfe für Alltagsgegenstände waren durchaus von innovativem Charakter sowie von neuen technischen Möglichkeiten und Materialien geprägt. Sie entstanden für seine Bauprojekte, auf konkreten Auftrag hin und für den eigenen Bedarf.34 Kooperationen mit Produzenten für den breiten Markt sind nicht nachweisbar. Seine Kompetenz auf dem Gebiet der Kleinkunst wurde von zeitgenössischen Kritikern nicht nur positiv besprochen. Joseph August Lux meinte etwa, dass er „zu sehr Groß-Architekt“ gewesen wäre, „um in kunstgewerb­ lichen Kleinaufgaben, wie Möbel und Interieurs, eine besonders glückliche Hand zu haben“.35 Der Wagner-Kenner kam vor allem mit dem „ästhetenhaften Puritanismus“ des Architekten der 1910er-Jahre nicht zurecht, der sich – so Lux – nicht mit dessen Persönlichkeit vertrug. Ganz anders jedoch Adolf Loos, der einige Entwürfe für Gebrauchsgegenstände von Wagner rezensierte und ihm besonders großes Einfühlungsvermögen konstatierte: „Otto Wagner hat nämlich eine Eigenschaft, die ich bisher nur bei wenigen englischen und amerikanischen Architekten gefunden habe: Er kann aus seiner Architektenhaut hinaus- und in eine beliebige Handwerkerhaut hineinschlüpfen. Er macht ein Wasserglas – da denkt er wie ein Glasbläser und ein Glasschleifer. Er macht ein Messingbett – er denkt, er fühlt wie ein Messingarbeiter. Alles Uebrige, sein ganzes großes architektonisches Wissen und Können hat er in der alten Haut gelassen. Nur eines nimmt er überall mit: seine Künstlerschaft.“36 Dieses Verständnis für Formen, das Wagner aus den Handwerkstraditionen zu schöpfen schien, respektierte Loos. Wagners Sympathisieren mit dem belgischen Jugendstil um 1900 sollte er ihm aber nicht verzeihen.37

Wie in der Baukunst strebte Wagner auch im Design von Alltagsgegenständen nach einem „Nutzstil“. Künstlerische Neuerungen konnten bei Gegenständen des täglichen Gebrauchs generell rascher und mit geringerem (Kosten-) Risiko erprobt werden. Die Richtlinien aus Moderne Architektur konnten hier als Erstes umgesetzt werden. Gemäß dem Leitsatz „alle modernen Formen müssen dem neuen Material, den neuen Anforderungen unserer Zeit entsprechen, wenn sie zur modernen Menschheit passen sollen […]“,38 stieß sein Interesse auf die Eisen- und Metallwarenindustrie, die dem Ingenieurwesen nahestand. Bereits 1886 lässt sich im Speisezimmer der Ersten Villa Wagner ein schmuckloser Beistelltisch aus Metallrohr und Glas nachweisen, dessen Form von den Konstruktionsprinzipien der verwendeten Materialien abgeleitet ist (Kat.-Nr. 53). Ornamentlose Vorläufer hatte die europäische Metallmöbelfabrikation seit den späten 1840er-Jahren pro­ duziert.39 In den späten 1880er-Jahren hielt Wagner diese Ingenieurästhetik noch im Hintergrund seines Interieurs. 1895 setzte er sie im Billardzimmer der Ersten Villa Wagner und schließlich auf der Jubiläums­ausstellung 1898 ganz selbst­ verständlich ein (Kat.-Nr. K 14). Auf der Ausstellung interpretierte er die Metallmöbel funktio­nal neu: Sie dienten dem modernen


Ausstellungsstände V. Mayer’s Söhne und J. C. Klinkosch auf der Jubiläumsausstellung 1898 Wien, Österreichische Nationalbibliothek

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Anspruch von Komfort, unter dem größtmögliche Bequemlichkeit und Hygiene verstanden wurde,40 und eigneten sich für Schlaf- und Bade­zimmer. In den frühen 1890er-Jahren konkretisierte sich bereits auch jene intellektuelle Analyse, die er später als „peinlich genaues Erfassen und vollkommenes Erfüllen des Zwecks“ bezeich­nete.41 Wagner, dem das Präsentieren von Architektur in unterschiedlichen Medien ein wichtiges Anliegen war,42 ent­wickelte in seiner späthistoristischen Phase bei Vitrinen, die von jeher dem Ausstellen dienten, besonders funktio­nale Lösungen. Der Aufsatz einer Vitrine im Boudoir im Wohnhaus Rennweg 3 war ein zartes, materielos anmutendes und ornamentfreies Metallgehäuse, das den Werkstoff offen

zeigte. Adolf Loos konzipierte für die Wohnung Haberfeld 1902 ein vergleichbares Exemplar.43 Wagners radikale Um­setzung der Funktion einer Vitrine wurde in der Klinkosch-Präsentation im Silber­hof der Jubiläumsausstellung 1898 nicht zuletzt im Vergleich mit dem direkt benachbarten Ausstellungsdisplay von V. Mayer’s Söhne sichtbar (Kat.-Nr. K 14). Dort erfolgte eine architektonische Über­höhung im historistischen Gewand, deren sich Wagner vollkommen entle­­digte und den Exponaten zu bestmöglicher Sichtbarkeit verhalf. Noch vor dem gebau­ten Werk gelang Wagner die vollständige Umsetzung eines auf Funktion, Material und Konstruktion basierenden Produkt­ designs neuer Formensprache.


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Gustav Siegel, Armlehnsessel, 1900 Wien Museum, Inv.-Nr. 186.565

Hocker aus dem Kassensaal der Postsparkasse, 1906 Ernst Ploil, Wien

Armlehnsessel aus der Postsparkasse, 1906 Privatbesitz

Schreibfauteuil aus dem Effektenverkehrssaal des Postsparkassenzubaus, 1912/13 Wien, Österreichische Postsparkasse

Die Bugholzmöbelproduktion war der zweite verhältnismäßig neue Industriezweig, der aus ökonomischen und technischen Gründen Wagners Interesse erweckte. Kurz vor der Jahrhundertwende hatten Wiener Architekten erstmals damit begonnen, Möbel in Zusammenarbeit mit der Bugholzindustrie zu entwickeln. Adolf Loos bezeichnete den Thonetsessel als das modernste Sitzmöbel und machte mit der Bestuhlung des Café Museum durch J. & J. Kohn 1899 den Auftakt – er verbes­ serte ein bestehendes Modell.44 Auf Grundlage eines 1900 entstandenen Armlehnsessels von Gustav Siegel entwarf Wagner 1902 für das Depeschenbüro der Zeitung Die Zeit (Kat.-Nr. 94) und 1906 für die Postsparkasse (Kat.-Nr. 99) neue Möbel, die bei Kohn und Thonet serienmäßig produziert und in deren Kataloge aufgenommen wurden.45 Für den Erweiterungsbau der Postsparkasse 1912 griff Wagner auf einen Werksentwurf von Thonet zurück, den er nur mehr farblich überarbeitete. Eine industrielle Produktion unter Mitwirkung von Künstlern und Künstlerinnen, die der Deutsche und Öster­ reichische Werkbund insbesondere in der Zwischenkriegszeit anstreben sollten, wurde von Wagner also schon früh vorbereitet und ideell unterstützt. So regte er für das Österreichische Museum für Kunst und Industrie 1899 an, Wettbewerbe mit Breitenwirkung auszuschreiben, und gab als Beispiel für eine lohnende Konkurrenz den Entwurf für ein Kaffeehausservice, bestehend aus Schale, Glas, Tasse und Löffel, an. Sollte dieses um zwei bis drei Gulden herstellbar sein, könnte das Museum damit einen Beitrag zur Massenerzeugung leisten. So wäre für die „Kunst im Gewerbe mehr gethan“, als wenn sie einen Luxusgegenstand herstellen ließe.46 Abgesehen von Wagners serien­ mäßig hergestellten Bugholzmöbeln hätten womöglich auch seine Metallmöbel das Potenzial zur Massenerzeugung gehabt. Loos, der von Wagners Messingbett auf der Jubiläumsausstellung wegen dessen feiner Profilierung begeistert war, rief aus:

„Mit diesem Bett kann man die Concurrenz der ganzen Welt aufnehmen. Kapitalisten heraus! Gründet eine Fabrik mit der Bestimmung, dieses Bett in Hunderttausenden von Exemplaren zu verbreiten.“47

Secession und Kunsthandwerk Am anderen Ende von Wagners Skala der Alltagsgegenstände stand um 1900 das kunsthandwerklich geschaffene Produkt als Teil eines Gesamtkunstwerks. Hauptanliegen der Secessionisten war das vollkommene Durchdringen des Lebens mit Kunst. In ihren Ausstellungen stellten sie die wiedergewonnene Verbindung von Kunst und Handwerk in der Moderne, die Eben­bürtigkeit von Kunst und Kunsthandwerk exemplarisch vor. Das Atelier in der Ersten Villa in Hütteldorf gestaltete Wagner zu einer Art Weiheraum, in dem sich indi­viduell interpretierte Funktionalität mit höchstem Luxus verband (Kat.Nr. 53). Auf der achten Ausstellung der Secession, 1900, die sich dem Kunstgewerbe widmete und zu der Charles Robert Ashbee, die Mackintosh-Gruppe und Henry van de Velde geladen waren, zeigte Wagner den heute verschollenen Zeitschriftenschrank aus seinem Atelier. So dekorativ dieser Schrank auf den ersten Blick auch schien, war er dennoch programmatisch für Wagner: Auf den Türfüllungen aus Glas mit Hinterglasmalerei und unterlegter grüner Seide stand unterhalb der Lorbeersträucher in goldener Schrift „Kunst“, „Liebe“ und „Recht“. Die Türinnenseiten waren genauso prachtvoll (dunkellila mit Rosenzweigen, feinen Intarsien und Perlmutterstreifen) und nobilitierten die darin aufbewahrten Kunstzeitschriften. Mit dieser ausgesprochen exquisiten Konzeption stand Wagner mit der Ausstellung, die unter der Leitung von Josef Hoffmann nach Klarheit, Einfachheit und


Zeitschriftenschrank im Atelier der Ersten Villa Wagner, Fotografie 1899/1900 Privatbesitz

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Variante des Armlehnsessels für das Speisezimmer in der Wohnung Wagner, Köstlergasse 3 The Art Institute of Chicago, Geschenk von Mr. and Ms. Manfred Steinfeld, 1986.181

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Armlehnsessel für das Speisezimmer in der Wohnung Wagner, Köstlergasse 3 London, Victoria and Albert Museum, Inv.-Nr. W12-1982

Orthogonalität strebte, nicht ganz auf einer Linie, was auch bemängelt wurde.48 Für Wagner, der sich als Künstler stetig weiterentwickelte, ist bezeichnend, dass er die Hinterglas­ malerei der Außentüren 1910 gegen Graphiken austauschen ließ (Abb. S. 513).49 Individualität im Interieur war in der modernen Großstadt um 1900 nicht auf den Künstler beschränkt.50 Gerade in der Großstadt erkannte der Soziologe Georg Simmel die Schwierigkeit des Subjekts, die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen,51 wobei die Ästhetisierung des Lebensstils Abhilfe leiste. Wagner berücksichtigte in der künstlerischen Form darüber hinaus auch die alltäglichen Gewohnheiten des Verbrauchers. Die Anordnung der Möbel im Wartesalon des Hofpavillons war auf das „Gehabe“ des Monarchen abgestimmt.52 Der Prunksessel für Karl Lueger wurde an die Bewegungen des Bürgermeisters beim Niedersetzen, Aufstehen und während des Speisens angepasst, sodass das Möbel „in den gestellten menschlichen Anforderungen und Empfindungen seine Basis“ hat (vgl. Kat.-Nr. K 20).53 Auch Loos schien bereit zu sein, einen ihm im Stil nicht entsprechenden Sessel zu akzeptieren, sofern sein Besitzer sich darauf wohlfühlte. „Sind die Sessel im Wagner-Zimmer schön? Für mich nicht, weil ich schlecht darauf sitze. […] Es ist aber leicht möglich, daß Otto Wagner sich auf diesen Sesseln sehr gut ausruhen kann. Für sein Schlaf­zimmer […] sind sie daher, vorausgesetzt, daß meine Annahme zutrifft, schön.“54 Wagners Prämisse, die Kunstform aus der Konstruktion zu entwickeln, ist auch im Armlehnsessel für das Speise­ zimmer seines „Absteigquartiers“ erkennbar, den er – womöglich gerade wegen seiner konstruktiven Qualität – programmatisch als Initiale für den Beitrag Die Kunst im Gewerbe in Ver Sacrum verwendet (Kat.-Nr. K 30.7). Der Armlehnsessel ist in einer konven­tionellen und der schließlich ausgefallenen Konstruktion

Zuckerschale, Fotografie 1901 Privatbesitz

überliefert, die die Beine auf den innen liegenden Sitzrahmen montiert. Wagners Interesse galt dem neuen, konstruktiv motivierten Ornament der Perlmutter­scheiben55 wie auch dem struktiven Moment des Möbels: Der Konstruktions­änderung verdankt der Armlehnsessel die ausgestellten Beine, die eine „architektonische“ Variante zu den internationalen, vegetabilen Art-nouveau-Formen sind. Wagner sympathisierte um 1900 zwar mit secessonistischen Ornamenten, bewahrte dabei aber eine tektonische Grundhaltung. Bei einem Teeservice unterschied er den Gefäßkörper von den Griffen und Füßen, wodurch die funktionalen Bestandteile klar voneinander abgesetzt und dies zu einem künstlerischen Motiv wurde. Eine Schreibtischgarnitur mit durchbrochenem Dekor und Lapislazuli, der struktive Momente fehlen, findet in der 1914 neu aufgelegten Die Baukunst unserer Zeit keine Wiederaufnahme mehr (vgl. Kat.-Nr. K 18, Abb. S. 493). Vielleicht gilt hier Wagners Hinweis: „Ich gehöre zu jenen, die sich immer dessen schämen, was sie früher gemacht haben, und die einen ewigen Katzenjammer haben.“56 Wagner ebnete in Theorie und Praxis den Weg von der historistischen Kunstindustrie zum modernen Kunsthandwerk. Seine wiederholt vorgelegte und eingemahnte Betonung des struktiven und logischen Aufbaus von Gebrauchsgegenständen trug zur Ausformung des Wiener Stils der Moderne bei, der architektonischer geprägt war als im internationalen Vergleich. Die jüngere Generation, nicht zuletzt die Wiener Werkstätte, baute diesen Stil weiter aus. Dem „Vater der Moderne“ ist weit mehr als moderne Architektur zuzuschreiben. In diesem Sinne resümierte Hermann Bahr 1913: „Ohne Otto Wagner hätten wir keine Secession, keine Klimtgruppe, kein Wiener Kunstgewerbe, keinen Alfred Roller und keinen Adolf Loos. Denn Otto Wagner stellte die Atmosphäre erst her, in der dies alles erst möglich wurde.“57


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Wagner 1896, S. 54. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik: Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1-2, Frankfurt/Main 1860–1862. Jakob von Falke: Ueber Kunstgewerbe, Wien 1860; ders.: Geschichte des modernen Geschmacks, Leipzig 1866; ders.: Die Kunstindustrie der Gegenwart, Leipzig 1868. Wagner 1899b. Grundlegend zu Wagner als Innenarchitekt: Asenbaum/Haiko/ Lachmayer/Zettl 1984. Christian Witt-Dörring: Individuality in Viennese Modern Design around 1900. Pro and Con, in: Jill Lloyd, Christian Witt-Dörring (Hg.): Birth of the modern. Style and identity in Vienna, Ausst.-Kat., New York 2011, S. 59-85, hier besonders S. 66-71. Wagner 1896, S. 96. Ebenda, S. 94-95. Ebenda, S. 26. Christian Peter Wilhelm Beuth: Vorwort, in: Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker, hg. von der Königl. Technischen Deputation für Gewerbe, Erster Teil, 1821–1830, Berlin, S. VI. Gabriele Koller: Die Kunstgewerbe­ schule des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Wien 1899–1905, Diss. Universität Wien, Typoskript, Wien 1983, S. 1. Barbara Mundt: Architekten als Designer. Beispiele in Berlin, München 1998, S. 8. Wagner 1898a, S. 113. Wagner 1896, S. 96. Wagner 1898a, S. 113. In der dritten Auflage (Wagner 1902a) ist der Begriff Kunstindustrie getilgt. Impulse zur Reform des Kunst­ gewerbes gingen auch von der staatlichen Bürokratie aus. Vgl. Gottfried Fliedl: Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918, Wien 1986, S. 136-157. Ebenda, S. 137; Kathrin Pokorny-Nagel: Zur Gründungsgeschichte des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, in: Peter Noever (Hg.): Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für angewandte Kunst in Wien, Wien 2000, S. 52-89, hier S. 85. Fliedl 1986 (wie Anm. 16), S. 142.

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Jahresbericht des k. k. österr. Museums für Kunst und Industrie für das Jahr 1898, Wien 1899, S. 2. Graf 1985, S. 364. Ebenda, S. 363. Pokorny-Nagel 2000 (wie Anm. 17), S. 88. Zit. nach Graf 1985, S. 364. Hugo Haberfeld: Die Winterausstellung im Oesterreichischen Museum, in: Die Zeit, 29.11.1902, S. 1-2, hier S. 2. Vgl. Graf 1985, S. 364. Wagner 1902a, S. 166-167. Ebenda, S. 168. Berta Zuckerkandl: Kunstgewerbe II (November 1902), in: Zeitkunst. Wien 1901–1907, Wien 1908, S. 7-13, hier S. 9. Wagner 1899b, S. 25-26. Ebenda, S. 29. „Nur durch die Kunst, ihre Pflege und Anerkennung wird es möglich sein, dem Gewerbe den erhaltenden Lebenshauch einzuflössen […].“ Ebenda, S. 29-30. Wagner 1902a, S. 181-182. Wagner 1902a, S. 25 (Der Architekt). Hierzu zählte Wagner auch die Zuziehung eines Künstlerkomitees für Ankäufe, Ausstellungen, Konkurrenzen und die Zeitschrift des Museums für Kunst und Industrie. Graf 1985, S. 365. Wagner 1898a, S. 82. Siehe: Katalog der kunstgewerblichen Arbeiten in dieser Publikation. Lux 1914, S. 67-68. Adolf Loos: Wiener JubiläumsAusstellung. Die Interieurs in der Rotunde, in: NFP, 12.06.1898, S. 16. Adolf Loos: Otto Wagner, in: Reichspost, Nr. 318, 13.07.1911, S. 1-2, hier S. 2. Wagner 1896, S. 37. Zu englischen und französischen ornamentfreien Metallmöbeln siehe: Georg Himmelheber: Möbel aus Eisen. Geschichte, Formen, Techniken, München 1996, S. 51-53. Graf 1985, S. 284. Wagner 1914, S. 135. Siehe den Beitrag von Andreas Nierhaus in dieser Publikation. Das Interieur 4 (1903), Abb. S. 16; Burkhardt Rukschcio, Roland Schachel: Adolf Loos. Leben und Werk, Salzburg 1982, S. 420-421. Ebenda, S. 418-420; Eva B. Ottillinger: Adolf Loos. Wohnkonzepte und Möbelentwürfe, Salzburg 1994, S. 127. Witt-Dörring 1991 (wie Anm. 5). Zit. nach Graf 1985, S. 365. Adolf Loos: Wiener JubiläumsAusstellung. Der neue Styl und die Bronze-Industrie, in: NFP, 29.05.1898, S. 18.

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Kritik zum Luxus formuliert sogar Hevesi, siehe: Ludwig Hevesi: Aus der Sezession (10.11.1900), in: Hevesi 1906, S. 282-288, hier S. 288. 49 Ausst.-Kat. 1985, Kat.-Nr. 13/15/40. Bei einem Aufsatzschrank wurden die Türfüllungen aus japanischen Einlegearbeiten ebenso erst sekundär montiert. WM, Inv.-Nr. 96.283. 50 Lloyd/Witt-Dörring 2011 (wie Anm. 5). 51 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt, Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1995. 52 Der Hofpavillon der Wiener Stadtbahn, in: Ver Sacrum 2 (1899) 8, S. 6. 53 Das Geschenk des Rathauskeller­ wirtes Dombacher an den Bürgermeister, in: Deutsches Volksblatt, 23.10.1904, S. 43. 54 Adolf Loos: Wiener JubiläumsAusstellung. Das Sitzmöbel, in: NFP, 19.06.1898, S. 16. 55 Haiko 1984, S. 36. 56 Ilka Horovitz-Barnay: Bei Otto Wagner, in: NWJ, 28.05.1905, S. 11-12, hier S. 12. 57 Hermann Bahr: Otto Wagner, in: Das Hermann-Bahr-Buch, Berlin 1913, S. 154.

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Die Textilien des Architekten Angela Völker

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In Otto Wagners Interieurs und Ausstellungsgestaltungen neh­men Textilien eine bedeutende Rolle ein, die bislang nicht näher untersucht wurde. In seinen theoretischen Erwägungen berück­sichtigt er Textilien nur am Rande und ohne auf ihre Vielfalt näher einzugehen. So rät er in der um eine längere Passage zu Interieur und Wohnen ergänzten dritten Auflage von Moderne Architektur vom Wandteppich ab, da dieser „schwer zu reinigen und schwer zu konservieren“ sei und Gerüche „mit Gier“ auf­ nehme.1 Der Teppich spielt für ihn „unter den textilen Erzeugnissen […] eine Hauptrolle“ und ermögliche „eine vollkommene Farbstimmung des Raumes“.2 Wagner verwirft unruhige und derbe Linienführungen oder Formen, „die dem Auge plastisch erscheinen und dadurch Unsicherheit und Unbehagen bei Benützung desselben erzeugen“.3 „Ein Liniament hat sich höchstens darauf zu beschränken, entweder ‚Wegführend‘ oder ‚Leitend‘ zu wirken, oder den Teppichrand stärker zu markieren, um diesbezüglich die Aufmerksamkeit des Teppichbenützenden zu erregen. Ein reiches en-plein-Ornament wird immer mit der Installierung des Raumes kollidieren.“4 Aus diesem Grund sei der orientalische Teppich für das zeitgenössische Interieur ungeeignet. Dass Wagner Textilien grundsätzlich als Gestaltungselemente für seine Architektur schätzt, zeigt seine lebenslange Beschäftigung mit diesem Material. Seine Auseinandersetzung mit Geweben und Teppichen, bestickten Behängen oder Wandbespannungen verläuft ähnlich wie bei den Möbeln: Bedient er sich anfangs der im Handel verfügbaren Ware, so beginnt er ab der Jahrhundertwende selbst Textilien zu entwerfen und lässt Stoffe und Teppiche im Wiener Traditionshaus Backhausen & Söhne produzieren. Der vorliegende Beitrag beleuchtet den Stellenwert der textilen Ausstattungen in Wagners Werk und zeichnet seine künstlerischen Stationen auf diesem Feld nach.

Festdekorationen und frühe Interieurs Wagners frühestes textiles Werk war das „Prachtzelt“ für den Festzug anlässlich der Silberhochzeit des Kaiserpaares, der am 27. April 1879 auf der Ringstraße stattfand (Kat.-Nr. 33). „Das Zelt mit seinen Wänden, welche mit rothem Tuch umhüllte Seile armirten, mit seiner in Bronce-Ton gehaltenen Stickerei, seinem

Baldachin mit den Prachtdecken, […] den echten aus dem ersten, zweiten und dritten Türkenkriege stammenden Trophäen, […] den in den lebensvollsten Farben prangenden, die vier Jahreszeiten darstellenden Gobelins machte einen pompösen Eindruck. […] Die Brüstungen und die Außenwände des Zeltes gegen den Festplatz waren mit Prachtdecken geschmückt.“5 Wagner bezog sich dabei auf die barocke Tradition ephemerer Dekorationen zu Festen, Veranstaltungen, Ein- und Umzügen und bemühte den traditionellen Kanon kostbarer Textilien: Festzelt, Draperien, Stickereien, Tapisserien und Teppiche. Die großen Tapisserien stammten aus den kaiserlichen Sam­m-­ lungen. Am Boden lagen orientalische Knüpfteppiche, ein nordwestpersischer sogenannter Sennehteppich in der Mitte. Podeste und kleine Tische schmückten gemusterte und bestickte Decken, dazwischen große Vasen mit Zimmerpflanzen – ein Interieur wie das Atelier Hans Makarts, der die künstlerische Leitung des Festzugs innehatte. In der Tradition ephemerer Architektur hatte Wagner einen Salon des späteren 19. Jahrhunderts in ein Zelt transponiert. Ähnliche Stickereien wie am Festzelt von 1879 ver­ wendete Wagner beim Baldachin für den Einzug der Prinzessin Stephanie von Belgien im Mai 1881 in Wien (Kat.-Nr. 40). Auf dem Präsentationsblatt ist links im Vordergrund eine schmale, üppig bestickte Stoffbahn zu sehen, die von fliegenden Putti in der Luft aufgespannt wird. Die im Barockstil des 19. Jahrhunderts gehaltene Stickerei aus Metallfäden in Sprengtechnik zeigt den habsburgischen Doppeladler, darunter die Wappen der Brautleute. Durch die Gegenüberstellung mit einer Ehrensäule wird die pilasterartige Stoffbahn zum Architekturelement. Von den durch die Veröffentlichung in den beiden ersten Bänden von Einige Skizzen bekannten, zwischen 1886 und 1889 entworfenen Interieurs ist für die Wohnung Heckscher (Kat.-Nr. 44) davon auszugehen, dass die verwendeten Textilien nicht von Wagner selbst entworfen wurden. Zudem musste er sicher auch Vorhandenes, wie den großen anatolischen Knüpfteppich im Speisezimmer, in die Ausstattung integrieren. In den von ihm bewohnten Räumen der Villa in Hütteldorf (Kat.Nr. 53) aber, und vor allem im Palais am Rennweg (Kat.-Nr. 58), wurden Teppiche und Wandbespannungen stilistisch aufeinander abgestimmt, wenn nicht sogar von Wagner selbst entworfen.6


Entwurf für die Wandbespannung im Schlafzimmer der Wohnung Köstlergasse 3, 1898 (Backhausen Dessin Nr. 3226) Backhausen Archiv, Inv.-Nr. BA 06415

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AusstellungsTextilien 1898 Einen besonderen Stellenwert nahmen Textilien bei der Vitrine des Silberwarenfabrikanten Josef Carl Klinkosch auf der Jubiläumsausstellung 1898 ein (Kat.-Nr. K 14). Die unterschiedlich großen Knüpfteppiche für die Podeste kamen von Backhausen & Söhne.7 Ein in quadratische Felder eingeteilter, an den Ecken zusammengeknöpfter goldgelber Volant verdeckte den Unter­ bau der Vitrine. Die Applikationsstickerei der Wiener Firma Carl Giani zeigte helle, weich geschwungene secessionistische Linien, über die Festons aus Rosenblüten an flatternden Schleifen gelegt waren – ein geläufiges Schmuckmotiv des Empire. Diese Kombination moderner und traditioneller Formen zeigt, dass Wagner mit der neuen Ornamentsprache noch wenig vertraut war – nicht selten überließ er dieses Feld Ateliermitarbeitern – allen voran Joseph Maria Olbrich, Alois Ludwig oder Josef Plečnik. Auf der Jubiläumsausstellung war Wagner außerdem mit Schlafzimmer und Bad eines Pied-à-terre vertreten, das er ein Jahr später in seine Wohnung in der Köstlergasse 3 einbauen sollte (Kat.-Nr. 82). Zumindest den Teppich für das Schlaf­zimmer ließ Wagner erneut von Backhausen produzieren.8 Die vegetabilen Applikationsstickereien der Wandbespannung, der Fenstervorhänge sowie der Bettdecke und des Velums über dem Bett sind im Dessinbuch des Backhausen Archivs nicht verzeichnet, obwohl sich dort kolorierte Reinzeichnungen er­halten haben. In Stil und Bildausschnitt zeigen die Zweige mit Blättern den Einfluss Japans, der um 1900 in Wien eine wichtige Rolle spielte.9 Sowohl in den Farben als auch formal herrschte hier eine stimulierende Freiheit ohne secessionistische oder

historistische Spuren. Diese Unabhängigkeit bestimmte auch das Bad mit seiner originellen gläsernen Badewanne und dem violett-weiß gestreiften Frotteestoff. Im Vergleich dazu erscheint die secessionistische Ornamentsprache der Textilien des Speisezimmers, die einen Teppich, Vorhänge und die bodenlange Tischdecke umfassten, kleinteilig und banal. Die Wände bedeckte weiß-gelb gestreifte Seide mit linearer „brauner Sammtapplication“,10 wobei ein Spiegel mit überreichem Akanthusrahmen über der Anrichte einen Gutteil des Wandbehangs verdeckte. Während Wagners Möbel für diesen Raum vollkommen neu waren und den Raum vereinheitlichten,11 waren die Textilien weniger innovativ. Ihre Wirkung ist weit entfernt von jenen Flächenmustern, die Koloman Moser 1899 in Ver Sacrum veröffentlichte.12 Auch bei der Präsentation des Projekts für den Neubau der Akademie der bildenden Künste in der Secession 1898 (Kat.-Nr. 79) spielten Textilien eine zentrale Rolle. Der Sockel für das Modell der Ehrenhalle und die Staffelei für sieben Zeichnungen wurden mit textilen Verkleidungen aus „goldgelber“ Seide und secessionistischen Motiven in Applikationsstickerei versehen (Abb. S. 46). Boden und Wände des „gelben Saales“ waren außerdem mit einem motivisch entsprechenden Teppich und Behängen bestückt.13 Trotz der „modernen“ Motive waren die Stickereien dem Dekorgedanken des Historismus verpflichtet, wie die Unverbindlichkeit der Motive zusammen mit dem kostbaren Material und der handwerklich perfekten Ausführung zeigt. Das Hauptaugenmerk lag auf der Wirkung der kostbaren glänzenden Seide und auf der aufwen­digen Herstellung, die das Publikum beeindrucken und den Wert sowie das künstle­ rische Niveau der Zeichnungen Wagners unterstreichen sollten.


Entwürfe für ein Vorhangensemble im Atelier der Villa in Hütteldorf, um 1899 Wien Museum, Inv.-Nr. 96.003/4

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Für Ludwig Hevesi war die Präsentation des Akademie-Projektes „förmlich die great attraction“ und „in geradezu sehenswürdiger Weise inszeniert. Das Modell allein […] war ein Kunstwerk […] und der ‚sezessionistische‘ Raum, in dem es aufgestellt war, ein Muster geschmackvoller Raum­ausstattung. Jawohl, er versteht sich […] auf die – von ihm auch schriftlich geforderte – Kunst, das Publikum zur Betrachtung architektonischer Dinge zu zwingen.“14

Der Hofpavillon in Hietzing Höhepunkt der Präsentation der Kommission für Verkehrs­ anlagen auf der Jubiläumsausstellung 1898 war ein Wandpaneel für den Hofpavillon der Stadtbahn mit Carl Molls „Blick auf Wien“. Über dem Gemälde deutete ein gestickter Fries aus Lorbeerkränzen und habsburg-lothringischem Hauswappen die geplante textile Ausstattung des oktogonalen Hauptraumes des Pavillons an. Wie Querschnittzeichnungen vom April 1898 zeigen, war die gesamte Innenausstattung in Empireformen geplant.15 Im Februar oder März 1899, wenige Monate vor der Eröffnung des Pavillons, kam es aus unbekannten Gründen zu einer Planänderung.16 Erst im April 1899 wurde Backhausen mit der Ausführung der Stoffe und Teppiche beauftragt,17 die Applikationsstickerei stammt von Rudolph Chwalla & Sohn. Im Hauptraum des Hofwartesalons (Abb. S. 177), der gleich nach der Fertigstellung in Ver Sacrum publiziert wurde,18 dominiert nun der von Alois Ludwig entworfene Jugendstildekor die textile Ausstattung.19 Den riesigen, dem Grundriss entsprechend achteckigen Knüpfteppich schmücken lange gewellte Linien und stilisierte Philodendronblätter mit ihren Luftwurzeln, die sich in den Applikationsstickereien aus Samt auf gestreiftem Grundstoff in den Wandpaneelen und dem Fries wiederholen, wo die Blätter mit dem kaiserlichen Monogramm alternieren. Das Musterzentrum des Teppichs liegt exzentrisch vor der Wand mit dem Gemälde Carl Molls, dem Haupteingang gegenüber. Hier standen ein Tisch mit Sofa, zwei Armlehnsessel und vier Sessel, die ebenfalls mit dem Philodendrondekor in Applikationsstickerei versehen waren und heute verschollen sind. Im Kontrast zur imperial konnotierten Farbigkeit des Hauptraumes – Mahagoni, Rottöne, Gold – herrschen im Warteraum der Suite das Grün des Streifenstoffes, das Silber des in Applikationsstickerei ausgeführten Chrysanthemenfrieses und dunkelbraunes Holz vor. Das florale Motiv wiederholt sich auf dem läuferartigen Knüpfteppich und den bestickten Rückenlehnen der Sessel.

Wien und Paris 1900 Wagners Hinwendung zum „modernen“, zeitgemäßen Stil fand in seinem 1899/1900 ausgebauten Atelier in der Villa in Hütteldorf nicht zuletzt durch die textile Ausstattung einen originellen und eigenwilligen Ausdruck (Kat.-Nr. 53). Als spektakulärstes Element können die großen, von Adolf Böhm entworfenen farbigen

Glasfenster gelten, die eine sommerliche Landschaft mit einem Fries aus rotem Herbstlaub darstellen.20 Wagner hatte für diesen Raum ursprünglich Behänge für acht Pilaster, das große Fenster und die beiden kleinen Türen an der Stirnwand sowie für einen durchgehenden Behang – mit reduziertem Dekor – für die fensterlose Rückwand entworfen.21 Die hellgrundigen, mit blaugrüner Stickerei aus Schnüren und Posamenterie sowie Applikationsstickerei ver­zierten Bahnen wurden vermutlich nie ausgeführt. Wahrscheinlich veränderte der Einbau der Fenster das textile Programm und Wagner konzipierte wohl zusammen mit Adolf Böhm neue Behänge, die die unteren Fensterabschnitte mit ihrem glühend roten Herbstlaub fortsetzten. Die auf helles Grundgewebe applizierten Blattformen bildeten in der Mitte der Behänge einen Fries aus dichten, helleren und dunklen Formen, der um den gesamten Raum lief. Eine schmale Posamentenborte fungierte jeweils als äußerer Rahmen. Die Bezugstoffe der Sessellehnen im Atelier waren ebenfalls mit locker applizierten Blättern bestickt und fügten sich so in das üppige Gesamtkonzept. Es gab Behänge für die beiden Pilaster neben dem Eingang und für vier Pilaster der Fensterseite sowie einen durchgehenden Behang auf der fensterlosen Längswand unterhalb der Pilaster. Davor stand in der Mitte ein großer, von Wagner entworfener


Patronenzeichnung für Teppiche in den Direktionsräumen der Postsparkasse, 1906 (Backhausen Dessin Nr. 6044) Backhausen Archiv, Inv.-Nr. BA 06407

Zeitschriftenschrank mit Glasmalereien auf den vier Türen, die den Herbstlaubdekor der Textilien aufnahmen.22 Das große Fenster an der Stirnseite blieb ohne Glasmalerei und der Behang konnte zur Seite gezogen werden, um die optimale natürliche Belichtung des davor platzierten Zeichentischs zu gewährleisten, auch über den beiden schmalen Türen war je ein Vorhang montiert.23 Der Sockel des im Atelier aufgestellten Modells der Akademie wurde mit nur einem neuen Behang an der Fassadenseite versehen. Die neuen Stickereien im Atelier bezeugen – ähnlich wie jene in der Köstlergasse – Wagners zeitweilige stilistische Freiheit und Unabhängigkeit von temporären Kunstbewegungen. Für die Gestaltung zweier österreichischer Abteilungen auf der Weltausstellung in Paris kehrte Wagner zum Stil seiner Ausstattungsentwürfe aus der Zeit vor 1900 zurück.24 Bei der Präsentation des Ingenieurwesens (Kat.-Nr. 87) waren die Stellwände der Kojen mit gestreiftem Stoff bezogen, den oberen Abschluss bildete ein textiler Blumenfries. Den Eingang zu jeder Koje betonten hohe Rahmen mit Supraporten, die, dem Blumenfries ähnlich, den Namen der Abteilung trugen. In der Ausstellung der k. k. Hofgartendirektion (Kat.Nr. 88) bedeckte ein Knüpfteppich mit secessionistischen Linien den Fußboden des Ausstellungsstands. Die Stellwände verkleidete Wagner wieder mit „reich bestickte[n] Seidendecken“,25 auf die Vogelperspektiven der kaiserlichen Gärten montiert waren. Die Farbwirkung zielte auf das Grün der Pflanzen und das „schöne leuchtende Roth, wie es manche seltene Rhododendren und einige edle Rosenarten aufweisen“, als „durchgehende Farbe des ganzen Objekts“.26 Dem Jugendstil verpflichtete weiche Linien bildeten jetzt eine abstrakte Folie für die Gartenansichten. Stickereien und Teppich waren großzügiger und klarer gestaltet als auf den Ausstellungen zwei Jahre zuvor. Die Aquarelle hin­gen wiederum auf einer Dekoration, die sie zu überspielen drohte und die trotz secessionistischer Motive in ihrer plas­tischen Üppigkeit weiterhin dem Histo­ rismus verpflichtet war. Die Ausstellungsarchitektur zielte auch hier auf die Materialwirkung und kunstvolle Herstellungsweise der Textilien, die den Betrachter beeindrucken und den aus­gestellten Objekten einen edlen Rahmen verleihen sollten.

Die Postsparkasse Der Ausstattung der Räume der Postsparkasse, deren Bau 1904 begonnen wurde (Kat.-Nr. 99), legte Wagner ein Farb- und Materialschema zugrunde, das die hierarchische Stellung der Mitarbeiter widerspiegelte. Textilien fungierten hier als farbiges Leitsystem, wie es Wagner zur Funktion des Teppichs formuliert hatte. Des Weiteren „ermöglicht der moderne Teppich eine vollkommene Farbstimmung des Raumes“.27 Sämtliche Textilentwürfe kamen aus Wagners Atelier, die Produktion übernahm Backhausen & Söhne. Das Farbschema umfasste drei Farben: Rot, Grün und Grau. Das für alle Teppiche identische Muster bestand aus feinen, hellen, konzentrischen Linien, die im Teppichfeld ein Rechteck bildeten. An den Längsseiten schlossen Muster

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aus kleineren und größeren hellen Rechtecken den Teppich nach außen ab.28 In den Räumen des Direktors und Vizedirektors lagen rote Teppiche, die Wände waren oberhalb der Holzpaneele mit fein gestreifter Seide in Rot-Weiß tapeziert,29 die Möbel mit Rindsleder oder Samt bezogen. In den Räumen der Vorstände der anderen Bereiche und im Sitzungssaal herrschte Grau für Teppiche und Tapezierung vor und in den Warteräumen und Sprechzimmern, die zwischen den „roten“ Büros lagen, waren graue und grüne Teppiche ausgelegt, die Wände grau- oder grün-weiß tapeziert.30 Im Dessinbuch Backhausens sind einfache, schmal gestreifte Läufer für die Gänge der Postsparkasse verzeichnet, außerdem Läufer mit reduziertem Muster wie das der großen Teppiche in Rot für die Gänge der Direktionsabteilung.31 Die minimalistischen Muster auf den Teppichen der Postsparkasse zeigen eine grundsätzliche Wende und sind wiederum Ausweis dafür, dass Wagner ein Architekt war, „determined to keep abreast of every development in his field and to remain at the forefront of new trends“.32 Sie machen deutlich, dass er bei einer Ornamentreduktion angelangt war, die das Ornament in den Dienst der Funktion stellte. Während Hoffmann und Moser mit ihren „Quadratln“ Verzierungen schafften, sind Wagners Muster in dieser Phase eine formale Facette in seinem Repertoire für den „Nutzstil“, die ihn als den modernen Menschen schlechthin ausweisen sollten.


Patronenzeichnung für den Teppich im Damenzimmer in der Wohnung Döblergasse 4, 1912 (Backhausen Dessin Nr. 8530) Backhausen Archiv, Inv.-Nr. BA 06401

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Späte Entwürfe Für seine letzte Wohnung in der Döblergasse (Kat.-Nr. 133) schöpfte Wagner 1912 aus seinem gesamten persönlichen Reservoir an Musterkonzeptionen und ordnete sie der Funktion des jeweiligen Raumes unter. Der Läufer im Vorzimmer mit kleinen gerasterten dunkleren Quadraten auf grauem Grund passt in das funktionalistisch ausgestattete Vorzimmer. Der einfarbig rote Teppich und die Wandbehänge aus rotem Plüsch im Salon dienten als Folie für das effektvolle gelbe Rosenmuster auf dunkelrostrotem Grund, mit dem die Polstermöbel bezogen waren.33 Der große dreiteilige Teppich im Speisezimmer zeigte ein strenges Linienmuster aus Hochrechtecken, in die stilisierte, gegengleich arrangierte Sonnenblumen so eingepasst waren, dass sie an den Längsseiten als dekorative Borte wirkten34 und den ähnlich arrangierten Sonnenblumen in geprägtem Leder auf den Sessel­­lehnen „antworteten“. Der dreiteilige Teppich im Schlafzimmer folgte jenem des Speisezimmerteppichs mit reduzierteren Musterelementen und entsprach in der Farbigkeit – Violett und Weiß – den Textilien des Bades. In der Wohnung gab es außerdem ein „Zimmer der Frau“, das exemplarisch Wagners Beschäftigung mit dem Bieder­meier widerspiegelte. Wandbespannung und Möbel­ bezüge waren identisch: grün-gelb-blau-weiße Streifen, auf denen ein hellrotes, streng stilisiertes Rosenmotiv – versetzt gereiht – hervorstach. Dasselbe Muster in größerem Maßstab

Reinzeichnung für den Teppich im Zimmer des Direktors im Erweiterungsbau der Postsparkasse, 1916 (Backhausen Dessin Nr. 9626) Backhausen Archiv, Inv.-Nr. BA 06399

zierte den in einer Bahn ohne Borte geknüpften Bodenbelag. Streifen mit Blumen entsprachen der verbreiteten Vorstellung vom Biedermeierstoffmuster. Als vergleichbares Dessin sei Eduard Josef Wimmer-Wisgrills „Ameise“ genannt, ein Muster, das er 1914 auf der Werkbundausstellung in Köln für den Raum der Wiener Werkstätte verwendete.35 Wagner schuf auch einen Entwurf für den Teppich in einem Herrenzimmer.36 Das Muster rezipiert ein authentisches Biedermeiermuster: einen Webteppich von 1822 aus der Linzer Wollenzeug-Manufaktur.37 Im Zuge der Erweiterung der Postsparkasse ließ Wagner zwei weitere Teppiche anfertigen:38 Zu dem früheren Teppich von 1914, olivgrün und mit einer konventionellen Borte aus länglichen und quadratischen Kartuschen, gibt es Wand­ behänge aus Baumwollstoff mit Stickereien, die das Borten­ muster aufnehmen.39 Der „Vindobona Knüpfer“ mit „Sonnenrosen“ aus dem Jahr 1916 lag im Zimmer des Direktors, in dem sich eine korrespondierende Wanddekoration aus Sonnenblumen erhalten hat. Die Reinzeichnung im Backhausen Archiv zeigt, wie aus einem gerasterten Rapportmuster von großen und kleinen Kreisen ein Dekor üppiger Sonnenblumen entsteht, die asymmetrisch aus der rechten Ecke herauswachsen. Wagner ist damit 1916 zum stilisierenden Musterzeichnen ohne secessio­nistischen Einfluss zurückgekehrt.40 Wagners letzter Entwurf für einen Knüpfteppich entstand 1916 für seine zweite, damals bereits an die Familie Erben verkaufte Villa in Hütteldorf.41 Der 400 × 720 oder 850 cm große, in drei Rottönen gehaltene „Knüpfer“ sollte im Speisezimmer liegen; es ist unbekannt, ob er ausgeführt wurde.42


Das streng geometrische Muster besteht aus fünf breiteren Streifen, in denen wiederum fünf durch zarte, helle Linien getrennte Streifen verlaufen, die sich an den Schmalseiten zu je drei Reihen hocheckiger Kästchen verdichten. Jedes zweite Kästchen besitzt die dunklere rote Farbe, die auch die unifarbene breitere Borte bestimmt. Die Farbe des Teppichs war auf den Farbklang der Wände und Möbel abgestimmt.43 Otto Wagners Beschäftigung mit Textilien geht von ihrer Funktion im Raum aus. Hier entfalten sie dank ihrer Materialität und ihres Dekors wichtige und positive Funktionen für den Benutzer: Sie dämpfen den Schall, bestimmen die Atmosphäre des Raumes, vereinheitlichen oder trennen seine Bestandteile und wirken wegführend; ihre Farbigkeit beeinflusst die Raumstimmung. Wagners Textilien haben stets eine „dienende“ Aufgabe, da sie verwendet werden, um Raumteile – wie Wände, Fußböden, Fenster – oder Möbel zu bekleiden und zu schmücken; sie sind der Gesamtwirkung verpflichtet, stechen nicht hervor und weisen ihren Schöpfer als modernen Menschen aus, der Dekore und Muster verwendet, die stets auf der Höhe der Zeit sein sollen, ja sogar modisch wirken können.

1 Wagner 1902a, S. 172. 2 Ebenda. 3 Ebenda, S. 172-173. 4 Wagner 1914, S. 104. 5 NFP, 28.04.1879, S. 4. 6 Bis heute gibt es dafür allerdings keinen Nachweis. 7 Backhausen Dessin Nr. 3225. Eine 1 : 1-Bleistiftzeichnung und eine kleine Skizze im Dessinbuch zeigen secessionistische Linien, stilisierte Rosenblüten und Blätter, friesartig aufgereiht, den Stickereimotiven ähnlich. Die Farbangabe „goldgelb“ lässt vermuten, dass auch das Grundgewebe diesen Farbton hatte. 8 Alle Reinzeichnungen mit Dessin Nr. 3226 und Datum 21.04.1898. Fotos von 1900 (vgl. Anm. 10) zeigen den Schlafzimmerteppich mit dem Blättermuster. 9 Asenbaum/Zettl 1984, S. 178; Peter Pantzer, Johannes Wieninger: Verborgene Impressionen. Hidden Impressions. Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien, 1990. 10 Ver Sacrum 3 (1900) 19, S. 295-296. 11 Haiko 1984, S. 35.

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Ver Sacrum 2 (1899) 4, bes. S. 4-20; Angela Völker: Textiles, Fashion and Theater Costumes, in: Christian Witt-Dörring (Hg.): Koloman Moser, Designing Modern Vienna 1897–1907, Ausst.-Kat. Neue Galerie New York, 2013, S. 208-212. Katalog der II. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs. 12. Nov.–Ende Dez. 1898, S. 27-28, Kat.-Nr. 117, 118; Ver Sacrum 1 (1898) 12, S. 23. Ludwig Hevesi: Otto Wagner, in: Zeitschrift für bildende Kunst 12 (1900), S. 13-16, 25-30, zit. nach dem Wiederabdruck in Hevesi 1906, S. 275. Vgl. Graf 1985, S. 220, Abb. 358. Ein Detailplan für den Stuck der großen Loggia ist „im März 1899“ beschriftet. Die Zeichnung zeigt außerdem eine Schabracke von einer früheren Planung (?) Vgl. Standl/ Wehdorn 2017, S. 70. Großer Teppich, Dessin Nr. 3608, Datum 19.04.1899; Wandbespannung „Atlas rayé“, Dessin Nr. 3610, Datum 27.04.1899; Teppich für die Suite, Dessin Nr. 3617, ohne Datum. Ver Sacrum 2 (1899) 8, S. 2-13. Robert Judson Clark: Olbrich and Vienna, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein 7 (1967), S. 27-51, hier S. 32.

20 Katalog der V. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs, 1900, S. 29, Kat.-Nr. 171: „Adolf Böhm, Dekorative Landschaft in Glasmosaik. Ausgeführt von J. Geyling’s Erben für das Atelier des Herrn O. W.“. Bis zum 25. Februar 1900 waren sie in der Secession zu sehen, von wo sie nach Hütteldorf transportiert und in der Villa eingebaut wurden. 21 Acht schmale Behänge (156 × 50 cm), ein großer Mittelvorhang (338 × 205 cm), zwei kleine Vorhänge (338 × 152 cm), ein Behang für die Rückwand (156 × 910 cm). WM, Inv.-Nr. 96.003/4. 22 Auch der Schrank wurde in der Secession gezeigt, vgl. Ludwig Hevesi: Aus der Sezession (10.11.1900), in: Hevesi 1906, S. 282-288, hier S. 288. 23 Vgl. Wagner 1914, Abb. S. 12. 24 Kunst und Kunsthandwerk III (1900), S. 184; V. S.: Die K. und K. Hofgartendirection auf der Paris Ausstellung, in: Ver Sacrum 3 (1900) 12, S. 189-195; Lux 1914, S. 95. 25 Ver Sacrum 3 (1900) 12, S. 192. 26 Ebenda. 27 Vgl. Anm. 2. In der Sammlung des MAK sind zwei Mustertafeln von Backhausen mit Teppich Dessin Nr. 4624 (1902) und 5003 (1903) erhalten, bei denen es sich möglicherweise um Vorläufer der Teppiche für die Postsparkasse handelt. 28 Backhausen Dessin Nr. 6044; vgl. Asenbaum/Zettl 1984, S. 234, Abb. 306; Christian Witt-Dörring: Otto Wagner Möbel. Ausst.-Kat. Postsparkasse Wien 1991, S. 18; ein Teppich als Leihgabe im MAK, Inv.-Nr. LHG 1491, 570 × 495 cm. 29 Backhausen Dessin Nr. 6034 (1906). Ursula Graf hat mich auf eine erst rezent von ihr entdeckte Reinzeichnung aufmerksam gemacht, die einen Läufer mit identischer Dessin Nr. dokumentiert, dessen Rot wohl der Farbton der Teppiche in den Räumen der Direktion war (Back­ hausen Archiv, Inv.-Nr. BA 06363), 110 × 88 cm.

30 Ein Teppich als Leihgabe im MAK, Inv.-Nr. LHG 1492, 560 × 470 cm. 31 Backhausen Dessin Nr. 6036 (1906). 32 Mallgrave 1993a, S. 307. 33 Backhausen Dessin Nr. 8430 (1912); 1912/13 auch in der Postsparkasse verwendet, vgl. Witt-Dörring 1991 (wie Anm. 28), S. 14-15, Kat.-Nr. 5. 34 Backhausen Dessin Nr. 8529 (1912), zweimal 450 × 260 cm, einmal 450 × 195 cm. 35 Angela Völker: Die Stoffe der Wiener Werkstätte 1910–1932, Wien 1990, S. 42-43. 36 Backhausen Dessin Nr. 8529 (1912). 37 Dora Heinz: Linzer Teppich. Zur Geschichte einer österreichischen Teppichfabrik der Biedermeierzeit, Linz 1955, Taf. IV, Kat.-Nr. 24, oder Abb. 17, Kat.-Nr. 26. 38 Für beide Teppiche, die sich heute als Leihgaben im MAK befinden, sind Zeichnungen im Backhausen Archiv erhalten. 39 Backhausen Dessin Nr. 9210, MAK Inv.-Nr. LHG 1494, 1495. 40 Backhausen Dessin Nr. 9626, MAK Inv.-Nr. LHG 1493. 41 Der Knüpfteppich ist im Dessinbuch Backhausens 1916 mit einer kleinen Skizze verzeichnet. Im Backhausen Archiv ist außerdem eine große Reinzeichnung in Bleistift mit Farbangaben sowie daneben einem Plan von Tisch und Stühlen erhalten, auf der es heißt: „Teppich für die Villa S. und Fl. Erben in Wien XIII.“ 42 Backhausen Dessin Nr. 9716, Abb. des Raumes in: Wagner 1914, S. 124, Teppich nicht zu erkennen. Die Teppichgröße wird im Dessinbuch mit 400 × 850 cm, auf der Reinzeichnung mit 400 × 720 cm angegeben. 43 Vgl. Asenbaum/Zettl 1984, S. 298-299.

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Das neue, moderne und zeitgemäße Ornament bei Otto Wagner Peter Haiko

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Die Zeit um 1900, schon von den Zeitgenossen selbst als Aufbruch, als „Moderne“ gefeiert, ist zugleich die Zeit der Krise des Ornaments. Sinn- und Zweckhaftigkeit des Ornaments werden nicht nur diskutiert, sondern schlichtweg von Einzelnen auch negiert. Denn: „Der böse Feind ist das Ornament.“1 Einigkeit herrscht darüber, wem die Schuld an der Krise anzulasten sei, nämlich der Maschine. „Gerade dadurch […], daß die Maschine sich abgab, Ornamente massenhaft herzustellen, ist in der ganzen Kunstindustrie eine Verbreitung von schlechtem Ornament eingetreten, durch die das künstle­ rische Niveau auf einen bedauerlichen Tiefstand gesenkt wor­den ist. […] Das millionenweis auf den Markt geworfene Ornament mußte unbedingt eine Entwertung mit sich bringen. [Das] Ornament wurde gemein“, so Hermann Muthesius 1908 in seinem Vortrag Wirtschaftsformen im Kunstgewerbe.2 Mit der Umwandlung des Kunstgewerbes zur Kunst­ industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Ornament für jeden verfügbar, es wurde allgemein. Die Produktion von Dekor für die Masse bedeutete das Ende der Exklusivität für den Einzelnen. Das Ornament verlor seine ursprünglich nobilitierende Funktion. Historisch war der Schmuckform die Aufgabe zugekommen, einen über den reinen Gebrauchswert hinausgehenden Wert anzuzeigen. Selbst individuell hatte das vorindustrielle Ornament den Gegenstand individualisiert und damit seine Aura des Einzigartigen gewährleistet. In einer Zeit, in der das Ornament als Instrument einer Statuskonkurrenz versagt, ist die Ornamentlosigkeit, wie sie Adolf Loos mit Radikalität und Rigorosität fordert, oder die Neudefinition des Ornaments, wie sie Otto Wagner entwickelt, die einzige Garantie für Exklusivität. Sowohl Loos als auch Wagner sind sich der ursprünglichen statusanzeigenden Funktion des Ornaments voll bewusst, genauso aber auch des dem Historismus innewohnenden Verlustes gerade dieser Funktion. Loos kritisiert 1898 in Die Potemkin’sche Stadt die zeitgenössische Neorenaissancearchitektur, vornehmlich jene der Wiener Ringstraße: „Was immer auch das renaissierte Italien an Herren-Palästen hervorgebracht hat, wurde geplündert, um ihrer Majestät der Plebs ein Neu-Wien vorzuzaubern, das nur von Leuten bewohnt werden könnte, die imstande wären, einen ganzen Palast vom Sockel bis zum Hauptgesims allein innezuhaben.“3 Loos schreibt damit weiter, was Wagner schon

wenige Jahre vorher ausformuliert hatte: „Das Schwindelhafte, von Lügen Strotzende, an Potemkin’sche Dörfer Erinnernde […] kann nicht genug getadelt werden. Keine Kunstepoche als die unsere hat solche Undinge aufzuweisen […].“4 Während Loos mit seiner Kritik auf die Ornamentlosigkeit seiner kommenden Architektur vorausweist, zieht Wagner mit seiner Formulierung einen radikalen Schlussstrich unter seine bisherige Architekturpraxis, die der Neorenaissance verpflichtet war. Beide Architekten sehen nun die Aufgabe der Kunst so, wie es Wagner bereits 1896 postulierte: „Die moderne Kunst muss uns Moderne, unser Können, unser Thun und Lassen durch von uns geschaffene Formen repräsentiren.“5 Von der „Modernen Architektur“, so auch der programmatische Titel von Wagners theoretischer Schrift, wird die „Anpassung an die herrschenden Zeitströmungen“ gefordert. Modern und zeitgemäß zu sein, bedeutet nun, das historische bzw. histo­ ristische Ornament abzulehnen wie Adolf Loos, oder aber es neu zu definieren, ihm eine funktionelle Bedeutung zu unter­ legen, wie dies Otto Wagner anstreben wird. Wagner, dessen Werke bis in die 1890er-Jahre durchaus dem Historismus zuzurechnen sind, setzt das Orna­ ment vorerst in einem traditionellen Sinn zur Nobilitierung und Hierarchisierung ein, bevor er beginnt, sich in der Theorie, wenig später auch in seiner architektonischen Praxis, vom Historismus zu lösen und eine sehr eigenständige Vorstellung von moderner Architektur zu entwickeln. 1889 präsentiert er seine bis dahin erbrachten Leistungen unter dem Titel Einige Scizzen, Projecte u. ausgeführte Bauwerke und formuliert im Vorwort erstmals seine Vision einer zukünftigen Architektur. Zu dieser Zeit steht für ihn fest: der „Zukunftsstil“ wird der „Nutzstil“ sein; ein Stil, der durch Fort- und Umbilden vergangener Kunstformen und unter Benützung aller Motive und Materialien entsteht und sich primär über die Konstruktion und den Zweck definiert. Um allen neuen Aufgaben gerecht zu werden, werde „der Architekt in seiner Doppelstellung als Künstler und Bautechniker den letzteren stark in den Vordergrund stellen müssen“.6 In diesem frühen Theoriekonzept postuliert Wagner die potenzielle Existenz eines (Nutz-)Stils ohne idealistische (ästhetische) Überhöhung und stellt damit seine baukünstlerischen Intentionen zur Disposition: „Ich finde dieses Durchdringen des Realismus nicht einmal bedauerlich für die Kunst, da ich


der Ansicht bin, daß für die bessere Hälfte des Architekten, für den Künstler in ihm, noch genug der Aufgaben sich darbieten werden, die seines Talentes und seiner Hand zur Lösung bedürfen.“ Nur als Addendum zum schon vorhandenen „Stil“ kann das Ideal, das Streben nach künstlerischer Selbstverwirklichung hinzukommen: „Legen wir ihm [dem Nutzstil] überdies noch das Streben nach innerer Wahrheit als Ideal in den Schoß, so wird er auch in ästhetischer Beziehung seine Berechtigung haben.“7 Fünf Jahre später nimmt Wagner in Moderne Architektur diese radikale Position deutlich zurück. Zu Konstruktion, Bedürfnis und Zweck tritt nun gleichberechtigt der sogenannte Idealismus. Als die „Urkeime des künstlerischen Lebens“ bilden sie vereint eine Art von Notwendigkeit beim Entstehen und Sein jedes Kunstwerkes. In diesem Sinne möchte er auch seinen von Gottfried Semper übernommenen Wahlspruch „Artis sola domina necessitas“ verstanden wissen. Der „Realismus“ mit seiner Konzentration auf die Zweckhaftigkeit wird erst durch den „Idealismus“ zur Kunst; erst dieser transformiert die Zweckform zur Kunstform. Indem er seine eigene, jetzt aber anderen in den Mund gelegte These, dass „die Utilität […] den Idealismus vollständig verdrängen“8 und die Menschheit ohne Kunst leben könne, verwirft, schafft Wagner seiner Existenz als Baukünstler wieder eine Basis. Von nun an gilt für ihn, „dass Utilität und Realismus vorangehen, um die Thaten vorzubereiten, welche die Kunst und der Idealismus auszuführen haben“.9 Mit der so gewonnenen Verbindung von Realismus und Idealismus legt Wagner den theoretischen Grundstein für seine moderne Baukunst. „Urzelle der Baukunst“ ist die Konstruktion, „denn ohne sie kann keine Kunstform entstehen“.10 Aufgabe der Kunst ist es, „Bestehendes zu idealisieren“.11 Wagner wird in seinem weiteren Schaffen immer versuchen, dem Betrachter mit der Kunstform eine Zweckform optisch zu vermitteln. Dabei macht er nicht unbedingt die tatsächliche Konstruktion transparent, sondern gibt nur vor, dies zu tun. Das Gestaltungsprinzip Wagners schlechthin ist die Visualisierung geglückter künstlerischer Lösungen jener Probleme, welche die „necessitas“ vorgibt. Jeder möglichen praktischen Anforderung versucht er zuvorzukommen und deren Berücksichtigung sowie ihre – vorweggenommene – Einlösung zu demonstrieren. Fast zwanghaft stellt Wagner die Bewältigung technisch-funktionaler Probleme, die oftmals gar nicht in den Ausschreibungen enthalten waren, in den Vordergrund. Kein Wort verschwendet er auf den baukünstlerischen Entwurf, ganze Passagen in den Projektbeschreibungen hingegen gelten den ökonomischen und technischen Vorteilen einzelner Überlegungen. Die Wandverkleidung aus Glasplatten in den öffentlichen Innenbereichen der Postsparkasse bietet er etwa wegen des unverwüstlichen Schutzes an, ist es doch „eine Erfahrungstatsache, dass die Wände derartiger Bauten von Bankdienern und Skontisten mit großer Vorliebe als Schreibflächen zur Aufstellung finanzieller Berechnungen verwendet werden“.12

Seine Studie Die Moderne im Kirchenbau (Kat.-Nr. 83) wiederum basiert vornehmlich auf ausführlichen Berechnungen, die nachweisen sollen, dass höchstens die Karlskirche mit einer Wagner-Kirche konkurrieren könne. Mühelos gelingt Wagner der Nachweis, einzig und allein der moderne, zeitgemäße Fischer von Erlach zu sein. Seine vorgeschlagene Bauausführung überrage die herangezogenen historistischen Vergleichsbeispiele „an Vornehmheit und Gediegenheit“ und sei überdies billiger und in der Erhaltung günstiger.13 Wohl nicht zufällig bemerkt ein Feuilletonist, dass Wagner bei einer Führung durch die neu erbaute Postsparkasse „von nichts anderem“ redete, „als von der sinnreichen Art, in der durch Konstruktion und Wahl des Materials den rein praktischen Bedürfnissen entgegengekommen worden sei“. Der Bericht­ erstatter fühlt sich „unwillkürlich an jene Kenner“ erinnert, „die mit dem Zeigefingerknöchel die Rückseite eines Bildes beklopfen und dabei sehr ernsthaft versichern: ‚auf Holz gemalt‘, was in ihren Augen offenbar den eigentlichen Wert ausmacht“.14 Nicht vermerkt wird freilich, welche Umstände einen Baukünstler am Beginn des 20. Jahrhunderts dazu zwingen, die materielle Basis seiner Kunst offenzulegen, und welches Ausmaß die Krise der Architektur als Kunst gerade um 1900 angenommen haben muss, dass man ausschließlich mit dem Hinweis auf Konstruktion, Materialität und Kosten-Nutzen-Rechnung die Ästhetik der Architektur legitimieren zu können glaubt. In einer Zeit, in der die Technik das Leben zunehmend beherrscht und die Kunst aus dem Leben immer mehr verdrängt, ist es das Ziel des Künstlers Wagner, den unlösbar gewordenen Widerspruch zwischen Leben und Kunst hintanzuhalten. Er trachtet danach, Technik und Kunst zu versöhnen und nicht, wie etwa die Künstler des „Jugendstils“, der realen Welt eine Scheinwelt gegenüberzustellen. Er versucht als Techniker, Handwerker und Ökonom, als Bauherr und Benützer zu denken und – alle Ansprüche erfüllend – seine Kunst zu verwirklichen. Im Speisezimmer seiner Wohnung in der Köstlergasse (Kat.-Nr. 82) realisiert Otto Wagner 1898 erstmals das scheinbar Geschichtslose, die zeitgemäße Moderne. Das historische Ornament ist aus dem Mobiliar verschwunden und damit auch dessen historische Aufgabe der Nobilitierung. Wagner entwirft einfache Möbel mit glatten Oberflächen, deren künstlerische Form vorgibt, allein Resultat der tischlermäßigen Konstruktion zu sein – so die Form der Kastenmöbel als Ergebnis der Stollen­ bauweise. Die forcierte Unterscheidung zwischen Rahmen und Füllung, die aufgesetzten Laden und Türen, die simple Verbindung von Zarge und Sesselbeinen – dies alles hat das wiederentdeckte Ideal der Einfachheit und der richtigen Handwerksfertigung unübersehbar zu signalisieren. Die künstlerische Absicht, Konstruktives sichtbar zu machen, auf die technische Fertigung unübersehbar hinzuweisen, wird Wagner weiterverfolgen, vor allem bei den Monumental­bauten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahr­ hunderts, der Postsparkasse (Kat.-Nr. 99) und der Kirche am Steinhof (Kat.-Nr. 93). Die Aluminiumkappen an den Hockern und Stehpulten im Kassensaal der Postsparkasse verdecken

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Otto Wagner: Postsparkasse, Mittelrisalit, Fotografie von Margherita Spiluttini, 1996 Architekturzentrum Wien

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die Schrauben tatsächlich und akzentuieren, was bisher versteckt werden sollte: die eigentliche Konstruktion, die jetzt für den Künstler zum konstitutiven Element seiner Kunst geworden ist. Die Fassaden der Postsparkasse wie auch der Kirche am Steinhof verkleidet der Architekt mit dünnen Steinplatten. Er greift damit eine schon in seiner Schrift Moderne Architektur 1896 festgehaltene Idee auf, dass sich seine „moderne Bauart“ von der „Bauart der Renaissance“ grundsätzlich unterscheide, indem sie nicht mehr Steinschicht über Steinschicht „mit gro­ßem Aufwande an Zeit und Geld“ häuft, sondern Platten „zur äusseren Bauverkleidung […] verwendet“. Das Resultat ist für Wagner ein in mehrfacher Hinsicht befriedigendes, denn „die monumentale Wirkung wird durch das edlere Material erhöht, die aufgewandten pecuniären Mittel sinken um Ungeheueres und die Herstellungszeit wird auf ein übliches normales und erwünschtes Mass herabgedrückt“.15 Auch die Befestigung der Platten mittels Bolzen ist hier bereits niedergeschrieben: „Die Befestigung dieser Platten würde durch Bronzeknöpfe (Rosetten) erfolgen.“16

Diesen früheren Überlegungen präzise entsprechend, verkleidet Wagner die Postsparkasse mit dünnen Marmorplatten und befestigt sie mit Bolzen, deren sichtbar belassene Köpfe mit poliertem Aluminium überzogen sind. Ging die frühe Wagner-Forschung und nicht zuletzt der Autor des vorliegenden Artikels selbst immer davon aus, dass diese Bolzenköpfe nur scheinhaft Funktionalität signalisieren, so musste diese Interpretation im Lichte der Bauuntersuchungen anlässlich der Generalsanierung am Beginn des 21. Jahrhunderts relativiert und revidiert werden. Dabei erwies sich, dass die Marmorplatten zwar – wie immer angenommen – voll im Mörtelbett liegen, die Bolzen selbst aber im Mauerwerk verankert sind und somit die Funktion der Fixierung der Platten übernehmen.17 Die mit Aluminium verkleideten Bolzenköpfe haben unzweifelhaft die Aufgabe, auf die im Sinne Wagners moderne Art der Fassadenverkleidung hinzuweisen, genauso wie die Aluminiumkappen an den Möbeln des Kassensaales die kon­ struktiv wichtigen Punkte markieren, ja „verewigen“ sollen. Diese architektonisch-ornamentale Suggestion hat sich erfüllt,


Otto Wagner: Postsparkasse, Kranzgesims, Fotografie von Margherita Spiluttini, 1996 Architekturzentrum Wien

denn die zeitgenössischen Rezipienten lesen die Fassadenkonzeption ganz den Intentionen Wagners gemäß und messen den Bolzen nur eine temporäre Funktionalität bei: „Bei der Raschheit, mit der zu bauen war, konnte man das Haften [der Marmorplatten] von selbst nicht abwarten, sondern nagelte die Platten auf.“18 Die Zeitgenossen sehen aber auch, dass bei der Wahl der sichtbar bleibenden Befestigungsform nicht nur technische Überlegungen für Wagner eine Rolle spielten: „Hat dieser Nagel in den ersten drei Wochen seine Aufgabe, jede Veränderung der verkleidenden Platten zu verhüten, erfüllt, so bleibt sein hübscher, weißglänzender Kopf noch immer ein höchst moderner und origineller Schmuck“ – ein Schmuck der Fassadenfläche „von der Notwendigkeit eingegeben“.19 Für alle Zukunft soll das Ökonomische, Zeitsparende der gewählten Konstruktion manifest bleiben. Jeder der etwa fünfzehntausend Nägel an den Fassaden der Postsparkasse bekommt damit Memorialcharakter. So sind denn auch die Nägel zumindest teilweise nach rein künstlerischen Überle­ gungen – dekorativ – über die Fassade verteilt; sie konzen­ trieren sich im optisch und städtebaulich wichtigen Mittelrisalit und heben damit diesen Bauteil gegenüber den flankierenden hervor, nobilitieren ihn. Da der Mittelrisalit „von der Ringstrasse aus sichtbar ist“, beabsichtigt Wagner, „die Plattenverkleidung an dieser Stelle reicher zu gestalten“, und plant in der ersten Entwurfsphase sogar, die Verankerungen hier „mit goldglänzenden Scheiben auszustatten“.20 Die letztendlich dekorative Funktion ist den zeitgenössischen Rezipienten durchaus bewusst: „Die dekorative Wirkung des Aluminiumknopfes wird wohl, so ganz nebenbei, auch nicht gleichgiltig gewesen sein“; ja man meint sogar, dass Wagner diese dekorative Wirkung „höher einschätzt als so mancher andere“.21 Dieser „neue“ Dekor unterscheidet sich intentional ganz und gar von der historistischen Zierform. Hatte das Ornament im Historismus die Aufgabe, die Zweckform zur Kunstform zu überhöhen, so gibt nun die Verzierung vor, ausschließlich Resultat der Konstruktion zu sein. Nicht die Konstruktion wird ornamental verziert, sondern die Verzierung wird konstruktiv motiviert: Denn wo man früher der Konstruktion einen ornamentalen Charakter gab, indem man zum Beispiel Träger oder Stützen als Säulen künstlerisch formte, so versucht man jetzt umgekehrt, dem besagten Dekor den Anschein von konstruk­tiven Bestandteilen zu verleihen. Durch die historistische Praxis, welche das Ornament (all-)gemein machte, war der Dekor in die Krise geraten. Nun wird die Schmuckform in den Dienst genommen, um das Schmucklose, das allein aus der konstruktiven Notwendigkeit Entstandene, „dekorativ“ zum Ausdruck zu bringen. Die Konstruktionsform ist bei Wagner aber nicht ident mit der Kunstform, sie gibt nur vor, es zu sein. Die Form definiert sich nach Wagner nicht als unabdingbares Resultat des Zweckes und der Konstruktion. Ganz im Gegenteil: Der wahre Baukünstler „wird jene Construction wählen, bestimmen, vervollkommnen oder erfinden, welche sich am natürlichsten in das von ihm zu schaffende Bild einzufügen im Stande ist und sich am besten zur werdenden Kunstform eignet“.22

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Ermöglicht wird dieser ästhetisierende Funktio­na­ lismus, diese sich funktionalistisch gebende Ästhetik, nur durch die Personalunion von Künstler und Ingenieur. Einer allein ist außerstande, die moderne Baukunst zu kreieren: Für Wagner spricht der Ingenieur „eine für die Menschheit unsympathische Sprache“, weil er „nicht auf die werdende Kunstform, sondern nur auf statische Berechnung und auf den Kostenpunkt Rücksicht“ nimmt. Der Architekt dafür bleibt unverständlich, „wenn er bei Schaffung der Kunstform nicht von der Construction ausgeht“.23 Die neue Form resultiert weder aus der Umwandlung des Konstrukteurs zum Künstler noch aus der Metamorphose des Künstlers zum Ingenieur; sie ist sichtbares Ergebnis der Künstler-Ich-Bildung aus den Ansprüchen des Architekten und den Forderungen des Ingenieurs. Nur wenn sich der Baukünstler den Aufgabenbereich des Ingenieurs aneignet, könne das „Nichtbefriedigende der Werke des Ingenieurs“ beseitigt werden. Die vorweggenommene Wunscherfüllung lautet: „Nachdem der Ingenieur selten als Künstler geboren, der Baukünstler in der Regel aber auch zum Ingenieur zu machen ist, kann es als sicher angenommen werden, dass es der Kunst, beziehungsweise dem Baukünstler mit der Zeit gelingen muss, seinen Einfluss auf das heute vom Ingenieur occupirte Gebiet zu erweitern, damit auch hier den berechtigten ästhetischen Forderungen Genüge geschehe.“24 Wagner versucht die im 19. Jahrhundert endgültig vollzogene Trennung zwischen Bauingenieur und Baukünstler rückgängig zu machen. Damals fielen dem Techniker in zunehmendem Maße alle wesentlichen neuen Bauaufgaben zu, und auch bei den traditionsgebundenen spielte er eine immer dominanter werdende Rolle. Der Architekt geriet zusehends ins Hintertreffen; er durfte bestenfalls die „architektonischen Details“ der neuen technischen Lösungen gestalten. Wagner konnte aus eigener Erfahrung schöpfen, kam ihm doch bei der Wiener Stadtbahn „nur“ die Aufgabe zu, die Steinmassen und Eisenkonstruktionen „erst in für das Auge gefällige, den ästhetischen Sinn nicht beleidigende Formen“ zu bringen.25 Sein Bestreben, dass nichts – „kein Bahnhof, kein Magazin,


Otto Wagner: Postsparkasse, Kassensaal, Stütze und Warmluftausbläser, Fotografien von Margherita Spiluttini, 1997 und 1996 Architekturzentrum Wien

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kein Viaductbogen, keine Brücke“ – vergeben werden darf, ohne im Atelier „künstlerisch und modern“ ausgestaltet worden zu sein, zeigt, wie sehr er für den Baukünstler schon verlorenes Terrain wieder für sich vereinnahmen will und kann. Jedoch Wagners Ansprüche sind weiter gesteckt. Er möchte den Architekten und vor allem sich selbst aus der undankbaren Rolle dessen, der nachträglich technische Lösungen ästhetisch zu nobilitieren hat, befreien und seinen angestammten Platz als Baukünstler zurückerobern. Denn nur der Baukünstler könne ja den „Urgedanken jeder Construction“ erfassen, der eben „nicht in der rechnungsmässigen Entwicklung, der sta­ tischen Berechnung zu suchen [ist], sondern in einer gewissen natürlichen Findigkeit, er ist etwas Erfundenes“, damit etwas Kreatives und zutiefst Künstlerisches.26 Nicht die Konstruktion bestimmt also die Form, vielmehr die vorgestellte Form, „das zu schaffende Bild“, bestimmt die Konstruktion. Demgemäß sucht der Architekt nach ästhetischen Gesichtspunkten jene Konstruktion, die seinen künstlerischen Vorstellungen entspricht. Voraussetzung dafür ist natürlich die Auseinander­ setzung des Baukünstlers mit der Bautechnik. Immer stärker gewinnt Wagners Architektur den Charakter einer architecture parlante. Diese soll jedem, und auch wirklich jedem, das Eingehen des Künstlers auf äußere

Notwendigkeiten suggerieren. Beim Portal des Hauses Döblergasse 4 etwa haben überdimensionierte und in überreicher Zahl angebrachte „Nieten“ dem Betrachter wie dem Benützer sozusagen „einzuhämmern“: aus reiflicher Überlegung wurde dieses Eingangstor gegen achtloses Beschädigen mit einem Beschlag aus Aluminiumblech geschützt. Um diese Bedachtnahme begreiflich zu machen, lässt Wagner das Befestigen des Blechs optisch und haptisch überartikuliert wirken. Damit bekommt das Portal einen insgesamt apotropäischen Charakter; es weist das Innere als fast panzerartig geschützt aus. So abgenutzt hätten die Armlehnen seiner Sessel im Sitzungssaal der Postsparkasse und im Depeschenbüro der Zeit (Kat.-Nr. 94) gar nie werden können, wie Wagner glaubt, sie mit Aluminiumstreifen schützen zu müssen. Dass diese Armierung bewusst und nachträglich angebracht ist, haben die sichtbar bleibenden Schrauben zu belegen. Die von Walter Benjamin für den Historismus als charakteristisch analysierten Etuis und Schonbezüge adaptiert Otto Wagner für die Bedürfnisse der Moderne. Alle stärker benützten Teile der Möbel wie auch der Architektur müssen geschützt werden – und sei es auch nur vorgeblich. Demgemäß erhalten weiße Sessel der Empfindlichkeit ihrer Farbe wegen an den Stellen möglicher ver­stärkter Abnützung (Rückenlehnen, Armlehnen, unterer Teil


der Beine) einen Anstrich in Schwarz. Nicht de facto ist damit ein effizienter Funktionalismus gewährleistet, aber symbolisch. Dieser symbolische Funktionalismus übernimmt nun die im Historismus dem traditionellen Ornament überantwortete Rolle der Nobilitierung. Armiert waren die Armlehnsessel der Postsparkasse nicht nur teurer, sie blieben auch dem exklusiven Direktionsbereich vorbehalten. Nicht mehr das anscheinend praktisch Nutzlose macht den handwerklichen Gegenstand zu einem Kunstobjekt, sondern die allein dem Prinzip des Praktischen, der Nützlichkeit scheinhaft gehorchende und daraus resultierende Konzeption. In vielen Fällen konzentriert sich Wagners metaphorischer Funktionalismus auf die Verkleidung: Fassaden werden mit Platten bedeckt, Sessel werden mit Bändern und Fußmanschetten armiert, Portale mit Blechen versehen. Dieses Bekleiden erhöht die Aura des Geschützten und definiert es als nicht wiederholbares, zu schützendes Kunstwerk. Wagners Entwürfen wohnt damit folgende Dialektik inne: Die Kunstform gibt vor, alleiniges Resultat der Zweckerfordernisse zu sein; die Zweckhaftigkeit ihrerseits definiert sich oft als Schutzfunktion, als sicheres Bewahren der Einzigartigkeit des Objektes als Kunstform. Das Kunstwerk erfordert seiner Unwiederbringlichkeit wegen eine besondere Hülle, eine einzigartige Verkleidung, die sich selbst und das zu Umhüllende als Kunstwerk ausweist. Immer wieder rückt Wagner „funktional“ Notwendiges überdeutlich ins Blickfeld. Wie im Kassensaal der Postsparkasse verliert auch im Speisezimmer seiner Wohnung in der Döblergasse (Kat.-Nr. 133) der Heizkörper die allein utilitäre Funktion. Er wird zu einem sich selbst genügenden Kunstwerk: in der Bank zu einer Skulptur, in der Wohnung zu einem äußerst subtil aufgeteilten Relief. Notwendiges behält nicht die Zweckform, sondern bekommt seine auratische Kunstform. Die Aura hat bei diesem Transformationsprozess die Aufgabe, den Gebrauchswert ästhetisch zu überhöhen, aus dem alltäglichen Gegenstand ein Kunst-(Kult-)Werk zu machen. Mit unüberbietbarer Konsequenz wird von Wagner jede künstlerische Form als ideale Zweckform deklariert, jede technische (Detail-)Form als „neue“ Kunstform transzendiert. Ein zeitgenössischer Kritiker formuliert dies bissig so: „Es gilt, ganz einfach auf den Kopf zu stellen, was seit Beginn aller Kultur gelehrt worden: daß nämlich der Zweck aller Kunst, also auch der Baukunst, in der Schönheit liege; denn jetzt wird umgekehrt behauptet, alle Schönheit liege im Zweck.“27 Die Real-Nutz-Funktion bestätigt Otto Wagner als technischen Kenner, die Kunstform bestätigt ihn als künstlerischen Könner. Legitimiert ihn die maximierte Nutzfunktion – dem Be­nützer gegenüber – als Architekt-Ingenieur, so weist ihn die subtile Kunstform und damit sein neues, vorgeblich funktio­nalistisch determiniertes Ornament – für den Betrachter – als Bau-Künstler aus. Überarbeitete und ergänzte Fassung des Beitrages „Das Ornament im Spannungsfeld von Technik und Repräsentation. Das neue, moderne und zeitgemäße Ornament bei Otto Wagner“, in: Gérard Raulet, Burghart Schmidt (Hg.): Kritische Theorie des Ornaments. Wien/Köln/Weimar 1993, S. 71-79.

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Richard Schaukal: Vom Geschmack. Zeitgemäße Laienpredigten über das Thema Kultur, München 1910, S. 68. 2 Hermann Muthesius: Wirtschaftsformen im Kunstgewerbe. Vortrag, gehalten am 30. Januar 1908 in der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin, Berlin 1908, S. 10-11. 3 Adolf Loos: Die Potemkin’sche Stadt, in: Ders.: Die Potemkinsche Stadt. Verschollene Schriften 1897–1933, hg. v. Adolf Opel, Wien 1983, S. 55-58. 4 Wagner 1896, S. 81. 5 Ebenda, S. 31. 6 Wagner 1889, Vorwort. 7 Ebenda. 8 Wagner 1896, S. 55. 9 Ebenda. 10 Ebenda, S. 58. 11 Ebenda. 12 Das Neue Haus. Zur Bauvollendung des neuen Postsparkassengebäudes, in: Neues Wiener Journal, 13.12.1906, S. 2-3. 13 Otto Wagner: Zur Studie „Die Moderne im Kirchenbau“, August 1899, abgedruckt in: ES III, Nr. 8, 2. Heft (Graf 1985, S. 326-332). 14 Adalbert Franz Seligmann: Die neue Postsparkasse, in: NFP, 01.03.1907, S. 1-3, Feuilleton.

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Wagner 1896, S. 62-63. Ebenda, S. 63. Haiko 2005b, S. 26. Noch immer wurde aber davon ausgegangen, dass den Bolzen nur eine temporäre Funktion zukomme. Die Generalsanierung wurde vom Büro Hoppe Architekten 2004/05 durchgeführt. Zur endgültigen Klärung der Frage der technischen Funktionalität der Bolzen vgl. den Beitrag von Michaela Tomaselli und Thomas Hasler in diesem Band. 18 Ludwig Hevesi: Der Neubau der Postsparkasse (18.02.1907), in: Hevesi 1909, S. 245-249. 19 Das neue Haus, 1906 (wie Anm. 12), S. 2, und Hevesi 1909 (wie Anm. 18), S. 246. 20 Briefkonzept von Otto Wagner an die Firma „k. k. priv. Glas-Fabrik Joh. Lötz Witwe (Max Freiherr von Spaun)“, datiert 06.08.1903. AbK Wien, Kupferstichkabinett. 21 Die neue Postsparkasse (Ein Rundgang), in: NWT, 19.02.1909, S. 7. 22 Wagner 1896, S. 59. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 59-60. 25 Architektonische Details der Wiener Stadtbahn, in: Der Architekt 4 (1898), S. 27. 26 Wagner 1896, S. 59. 27 Seligmann 1907 (wie Anm. 14), S. 1.

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Des Nagels Kern und seine Hülle Über die konstruktive Wahrheit des legendären Scheinnagels Michaela Tomaselli Thomas Hasler 96

Mitunter können historisch bedeutsame und vielschichtige Beziehungen zwischen Gebäudebekleidung und Tragstruktur, ornamentaler Verkleidung und Enthüllung der Konstruktion an der Diskussion kleiner Details abgelesen werden. Im Fall Otto Wagners erlaubt die Frage nach konstruktiver Wahrheit und konstruktivem Schein der sogenannten nicht tragenden Nägel an seinen Fassaden und die nun hundert Jahre andauernde Geschichte ihrer tradierten Fehlinterpretationen einen Blick auf gleich mehrere „Wahrheiten“. Diese scheinbar aufgenagelte Marmorplattenbeklei­ dung, Wagners „äußere Bauverkleidung der modernen Bauart“1 zum Zwecke der Materialökonomie und Nachhaltigkeit sowie der „ewigen Dauer“2, erregte schon zu seinen Lebzeiten die Gemüter. Ihre konstruktive Realität im Gegensatz zu ihrer Erscheinungsform – ein höchst modernes, industriell und seriell gefertigtes Ornament, dessen Form von den Spuren seiner maschinellen Herstellung bestimmt wurde – war Gegenstand heftiger Diskussionen. Damals war man der festen Überzeugung, das Bekleiden von tragendem Mauerwerk mit dünnen Steinplatten sei technologisch einfach zu bewerkstelligen, indem 2 bis 3 cm dünne Marmorplatten mit Mörtel auf einer Ziegelhintermauerung befestigt werden. Wagner ergänzte die­se Technik mit den legendären Nägeln, welche von ihm selber „Dübel“3 und in der Kommunikation mit der ausführenden Firma „Bolzen“4 genannt werden. Zeitgenossen rezipierten die Nägel der „beschlagenen Geldkiste“5 anlässlich der Bauvollendung der Postsparkasse als „Knöpfe, Scheiben, Stäbe u. dgl., die wie Taster, Hebelarme, kurz wie Maschinenteile aussehen, [welche] in Wirklichkeit zu nichts nutze sind, [und daher] überhaupt kei­ner­­lei Berechtigung haben“.6 Etwa achtzig Jahre später wur­den sie als konstruktiv begründetes Ornament – als „das an [die Konstruktion] scheinhaft Erinnernde“7 – wahr- und für wahr genommen. Rund ein Jahrzehnt danach formulierte Fritz Neumeyer in Anlehnung an Goethe den Satz: „Baukunst muss nicht konstruktiv ehrlich sein, sondern einen Schein des ehr­ lichen Konstruierens erzeugen.“8 Hinter diesen Schein der tektonisch artikulierten Hülle vorzustoßen und einen detaillierten Blick auf die konstruktiven Hintergründe der Beziehung zwischen der Wagner’schen Tragstruktur und ihrer Bekleidung zu werfen, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Dabei enthüllt sich der Scheinnagel

als Mythos, hinter dem die konstruktive Realität und eine kontinuierliche technische Entwicklung einer bereits im antiken Rom geläufigen Technologie stecken. Um die konstruktive Wahrheit im Sinne der tatsächlichen Funktionsweise der Bolzen, ihren technischen Aufbau sowie den Grad ihrer Vorfabrikation zu ergründen, lohnt es, die Konstruktionsevolution der Marmor­ platten-Bekleidung von den Stadtbahn-Pavillons am Karlsplatz über die Steinhofkirche bis hin zur Postsparkasse nachzuvollziehen. Anhand dieser drei Baukonstruktionen werden originale Konstruktionspläne und Ausschreibungsunterlagen, Korrespondenz mit Baufirmen, Bauprotokolle und Restaurierungsunterlagen untersucht und den originalen Bolzen vergleichend gegen­ übergestellt. Dabei entpuppt sich die „ewige Dauer“ der als zeitsparend und preisgünstig propagierten „Marmortapete“ als eine Geschichte von Bauschäden und ihrer mehr oder weniger geglückten Restaurierungsversuche, die zur Verbreitung der Legende vom Scheinnagel beigetragen haben. Wie schon Otto Wagner können auch wir von diesen Bauschäden lernen.

Bauschäden als Motor für technologische Entwicklung Bereits an den 1898/99 errichteten Pavillons der Stadtbahn am Karlsplatz (Kat.-Nr. 71, Abb. S. 173) konnte Wagner das Problem des Schüsselns der Marmorplatten beobachten. Bei diesem Phänomen handelt es sich um eine Durchbiegung der Marmorplatten bis hin zu einer möglichen Rissbildung, deren Ursache anfänglich noch „als Volumsvergrößerung durch Wärmewechsel und Rückbildung von Deformationen in der Gebirgsbildung“9 erklärt und später als „Biegespannungen infolge zyklischer […] Temperaturschwankungen“10 erkannt wurde. An den Pavillons ließ Wagner 2 cm starke Platten aus Carrara-Marmor von innen in ein Netz von Eisennähten aus T- und Z-Profilen eingipsen. Diese Eisennähte visualisieren am Äußeren die dahinterliegende eigentliche Trag­struktur, bestehend aus T-Eisenprofilen, und bilden eine Rahmenhalterung für die Marmorplatten. Allerdings kommt durch diese Versetzungstechnik der Marmor direkt mit dem Eisen­ rahmen in Kontakt, der dort aufgetragene stark hygroskopische Gips trägt zum Entstehen von Korrosion bei. Diese Rostspuren


Otto Wagner: Kirche St. Leopold am Steinhof, um 1910 Wien Museum

könnte der gelernte Maurer Otto Wagner an den sich damals bereits biegenden Platten gesehen und geahnt haben, dass punktuell gehaltene Marmorplatten auftretende Spannungen zulassen. Ähnliche Beobachtungen führten bei der Restaurierung in den 1970er-Jahren dazu, die Platten lediglich stellenweise in vor­gebohrten Löchern im Rahmensteg zu verriegeln (1969/70).

Vom konstruktiven Prinzip der Punktverankerung mittels Bolzen zum konstruierten Ornament Das Prinzip der Punktverankerung der Marmorplatten mittels Bolzen ist eine logische technologische Entwicklung – oder eine Rückbesinnung auf die Technik der Inkrustation der Römer, die ansatzweise am Wiener Polytechnikum, wo Wagner von

1857 bis 1859 studierte, unterrichtet wurde. Wagner verwendete die Dübel erstmals sechs Jahre nach Bauvoll­ endung der Pavillons zwischen 1904 und 1907 zur Befestigung der Fassaden­ plattenbekleidung an den tragenden Ziegelkonstruktionen der Kirche am Steinhof (Kat.-Nr. 93) und der Postsparkasse (Kat.-Nr. 99). Am Steinhof wurden Platten aus feinkörnigem Carrara-Marmor in horizontalen Reihen von unten nach oben verlegt. Die hochformatigen Bekleidungsplatten werden von 30 cm hohen Marmorbändern, den sogenannten Binder-Friesplatten, getragen, welche die Bekleidungsplatten optisch wie konstruktiv rahmen und verbinden. Jede der schon vorgebohrt an die Baustelle gelieferten Binder-Friesplatten ist mit zwei Bolzen kraftschlüssig im tragenden Ziegelkern verankert. Zusätzlich wurden die Friesplatten nass-in-nass, vollflächig in einem 2 cm tiefen, schwach hydraulischen Kalkmörtelbett versetzt. Die nicht tragenden Bekleidungsplatten, die in zwei senkrechte Mörtelstreifen versetzt und so thermisch mit dem Ziegel­mauerwerk verbunden sind,11 wurden im Falz der darüberliegenden Friesplatte eingeschoben und so gegen Herauskippen gesichert und auf der darunterliegenden Binder-Friesplatte aufgestellt. Um ein Verkümmern des Mör­tels aufgrund des Wasserentzugs durch die Kapillarwirkung des Ziegels zu verhindern, wurde dieser am baufeuchten Ziegelmauerwerk aufgebracht. Die Mörtel­streifen sind, wie sich bei der Generalsanierung der Kirche am Steinhof 2002 herausstellte, für den Temperaturausgleich zwischen Marmorplatte und Ziegelmauer­ werk maßgebend12 und „äußerst günstig hinsichtlich des Verformungsverhaltens“13 der Platte. Die bei der Renovierung 1970 hinterlüfteten, also ohne Mörtel neu verlegten Carrara-Platten waren wesentlich anfälliger für Schüsselung. Damals hatte man die Bolzen durch in die Stirn­seiten der Platten eingebohrte, von außen unsichtbare Kupfer­haken ersetzt. Die äußere Erscheinung der ursprünglichen Bolzen blieb in Form von Kupferrosetten bewahrt. An der Rückseite der Marmorplatten angeschraubt, besitzen diese keinerlei konstruktive Funktion mehr und sind damit tatsächlich zum bloßen Ornament in der Tarnkappe der Konstruktion reduziert worden. Keiner der ursprünglich 4.211 Stück Bolzen an der äußeren Baubekleidung war also nur zum Schein angebracht. Keiner davon bildet die dahinterliegende Konstruktion nur

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Großformatige Wandbekleidungsplatten mit nachträglich angebrachten Sicherungsbolzen (Steinhof)

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vorgeblich am Äußeren ab oder dient ausschließlich dazu, die Bekleidung in einem didaktischen Sinn als solche zu dekla­ rieren. Sie sind tatsächlich Konstruktion. Otto Wagner zeigt die eingesetzten Mittel in ihrer Funktion und Konstruktion: Die Friesplatten sind als dünne tragende Bindersteinplatten kraftschlüssig mit dem Ziegelkern verbunden, und zwar gut sichtbar mittels Bolzen. In ihrer Funktion als Verankerung halten die Bolzen die Friesplatten konstruktiv wie optisch. Die Bekleidungsplatten hingegen ließ Wagner konstruktiv ehrlich in ihrer Form als solche optisch unangetastet – ursprünglich wirklich ohne Bolzen – als Bekleidungsplatten sichtbar. Nur dort, wo es keine Binder-Friesplatten zum Einhängen der Bekleidungsplatten gibt, wie im Bereich unter dem Hauptgesimse, wurden auch die Bekleidungsplatten mit je zwei Bolzen verankert. Weder das Konzept der Materialökonomie noch die damit einhergehenden Techniken, wie das Aufstellen der Bekleidungsplatten auf Bindersteinen oder das Bekleiden mit dünnen Platten, sind Wagners Erfindungen. Er behauptete zwar, die „missverstandene Bauweise“14 der alten Römer – zumindest jenen Teil, den er im Kopf zu haben scheint oder der für seine Propaganda der neuen Bauweise nützlich ist – durch eine „moderne Bauart“15 ersetzen zu wollen, dennoch kombinierte er bei der Plattenbekleidung der Steinhofkirche zwei bereits im antiken Rom bekannte Technologien, nämlich die Technik der tragenden Quaderverblendung und die Technik der nicht tragenden Inkrustierung. Bei der Quaderverblendung mit durchgehenden marmor­nen Bindersteinen, die etwa beim Rundtempel des Hercules Victor in Rom 120 v. Chr. zur Anwendung kam, gibt es bereits eine dünne, durch die ganze Travertin-Hintermauerung hindurch­reichende tragende Bindersteinschicht. Auf diese wurden tragende Quaderverblendsteine aus Marmor aufgestellt. Am Steinhof sind die Quaderverblendsteine zu nicht tragenden dünnen Platten reduziert. Die konstruktive Wahrheit dieser Bau­technik wurde bereits 1863 von Eugène Viollet-le-Duc in seinem sechsten „Entretien“ erkannt. Ihre Form ist aus der Notwendig­keit des Fügens der Steine entstanden, der Ausdruck der Konstruktion entspricht somit dem Wesen des Steins. Es ist eine Verblendung, ohne zu blenden. „Eine stilvolle Dekoration, weil das Auge sofort den soliden und wohldurchdachten Aufbau versteht.“16 Bei Steinhof reichen die Binder-Friesplatten nicht mehr durch das ganze Mauerwerk hindurch. Sie sind wie die Platten der Caracalla-Thermen (212–217 n. Chr.) in der Technik der Inkrustierung mittels Bolzen im Kernmauerwerk punktuell verankert. Die „konkaven Tonscherben“17 der Römer, welche entlang der Plattenränder in das Mörtelbett gedrückt wurden, ließen Hohlräume entstehen, die das Ausweichen des Mörtels beim Festdrücken der Bekleidungsplatte ermöglichten. Bei der Kirche am Steinhof waren es die senkrechten hydraulischen Weißkalkmörtelstreifen, die dem unter Druck sich ausbreitenden Mörtel Raum zum Ausweichen gaben. Wagners Einsparungsmaßnahmen waren radikaler als jene der Römer. Er reduzierte die bei den Römern noch durch die ganze Mauerstärke reichenden Bindersteine auf 4 cm,


Otto Wagner: Postsparkasse, Attika am Mittelrisalit, 1906 Privatbesitz

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die Stärke der Bekleidungsplatten sogar auf 2 cm. Die Mörtelschicht, welche bei den Römern mindestens 7 cm stark war und für den Temperaturausgleich zwischen Hintermauerung und Bekleidungsplatte zuständig ist, dezimierte Wagner auf 2 cm. Der Preis, der für diese Einsparung ent­richtet werden muss, ist die Schüsselung. Für die zeitgleich entwickelte Plattenbekleidung der Postsparkasse verwendete Wagner zur Vermeidung der Schüsselung grobkörnige Sterzinger Marmorplatten. Es sind wesentlich kleinere Platten als bei der Steinhofkirche, sodass „ihre Versetzung leicht und solide ausführbar ist“.18 Zu Repräsentationszwecken verwendete Wagner im Bereich des Mittelrisalits zwei unterschiedlich bearbeitete Marmorplatten: 3 cm starke bombierte Platten wurden über ihre technische Bearbeitung des Marmors selbst zum Ornament. Die glatten Platten sind mit verschieden großen, bombierten Aluminiumguss-Stücken ornamentiert, die je nach Länge mit ein oder zwei Schrauben, Muttern und Beilagscheiben an die Rückseite der Marmor­ platten geschraubt wurden.19 Diese Aluminiumguss-Stücke unterscheiden sich allerdings in ihrer Form und Konstruktion von den Bolzen. Sie sind, wie A. W. Pugin es genannt hätte, „konstruiertes Ornament“.20 Der formgenerierende Parameter für den wellenähnlichen Querschnitt und die Tropfnase am unteren Ende ist das Aufprallen und Abtropfen des Regenwassers. Es gibt aber noch einen anderen wesentlichen Unterschied zur Steinhofkirche: Die Platten bei der Postsparkasse wurden etagen- und „gruppenweise von oben (3. Stock) nach unten (1. Stock)“ verlegt.21 Dieser Verlegungsablauf, der schon bei der filigranen Terrakottabekleidung der Bauakademie in Berlin (1832–1836) angewandt wurde, ermöglichte es, mehrere Platten und Gruppen derselben Etage zeitgleich zu verlegen.22 Das im Ziegelmauerwerk fest verankerte Baugerüst konnte gleichzeitig mit dem Verlegen der Fassadenplatten sukzessive

abgebaut werden, ohne die bereits verlegte Plattenbekleidung durch die Verankerungen oder herabfallende Gegenstände zu beschädigen. Es ist eine Verlegungstechnologie ganz im Sinne von Wagners „kürzerer Herstellungszeit“,23 Arbeitsteilung und Komponententrennung. Es ist aber auch ein Beweis für die konstruktive Notwendigkeit des Bolzens: Die Platten müssen gehalten werden, da sie nicht wie in Steinhof auf der unteren Plattenreihe abgestellt werden konnten. Die vorgebohrten Bekleidungsplatten wurden dazu auf punktförmige Mörtelvorlagen versetzt und liegen schließlich flächig in einem circa 2 cm dicken hydraulischen Weißkalkmörtelbett auf. Jede einzelne Platte wurde unmittelbar nach dem Aufsetzen durch mindestens einen der insgesamt 17.230 Bolzen in einem im Ziegelmauerwerk bereits vorgebohrten Loch mit der massiven Ziegeltragstruktur kraftschlüssig verankert. Die großformatigen Platten direkt unter dem Hauptgesims benötigen zwei Bolzen und die länglichen bombierten Platten wurden je nach ihrer Länge mit zwei oder gar drei Bolzen verankert.

Mythos Montagesicherung Zeitgenössische Berichte legen eine temporäre konstruktive Funktion der Nägel als Montagesicherung bis zur Aushärtung des Mörtels nahe. So berichtete das Neue Wiener Journal anlässlich der Bauvollendung der Postsparkasse 1906: „Hat dieser Nagel in den ersten drei Wochen seine Aufgabe, jede Veränderung der verkleidenden Platten zu verhüten, erfüllt, so bleibt sein hübscher weißglänzender Kopf noch immer ein höchst moderner und origineller Schmuck.“24 In Tat und Wahrheit dauert eine vollständige Aushärtung von Weißkalkmörtel aber zwei bis vier Jahre.25 Dabei ätzt der Mörtel den Marmor an, eine chemische, sehr dauerhafte Verbindung


Entwicklung der Bolzen zur Verankerung der Steinplatten

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entsteht. Dieser Aushärtungsprozess dauert umso länger, je hydraulischer der Mörtel ist. Technisch ist es somit völlig unmöglich, Marmor ohne zusätzliche Verankerung ausschließlich in Kalkmörtel zu verlegen. Die Bolzen wurden also keineswegs zum Schein verwendet. Es ist kein Bolzen zu viel, sondern eher einer zu wenig. Das beweisen die noch zu Lebzeiten Otto Wagners nachträglich hinzugefügten Bolzen an den Fassaden­ platten der Kirche am Steinhof als Sicherung gegen das Ver­rutschen infolge von Windsog. Weitere Hinweise auf die konstruktive Wahrheit der Bolzen geben die unterschiedlichen Größen und die Anzahl der je Platte verwendeten Bolzen der Postsparkasse. Größere Platten, direkt unter dem Hauptgesims, sind mittels zweier großer Bolzen von 4,6 cm Kopfdurchmesser gesichert. Die noch größeren bombierten Platten des seitlichen Mittelrisalits sind sogar mit je drei Bolzen in regelmäßigen Abständen verankert. Kleinere Platten, wie jene in der Verkröpfung des Mittelrisalits, werden mittig mit einem kleineren Bolzen von 3 cm Kopfdurchmesser gehalten.

Die konstruktive Wahrheit der Bolzen Die Bolzen haben einen massiven Kern und reichen bis zu 15 cm weit in das Ziegelmauerwerk hinein, welches für ihre Befestigung in einem zusätzlichen Arbeitsschritt eigens mit elektrisch an­getriebenen Maschinen vor Ort vorgebohrt wurde. Für rei­nen Dekor wäre diese material- und zeitaufwendige Art der Befestigung völlig übertrieben, unnötig und im Widerspruch zu einer kurzen Herstellungszeit gewesen. Zudem unterscheiden sich die Bolzen: Sie variieren zusätzlich zu ihrer Kopfgröße auch in ihrer Länge, in der Techno­ logie ihrer Herstellung, ihrem Schichtaufbau und ihrer Bekleidung. Am Steinhof sind sie mit Kupfer, einem relativ traditionellen Material, bekleidet und wirken mit ihrer an Gold erinnernden Patina edel. Bei der Postsparkasse ist die Bekleidung aus Alu­minium, einem damals immer noch neuartigen, höchst technoiden Material, das Modernität und Fortschritt symbolisiert. Gemein ist allen Bolzen ein Kern aus warm­umformten Schmiedeeisen, wie die Makroschliffe der beiden Bolzen erkennen lassen.26

Bei den chronologisch frühesten Bolzen für die Friesplatte der Steinhofkirche ist dieser schmiedeeiserne Kern circa 14 cm lang bei einem Stangendurchmesser von 2 cm. Der Kopf mit etwa 4,4 cm Durchmesser wurde vom Stangen­ kern ausgehend breiter geschmiedet. In einem zweiten Produktions­schritt wurde die zweiteilige Kupferbekleidung, bestehend aus Kupferhülse und Kappe, appliziert. Die 1 mm starke Hülse bekleidet das obere Stangenhalsdrittel und die Unterseite des Kopfes. Die Kappe, ebenfalls aus 1 mm starkem Kupferblech, wurde über Kopfseiten und Hülsenrand gekantet, um ein Eindringen von Wasser und in der Folge Kontaktkorrosion zu verhindern. Erst im nächsten Schritt wurden die Einkerbungen am unteren Ende des Kerns, der hierfür wiedererwärmt werden musste, durch spanlose Formgebung hergestellt. Bei den etwas kürzeren, circa 13 cm langen Bolzen für die kleinformatigen Postsparkassenplatten wurde der Arbeitsschritt des Wiedererwärmens gespart. Das Herstellen der Einkerbungen und das Schmieden des Kopfes erfolgten im selben Arbeitsschritt, was angesichts der Vorfabrikation von 17.230 Stück Bolzen durchaus zweckdienlich und effizient war. Statt der teureren Kupferhülse applizierte man ein weiches Bleifutter von oben über Kopf und Hals des Eisenkerns. Das Blei hat zwei Effekte: Zum einen bildet es eine weiche Trennlage zwischen dem roh geschmiedeten Bolzen und der feinen, 1 mm starken Aluminiumkappe zur Vermeidung der Kontaktkorrosion. Zum anderen würde die Verbindung zu Kalkmörtel das Aluminium, welches gegenüber Kalkmörtel einen nachteiligen pH-Wert aufweist, zersetzen. Bei den mit 17 cm deutlich längeren Bolzen zur nachträglichen Sicherung der Bekleidungsplatten der Kirche am Steinhof wurde die Kupferhülse ebenfalls durch ein billigeres und leichter aufzubringendes Bleifutter ersetzt. Chronologisch sind die Sicherungsbolzen in jedem Fall nach den PostsparkassenBolzen einzuordnen. Sowohl ihre Länge als auch ihre optimierte Herstellungstechnik sprechen für eine kontinuierliche Evolution, die weder bei Wagner beginnt noch bei ihm endet. Bei der Generalsanierung 2002 wurde derselbe Zweck – die Vermeidung von Kontaktkorrosion – durch ein neues Material, nämlich durch eine Hülse und Unterlagsscheibe aus elastischem synthetischem Kautschuk erreicht. Zusätzlich war die Ausführung der Bolzen mehrteilig: In eine schmiedebronzene Ankerstange wurde eine schmiedebronzene Platte geschraubt, an der man wiederum eine Kupferrosette mittels Gewindestange befestigte. Durch die beweglichen Schraubverbindungen können Spannungen in den Marmorplatten verhindert werden. Die Demontierbarkeit der neuen Bolzen ermöglicht aber auch ein einfaches Auswechseln der Marmorplatten, die sich mit Sicherheit in absehbarer Zeit wieder durchbiegen werden.


Wir haben es somit mit einer kontinuierlichen technologischen Entwicklung zu tun. Ganz im Sinne Gottfried Sempers bleiben Zweck und Funktion der Bolzen bestehen, aber der Stoff – das Material und die Technologie ihrer Herstellungstechnik – wechselt. Die Bolzen sind mehr als ein Ausdruck maschineller Erzeugung, sie sind mehr als ein rein ökonomisches Prinzip. Optisch sind sie die Steigerung des technischen Einzelbildes, das durch seine Wiederholung im Muster zum Ausdruck kommt.27 Die „Lüge“ vom Scheinnagel lässt uns – über den Schein und sein Erscheinen hinaus – mehrere „Wahrheiten“ begreifen. Sie lehrt uns eine Wahrheit über die konstruktive Funktion des Bolzens als Befestigungsmittel für die Platten, welche im Sinne von John Ruskin als solche auch ehrlich, für das Auge sichtbar gezeigt wird. Es ist aber auch eine Wahrheit im Sinne Karl Böttichers „Kernform“ und der bekleideten „Ornamenthülle“,28 die das Wesen des schmiedeeisernen Kerns nach außen spiegelt. In den Worten Sempers ist es eine Bekleidung, welche „hier in rein technisch-realistischer Weise [als Rostschutz für das Auge begreifbar] als formgebend“ auftritt.29 Darüber hinaus zeigt sie uns eine zeitlose Wahrheit über die Kontinuität einer Idee der Bekleidung und den kontinuierlichen Wandel der Bautechnologie. Hier wird eine Konstruktions­geschichte sichtbar, die im antiken Rom beginnt und im Bolzen enthalten ist – eine „wahre“ Geschichte, die wir mit neuen Technologien, Herstellungsmethoden und neuen Materialien weiterschreiben. Vielleicht ist es ja diese chronologische Technik­ geschichte, die Otto Wagner im Kopf hatte, als er schrieb: „Der Architekt kann in die volle Schatzkammer der Überlieferung greifen; von einem Kopieren des Gewählten kann aber keine Rede sein, sondern er muß es durch Neugestalten uns und dem Zwecke anpassen oder aus der Wirkung der bestehenden Vorbilder die von ihm beabsichtigte Wirkung herausfinden.“30 Text und Abbildungen: Michaela Tomaselli, Thomas Hasler, Auszüge aus der Forschung Ornamentierte Konstruktion, konstruierte Ornamentierung am Institut für Architektur und Entwerfen, Abteilung Hochbau und Entwerfen, Professur Astrid Staufer und Thomas Hasler. Graphische Mitarbeit: Maximilian Mandat, Florian Schauhuber, Anamaria Vesteman.

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Wagner 1902a, S. 108. Ebenda, S. 105. Neubau des PostsparkassenGebäudes. Protokoll über die VI. Bau­komitee Sitzung, 08.11.1904, S. 4 (Archiv der Postsparkasse). 4 Korrespondenz Kammerer & Filzammer an die Bauleitung des K. K. Postsparkassen-Amtsgebäudes, Wien, 31.03.1906, S. 1 (Archiv der Postsparkasse). 5 Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in vier Bänden, Bd. 3, Salzburg/Wien 1990, S. 15. 6 Adalbert Franz Seligmann: Die neue Postsparkasse, in: NFP, 01.03.1907 (Feuilleton), S. 1-3, hier S. 3. 7 Haiko 1985, S. 97. 8 Fritz Neumeyer: Tektonik. Das Schau-­ spiel der Objektivität und die Wahrheit des Architekturschauspiels, in: Hans Kollhoff (Hg.): Über Tektonik in der Baukunst, Braunschweig/ Wiesbaden 1993, S. 63. 9 Alois Kieslinger: Gutachten über den Zustand der Steinarbeiten an den beiden Aufnahmegebäuden der Stadtbahnhaltestelle Karlsplatz, Wien, 11.03.1953, S. 2 (Archiv des Bundesdenkmalamts, ZL: 1638/53). 10 Vgl. E. K. Tschegg, M. Jamek, G. Seebach u. a.: Bruchmechanische Eigenschaften von Marmor-MörtelVerbundsystemen, in: 16. Internationale Baustofftagung, 20.–23.09.2006, F. A. Finger-Institut für Baustoffkunde, CD und Bd. 2, Weimar, S. 1210. 11 Vgl. ebenda, S. 1109. 12 Vgl. ebenda. 13 Andreas Rohatsch, Günther Fleischer, Christian Gurtner: Befestigungstechnik der neu zu versetzenden Marmorplatten an der Kirche am Steinhof, Institut für Ingenieurgeologie TU Wien, 23.05.2002, S. 1. 14 Wagner 1914, S. 66. 15 Ebenda. 16 M. [Eugène Emmanuel] Viollet-le-Duc: Entretiens sur l’Architecture, Bd. 1, Paris: A. Morel et Cie Éditeurs 1863, S. 188 (Übersetzung Michaela Tomaselli). 17 Vgl. Larry F. Ball: How the Romans Install Revetement, in: American Journal of Archeology 106 (2002), S. 551-573 (Übersetzung Michaela Tomaselli).

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Neubau des Postsparkassen-Gebäudes. Protokoll über die VI. Baukomitee Sitzung, 08.11.1904, S. 4 (Archiv der Postsparkasse). Vgl. Preistarif und Arbeitsausweis über die Aluminiumguß-Arbeiten für den Neubau des PostsparkassenAmtsgebäudes, Wien, 07.02.1906, S. 1 (Archiv der Postsparkasse). A. [Augustus] Welby Pugin: The True Principles of Pointed or Christian Architecture: Set Forth in Two Lectures Delivered at St. Marie’s, Oscott, London: John Weale 1841, S. 1 (Übersetzung Michaela Tomaselli). Neubau des PostsparkassenGebäudes. Protokoll über die XXI. Baukomitee Sitzung, 16.06.1906, S. 2 (Archiv der Postsparkasse). Vgl. Thomas Hasler: Vom Baugedanken zur Baukonstruktion – Von der Perfektion der Tektonik: Schinkel, Semper und ihre findigen Schüler als Wegbereiter der Moderne, TU Wien, Vorlesung vom 16.10.2016. Wagner 1914, S. 65. Das neue Haus. Zur Bauvollendung des neuen Postsparkassengebäudes, in: NWJ, 13.12.1906, S. 2-3. Ergebnis der Probekörperunter­ suchung, durchgeführt vom Institut für Geotechnik der TU Wien, unter der Leitung von Andreas Rohatsch in Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt, Kartause Mauerbach. Die Makroschliffe sind im Zuge der metallurgischen Analyse am Institut für Werkstoffwissenschaften und Technologie der TU Wien (12.06.2017) entstanden. Vgl. Rudolf Schwarz: Wegweisung der Technik, Potsdam: Müller & Kiepenheuer 1928, S. 68-69. Karl Bötticher: Die Tektonik der Hellenen, Bd. 1, Potsdam: Riegel 1852, S. 8. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Aesthetik, Bd. 1: Textile Kunst, Frankfurt/Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860, S. 443. Wagner 1902a, S. 66.

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Kirche St. Leopold am Steinhof, Tragkonstruktion und Bekleidung – Fassade

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WANDBEKLEIDUNG AUßEN Die Verlegung der Carrara-Marmorplatten der Fa. Mansini erfolgt reihenweise von unten nach oben. Erst werden die Binder-Friesplatten vollflächig in einem 2 cm starken Mörtelbett verlegt und 15 cm tief in vorgebohrten Löchern (A) im Ziegelmauerwerk verankert. Die großformatigen Bekleidungsplatten werden unter den Falz der darüberliegenden Binder-Friesplatte eingeschoben, auf die darunterliegende Binder-Friesplatte abgestellt. Der Falz der Binder-Friesplatte sichert die darunterliegende Verkleidungsplatte gegen Herauskippen. Zwei senkrecht verlaufende Mörtelstreifen gewährleisten eine thermische Verbindung zwischen Marmorplatte und Ziegelmauerwerk. BINDER-FRIESPLATTEN B Carrara-Marmorplatte, Standardformat: 145 × 30 × 4 cm Die Unterkante ist gefalzt. Die vorderen oberen Kanten sind gerundet, die seitlichen vorderen Kanten sowie die Falzkanten sind gebrochen. Alle sichtbaren Kanten bei den Stirnflächen-Eckausbildungen sind gefast (ca. 5 mm). C Mörtelbett 2 cm, vollflächig verlegt BEKLEIDUNGSPLATTEN D Vorgebohrte Carrara-Marmorplatte, Standardformat: 72,2 × 114 × 2 cm, Höhe der Sonderformate variiert zwischen 100 und 200 cm, Stärke 3 cm, in der Höhe der Kränze und Kreuze. Sämtliche obere und untere vordere Kanten der Verkleidungsplatten sowie alle sicht­ baren Kanten der Stirnflächen-Eckausbildungen sind gefast (ca. 5 mm). Die seitlichen vertikalen und vorderen Kanten sind gebrochen. E Zwei senkrechte Mörtelstreifen, Stärke 2 cm, zum ther­mischen Ausgleich zwischen Marmorplatte und Ziegel

MÖRTEL Mischungsverhältnis Zuschlagstoffe/Bindemittel 2,5-3 : 1 Zuschlagstoffe: vorwiegend Quarz, etwas Alkalifeldspat, Glimmer, Dolomit und Kalkstein bzw. Marmormehl BOLZEN ZUR VERANKERUNG DER MARMORPLATTEN F Schmiedeeiserne Bolzen mit breiter geschmiedetem Kopf und Einkerbungen im unteren Stangendrittel, Länge ca. 14 cm, Stangendurchmesser 20 mm, Kopfdurch­messer 46 mm mit zweiteiliger Kupferbekleidung in Form einer Hülse im oberen Halsdrittel und einer über den Kopf gekanteten Kappe Insgesamt 4.211 Stück Bolzen Nordfassade 623 Stück Südfassade 626 Stück Ostfassade 705 Stück Westfassade 705 Stück Vierungstürme 840 Stück Glockentürme 712 Stück G Nachträgliche Verankerung aus schmiedeeisernem Bolzen mit Bleifutter und Kupferkappe, Länge ca. 17 cm, Stangendurchmesser 20 mm, Kopfdurchmesser 46 mm

TRAGSTRUKTUR AUFGEHENDES MAUERWERK H 60-95 cm Ziegelmauerwerk I Schließenanlagen: fünf Lagen eiserner Zugbänder im Mauerkörper, in horizontalen Abständen von ca. 3-5 m 1. Lage auf Höhe des Kirchenfußbodens, direkt unter dem ersten Sockelgesimse 2. Lage auf Höhe des zweiten Sockelgesimses mit leichten Versprüngen nach oben und unten im Bereich der Fenster, um die Fensteröffnungen zu gewährleisten 3. Lage zwischen 3,6 m und 4,4 m über der zweiten, auf Höhe der Fensterstürze, ebenfalls mit Rücksicht auf Fensterhöhen verspringend 4. Lage zwischen 3,8 m und 4,9 m über der dritten Lage 5. Lage unter dem Hauptgesimse

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A Nachträgliche Verankerung, Bolzen aus Schmiedeeisen, Länge ca. 17 cm Stangendurchmesser 20 mm, mit von der Stange ausgehend breiter geschmiedetem Kopf und Einkerbungen im unteren Halsdrittel B Bleifutter, Stärke 2,5 mm, über Kopf und oberes Halsdrittel gestülpt C Kupferkappe, Durchmesser 46 mm, Stärke 1 mm, aufgepresst und gekantet D Bekleidungsplatte aus Carrara-Marmor, Stärke 2 cm, Höhe 100-200 cm, Breite ca. 73 cm E Binder-Friesplatte aus Carrara-Marmor, Stärke 4 cm, Höhe 30 cm, Breite ca. 146 cm, mit Bohrloch, an der Unterkante gefalzt Die obere vordere Kante ist gerundet, die seitlichen Kanten sowie die Falzkante sind gebrochen. F Bolzen aus Schmiedeeisen, Länge ca. 14 cm, Stangendurchmesser 20 mm, mit von der Stange ausgehend breiter geschmie­detem Kopf und Einkerbungen im unteren Halsdrittel G Kupferhülse, Stärke 1 mm, im oberen Halsdrittel und an der Kopfunterseite H Kupferkappe, Durchmesser 46 mm, Stärke 1 mm, aufgepresst und umgekantet I

Mörtelbett, Stärke 2 cm, aus schwach hydraulischem Kalkmörtel (CaO : SiO2 = 8 : 1) Mörtel-Zusammensetzung: Mischungsverhältnis Zuschlagstoffe/Bindemittel 2,5-3 : 1 Zuschlagstoffe: vorwiegend Quarz, Glimmer, etwas Alkalifeldspat, Dolomit und Kalkstein bzw. Marmormehl

J Zwei senkrechte Mörtelstreifen aus schwach hydraulischem Kalkmörtel, zum thermischen Ausgleich zwischen Mauer und Ziegel K Ziegelmauerwerk


Kirche St. Leopold am Steinhof, Tragkonstruktion und Bekleidung – Gesimse

HAUPTGESIMSE OBERE BEKLEIDUNG GESIMSE A Kupferblech-Bahnen, 1 mm Doppelte Lage Pappe Die Pappe wird bei der Generalsanierung 2002 mit 8 mm Isolierung Elastomer E-KV-4 zweilagig ersetzt. TRAGSTRUKTUR GESIMSE B Lärchenholzschalung, 2,4 cm C Polsterhölzer aus Lärchenholz dienen als verlorene Schalung für die Ortbeton-Rippenplatten und als Befestigungsunterlage für die darüberliegende 2,4 cm Lärchenholzschalung Insgesamt 174 Stück Polsterhölzer im Abstand von ca. 70 cm 130 Stück 8 × 8 cm Polsterhölzer, L. 103 cm 20 Stück 8 × 8 cm Polsterhölzer, L. 88 cm 8 Stück 5 × 8 cm Polsterhölzer, L. 126 cm 12 Stück 5 × 8 cm Polsterhölzer, L. 148 cm 4 Stück 5 × 8 cm Polsterhölzer, L. 138 cm D 13 cm starke Rippenplatte aus Ortbeton, profiliert mit kassettierter Untersicht VERANKERUNG GESIMSE E 8 cm hohe Doppel-T-Eisenprofile werden mittels 1,6 m langer schmiedeeiserner Zugbänder in Abständen von 1,13 m, 1,18 m und 1,3 m im Ziegelmauerwerk verankert. UNTERE BEKLEIDUNG GESIMSE F Kunststeinüberzug, gestockt, 2 cm G Groß- und kleinformatige galvanoplastische Kupfer-Rosetten, jeweils mittels Schraube, Mutter und Beilagscheibe im Hohlraum des Ortbetonge­simses befestigt

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Caracalla-Thermen, Befestigung der Plattenbekleidung

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A Plattenbekleidung aus kleinformatigen Marmorplatten Stärke min. 3 cm B Befestigungslöcher für die Bolzen 4 × 4 cm, Tiefe ca. 6 cm, mit Flacheisen in das Mauerwerk geschlagen und mit Mörtel ausgefüllt C Marmorkeil 3 × 3 cm, Länge 5 cm, aus Bruchresten von der Bekleidungsplattenherstellung, verkeilt die Bolzen im Mauerwerk und fungiert als Putzträger D Bolzen aus Eisen oder Bronze mit rechteckigem Profilquerschnitt 4 × 6 mm, Länge ca. 15 cm E erster dünner Putzanwurf F Kalkmörtelbett, vollflächig, Stärke ca. 6-7 cm, mit Puzzolanerde, Santorinerde, Trass oder Ziegelmehl als hydraulisches Bindemittel G konkave Tonscherben ca. 4 × 4 cm, entlang der Plattenränder in das Mörtelbett gedrückt, um ein Ausweichen des Mörtels beim Festdrücken der Platten zu ermöglichen H Ziegeldurchschuss I

Opus Caementitium

J Ziegelmauerwerk als Schalung für Opus Caementitium


Postsparkasse, Befestigung der Plattenbekleidung

A Aluminiumguss-Stück, bombiert mit wellen­ förmigem Querschnitt und Tropfnase, Großformat: 16 × 36 × 3,6 cm Jedes Aluminiumguss-Stück ist mit je 2 Schrauben, Muttern und Beilagscheiben an der Rückseite der Marmorplatte befestigt. B Weißkalkmörtelbett, Stärke 2 cm (punktuelle Mörtelauflage, 80-90 % Auflagerfläche) C Sterzinger Marmorplatte, ca. 43 × 43 × 2 cm, mit Bohrloch D Bohrloch im Ziegelmauerwerk, ca. 15 cm tief E Bolzen aus Schmiedeeisen, Länge ca. 13 cm, oberer Stangendurchmesser 25 mm, mit von der Stange ausgehend breiter geschmie­detem Kopf und Einkerbungen im unteren Halsdrittel F Bleifutter, Stärke 2,5 mm, über Kopf und oberes Halsdrittel gestülpt G Aluminiumkappe Durchmesser 46 mm, Stärke 1 mm, aufgepresst und gekantet H Aluminiumguss-Stück, bombiert mit wellen­ förmigem Querschnitt und Tropfnase, Kleinformat: 7 × 9 × 1,2 cm mit je 1 Schraube, Mutter und Beilagscheibe aus Aluminiumguss an der Marmorplatte befestigt 3 Aluminiumguss-Stücke je Marmorplatte I

Ziegelmauerwerk, Stärke 75 cm, aus gewöhnlichen Ziegeln mit Portlandzement

J Fugen, Stärke 2 mm

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Postsparkasse, Tragkonstruktion und Bekleidung – Fassade

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BEKLEIDUNG WAND Das Versetzen der Platten aus Sterzinger Marmor der Fa. Kiefer erfolgt gruppenweise von oben (3. Stock) nach unten (1. Stock). Erst wird eine punktuelle Mörtelvorlage am noch feuchten Ziegelmauerwerk der Form so aufgebracht, dass die versetzten Platten zu 70-90 % flächig in einem 2 cm starken Mörtelbett aufliegen. Bolzen verankern die Platten in 15 cm tiefen, vor­ gebohrten Löchern kraftschlüssig mit dem Ziegelmauerwerk. PLATTENBEKLEIDUNG A Glatte Sterzinger Marmorplatte der Fa. Kiefer, mit Loch­bohrung und scharfer Lochkante, Standardformat: ca. 43 × 43 × 2 cm B Bombierte Sterzinger Marmorplatte der Fa. Kiefer, in den Formaten a: 86 × 43 × 3 cm, b: 129 × 43 × 3 cm und c: 21,5 × 43 × 3 cm, mit Lochbohrungen und scharfer Lochkante. Die Außenflächen sämtlicher Platten sind geschliffen (nicht poliert). Die rückwärtigen Flächen sind für eine bes­sere Mörtelhaftung möglichst rau gehalten. Sichtbare Kanten und Abrundungen sind geschliffen und poliert. Die Platten an den Mauerkanten sind abgeschliffen oder abgerundet. Die Fugenweite zwischen den Marmorplatten beträgt max. 2 mm. ORNAMENTIERUNG DER PLATTEN C Bombierte Aluminiumguss-Stücke mit wellenartigem Querschnitt, Kleinformat: 7 × 9 × 1,2 cm, je Marmorplatte 3 Stück wellenartige Aluminiumguss-Stücke Die Gussstücke sind jeweils mit 1 Schraube, Mutter und Beilagscheibe an der Rückseite der Marmorplatte befestigt. D Bombierte Aluminiumguss-Stücke mit wellenartigem Querschnitt, Großformat: 16 × 20 bis 47 × 3,6 cm, mit je zwei Schrauben an der Rückseite der Marmorplatten befestigt Insgesamt 2.986 Stück 6 Stück 14 × 20 cm 30 Stück 14 × 24 cm 1.368 Stück 14 × 32 cm 78 Stück 14 × 34 cm 80 Stück 14 × 35 cm 324 Stück 14 × 36 cm 920 Stück 14 × 38 cm 12 Stück 14 × 39 cm 6 Stück 14 × 42 cm 54 Stück 14 × 44 cm 36 Stück 14 × 47 cm

BOLZEN MIT BEKLEIDUNG E Große Bolzen aus Schmiedeeisen mit von der Stange ausgehend breiter geschmiedetem Kopf und Einker­bungen im unteren Halsdrittel, Länge ca. 13 cm, insgesamt 16.500 Stück Kopfdurchmesser 42 mm oberer Stangendurchmesser 25 mm unterer Stangendurchmesser 20 mm Bleifutter 2,5 mm, über den Kopf und das obere Halsdrittel gestülpt Aluminiumkappe 1 mm, aufgepresst und gekantet F Kleine Bolzen aus Schmiedeeisen, Länge ca. 13 cm, insgesamt 730 Stück Kopfdurchmesser 30 mm oberer Stangendurchmesser 20 mm unterer Stangendurchmesser 15 mm Bleifutter 2,5 mm, wird über den Kopf und das obere Halsdrittel gestülpt Aluminiumkappe 1 mm, aufgepresst und gekantet MÖRTEL G Weißkalkmörtelbett, 2 cm (punktuelle Mörtelauflage, 70-90 % Auflagerfläche), erlaubt den Temperaturausgleich zwischen dem Ziegelkern und der Marmorbekleidung

TRAGSTRUKTUR WAND AUFGEHENDES MAUERWERK H Gerades Ziegelmauerwerk, 60 cm, aus neuen Ziegeln und Weißkalkmörtel I 15 cm tiefe, vorgebohrte Löcher im Ziegelmauerwerk für die Verankerungsbolzen der Marmorplatten

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