Auseinandersetzung mit architekturtheoretischen Schriften, vor allem mit den von ihm zitierten Werken Gottfried Sempers und deren späteren Interpreten – und Kritikern.21 Bei Semper war die Verwendung historischer Ornamente für klassische Bauglieder – Quadermauerwerk, Basen, Kapitelle, Gebälke, Kassetten etc. – durch deren Symbolgehalt gerechtfertigt: Sie erinnerten an den Ursprung der Architektur, der nicht in der Imitation der Natur zu suchen war, sondern in der Verwendung erhältlicher Werkstoffe zum Stillen elementarer Bedürfnisse – mit Ausnahme des bildhauerischen oder malerischen Bauschmuckes, der ursprünglich das Aufhängen und Anheften von Trophäen und Opfergaben an den Wänden und Gebälken antiker Tempel imitierte. Während Bildhauerei und Malerei unangefochtene Bestandteile der Monumentalarchitektur blieben, wurde in den 1890er-Jahren der Ruf nach neuen, aus der Verwendung moderner Werkstoffe hergeleiteten, zeitgemäßen Ornamenten immer lauter.22 In seiner Schrift Moderne Architektur nahm sich Wagner 1896 dieser These an und erarbeitete später daraus eine Formensprache, in der materialgerechte Konstruktion und Funktion zum Ausgangspunkt neuer Ornamente wurden, ohne aber auf (stilisierte) aus der Vergangenheit stammende Ornamente oder auf Bauschmuck zu verzichten – so wie weiterhin traditionelle Bautechniken verwendet wurden.23 Dass das Ornament aber ebenfalls dazu diente, Hierarchien zu unterstreichen, zeigt Wagners Verwendung stockwerkübergreifender, monumentaler Säulenordnungen, die er – allerdings abstrahiert – für das von ihm bewohnte Zinshaus in der Köstlergasse aufgriff und bei seinem letzten Zinshaus projekt, dem Künstlerhof, vorsah, obwohl er schon 1896 in Moderne Architektur geschrieben hatte, dass beim modernen Zinshaus „architektonische Durchbildungen, welche ihre Motive in der Palastarchitektur suchen, als völlig verfehlt zu bezeichnen sind“.24 Am Beispiel seiner Zinshäuser lässt sich Wagners evolutionäre und nicht revolutionäre Haltung in der Baupraxis erkennen, auch wenn seine Schriften die Entwicklung häufig vorwegnahmen und polemisch verfasst waren. Seine Zins häuser hielten sich streng an die zeitgenössische Bauweise, die Grundrisse waren rational, aber wie bei allen Zinsbauten aus der damaligen Konstruktionspraxis und Bauordnung hergeleitet, und dienten der Maximierung der Rendite.25 Ornament und plastischer Schmuck erlaubten es Wagner hingegen, seinen baukünstlerischen Absichten Ausdruck zu geben. Der Bauschmuck der Fassade seines letzten Zinshauses, des Künstlerhofes (Kat.-Nr. 159), ist sprechend: Unter der Traufe „aufgehängte“ Lorbeerkränze sollten die Namen seiner Meister – die Architekten van der Nüll, Schinkel, Semper und Sicardsburg – und bevorzugter Schüler – Hoffmann, Olbrich und Plečnik – tragen, was impliziert, dass sich Wagner als wichtiges Bindeglied einer aus seiner Sicht dem Fortschritt verpflichteten Entwicklung sah.
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Wagner 1896, S. 81; Wagner 1894, S. 530. Zur Anzahl seiner Zinshäuser (die genaue Zahl ist nicht bekannt) siehe Graf 1985, S. 811, und Haiko 1974. 1880 starb Wagners Mutter, die ihm eine Haushälfte in der Göttweihergasse 1 vererbte; siehe den Eintrag „Otto Wagner“ in: Architektenlexikon Wien 1770–1945, Onlineausgabe des Architekturzentrums: www.architektenlexikon.at/de/670.htm [30.05.2017]. Vgl. Graf 1985, S. 647. Wagner verkaufte die Häuser am 16. Jänner 1918 (Graf 1985, S. 801; Haiko 1984, S. 61, Anm. 176), um an der Rechten Wienzeile die Häuser mit den Nummern 7 und 9 zu erwerben, deren Kauf aber trotz Angebot nicht zustande kam (Tagebucheintrag vom 23.01.1918). Zur Bauordnung Wiens siehe Hugo Schmid: Die Baugesetzgebung in Wien, in: Rudolf Tillmann (Hg.): Festschrift herausgegeben anlässlich der Hundertjahrfeier des Wiener Stadtbauamtes, Wien 1935; Anna Hagen: Wiener Bauordnungen und Planungsinstrumente im 19. Jahrhundert (Materialien zur Umweltgeschichte Österreichs Nr. 6, hg. vom Zentrum für Umwelt geschichte), Wien 2015. Vgl. Aus der Wagnerschule der Akademie der bildenden Künste Wien, in: Der Architekt 2 (1896), S. 45-50, hier S. 50. Für sein letztes Projekt sah Wagner 6 ½ cm hohe und 47 cm tiefe Stufen vor (Tagebucheintragung vom 16.03.1918). Die Bauordnung von 1883 schrieb maximal 16 cm hohe Stufen vor. Wien Museum, Inv.-Nr. 139.617/1-11. Im ausgeführten Bau sind es 15 Stufen, die 13 cm hoch sind. Zu den Bautechniken siehe Manfred Wehdorn: Die Bautechnik der Wiener Ringstraße (Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 11), Wiesbaden 1979, S. 77-80; zu Wagners Entwicklung im Verwenden von Baustoffen und den daraus abgeleiteten Formen siehe Schubert 2012. Schachel 1977, S. 155. Vgl. Alois Kieslinger: Die Steine der Wiener Ringstraße: ihre technische und künstlerische Bedeutung (Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 4), Wiesbaden 1972.
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Vgl. Gottfried Semper: Die SgraffitoDekoration, in: Manfred und Hans Semper (Hg.): Gottfried Semper. Kleine Schriften, Stuttgart 1884, S. 508-516, hier S. 508 (schon 1868 im Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst publiziert). Promemoria, zit. nach Haiko 1974, S. 293; Graf 1985, S. 22. Siehe z. B. Otto Wagner: Wettbewerbsentwurf für das Kaiser Josef Stadtmuseum. Kennwort: OPUS = IV, Wien 1912, zit. nach Graf 1985, S. 657670, hier S. 662. Vgl. Wagner 1896, S. 82. Auf zwei im Wien Museum erhaltenen eigenhändigen Aufrissentwürfen (Inv.-Nr. 139.605/8, 139.605/10) ist eine Wagner ähnlich sehende Figur am Balkon unter dem Dachgesims skizziert. Vgl. Graf 1985, S. 647. Der Entwurf für das Portal in der Köstlergasse 3 wurde 1898 unter „Architekturskizzen von Josef Plečnik“ publiziert: Der Architekt, Supplementheft Nr. 2: Aus der Wagnerschule 1898, S. 15; zu Alois Ludwig siehe Architekten lexikon Wien 1770–1945, Onlineausgabe des Architekturzentrums: www.architektenlexikon.at/de/670.htm [18.08.2017]. Vgl. Wagner 1896, S. 52-53. Theophil Hansen etwa war in Griechenland gewesen, Friedrich Schmidt Steinmetz in der Kölner Dombauhütte. Von Wagner sind keine eigenhändigen Aufrisse historischer Bauten bekannt, die sonst fester Bestandteil der akademischen Ausbildung oder deren Krönung im 19. Jahrhundert (Rom-Preis) waren. Vgl. Schubert 2014. Siehe hierzu zahlreiche Beiträge in den wichtigsten deutschsprachigen Bauzeitungen der späten 1880er- und 1890er-Jahre, z. B. Otto Gruner: Die Lüge in der Baukunst, in: Allgemeine Bauzeitung 1888, S. 85-95, oder Heinrich Schatteburg: Gedanken über Stylbildung, ebenda, S. 77-79. Als neu entwickelte Ornamente können beispielsweise die zahlreichen, zum Befestigen von Wandverkleidungen verwendeten Bolzen oder die Leisten aus Aluminium zum Schutz der Kanten gelten; traditionell (weil „richtig“) blieb das symbolische „Aufhängen“ von Bauschmuck. Wagner 1896, S. 82. Bezeichnend ist, dass Wagner in der 3. Auflage (1902) „an solchen Zellen-Konglomeraten“ hinzufügt, was die vom Bauherrn selber bewohnten und sich, so Wagner, auf dem „Aussterbeetat“ befindenden, in der Tradition der Palais stehenden Zinshäuser auszuschließen scheint. Vgl. hierzu Otto Wagner: Miethaus, VII., Neustiftgasse 40, zit. nach Graf 1985, S. 604-605, hier S. 605.
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