Wien Museum Katalog „Otto Wagner“

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Otto Wagner: Postsparkasse, Portal, 1905, in: Joseph August Lux: Otto Wagner, München 1914

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Lügenhaftes oder Gequältes“.17 Im Sinne der Material­wahrheit lehnte er „Konsolen und Tragsteine, welche nicht tragen“, und „Putzbauten, welche völlige Steinstruktur aufweisen“, ab.18 Er kritisierte Semper, der sich „mit einer Symbolik der Konstruk­tion beholfen“ habe, „statt die Konstruktion selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen“, und nicht den Mut gehabt habe, seine Theorien wie Darwin zu vollenden.19 In seiner Architektur vertrat Wagner allerdings eine Position, die von der Lehre der Materialwahrheit wesentlich abweicht, wie von dem Münchner Architekturtheoretiker Richard Streiter bereits 1898 bemerkt und scharfsinnig kommentiert wurde.20 Wagner habe nur „infolge eines theoretischen Mißverständnisses“ den Einwand gegen Semper machen können, dass dieser seine Formen nicht direkt von Material und Kon­ struktion ableite; er brauche in seinem eigenen Werk sehr wohl die „Symbolik der Konstruktion“, behauptete Streiter.21 Diese Symbolik beginnt mit dem Baukörper, der im Sinne der Typologie Sempers gegliedert und materialisiert wurde. Die Sockelzone der Postsparkasse (Kat.-Nr. 99) als Bereich der Stereotomie ist mit 10 cm dicken Granitplatten mit schattenwerfendem Wellen­ profil verkleidet. Die Präsenz des Daches (Tektonik) wird durch

ein markantes Gesims betont, dessen Form als maschinenhafttechnische Metamorphose des antiken Tempelgebälks gelten kann. Die Fläche der oberen Geschoße wurde mit 2 cm dünnen Sterzinger Marmorplatten bedeckt, mittels Eisenbolzen auf das tragende Mauerwerk „genagelt“. Die Bolzenköpfe sind mit Aluminiumkappen versehen. Die Marmor­platten sind allerdings in einem Mörtelbett verlegt; laut Wagner sollten die Bolzen den Stein halten, bis der Mörtel bindet. Die Inszenierung dieser Lösung durch Materialverwandlung ist wesentlich wich­tiger, als Wagner es zugeben möchte: Die moderne Errungen­schaft der Material- und Zeitersparnis durch die Verwendung dünner Steinplatten statt schwerer Steinblöcke wurde erst durch die Bolzenköpfe an der Fassade sichtbar gemacht. Einem ähnlichen ikonographischen Programm folgt die Fassaden­ gestaltung der Kirche St. Leopold am Steinhof (Kat.-Nr. 93): „Das Ausführungsmateriale der Außenflächen des Bauwerkes besteht im Sockel aus nur in den Fugen bearbeiteten Steinen, welche in unmittelbarer Nähe der Baustelle gebrochen werden, im folgenden Unterbau sind Steine der gleichen Provenienz, bei welchen auch die Stirnflächen bearbeitet sind, verwendet. Die darüber liegenden Fassaden sind mit 2 cm starken Marmorplatten bekleidet, welche Platten durch 30 cm hohe, aber 4 cm starke Riemenschichten gehalten sind. Die Befestigung letzterer geschieht durch Kupferknöpfe, welche an in die Mauern eingelassene Eisendornen angeschraubt werden.“22 Wagners architektonisches Werk ist eine Enzyklopädie der Möglichkeiten des Stoffwechsels, der symbolischen Verwandlung der Materialien: Die Metallzelte als Vorbauten zum Postsparkassenamt, zur Steinhofkirche oder zum Hofpavillon der Stadtbahn oder die farbigen Fliesenteppiche zeigen, dass Wagner das kreative Potenzial der Semper’schen Theorie für die moderne Architektur voll entfalten konnte.23 Seine Bauten führen überzeugend vor Augen, dass die Stoffwechseltheorie mit dem Fall des Historismus keinesfalls obsolet geworden war, im Gegenteil: Ihre ästhetischen Möglichkeiten konnten gerade durch Einbeziehung moderner Werkstoffe wesentlich erweitert werden.

Monumentalität und beschleunigte Bauweise In Die Baukunst unserer Zeit kritisierte Wagner das Wiener Burgtheater von Semper und Hasenauer als „missverstandene Bauweise“ und verglich es mit der eigenen „modernen Bauart“. Das Theater wurde „in Steinschichten durchgeführt und das Material mit großem Aufwande an Zeit und Geld beschafft“.24 Er habe die Fassade des Postsparkassenamtes mit Platten verkleidet, die dünner sind als die Fassadenbekleidung des Burgtheaters, dafür aber aus edlerem Material bestehen. Als Resultat sinken die Dimensionen der Steinplatten auf ein Zehntel bis ein Fünfzigstel der alten Bauweise, „die monu­men­tale Wirkung wird durch das edlere Material erhöht, die aufgewandten pekuniären Mittel fallen um Ungeheueres und


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