AUGENBLICK! Strassenfotografie in Wien

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! K C I L B N E G U A O F N E S STRAS

N E I W N I E I F A TO G R




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! K C I L B N E G U A O F N E S STRAS

N E I W N I E I F A TO G R

N EBEN VO G E G S U A UTLER HER AUKE KRE R F D N U LZER A N TO N H O N ÄGEN VO HOLD ECKER, R T I E B T MI B E RT S, I BUNZL, T T A F G A N G KO , M L , O S S W U , Z E R IT B R L SUSANNE R, CHRISTINE KOB LER, LISA NOGGLE L, E T Z U L E RÖB ANTON HO MER, FRAUKE KR NSTINGL, MARIE ER, KL RAM L PO MARION K BAUMER, MICHAE ESS, SUSANNE WIN NUSS SZEL MARTINA ER, MARGARETHE YNSKYJ UIB OSZ PETER ST IRINA WIT


▶  Unbekannt: Auf der Arbeiterolympiade, 1931

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▼  Ernst & Cesanek: Vor der Wiener Hundeausstellung, 1929 ▶  Leo Jahn-Dietrichstein: Straßenszene auf dem Graben, um 1960

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▲  Alfredo Linares: Im Café Hawelka, 1970 ▶  Emil Mayer: Kaffeehausszene mit einem Spiegelbild des Fotografen, 1905–1911

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▲  Elfriede Mejchar: Selbstporträt, aus der Serie Licht und Schatten, 1950–1960 ▶  @peggypoetry: new hood new friends, aus der Serie My dark friend and the city, 2019

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▶ S. 12/13 @maxhabdank: Schatten & Wasser III, 2019


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Matti Bunzl Vorwort Anton Holzer / Frauke Kreutler Einleitung

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Frauke Kreutler Vom Zentrum zur Vorstadt. Straßenleben in den Sammlungen des Wien Museums

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Anton Holzer Ironie und Nostalgie. Über die Wiener Straßenfotografie

INHALT UNTERWEGS IN DER GROSSSTADT 50

Michael Ponstingl Wien-imaginaire. Straßenfotografie im 19. Jahrhundert

Irina Witoszynskyj Die Stadt als Bühne

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SCHAUEN UND STAUNEN 114 Susanne Breuss Herrliche Effekte. Das Schaufenster als Motiv der Stadt- und Straßenfotografie

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GESCHÄFT UND GESCHÄFTIGKEIT 142

Martina Nußbaumer Der Bauch von Wien. Die fotografische Entdeckung des Naschmarkts

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SCHRIFTEN, BILDER, ZEICHEN 176 Susanne Winkler Dem Charakteristischen auf der Spur. Der Stadtfotograf August Stauda (1861–1928)

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Peter Stuiber Zeichen der Zeit. Schrift in der Stadt und in der Straßenfotografie


STADT DER FRAUEN, STADT DER MÄNNER 228 Margarethe Szeless „… und die Frauen warten“. Alltag und Wiederaufbau in der Nachkriegsfotografie

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Marie Röbl Liebe am Donaukanal. Parcours d’amour durch die Wiener Straßenfotografie

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AN DEN RAND GEDRÄNGT 264 Marion Krammer Die ,dunkle‘ Seite der Straße. Sozialdokumentarische Fotografie in Wien

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Frauke Kreutler Die Schönheit des Unscheinbaren. Elfriede Mejchars Blick auf die Ränder Wiens

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GROSSE STADT, KLEINE WELT 304

Lisa Noggler Platz da! Kinder im Stadtraum

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VERGNÜGEN, ENTSPANNUNG, AUSZEIT 338

Anton Holzer Poetik des Alltags. Straßenfotografie der Zwischenkriegszeit

Berthold Ecker Amüsement und Zerstreuung. Orte des Vergnügens in der Straßenfotografie

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INSTANT VIENNA 392 Anton Holzer Ein Mann steht am Fenster. Zu John Smiths Film Worst Case Scenario (2001–2003)

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Wolfgang Kos Weile statt Eile. Was Wiener Straßenfotos über den Rhythmus der Stadt erzählen

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Christine Koblitz Die Stadt gehört dir. Wiener Straßenfotografie auf Instagram

ANHANG Verzeichnis der Werke Autorinnen und Autoren Leihgeberinnen und Leihgeber Namensregister Bildnachweis Impressum

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MATTI BUNZL

VORWORT

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Die Sammlung der Stadt Wien – die Sammlung also, die das Wien Museum verwalten darf – stellt einen ungeahnten Fundus dar. Mit weit mehr als einer Million Objekten ist sie eine Art Universalsammlung und vereint die verschiedensten Segmente der Stadtgeschichte, von der Archäologie bis zum Zunftwesen. Einen beträchtlichen, aber bislang relativ wenig bekannten Teil macht die Fotografie aus. Dieser Bereich umfasst zehntausende Werke, viele davon noch nie gezeigt oder veröffentlicht. Es ist ein enormer Bestand, dessen Aufarbeitung wir mit großer Begeisterung vorantreiben. Denn die fotografische Sammlung des Museums spiegelt die moderne Geschichte Wiens in ureigener Weise wider – von den Anfängen des neuen Mediums um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu unserer von Instagram und anderen digitalen Formaten geprägten Gegenwart. Diese umfassende Sammlung, die neben vielen unbekannten FotografInnen auch das Who’s who der Wiener FotokünstlerInnenschaft inkludiert – von ­Andreas Groll und August Stauda bis Elfriede Mejchar und Margherita Spiluttini –, ist in ihrer Gesamtheit nur schwer zu fassen. Einzelausstellungen zu wichtigen Positio­ nen, wie unsere Präsentationen des Œuvres von Erich Lessing, Edith Suschitzky (verh. Tudor-Hart) oder Robert Haas, gehen zwar in die biografisch-ästhetische Tiefe, können aber wenig über die Wiener Fotografie insgesamt aussagen. Mit dem Projekt Augenblick! Straßenfotografie in Wien versuchen wir das zu ändern. Zum ersten Mal nehmen wir den gesamten Bestand der fotografischen Sammlung vor die kuratorische Linse. Das konkrete Thema dieses initialen Überblicks ist die Gestalt der Stadt selbst. Wie in anderen Metropolen des 19. Jahrhun­ derts boten die rapiden Veränderungen des urbanen Raums nicht nur eine schier endlose Palette relevanter Motive; es war das Medium Fotografie selbst, das die kollektive Vorstellung des modernen städtischen Gefüges erst konstituierte und bis in die Gegenwart wesentlich bestimmt. Auch heute noch ist es die Fotografie, die – mittlerweile als ubiquitäres Digitalisat – die formativen Bilder des urbanen Territoriums entscheidend festschreibt. Daher haben sich unsere KuratorInnen Anton Holzer und Frauke Kreutler gegen eine chronologische Organisation des Materials entschieden. Es geht hier schließlich weniger um eine konventionelle Geschichte der Straßenfotografie als um die Nachvollziehbarmachung eines dezidiert modernen Repräsentationsapparats. Dieser wird durch die thematische Gruppierung am besten erfassbar, zeigt er doch die Charakteristika des städtischen Raums in all ihrer transhistorischen Prägnanz. 17


EINLEITUNG ANTON HOLZER FRAUKE KREUTLER

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1 John Berger: Der Augenblick der Fotografie. Essays, München 2016, S. 95. 2 Ebd., S. 123.

„Kameras sind Schachteln für den Transport von Erscheinungen.“ Mit ­diesem wunderbar einfachen und zugleich vielschichtigen Bild hat der englische Schriftsteller und Kritiker John Berger einmal die Fotografie umschrieben.1 Ausgangsund Rohmaterialien des Mediums sind für ihn – neben dem Apparat – nur Licht und Zeit. Die Kamera, so Berger, hält den Zeitfluss an, sie „schneidet quer durch die Zeit“2 und fixiert einen konkreten Zeitpunkt, einen Augenblick. Das Ausstel­ lungsprojekt, das den Rahmen für die vorliegende Publikation bildet, beschäftigt sich mit solchen fotografischen Zeitschnitten, mit Aufnahmen, die das Leben auf Wiens Straßen für einen Moment eingefroren haben. Augenblick! haben wir deshalb die Ausstellung zur Wiener Straßenfotografie genannt. Die gängigen Begriffe der Street Photography beziehen sich meist auf künstlerische Positionen, zeitlich wird das Genre häufig in der Epoche nach den 1930er Jahren verortet. In diesem Katalog haben wir uns bewusst für einen breiten Begriff der Straßenfotografie entschieden. Künstlerische Positionen stehen in der folgenden Zusammenstellung ganz selbstverständlich neben nicht künstlerischen Auftragsarbeiten, die Übergänge sind mitunter fließend. Die frühesten Beispiele stammen aus den 1860er und 1870er Jahren, als professionelle LichtbildnerInnen den städtischen Raum zunehmend als neues fotografisches Sujet entdeckten, aber auch ein neues Publikum für ihre Bilder erschlossen. Die Straßenfotos wurden, massenhaft vervielfältigt, an Einheimische und TouristInnen verkauft, etwa in Form von Visit- oder Stereoansichten. Die jüngsten Straßenfotos stammen aus der Gegenwart. Es sind Instagram-Szenen, manche von ihnen wurden erst kurz vor Erscheinen dieses ­Katalogs aufgenommen. Als Dokumente der Straßenfotografie les- und interpre­tierbar werden all diese Bilder, ob sie nun historisch oder aktuell sind, erst dann, wenn wir sie in gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen, das heißt sie unter anderem im Kontext ihrer medialen Produktion und Verwendung sowie ihrer Überlieferung verorten. Lohnend ist es aber auch, die Querbeziehungen zwischen den Bildern zu verfolgen. Gegenwärtige Straßenfotos nehmen nämlich immer wieder auf historische Sujets Bezug, greifen diese auf und verarbeiten diese. Denken wir nur an viele ikonische Szenen der Wiener Fotogeschichte, die vom Naschmarkt über den Prater bis hin zum Kaffeehaus reichen und die, oft ästhetisch aktualisiert, in der Instagram-Welt wiederauftauchen. Die Ausstellung Augenblick! Straßenfotografie in Wien präsentiert einen Querschnitt durch die Geschichte der Wiener Straßenfotografie. Der zeitliche Bogen, 19


den wir schlagen, umfasst mehr als eineinhalb Jahrhunderte. In diesem langen Zeitraum haben sich die Stadt und ihr öffentliches Leben immer wieder radikal verändert. Das rasant wachsende Wien des späten 19. Jahrhunderts unterscheidet sich grundlegend vom Wien der Zwischenkriegszeit, das durch die Politik des „Roten Wien“ geprägt war. Das sich vom Trauma des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs erholende Wien der Nachkriegszeit ist zu unterscheiden vom Wien der letzten drei Jahrzehnte, als die Stadt nach 1989 von der Peripherie Westeuropas ins Zentrum Mitteleuropas rückte und neuerlich rasant anwuchs. Der Großteil der gezeigten Arbeiten stammt aus den Beständen des Wien ­Museums, das hier zum ersten Mal seine große und bedeutsame Fotosammlung in ihrer ganzen Breite vorstellt. Ergänzt wird dieser Kernbestand durch Werke aus anderen nationalen und internationalen Fotosammlungen. Neben ikonischen Bildern der Stadt, die entscheidende Augenblicke des urbanen Lebens festhalten, werden zahlreiche noch nie veröffentlichte Aufnahmen präsentiert, die den Alltag Wiens und das Leben seiner BewohnerInnen auf faszinierende Weise lebendig werden lassen: eindrucksvolle Straßenszenen, intime Schnappschüsse und flüchtige Momentaufnahmen des städtischen Lebens. Der Logik früher Museumssammlungen folgend, sind viele der hier gezeigten Bilder im Fotoarchiv des Wien Museums ursprünglich nach Straßenzügen, also unter topografischen Gesichtspunkten, abgelegt worden. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Perspektive auf die Fotosammlung grundlegend geän­ dert. Neue fotohistorische und kulturgeschichtliche Blickwinkel führten zu einer Neubewertung der Bilder. Herausragende Konvolute wurden identifiziert und als Gesamtwerke zusammengestellt, Auftraggeberschaft, Hintergründe und Überliefe­rung der Bilder wurden erforscht, die Arbeiten einzelner Fotografinnen und Fotografen wurden in neue Zusammenhänge gestellt, ausgestellt und publiziert. Das vorliegende Projekt, das ausgewählte Fotoarbeiten aus der Sammlung des Wien Museums unter dem Blickwinkel der Straßenfotografie vorstellt, reiht sich in die Tradition dieser Neubewertung ein. Die allermeisten Bilder dieses Bands sind ursprünglich nicht unter dem Label der Street Photography oder der Straßenfotografie entstanden, die von New York und Paris ausgehend erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts eine eigene Richtung innerhalb der Stadtfotografie wurde. Manche Fotografien entstanden an der Wende zum 20. Jahrhundert zur Dokumen­tation radikaler Stadtveränderungen, etwa im Vorfeld der Demolierung von Straßenzügen, in denen Platz für Neubauten geschaffen wurde. Andere Bilder waren ursprünglich Zeitungs- und Pressebilder, wieder andere entstanden im Rahmen künstlerischer Projekte oder als Dokumentationen in öffentlichem Auftrag. Nur ein Teil der Fotos wurde unmittelbar nach ihrer Entstehung angekauft, viele gelangten erst Jahre oder Jahrzehnte später in die städtische Fotosammlung. Viele der Fotos in diesem Band könnte man daher mit gutem Grund als Architekturfotos oder als städtebauliche oder topografische Dokumentation und nicht als Beispiele der Street Photography bezeichnen. Wir haben uns dafür entschieden, diese ursprünglichen Wahrnehmungskategorien gegen den Strich zu bürsten und den Fokus in der Interpretation auf das Leben auf der Straße zu legen, das von den FotografInnen oft beiläufig eingefangen wurde. Viele Schnappschüsse des städtischen Alltags entstanden nicht gezielt, sondern ergaben sich nebenbei. Es gehört zu den Eigenheiten der Fotografie, dass der fixierte Augenblick nicht nur das zeigt, 20


Abb. 1 Michael Frankenstein & Comp.: Kinder blicken in die Kamera, Währinger Straße, 1880er Jahre (Ausschnitt), Wien Museum

EINLEITUNG

was der Fotograf, die Fotografin auf die Platte bannen wollte, sondern dass sich immer wieder Unerwartetes ins Bild schleicht, die rasche Bewegung eines Verkehrsmittels, PassantInnen, die sich schattenhaft ins Bild schieben, ein Gesicht in Großaufnahme oder, wie in einem frühen Straßenbild des 19. Jahrhunderts, eine Schar Kinder, die dem Fotografen bei der Arbeit zusehen und aus nächster Nähe neugierig in die Linse blicken (Abb. 1). Während die FotografInnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese ‚Bildstörungen‘ wohl oder übel in Kauf nahmen, lieferte manchen künstlerisch orientierten StraßenfotografInnen des 20. Jahrhunderts der gewollte Zufall faszinierende Motive der Stadtfotografie. Wer die Bilder der folgenden Seiten genau betrachtet, wird zahlreiche dieser scheinbaren Nebensächlichkeiten entdecken. Es ist eine spannende Aufgabe, diese Details als Elemente und Bausteine der Straßenfotografie zu entschlüsseln. Achten wir auf vorbeihuschende Schatten von PassantIn­ nen, kokette, neugierige und voyeuristische Blicke, verdeckte und entblößte Körper, Gesichter und Gesten, eilige Schritte und müßiges Verweilen, schlafende und gehetzte Gestalten, leere oder bevölkerte Gehsteige und Verkaufsstände, Menschenmengen und Autos, wartende Kutscher und Kinderwagen, Hunde, angeschnittene Fassaden, Verkehrszeichen, Müllkübel, Plakate und Schriftzüge. Wenn wir all diese und noch viel mehr Details genauer betrachten und zu neuen Bildern und Bildmustern gruppieren, entstehen vor unseren Augen andere, aufregendere Bilder der Stadt und des Lebens auf der Straße, als wenn wir bei der ersten, offiziellen Betrachtungsweise der Fotos stehenbleiben. Wir haben uns in der Zusammenstellung der Bilderstrecken zunächst vom thematischen Blickwinkel leiten lassen. Die einzelnen Kapitel sind nach T ­ hemen gegliedert. Innerhalb dieser thematischen Blöcke reihen wir Fotos zum Teil in zusammengehörigen Serien und stellen immer wieder einzelne fotografische Positionen beispielhaft vor. Dabei folgen wir nur selten einer chronologischen Abfolge. Hinter der Entscheidung, Themen den Vorzug vor der Chronologie zu geben, stand die Absicht, das Bild einer kontinuierlichen, aufsteigenden Stadtgeschichte in Bildern zu vermeiden. Street Photography eignet sich nur bedingt dazu, herkömmliche Stadtgeschichte zu illustrieren. Spannender erschien es uns, den unterschiedlichen Zugängen der Fotografinnen und Fotografen Raum zu geben, statt die Bilder nachträglich in ein starres chronologisches Muster einzubauen. Bewusst lassen wir auf den folgenden Seiten Bildfolgen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, unmittelbar aufeinanderstoßen. Dadurch erge­ ben sich oft überraschende Nachbarschaften und Querbezüge zwischen Räumen, Zeiten und fotografischen Stilen. Der vorliegende Katalog kann auf zweierlei Weise gelesen werden. Wer in erster Linie an den Bildern und ihren Geschichten interessiert ist, folgt den Bilderstrecken und erschließt sich die Publikation schauend und blätternd. Wer hingegen eine Vertiefung einzelner Aspekte anstrebt, verbindet die Bildstrecken mit den eingeschobenen Texten und Essays. Schauen und Lesen – beides sind legitime Zugänge, um einzutauchen in die Wiener Straßenfotografie. Wir laden Sie zu einer aufregenden fotografischen Entdeckungsreise ein, die von der frühen Stadtfotografie des 19. Jahrhunderts bis zur Instagram-Ästhetik der Gegenwart führt.

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FRAUKE KREUTLER

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT STRASSENLEBEN IN DEN SAMMLUNGEN DES WIEN MUSEUMS

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Mit der Gründung des Wien Museums (vormals Historisches Museum der Stadt Wien) in den Räumen des neu erbauten Rathauses im Jahr 1888 hat die Stadtverwaltung beschlossen, das kulturelle Erbe Wiens zu erhalten und aktiv zu sammeln. Die Zeit dafür war gerade recht, denn rund um das Gründungsjahr veränderte sich die Stadtgestalt Wiens enorm. Mit Großprojekten wie dem Abriss der Bastei­en um 1858/59 und dem darauffolgenden Bau der Ringstraße ging ein massiver W ­ andel der Stadtgestalt einher. Alte Häuser und Gebäudekomplexe mussten der Neuge­ stal­tung der Stadt weichen, Gassen wurden zu Straßen, die Modernisierung der Stadt schritt im Eiltempo voran. Das, was übrig blieb, waren steinerne Artefak­te von Hausfassaden, von den Basteien und Stadttoren sowie bildliche Darstel­ lungen von Stadtteilen vor ihrem endgültigen Abriss. Zur Dokumentation des verschwindenden Wien wurden Künstler damit beauftragt, alte Gebäude und Straßenzüge vor ihrer Demolierung in Aquarellen, Zeichnungen und Fotografien für die Nachwelt bildlich festzuhalten. Speziell die Fotografie eignete sich hervorragend zur Dokumentation, galt das Medium doch seit seiner Erfindung 1839 als adäquates Mittel zur bildlichen Geschichtskonservierung. So konnte Altes im Foto bewahrt und Neues unmittelbar abgebildet werden. Die Konzentration der Fotografien auf die innere Stadt, die Hofburg, die Kirchen, die Ringstraßenbauten und die neu gebauten Prachtstraßen zeugt vom Entwurf eines Stadtbilds, welches in erster Linie auf die Eliten der Stadt verwies. Die Mehrzahl der Fotografien des inneren Bezirks in der topografischen Fotosammlung des Wien Museums zeugt ebenfalls von einer bürgerlichen Imagebildung der Stadt, kann doch das Museum als Stellvertreter der offiziellen Geschichtsschreibung der Stadt Wien gesehen werden. Die neu gegründete Institution sollte nicht nur das materielle Erbe einer sich ständig ändernden und rasant wachsenden Stadt sammeln, sondern auch die führende Rolle des liberalen Bürgertums als Interpret des historischen Erbes der Stadt demonstrieren. Und die Fotografie eignete sich dafür besonders, war sie doch das zeitgemäße und technologisch modernste Medium zur Dokumentation der Stadt.

MENSCHENLEERE STRASSEN Vorerst beschränkten sich die Fotografen auf die Dokumentation von Stadtteilen und Gebäuden. Beispielhaft dafür sind die Aufnahmen rund um St. Stephan und 23


Abb. 1 Gustav Jägermayer: Blick vom Stephansplatz gegen die Goldschmiedgasse, 1865, Wien Museum

Abb. 2 August Stauda: Fechtergasse 7–11, 1901 (Ausschnitt), Wien Museum

1 1871 wurde die Gelatinetrockenplatte vom englischen Arzt Richard L. Maddox erfunden.

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den Stock-im-Eisen-Platz. Bevor dort ganze Häuserensembles 1866 der Stadt­erneu­erung weichen mussten, wurde der Bereich aus unterschiedlichen Perspek­­ti­ven mehrfach abgelichtet. In großformatigen Bildern kann man sich den histo­rischen Stadtteil auf den Fotos noch immer vergegenwärtigen. Das Hauptaugenmerk der Ansichten ist auf die städtebauliche Dokumentation gerichtet. Gustav Jägermayer schreibt beispielsweise sowohl das Datum der Aufnahme als auch das Datum des Demolierungsbeginns der Häuser auf den unteren Bildrand und verweist damit auf den Grund seiner Aufnahme (Abb. 1). Auffallend ist die Absenz von Menschen auf diesen Fotos. Die Straßen scheinen wie leer gefegt, bis auf einzelne Figuren ist niemand zu sehen. Erst bei genauerem Betrachten können Schatten und unscharfe Umrisse von Personen ausgemacht werden. Das hat in erster Linie technische Gründe, denn erst mit dem Wechsel vom sehr komplizierten nassen Kollodiumverfahren zum einfacheren System der Gelatinetrockenplatte und weiteren Verbesserungen an der Lichtempfindlichkeit und der Optik der Geräte ab den 1880er Jahren gelang der entscheidende Durchbruch in der Fotografie.1 Die Fotografien im nassen Kollodiumverfahren waren zum einen in der Herstellung sehr aufwendig und kompliziert und zum a ­ nderen für das Abbilden von schnellen Bewegungen nicht geeignet, denn die Belichtungszeit betrug mehrere Sekunden. Zum Fotografieren auf der Straße war bis dahin eine transportable Dunkelkammer samt allen Materialien und Chemikalien eine abso­ lute Notwendigkeit. Ein Fotograf in der Öffentlichkeit war zu dieser Zeit ohnehin ein seltener Anblick, aber mit dem umfangreichen Equipment, der großen Kamera und der mobilen Dunkelkammer war er so auffällig, dass garantiert Schaulustige das Geschehen mit Interesse verfolgten. Daher mischen sich in den frühen Fotografien häufig passierende Menschen ins Bild, die trotz der langen Belichtungszeit relativ scharf abgebildet sind, da sie sich bei ihren Beobachtungen nicht von der Stelle bewegten. So sind etwa auf einem Foto der Währinger Straße (siehe Abb. S. 72) auf dem unteren Bildrand allerlei Personen abgelichtet, die sich mit großem Interesse der Arbeit des Fotografen zuwenden. Auch wenn dessen Intention vielleicht ausschließlich das Fotografieren der Architektur war, durch die rege Anteilnahme der PassantInnen wird das Foto außerdem zu einem Dokument des alltäglichen Wiener Straßenlebens.


FLANIEREN, SCHLENDERN UND BEOBACHTEN

2 Siehe dazu Josef Maria Eder: Die MomentPhotographie in ihrer Anwendung auf Kunst und Wissenschaft, Halle a. d. S. 1886. 3 Vgl. Timm Starl: „Die Photographie ist eine Nothwendigkeit …“. Die Atelierfotografie in Österreich im 19. Jahrhundert, in: Verein zur Erarbeitung der Geschichte der Fotografie in Österreich (Hg.): Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 1, S. 31ff. 4 Vgl. Uta Felten: Flaneure und Nomadinnen: Medialisierungen des Boulevards im franzö­ sischen Kino bei Rohmer und Malle, in: Walpurga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung, Tübingen 2012, S. ­11–14.

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT

Erst mit der Erfindung der Trockenplatte war ein viel einfacheres Hantieren und ab den 1880er Jahren auch das Fotografieren mit Belichtungszeiten von weniger als einer Sekunde möglich. Zum ersten Mal konnte direkt aus der Hand und ohne Stativ gearbeitet werden.2 Diese Neuerung war revolutionär, veränderte den fotografischen Blick vollständig und ermöglichte der Fotografie zudem eine enorme Verbreitung und kommerzielle Produktion. Die Momentfotografie, auch Augenblicksfotografie genannt, war geboren, und ab diesem Zeitpunkt konnten Stadtaufnahmen in aller Schärfe mit dynamischem Leben und dem Treiben der Straßen gefüllt werden. Ab jetzt bevölkerte auf mannigfaltige Weise städtisches Gesche­ hen die Fotografien. AmateurInnen wie auch professionelle FotografInnen durchstreiften die Stadt und fotografierten das öffentliche Leben auf den neu erbauten Boulevards, den Straßen, Plätzen, Parks und Märkten. Das Stadtleben, die Stadt als Ort der Erholung, der Freizeitvergnügungen, des Arbeitsalltags und des Ver­kehrs rückten zunehmend ins Zentrum städtischer Darstellungen. Viele FotografInnen schufen Mappen- und Albenwerke, kleinformatige Serien und Stereo­foto­ grafien mit Wien-Ansichten oder Postkartenserien, um den Verkauf ihrer Arbeiten zu maximieren.3 Die hohen Auflagen waren für das Geschäft mit Stadtansichten besonders lukrativ, da viele TouristInnen Wien besuchten und Fotografien als Mitbringsel kauften. Großstädtisches Leben, rasante Entwicklungen wie der Verkehr, aber auch die Stadt als Ort des Konsums waren Motive, die Wien als moderne Weltmetro­pole präsentierten. Typische und zeitgemäße Figuren dafür waren Flaneure und Spazier­ gängerinnen, die durch die Straßen Wiens schlenderten. Charles ­Baudelaires ­metaphorische Figur des Flaneurs war der Inbegriff des modernen, bürgerlichen Großstadttypus. Dieser ließ sich inmitten der anonymen Menschenmassen durch die Straßen treiben, schlenderte ohne Ziel durch die Stadt und erweiterte sein Wissen durch reflexive Stadtbeobachtungen. Ähnlich wie der Fotograf auf der Straße war er ein Beobachter des großstädtischen Treibens. Zumeist ausstaffiert mit einem Spazierstock, posierte er auf den Fotografien häufig inmitten des vielfältigen Großstadtgeschehens. Ob in der eleganten Einkaufsstraße, am Donaukanal oder im etwas heruntergekommenen Vorstadtviertel (Abb. 2), er bewegte sich im öffentlichen Stadtraum immer selbstsicher und mit der absoluten Selbstverständlichkeit eines Weltbürgers. Am häufigsten wurde der Flaneur beim Spaziergang auf einem Boulevard abge­ bildet, waren doch die neu erbauten Prachtstraßen bereits um 1900 die Metapher für städtische Massenkultur. In bildlichen Darstellungen steht der Boulevard als ideale Topografie für das Flanieren, Spazieren und die Schaulust. Die Großstadt als Bühne für das flüchtige Begehren des Flaneurs, das sich in die erotisierten Körper der Passantinnen einschrieb, gehörte ebenso zur medialen Inszenierung großstädtischen Lebens. 4 Das weibliche Pendant des Flaneurs waren die vielen eleganten Spaziergängerinnen, die auf den Fotos zu sehen sind. Mit ihren vornehmen Kostümen und den großen Hüten ziehen sie die Blicke auf sich. Aber speziell die aktuellen Moden machten es den Fotografen oder Verlegern oft schwer, ihre Fotoserien über ­längere Zeit als neuwertig und modern zu verkaufen. Doch durch umfassende Retusche konnte auch dieses Problem behoben und das Aussehen der Passantinnen dem Zeitgeschmack gemäß runderneuert werden. Spaziergängerinnen im 25


Abb. 3 Martin Gerlach sen.: Stubenring 5, um 1900, Wien Museum

Abb. 4

langen, hochgeschlossenen Kleid verwandelten sich so zu moderneren, jüngeren und schlankeren Städterinnen, deren kürzere Sommerkleider mit tieferen Dekolletés garantiert den Blick des Flaneurs auf sich zogen (Abb. 3 und Abb. 4).5

Martin Gerlach sen.: Stubenring 5, um 1920, Wien Museum

MÄRKTE UND MENSCHEN

5 Zur Retusche siehe den Aufsatz von Irina Witoszynskyj in diesem Band. 6 Emil Hofmann: Wiener Wahrzeichen, hg. v. Gemeinderat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien o. J., S. 132.

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Zu den beliebtesten Wiener Motiven städtischen Straßenlebens gehören zwei­ felsohne die Wiener Märkte, mit der Hauptattraktion Wiener Naschmarkt, der in keinem Stadtführer fehlen darf und durfte. Das Wien Museums besitzt umfang­reiche Fotoserien des alten und neuen Naschmarkts. Fotografen wie Anton Carl Schuster, Martin Gerlach sen., Emil Mayer oder Moriz Nähr fotografierten das Marktleben um 1900. Das geschäftige Treiben war für die Fotografen von besonderem Interesse: Frauen mit Einkaufskörben im Gespräch oder beim Feilschen mit MarktstandlerIn­ nen, KundInnen beim Begutachten der Ware, Kinder an der Hand ihrer Eltern, Blumenverkäuferinnen und Menschen im Gespräch waren beliebte Motive. Großstädtisches Flair mit modernem Konsum und Güterverkehr wird man auf diesen Fotos nicht finden. Vielmehr sind diese Aufnahmen der Tradition der „AltWiener“ Figuren zuzuschreiben, die in ihrer Darstellung immun gegen den städtischen Fortschritt waren. Sie erzählten eine Gegengeschichte zur Moderne und setzten der schnelllebigen Großstadt eine ‚volkstümliche‘ Lebenswelt von kleinstädtischen Strukturen entgegen. „Folge mir, freundlicher Leser, und wir wollen an einem schönen Sommermorgen um die Stunde, da die Hausfrauen zu Markte eilen, die Stätte besuchen, wo noch urwüchsige Wiener Art bodenständig ist und oft in derbbiederer Art zutage tritt“, schrieb Emil Hofmann in seinem Buch über die Wiener Wahrzeichen.6 Die hier beschriebene ‚urtümliche‘ Wiener Lebensart hat sich als Fotomotiv im Typus der Wiener Marktstandlerin erhalten, die mit Kopftuch und Schürze, in ein gemütliches Gespräch mit der Kundschaft vertieft, bis weit in die 1950er Jahre porträtiert wurde (siehe Abb. S. 169). Auch in dieser Marktszene circa 50 Jahre später scheint sich das Leben in Wien nicht wesentlich verändert zu haben, und von der Hektik einer Großstadt ist auch hier nach wie vor nichts zu spüren. Ganz anders die Fotos von Carl Triebel zu den ersten Fleischständen der Wiener Aktiengroßschlächterei (Abb. 5). In jedem Wiener Gemeindebezirk bot man Fleischwaren über die Aktiengesellschaft zu einem niedrigeren Preis an als an den Ständen der lokalen Fleischhauer. Das war der Versuch einer Maßnahme, um den


Abb. 5 Carl Triebel: Fleischstände der Wiener Aktien-Großschlächterei, 1905, Wien Museum

zunehmend schwierig werdenden Versorgungsherausforderungen einer stetig wachsenden Großstadt zu begegnen.7 Im Gegensatz zum beschaulichen Marktleben in den Darstellungen von Emil Mayer oder Moriz Nähr ist hier hektisches Treiben zu sehen. Zahlreich stellen sich Kinder, Männer und Frauen mit Körben an, um an die billige Ware zu kommen. Kein Plausch mit dem Verkäufer ist möglich, stattdessen wird versucht, die vielen Menschen zügig zu bedienen. Scheinbar ist auch die Polizei vor Ort, um den Ansturm auf die Ware in geordnete Bahnen zu lenken. Im Gegensatz zu den schönen Bromölabzügen im Postkartenformat von Mayer, die für den privaten Verkauf gedacht waren, sind die Fotos von T ­ riebel zum Zweck der Dokumentation gemacht worden. Es sind nicht retuschierte Abzüge, die vom Historischen Museum in die Sammlung übernommen wurden. Diese Serie ist eines der wenigen Zeugnisse des Konsumverhaltens jenseits der bürgerlichen Warenwelt der Wiener Einkaufsstraßen um 1900.

KONSERVATIVE STRÖMUNGEN IN DER FOTOGRAFIE

7 Vgl. Lukasz Nieradzik: „Dämon Der moder­ nen Zeit“. Der Konflikt um die Wiener Grossschlächterei im 19. Jahrhundert, in: Brigitta Schmidt-Lauber, Klara Löffler, Ana Rogojanu (Hg.): Wiener Urbanitäten. Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt (elektronischer Sonderdruck), Wien/Köln/ Weimar 2013, S. 94–107.

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Fotografie international in eine völlig neue Richtung. Vor allem in der Sowjetunion und in Deutschland revolu­ tionierte man althergebrachte Darstellungsformen und versuchte, mit dem Neuen Sehen und der Neuen Sachlichkeit die Welt aus anderen Perspektiven zu begreifen. Ab den 1920er Jahren wurde die Fotografie endgültig zum Massenmedium und war fortan nicht mehr aus Zeitschriften, Büchern und Publikationen wegzudenken. Fotografien waren nun nicht mehr das Beiwerk, sondern wurden als zentrale Elemente der Informationen zu direkten Vermittlern der Sicht auf die Welt. So beschäftigten sich auch zunehmend mehr KünstlerInnen mit diesem Medium, experimentierten und suchten nach neuen Ausdrucksformen. In unterschiedlichster Ausprägung fand die Fotografie Einzug in das künstlerische Schaffen. Nahsicht, Schrägsicht, ungewohnte Perspektiven, ­Fragmentierungen und Nah­ aufnahmen wurden zu neuen ästhetischen Stilmitteln. Vor allem in Deutschland, im Umkreis der Weimarer Kunstschule Bauhaus, stellte man den Perfektionismus der piktorialistischen „Kunstfotografie“ infrage. Vielmehr orientierte man sich an der russischen Avantgarde, die den neuen gesellschaftlichen Umwälzungen mit eigenen Ausdrucksmitteln gerecht werden wollte. Die Fotogra­fie sollte Vorstellungen einer neuen Welt mit modernen Formen der Wahrnehmung eröffnen. Die Erneuerung der Fotografie hatte sich in Österreich nicht in der Radikalität durchgesetzt, wie wir sie in Deutschland finden. Im Gegenteil, vor allem im Ama­ teurbereich war der Stil der piktorialistischen Kunstfotografie bis in die 1930er Jahre stark vertreten. In den 1890er Jahren entwickelte sich in Österreich, ange­ lehnt an das englische Arts and Crafts Movement, ein neues ästhetisches Ideal. Angeführt von bürgerlichen Amateurfotografen und Amateurvereinen war man bestrebt, der bis dahin in der Fotografie als „seelenlose Mechanik“ geltenden Schärfe entgegenzutreten und diese gegen eine stimmungsimpressionistische Fotografie auszutauschen. Die Unschärfe wurde zum ästhetischen Mittel erkoren, und die Fotografie sollte zum Ausdrucksträger der individuellen Wahrnehmung werden. Nach dem Krieg knüpfte der Großteil der Amateurfotografen wieder an die Tra­di­tion der Kunstfotografie an, und nur wenige versuchten, die neuen avantgar27


Abb. 6 Robert Haas: Straßenszene in Wien, 1935, Wien Museum

distischen Strömungen der 1920er Jahre in ihre Arbeiten aufzunehmen. Ein pro­ mi­nenter Vertreter der Kunstfotografie in Wien war der Amateurfotograf Franz ­Holluber, dessen Fotografien in den Sammlungen des Wien Museums zahlreich vertreten sind. Holluber war Mitglied in der Photographischen Gesellschaft und im Wiener Photo-Klub, in dessen Räumen er 1912 mit seiner Ausstellung ­Verschwindendes Wien eine erste, umfassende Schau seiner Werke zeigte. Etwa zwanzig Jahre später stellte er erneut seine Arbeiten in der Ausstellung Alt-Wien in den Räumen des Wiener Photo-Klubs aus. Eine Ausstellungskritik beschreibt die Auseinandersetzung rund um die neuen Strömungen in der Fotografie wie folgt: „Diese Ausstellung beweist, daß Photographie Kunst sein kann … die Ausstellung beweist ferner, daß es in der Fotografie keine ‚neue Kunst‘ gibt, denn die ganze Art Hollubers, die er schon vor 40 Jahren an seinen Arbeiten übte, mutet häufig durchaus ‚modern‘ an.“ 8 Die „Modernität“ bezieht sich hier vor allem auf die Sachlichkeit der Motive. Weg vom stimmungsvollen Landschaftsbild hin zu urbanen Themen wie Großstadt, Verkehr, Konsum und Stadtleben. „Dem Gros der österreichischen Amateure wiederstrebt es auf diesem Wege billigere Effekte zu folgen, er versteht es vielmehr selbst dem sachlichen Motiv eine geschmackvolle Unterlage zu geben“, schreibt der Amateurfotograf Maximilian Karnitschnigg. 9 So versperrte sich auch Holluber nicht ganz den zeitgenössischen Strömungen und versuchte, moderne Themen in der ästhetischen Sprache der piktorialistischen Kunstfotografie umzusetzen. Obwohl sich Holluber vor allem mit der Dokumentation von Stadtansichten vor deren Umbau befasste (wie es schon die Titel seiner Ausstellungen suggerierten), lag sein Bemühen ebenso in der fotografischen Umsetzung visueller Erfahrungen der Großstadt und deren Reize. In seiner Straßenansicht der Schottengasse (siehe Abb. S. 65) fing Holluber an einem Regentag die verschwommenen Spiegelungen auf der Straße und die leicht nebelige Atmosphäre ein und schuf so eine malerische Aura und eine Interpretation der Großstadt fernab der Banalität des Alltags. Die Votivkirche im Hintergrund ist ein klarer Verweis auf die Stadt und sorgt auch für die Wiedererkennbarkeit des Standorts.10

DIE STRASSE ALS METAPHER FÜR DAS ALLTÄGLICHE

8 Photo und Kinosport. Illustrierte Monatshefte für Amateure (April 1933), S. 70. 9 Kamera Kunst. Illustrierte Zeitschrift für Photographie (Mai 1930), S. 147. 10 Zur Entwicklung der Kunstfotografie in Wien siehe Astrid Lechner: Der Camera-Club in Wien und die Kunstfotografie um 1900, Diss. Univ. Wien 2005.

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Im Gegensatz zur Stadtimpression von Holluber rückten bei Robert Haas die Menschen ins Zentrum der Fotografie und waren nicht mehr reine Staffage. Das grelle Mittagslicht, die harten Kontraste, die angeschnittene Rückenansicht der Frau im Vordergrund, der enge Bildausschnitt und der unmittelbare Blickkontakt zum Kleinkind im Kinderwagen zeugen von der Intention, einen alltäglichen Augenblick so ungestellt wie möglich in einem schnellen Moment festzuhalten (Abb. 6). Die Arbeiten von Haas entsprechen viel mehr der neuen Sicht auf das Motiv der Straße als Metapher für das ‚Alltägliche‘ in der Fotografie. Der technische Fortschritt der Filmrolle, der handlicheren Kameras, die höhere Lichtempfindlichkeit und der Kontrastumfang der Filme trugen wesentlich zur Veränderung in der Straßenfotografie bei. Mit einer leichten, schnell bedienbaren Kamera konnte man mitten in das Geschehen eintauchen und als versteckter Beobachter schnappschussartig das Alltagsleben unmittelbar fotografieren. Im Gegenteil zum Piktorialismus sollte jetzt verstärkt die Spontanität das Bildgeschehen definieren.


Der österreichisch-amerikanische Fotograf Robert Haas arbeitete als Grafiker und Pressefotograf in Wien.11 Eine Fotoserie des Böhmischen Praters am Laaer Berg verweist besonders eindrücklich auf das einzigartige Gefühl des Fotografen, im passenden Augenblick auf den Auslöser zu drücken (siehe Abb. S. 354). Mit der neuen Ästhetik der Bewegungsunschärfe, den angeschnittenen Rückenansichten, sich ins Bild bewegenden PassantInnen und engen Bildausschnitten vermochte Haas, den lauten Trubel, die Aufregung der Kinder, die Freude beim Ringelspiel, die Coolness der Jugend beim Preisschießen, die Atmosphäre des Orts und das Treiben der Menschen in passenden Augenblicken perfekt in Fotos einzufangen.

DAS ELEND AUF DEN STRASSEN Abb. 7 Edith Suschitzky: Elendsquartier in Wien, um 1930, The National Galleries of Scotland

11 Zu Robert Haas siehe Anton Holzer, Frauke Kreutler (Hg.): Robert Haas. Der Blick auf zwei Welten (Ausstellungskatalog Wien ­Museum), Berlin 2016. 12 Zu Edith Tudor-Hart siehe Duncan Forbes (Hg.): Edith Tudor-Hart. Im Schatten der Diktaturen, Ostfildern 2013. 13 Sonja Huber: „Die Erziehung zum Sehen …“. Das demokratische Lichtbild und die Selbstperzeption der österreichischen Arbeiterschaft 1918 bis 1934, Dipl.-Arb. Univ. Wien 2005, S. 116.

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT

Während des Ersten Weltkriegs und vor allem nach dem Zusammenbruch der Monarchie stand für den Großteil der Wiener Bevölkerung das tägliche Überleben im Mittelpunkt. Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnungsnot, Kälte und Krankheiten wurden zunehmend zu bestimmenden Faktoren, die auch das Stadtbild prägten. Eine Fotografin, die sich besonders intensiv mit diesem Thema auseinandersetzte, war Edith Suschitzky (verheiratete Tudor-Hart). Sie gehörte zu jenen Wiener FotografInnen, die sich sowohl dem Neuen Sehen als auch der sozialkritischen Arbeiterfotografie verpflichtet fühlten. Aufgewachsen in einer bür­ ger­lichen, sozialistisch geprägten Familie und sozialisiert vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs sowie der Politik der Arbeiterklasse, politisierte sich Suschitzky schon als junge Frau und engagierte sich für die Kommunistische Partei. Als Fotografin arbeitete sie in Wien für Zeitschriften wie Der Kuckuck, Die Bühne oder die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Mit der Avantgarde des Neuen Sehens kam sie in Kontakt durch Studienkurse am Bauhaus, der Schule für Kunst und Gestaltung in Dessau, an denen sie von 1928 bis 1930 teilnahm.12 Sie war 1931 auch Gründungsmitglied der „Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Österreich“.13 In der Arbeiterfotografie war man durch die nüchterne Technik der Fotografie bestrebt, die Welt ‚wirklichkeitsgetreuer‘ einzufangen. Der fotografische Blick sollte aus der Perspektive der Arbeiterschaft auf alltägliche Lebensbereiche gerichtet werden: Der Blick aus dem Fenster, auf Details der Straße, seien sie noch so banal oder hässlich, der Blick auf das heimische Leben innerhalb der eigenen vier Wände oder der Blick auf das eigene Arbeitsumfeld sollten den Alltag der Arbeiterschaft so unverfälscht wie möglich abbilden. Geschult in der Technik der realistischen Reportage, dokumentierte Suschitzky neben den Freizeitvergnügungen der Wiener Arbeiter in der Lobau oder im Wurstelprater auch das Nachkriegselend auf Wiens Straßen. Suschitzky fotografierte das entbehrungsreiche Leben der von Armut betroffenen Bevölkerung mit viel Einfühlungsvermögen. Sie fotografierte Kriegsveteranen auf Krücken und in Rollstühlen, bettelnde Menschen und Arbeitslose, und sie bildete die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse in Wiens Elendsquartieren ab (Abb. 7). Mit zum Teil engen Bildausschnitten konzen­ trierte sich die Fotografin auf das Wesentliche und lenkte so den Blick auf den oftmals verzweifelten Ausdruck in den Gesichtern. Mit dem Einsatz der sogenannten Untersicht vermied sie zudem ein Von-oben-herab-Schauen auf die dargestellten Personen, um sie so möglichst nicht ihrer menschlichen Würde zu berauben (siehe Abb. S. 293). 29


Abb. 8 Unbekannt: Lebensmittelgeschäft in der Billrothstraße, verm. 1938, Wien Museum

Abb. 9 Unbekannt: Blick auf zerstörten Wurstel­prater und Riesenrad, nach 11. April 1945, Wien Museum

14 Vgl. Franz Mazanec, Kurt Apfel (Hg.): Alltag in Wien um 1930. Eine Zeitreise in Bildern, Erfurt 2009, S. 6.

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ALLTAG IN KRIEGSZEITEN – DIE SAMMLUNG KURT APFEL In der Zwischenkriegszeit fanden Fotografien des Alltagslebens oder auch Arbei­ terfotografien kaum Eingang in die Sammlungen des Museums. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht mehr dokumentarische und beschreibende Ansichten der Stadt und ihrer Veränderungen abbildeten, sondern spontane Alltagsszenen, die möglicherweise den damals geltenden Sammlungskategorien nicht entsprachen. Fotografien von Robert Haas oder die Sozialdokumentationen von Edith Suschitzky (Tudor-Hart) wurden erst ab den 1990er Jahren unter dem neuen Sammlungsschwerpunkt der Wiener Exilfotografie ins Wien Museum übernommen. Es handelt sich hierbei um eine mittlerweile umfangreich ange­wachsene Sammlung an Werken jüdischer FotografInnen, die spätestens 1938 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Österreich flüchten mussten. Straßenfotos in der Fotosammlung „Geschichte und Stadtleben“ des Wien Museums, fotografiert zwischen 1938 und 1945, zeigen eher politische oder gesell­ schaftliche Ereignisse und sind auch unter dieser Rubrik im Sammlungsdepot eingeordnet. Allerdings gibt es eine Sammlung von über 600 Fotografien, aufge­ nommen zwischen 1938 und 1945, die dem Wien Museum 2003 vom Fotografen Kurt Apfel geschenkt wurden und die das Wiener Alltagsleben auf vielfältige Weise dokumentieren. Bei den Fotos handelt es sich nicht um Apfels eigene Aufnahmen, sondern um gesammelte Fotografien seiner KundInnen und GeschäftsfreundInnen. Seit den 1950er Jahren begann er aktiv, solche Fotografien zu sammeln und zu erwerben.14 Das Spektrum an Motiven ist vielfältig. Abgebildet sind große Festlichkeiten und Veranstaltungen der HJ oder des BDM, Gruppenaufnahmen in Jugendlagern, antisemitische Plakate und Parolen (Abb. 8) sowie Verbotsschilder auf Straßen, in Parks und vor Geschäften, Hakenkreuzfahnen und Hitlerporträts in der Öffentlichkeit, zerstörte Synagogen, NSDAP-Schaukästen für NS-Propaganda, Plakate und Polizeiverordnungen, Fotos von Luftschutzräumen, Menschen inmitten der vom Krieg zerstörten Stadt, Invalide und bettelnde Menschen, unter Bewachung stehende Kriegsgefangene bei der Arbeit, zerbombte Ruinen des Wurstelpraters (Abb. 9) bis hin zu Aufräumarbeiten in Wien kurz nach dem Krieg. Wer fotografierte oder unter welchen Umständen die Fotos hergestellt wurden, ist leider nicht überliefert. Waren es private Schnappschüsse, Profifotos von


Fotoreportern oder Einzelstücke aus ganzen Fotoserien? Das lässt sich heute im Einzelnen nicht mehr nachzeichnen. Welche Beweggründe für die Entstehung und Auswahl dieser Fotos ausschlaggebend waren, kann anhand von Apfels Publi­ kation Diese Stadt ist eine Perle … rekonstruiert werden. Mit dem Bildband präsentierte Apfel 1991 erstmals einen Teil seiner umfangreichen Sammlung der Öffentlichkeit.15 Darin wurde der Versuch unternommen, die komplexen p ­ olitischen Ereignisse in Wien von 1930 bis 1938 sowie das ‚Alltagsleben‘ inmitten von Krise und Not, Gewalt und der Kämpfe rund um das „Rote Wien“ bis hin zur Machtübernahme der Nationalsozialisten anhand von Fotos und Texten den LeserInnen so authentisch wie möglich zu vermitteln. Apfels Sammelstrategie bestand wohl darin, Fotografien als wahrheitsgetreue Zeitdokumente zu sammeln, um den nachfolgenden Generationen historische Lebenswelten so realistisch wie möglich zu vergegenwärtigen. Quellenkritisch die Produktionsbedingungen und Entstehungsprozesse der Fotos selbst zu hinterfragen, war dabei nicht maßgeblich, denn für ihn waren die Fotografien wahrheitsgetreue Abbildungen der Vergangenheit und dementsprechend auch leicht verständlich.

ÄRA DER GROSSEN BILDREPORTAGEN

Abb. 10 Ernst Haas: Life, 8. August 1949, S. 30 und S. 31

15 Kurt Apfel, Reinhard Pohanka (Hg.): „Diese Stadt ist eine Perle …“, Wien 1991. 16 Zu Ernst Haas in Wien siehe Agnes ­Husslein-Arco (Hg.): Ernst Haas. Eine Welt in Trümmern. Wien 1945–48. Ein Fotoessay (Ausstellungskatalog Museum der Moderne Salzburg), Weitra 2005. 17 Vgl. Matthias Christen, Anton Holzer: ­Mythos Magnum. Die Geschichte einer legendären Fotoagentur, in: Fotogeschichte. Beitrag zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 36 (2016) 142, S. 21–35.

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT

Vom Wien der Nachkriegszeit gibt es eindrucksvolle Fotodokumentationen und Serien, welche die Stadt in Trümmern aus unterschiedlichsten Perspektiven abbilden. Eine Fotoserie hat wohl am nachhaltigsten das Bild vom Nachkriegswien geprägt: Es sind die mittlerweile zu Ikonen gewordenen Fotos der Serie von Ernst Haas über die Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft, die er im August 1949 unter dem Titel Last War Prisoners im Magazin Life veröffentlichte (Abb. 10). Die Fotos zeigen das bange Warten und Hoffen der Zuhausegebliebenen, in deren Gesichtern man auch noch Jahrzehnte später die Anspannung, die Angst, die Trauer oder auch die Freude über die heimkehrenden Männer erkennen kann. Ebenso zeigen seine Fotos des Alltagslebens und des Überlebens der Menschen auf eindrückliche Weise deren Lebensumstände inmitten einer von Zerstörungen gezeich­neten Stadt. Menschen, die um Almosen betteln, die in Suppenküchen ihr karges Mahl zu sich nehmen, oder Invalide mit amputierten Gliedmaßen bestim­ men die Bilder der Tristesse und des grauen Alltags in Wien.16 Nach dem Krieg eroberten Fotoagenturen den Weltmarkt des internationalen Bildtransfers und versorgten die Fotoredaktionen der großen Zeitschriften wie Life und Look in den USA oder Stern, Picture Post und Paris Match in Europa mit aktuellen Bilderserien und Fotografien. Die 1947 in New York gegründete Fotoagentur Magnum hat wesentlich zu einem neuen Verständnis und Konzept der dokumentarischen Fotografie beigetragen. Um sich als ernst zu nehmende Agentur etablieren zu können, setzte man bei Magnum auf ein weltweites Netzwerk herausragender und namhafter FotografInnen, um auf aktuelle Themen und Nachrichten schnell reagieren zu können. Das Konzept exklusiver Bildreportagen, fotografiert von den besten FotografInnen, wurde von den großen Magazinen übernommen und trug zur Popularisierung von Bildstrecken und deren UrheberInnen bei.17 Neben dem österreichischen Fotografen Ernst Haas, der seit 1950 Vollmitglied bei Magnum war, wurde auch Erich Lessing ein Jahr später in die Fotoagentur aufgenommen. Eine umfangreiche Fotoserie Lessings über das Nachkriegswien 31


18 Vgl. Historisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Erich Lessing: Photographie. Die ­ersten 50 Jahre (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 1994, S. 110. 19 Zit. in ebd., S. 110. 20 Vgl. Margarethe Szeless (Hg.): Die Kulturzeitschrift magnum. Photographische Befunde der Moderne, Marburg 2007, S. 88f.

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aus dem Jahr 1953 ist heute im Besitz des Wien Museums, denn 1994 wurde das fotografische Werk Erich Lessings zum ersten Mal in einer Einzelausstellung gezeigt. Die Schau im damaligen Historischen Museum der Stadt Wien zeigte die ersten 50 Jahre seines umfangreichen Œuvres. Ausgestellt wurde die ganze Bandbreite seiner Fotoreportagen: von den Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Wien der Nachkriegszeit über die Aufnahmen der tragischen Ereignisse der ungarischen Revolution bis hin zu jenen von Politikern und KünstlerInnen. In die Sammlung übernommen wurden dann jene Fotos, welche die BewohnerInnen der Stadt Wien in Straßen- und Alltagsszenen nach dem Krieg dokumentierten. Ganz im Sinne der Gründungsmitglieder von Magnum war auch für Lessing die dokumentarische Fotografie ein Mittel, um humanistisches Gedankengut weltweit zu verbreiten. Mit seinen Bildreportagen über Kriege, Flucht und Aufstände versuchte er, die Welt zu einer friedlicheren zu ändern und die Menschen und deren Politik zu einem Umdenken zu bewegen. Um das zu erreichen, bediente er sich zumeist der Bilderserie und nicht des Einzelbilds.18 Ganz in Cartier-Bresson’scher Manier sollten diese Fotos nachträglich nicht verändert oder gar konstruiert und manipuliert werden. „Das heißt auch, daß man den Augenblick so nützen muß, daß er zur Interpretation wird, aber ohne Schwindel, einfach Photographie pur“, beschrieb Lessing seine Arbeitspraxis in einem Interview.19 Die Bildkomposition musste demnach von Anfang an stimmen, und es sollte genau der Augenblick genützt werden, der zur Interpretation seiner Erzählung passte. Diese Forderung, dass Fotografie dem unmanipulierten Zugriff auf die Wirklichkeit entsprechen musste, stimmte ganz mit dem Konzept der Life-Fotografie überein. Der nicht gestellte Schnappschuss, der den „entscheidenden Augenblick“ einfing, wurde für viele FotografInnen der Nachkriegszeit zum Ziel ihrer Berichterstattung.20 Das Besondere an Erich Lessings Fotografien sind seine feinen Beobachtungen von Menschen und deren Reaktionen auf ihr Umfeld. Auf subtile Weise inszenierte er den Blick sowohl innerhalb als auch außerhalb des Bildes. Durch gekonnte Kompositionen werden die Blicke im Bild sowie die der BetrachterInnen auf das Hauptaugenmerk gelenkt. Beispielsweise scheinen die in ihr Schachspiel vertief­ ten Männer im Kaffeehaus die Frau, die durch das beschlagene Fenster die Szenen beobachtet, gar nicht zu bemerken. Oder der Korbflechter scheint dermaßen in seine Arbeit vertieft, dass auch er den neugierigen Blick der schick angezogenen Frau nicht bemerkt. Das Thema Schauen und Staunen ist in Lessings Fotografien ein zentrales und immer wiederkehrendes Sujet. Es ist ein ständiges Beobachten und Beobachtetwerden. Sowohl Erich Lessing als auch Ernst Haas versuchten, mit ihren Bildreporta­ gen und Fotoserien eine Bestandsaufnahme der Lebenssituationen und ein Stim­ mungsbild von Wiens Straßen der Nachkriegszeit zu vermitteln. Die journalistisch geprägte Life-Fotografie schien bestens dazu geeignet, einem breiten Publikum zeitgemäße, humane Botschaften zu vermitteln. Die Bilderserien erzählen von Heimkehrern, den Überlebensstrategien der Frauen, der Politik und der Vergan­ genheitsbewältigung, aber auch von Freizeitvergnügungen und vom Wieder­ auf­bau. Sie erzählen kurze Geschichten anhand von szenischen Augenblicken. Aneinandergereiht in Bilderfolgen schildern sie das Leben in Wien unmittelbar nach dem Krieg.


Abb. 11 Franz Hubmann: Wien. Vorstadt Europas, 1963, S. 112 und S. 113

ANEKDOTEN VON DER STRASSE

21 Zu Milieureportage in Wien-Bildern siehe Michael Ponstingl: Wien im Bild. Fotobildbände des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 5), Wien 2008, S. 79–100.

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FotografInnen wie Ernst Haas, Otto Croy, Inge Morath, Harry Weber, Franz Hub­ mann oder Barbara Pflaum erhoben den Alltag des ‚durchschnittlichen‘ Menschen auf der Straße zum bildwürdigen Thema. Es standen aber nicht immer nur konkrete Ereignisse und Serien wie in der Life-Reportage im Vordergrund. Im Gegensatz zur Bildberichterstattung wurde im Einzelbild der Street Photography kein eindeutiger Inhalt erzählt. Vielmehr sollte der schnappschussartige Augenblick die Vorstellungskraft der BetrachterInnen anregen. Die Street Photography spielte mit dem Blick auf die Ränder, auf das nicht Fassbare, das Unkontrollierbare. Ähnlich dem Flaneur des 19. Jahrhunderts durchforsteten FotografInnen die Straßen Wiens auf der Suche nach dem perfekten Schnappschuss, wobei ihre Motive nach wie vor häufig die Plätze und Gegenden darstellten, die für ­typische Wien-Bilder unerlässlich zu sein schienen. Doch geht es hier weniger um ­sozial motivierte Dokumentationen als vielmehr um die Darstellung urwienerischer Milieus.21 Häufig werden Momente auf humorvolle Weise dargestellt, um den­ „Durch­schnittswiener“ und die „Durchschnittswienerin“ jenseits der üblichen So­zialreportagen in den Außenbezirken zu porträtieren. Mit Fotomotiven von den ­ Wiener Märkten, den Literaten und Intellektuellen in den Wiener Kaffeehäu­sern, den exotisch anmutenden Lebenswelten im Wurstelprater, den Nachtschwär­ mern auf den Wiener Bällen und Tanzveranstaltungen interpretierten die Fotogra­fierenden die Stadt im neuen Stil. Franz Hubmann gehörte wohl zu den bekanntesten ChronistInnen, er arbeitete sich an den Wiener Typen ab und fotografierte eingehend typische Wiener Gedächtnisorte. Er dokumentierte in Fotobüchern und Bildessays ein umfangreiches Stadtbild Wiens der 1950er und 1960er Jahre. Bekanntere Wiener Figuren wie die kartenspielenden „Ziegelböhm“ im Böhmischen Prater, die alte Frau mit Einkaufstasche und Gehstock am Brunnenmarkt oder die Budenbesitzer und ihre Kundschaft im Wurstelprater fotografierte er gleichermaßen wie Straßenszenen in Wiener Außenbezirken, die ein bisher eher unbe­ kanntes Terrain eröffneten. 33


Abb. 12 Matthias Cremer: Donaukanal-Fotostudien, Ausstellungsplakat von Tino Erben, 1986, Wien Museum

Im Buch Wien. Vorstadt Europas erschuf Hubmann ein düsteres Panorama des Wiener Alltagslebens. Mit Texten renommierter Autoren zeichnete er ein Wien, das, wie schon der Titel des Buchs suggeriert, nicht mehr die imperiale, mondäne Großstadt war, sondern eine Stadt, die den vergangenen Tagen nachweinte, die nicht einmal mehr als Weltdorf bezeichnet werden konnte und die sich vor allem durch provinzielle Gemütlichkeit und konservativen Mief auszeichnete. Mit Themen zur k. u. k. Vergangenheit, dem Wurstelprater, dem Kaffeehaus oder der schönen Leich’ und mit modernster Ästhetik, den traditionellen Wien-Typen und Gedächtnisorten wurde ein Stadtbild erschaffen, das den Versuch unternahm, den LeserInnen des Buchs die Mentalität der Wiener und Wienerinnen zu verdeutlichen (Abb. 11). Die Ästhetik des Buchs erinnert stark an Karl Paweks Kulturzeitschrift magnum. Zeitschrift für das moderne Leben, die von 1953 bis 1957 in Wien und anschließend bis 1966 in Köln erschien. Die Zeitschrift galt als das Medium der humanistisch orientierten Life-Fotografie, und von Beginn an gehörte Franz H ­ ubmann zu den engsten MitarbeiterInnen. Er belieferte die Zeitschrift regelmäßig mit seinen Foto­ grafien. Markenzeichen der Zeitschrift war die Gegenüberstellung von zumeist in Kontrast zueinander stehenden Fotos auf Doppelseiten. Seitenfüllende Fotografien traten in einen Dialog miteinander, lange Bildstrecken brachten den LeserIn­nen Themen aus dem modernen Leben näher. Häufig traten Darstellungen von Menschen als Bindeglied zwischen den Bildern und Themen auf. Das entsprach ganz der Philosophie in der Life-Fotografie, die den Menschen als einheitlichen und kulturübergreifenden Faktor bzw. das Menschliche als gemeinsamen Nenner in den Vordergrund stellte.22

KÜNSTLERISCHE FOTOGRAFIE

22 Vgl. Szeless: Die Kulturzeitschrift magnum, S. 126f. 23 Ausstellungen zu diesen Themen waren: Das Stadtbild Wiens im 19. Jahrhundert. Von der Festung zur Großstadt (Oktober 1960 bis Jänner 1961); Drei Jahrhunderte Straßenverkehr in Wien (November 1961 bis Februar 1962); Das barocke Wien. Stadtbild und Straßenleben (Juni 1966 bis November 1966); Wien 1850–1900. Welt der Ringstraße (Mai 1973 bis Oktober 1973).

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Mit FotografInnen wie Franz Hubmann, Barbara Pflaum, Inge Morath, Otto Croy oder Harry Weber entwickelte sich im Wien der 1960er Jahre ein neuer Markt für Fotobände und -essays, was zu einer Wiederentdeckung der Fotografie als künstlerisch autonome Kunstform führte, wobei Ausstellungen eine wichtige Rolle s­ pielten. Bis sich die neue Kunstform allerdings im Historischen Museum der Stadt Wien etablieren konnte, sollte es noch etwas dauern. Die Neueröffnung des Muse­ ums 1959 am Karlsplatz bedeutete noch keine Öffnung hin zur Fotografie als eigenständige Kunstform. Vielmehr bewegten sich die Ausstellungen, die das Wiener Stadtbild, die Straße, den Verkehr oder das Straßenleben zum Thema hatten, zeitlich meist rund um das 19. Jahrhundert oder etwas früher um die Zeit des Barock.23 Häufig beschäftigten sie sich mit der Entwicklung Wiens zu einer imperialen Großstadt. Fotografien wurden zumeist hinzugezogen, um dokumentarische Fragen zu beantworten: So hat es früher ausgeschaut. Die FotografInnen selbst waren lange Zeit nicht von Bedeutung. Die erste reine Fotoausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien wurde 1983 im Otto-Wagner-Pavillon am Karlsplatz unter dem Titel Walter ­Zednicek fotografiert Architektur von Otto Wagner gezeigt, wobei inhaltlich in erster Linie die Architektur Otto Wagners behandelt wurde. 1986 wurden mit der Sonderausstellung Matthias Cremer. Donaukanal-Fotostudien Fotografien erstmals als eigenständiges Medium ausgestellt (Abb. 12). Mit den folgenden Ausstellungen Wien. Metamorphosen einer Stadt. 150 Jahre Photographien, kuratiert von Franz H ­ ubmann, Leben in der


Asche. Photographien von Otto R. Croy 1945–1948, der schon erwähnten Ausstellung Erich Lessing. Die ersten fünfzig Jahre. Fotografien 1943–1993 sowie weiteren Schauen mit Fotos von Harry Weber und Lucca Chmel in den 1990er Jahren verabschiedete man sich von den anonymen Fotografien, die ausschließlich zu Dokumentationszwecken herangezogen wurden, wandte sich zunehmend von der Darstellung des imperialen Wien ab und versuchte, die Stadt aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.

NEUE STADTWAHRNEHMUNGEN

Abb. 13 Bodo Hell: Aus der Serie Stadtschrift, 1978–1985, Wien Museum

2 4 Vgl. Georg Jappe, Bodo Hell: „Stadtschrift“, in: Die Zeit, 11. 10. 1985.

VOM ZENTRUM ZUR VORSTADT

Im Zuge der fotokünstlerischen Auseinandersetzungen ab den 1970er Jahren erteilten einige FotografInnen dem Konzept des „entscheidenden Augenblicks“ der Life-Fotografie zunehmend eine Absage. Mit systematischen und konzeptionellen Arbeiten näherte man sich auf abstraktere Weise dem Bild der Stadt. Nebenschauplätze und Experimente mit der Stadtwahrnehmung kamen immer öfter in den Blick der Stadterkundungen. So durchlaufen wir beispielsweise in Bodo Hells Stadtschrift auf einer alltäglichen Fahrt mit dem Doppeldeckerbus der Linie 13A eine gänzlich neue Art der Stadtwahrnehmung. 1983 erschien Bodo Hells Bildund Textband Stadtschrift. Darin sind Fotografien von Schriftbildern der Stadt abgebildet, gefolgt von dem Prosatext Linie 13A. Es ging bei der Serie wohl nicht um eine akribisch genaue Dokumentation der Strecke der Buslinie 13A, sondern um neue Perspektiven auf die und Wahrnehmungen der Stadt. Hells fotografische Suche nach Schriftbildern in Wien begann in den 1970er Jahren nach seiner Rückkehr von einem ruhigen Almsommer als Schafhirte.24 Die plötzliche Großstadthektik und Bilderflut schienen ihm auf einmal fremd und veranlassten ihn zu einer neuen Sichtweise auf seine Heimatstadt. Der Text und auch die Fotos folgen einer Fahrt im Obergeschoß eines Busses der Linie 13A. Begleitet von Beschreibungen von Gebäuden, Gedankenfetzen, Beobachtungen von Alltagssituationen der Passa­ gierInnen und immer wieder Wortfetzen der gesehenen Schriften, begeben sich die LeserInnen auf eine Fahrt vom Alsergrund zum Südbahnhof. Die Linie 13A war gut gewählt, denn der Bus fährt quer durch die Stadt und lässt uns vom erhöhten Standpunkt aus einen ungewohnten Blick auf die vertrauten Stadtschriften der weniger repräsentativen Seitengassen werfen (Abb. 13). Wie die Aneinanderreihung von Eindrücken im Text montierte Bodo Hell auch die Fotografien zu neuen Texten und schaffte so kuriose Wortspiele. Mit der Übernahme des MUSA in das Wien Museum im Jahr 2018 wuchs schließlich die Anzahl an künstlerisch-fotografischen Positionen im Wien M ­ useum sprunghaft an. Seit 1951 hatte die Kulturabteilung der Stadt Wien begonnen, Kunst­ werke aus allen Sparten der Kunst vorwiegend von Wiener KünstlerInnen zu sammeln. So finden sich auch Arbeiten von FotografInnen, die das Straßenleben in Wien zum Thema haben. Zu einem der größten geschlossenen Bestände gehören die Fotos von Harry Webers Wien-Projekt. In über 30.000 Aufnahmen dokumentierte der damals bereits 82-jährige Weber in einem Zeitraum von fünf Jahren das Leben auf den Straßen Wiens und schuf damit ein umfangreiches Kaleidoskop des städtischen Lebens. Und mit Arbeiten von Elfriede Mejchar, Andreas Baumann oder ­Renata Breth erweitern die Sammlungen des MUSA nicht nur die Bestände des Wien Museums, sondern ergänzen vielmehr die unterschiedlichsten fotografischen Positionen, die sich mit der Stadt Wien und deren BewohnerInnen befassen. 35


ANTON HOLZER

IRONIE UND NOSTALGIE ÜBER DIE WIENER STRASSENFOTOGRAFIE

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1 Zur Differenz von „Straßenfotografie“ und „Street Photography“ siehe die Einführung in diesem Band.

Gibt es sie überhaupt, die Wiener Street Photography? Große Ausstellungen zum Thema gab es bisher keine. Und auch die Anzahl der Publikationen und Fotobände, die den Begriff „Wien“ und „Straßenfotografie“ oder gar „Street Photography“ im Titel tragen, ist verschwindend klein.1 Offenbar ist das Phänomen der Street Photography in der Stadt an der Donau nie so recht heimisch geworden. Das heißt aber keineswegs, dass es in Wien nicht ausgezeichnete Beispiele dieses Genres gibt. Die Bildstrecken dieses Bandes stellen das eindrucksvoll unter Beweis. Ganz anders als in Großstädten wie New York und auch Paris, wo es eine lange, selbstbewusste Tradition einer innovativen Straßenfotografie gibt, wo Gene­ rationen von Fotografinnen und Fotografen das städtische Alltagsleben in faszinierenden Schnappschüssen festgehalten haben, die sich zu einem regelrechten Stadtimage verdichtet haben, gibt es eine vergleichbare Tradition in Wien nicht. Es gilt also zunächst zu klären, warum die fotografischen Positionen, die in diesem Band versammelt sind, im Gesamten betrachtet nie zu einem kollektiv wahrnehmbaren ästhetischen Mainstream geworden sind. Wie kommt es, dass eine eigenständige, innovative Straßenfotografie das vorherrschende Wien-Bild nur punktuell beeinflusst, aber letztlich nicht entscheidend geprägt hat? Vorweg: Das liegt nicht etwa daran, dass die Wiener FotografInnen im Vergleich mit ihren New Yorker und Pariser KollegInnen weniger talentiert waren. Auch nicht daran, dass die Fotografie in der Herausbildung von Wien-Bildern eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Im Gegenteil: Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und spätestens seit der Jahrhundertwende hat die Fotografie die populären Wien-Images entscheidend mitbestimmt – bis heute. Aber dieses fotografisch vermittelte WienBild ist, über zahlreiche gesellschaftliche Einschnitte und Brüche hinweg, bis heute auffallend rückwärtsgewandt und konservativ geprägt. In vielen fotografischen Positionen scheint eine nostalgisch angehauchte Grundstimmung durch. Die eingefangenen Alltagsbilder sind zwar häufig gegenwärtige, aber nicht selten sind sie mit vorgefertigten, oft klischeebefrachteten Sujets und Motiven aus der Vergangenheit grundiert. In besonderem Maße ist dies bei Themen der Fall, die als typisch „wienerisch“ gelten, etwa bei der Darstellung populärer Vergnügungen im Wiener Prater oder des ‚volkstümlichen‘ Lebens auf dem Naschmarkt (Abb. 1). Auch wenn einzelne Bilder und Serien sich in ihrem fotografischen Gestus sehr wohl an herausragenden Beispielen der internationalen Street Photography orientierten, blieben sie im Endergebnis, etwa im gedruckten Bildband, der sich häufig 37


auch an ein touristisches Publikum richtete, nicht selten im ‚wienerischen‘ Kompromiss stecken. In der Wiener Street Photography mutet der Blick auf die Stadt oft auf den ersten Blick modern an, bei genauerem Hinsehen aber ist er nostal­ gisch angehaucht und nicht selten ironisch gebrochen. Untergründig macht sich in vielen Sujets ein antiurbaner Vorbehalt breit. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat diesen weit über die Fotografie hinausreichenden, tief verankerten antiurbanen Reflex, der die Aura der Großstadt auf kleinbürgerliche Maßstäbe zurechtstutzt, einmal sarkastisch auf den Punkt gebracht. „Der Boulevard“, schreibt er, „existiert in Wien nicht in Form von Straßenzügen, sondern bloß als ­Zei­tungslandschaft, und er gehört nicht dem Flaneur, sondern dem Spießer.“2

BILDER EINER REGRESSIVEN MODERNE

Abb. 1 Moriz Nähr: Am Naschmarkt, 1890er Jahre, Wien Museum

2 Robert Menasse: Naschmarkt, in: Wien. Eine literarische Einladung, hg. von Margit Knapp, mit Illustrationen von Franziska Schaum, Berlin 2004, S. 55–57, hier S. 57.

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Wenn es stimmt, dass die Wiener Fotografie schwer an den Lasten der Vergan­ genheit trägt, stellt sich die Frage: Warum ist das so? Einen Aspekt will ich hier herausgreifen. Stärker als in vielen anderen Metropolen hat die Fotografie in Wien sehr aufmerksam auf die gesellschaftlichen und politischen Schwingungen der Stadtgeschichte reagiert. In besonderem Maße gilt das für die Darstellung des öffentlichen Raums, für die Fotografie auf der Straße. Und dabei fällt auf: In Phasen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbruchs hat die Wiener Fotografie häufig mit einem regressiven Gestus reagiert. In Zeiten der Unsicherheit wurde weniger das Neue, das Andere, das Unbekannte in den Fokus gerückt, sondern das Altbekannte, das Vertraute, sehr oft auch das Klischeehafte, letztlich also Bildformeln, die Sicherheit und Schutz versprachen. Bereits in der Frühzeit der Wiener Straßenfotografie, die in den 1860er und vor allem 1870er Jahren im Umfeld einer rasanten Stadterweiterung und der ersten großen touristischen Erschließung der Stadt vor und um die Weltausstellung 1873 einsetzte, die aber durch den Börsenkrach im selben Jahr rasch wieder einen Dämpfer erhielt, lässt sich diese Ambivalenz gut zeigen. Die Fotografie der Stadt pendelte in diesen Jahren zwischen Fortschrittsgeist und defensivem Rückzug. Nehmen wir als Beispiel eine Szene des Wiener Fotografen Wilhelm Burger, der in den 1870er Jahren die einsetzende touristische Vermarktung der Stadt dazu nutzte, neue Serien von Wien-Ansichten und Straßenszenen zu produzieren. Er adressierte mit seinen in größeren Stückzahlen produzierten und auf farbigem Karton montierten Karten bewusst ein touristisches Publikum und nannte die Serie, dem Zeitgeist der noch jungen „Momentfotografie“ entsprechend, Wien Momentan bzw. – polyglott gewendet – Vienne Instantanée (Abb. 2). Gemäß den Möglichkeiten des neuen Massenmediums wurden die Wien-Bilder in unterschiedlichen Formaten und Ausfertigungen geliefert: als Visit- und Stereokarten, die teils händisch nachkoloriert wurden. In seinen Inszenierungen des städtischen Raums griff Burger für die Hintergrund­ gestaltung immer wieder auf die Formeln der traditionellen Straßenansicht zurück. Allerdings koppelte er diese im Vordergrund mit PassantInnen und Fahrzeugen und verband so die Statik der Architektur mit der belebten Gegenwart (Abb. 3). Durch die geschickte Wahl des Ausschnitts wird der statische Blick der Straßenansicht in ein suggestives Momentbild überführt. Diese elastische Verbindung zwischen der Starre der geschichtlich entstandenen, gebauten Stadt und dem lebendigen Augenblick taucht in der Wiener Straßenfotografie immer wieder auf – bis heute.


ARCHAISCHE INSELN IN DER ANONYMEN METROPOLE

Abb. 2 Wilhelm Burger: Operngasse. Aus der Serie Wien Momentan, 1870er Jahre, Privatbesitz

Abb. 3 Wilhelm Burger: Blick in die Operngasse vom ­Albertinaplatz aus, 1876, Glasplattennegativ, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung

3 Ein Beispiel dieser Serie: Das interessante Blatt, 3. 6. 1903, S. 7. 4 Anton Mayer: Bilder des Großstadtlebens, in: Photographische Mitteilungen 46 (1909), S. 235–252, hier S. 236 und S. 250f.

IRONIE UND NOSTALGIE

In den Jahren um 1900 kam es, nicht zuletzt im Zuge der rasanten Stadtentwick­ lung, zu einem starken Anwachsen der Wiener Straßenfotografie. Zu ihrem Aufschwung haben auch neue massenmediale Verbreitungsformen der Fotografie beigetragen. Diese reichen von der in den späten 1890er Jahren eingeführten fotografisch illustrierten Bildpostkarte über den seit 1900 üblichen neuen Fotodruck in Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu Fotobildbänden. Die Palette der Auftraggeber und der Verwendungszwecke stadtfotografischer Ansichten erweiterte sich um die Jahrhundertwende deutlich. In einer Phase noch nie da gewesener Abrissund Neubauwellen sollten Fotografien – in privatem wie in öffentlichem Auftrag – unter anderem die Phasen des tiefgreifenden Stadtumbaus dokumentieren. Im Jahr 1903 startete etwa die größte Wochenillustrierte der k. u. k. Monarchie, Das interessante Blatt, unter dem Titel Das verschwindende Wien eine Reportageserie des Fotografen Josef Porkert, die die Ambivalenz der Straßenfotografie dieser Jahre auf den Punkt bringt.3 Bilder und Texte feierten mit nostalgischem Gestus die alte, überschaubare, aber als bedroht empfundene Stadt, die vom Immobilienboom der modernen Metropole verdrängt werde. Neben den professionellen Fotografen waren nun zunehmend auch FotoamateurInnen in der Stadt unterwegs, um das Straßenleben aus einem neuen, ästhetisch eingefärbten Blickwinkel zu dokumentieren. Fotozeitschriften und Ratgeber ­rieten der um 1900 rasch wachsenden Gruppe der AmateurInnen, in sorgsam insze­nierten Kompositionen das „Typische“ der Großstadt einzufangen und, anders als die herkömmlichen Architekturfotografen, die Menschenmengen nicht zu meiden. Allerdings, so die Anweisung, müssten die Bilder unbemerkt und „spontan“ aufgenommen werden. 4 In den Jahren um 1900 war die rasch expandierende und sich transformierende Donaumetropole von einem enormen Fortschrittsgeist gekennzeichnet, der mit einem Feuerwerk an neuen Ideen einherging. Zugleich aber führten die tiefgrei­ fenden Veränderungen der Großstadt auch zu einer Verunsicherung der bürgerlichen und vor allem kleinbürgerlichen Schichten. Diese zwiespältige Stimmung griff der christlichsoziale Bürgermeister Karl Lueger in den Jahren nach 1900 auf. Während er einerseits die rasante Modernisierung der Stadt vorantrieb, verfolgte er andererseits eine regressive, rückwärtsgewandte, sich einigelnde Politik und 39


Abb. 4 Emil Mayer: Gastgarten im Prater, Postkartenserie Wiener Typen und Straßenbilder, um 1910, Wien Museum

Kultur. Diese Ambivalenz schlug sich auch in der Darstellung des öffentlichen Raums nieder, etwa in der auffallenden Fixierung auf das angeblich typisch „Wienerische“, das angesichts rasanter Veränderungen in Gefahr sei. Die Wiener Straßenfotografie dokumentierte um 1900 nicht so sehr die Großstadt als multikulturellen Schmelztiegel, als Treffpunkt unterschiedlicher Lebensweisen. Häufiger inszenierte sie die Straßen der Stadt als Bühne vertrauter Figuren und Alt-Wiener Typen. Dazu gehören nicht nur allegorisierte Porträts von Blumenfrauen, Dienstmännern, Fiakern oder Maronibratern, sondern auch die Darstellung vertrauter, typischer Wiener Orte und Gegenden. Dieses angeblich traditionelle „gute alte Wien“ wurde geradezu obsessiv dem modernen, kalten und angeblich ano­ nymen Wien der expandierenden Großstadt gegenübergestellt, den sogenannten Palastkulissen, wie sie der Wiener Journalist und Schriftsteller Eduard Pötzl in seinen um 1900 erschienenen Feuilletons und Reportagen nannte.5 Vor dem Hintergrund der beschleunigten und ängstigenden Metropole schilderte er bewusst Orte der Verlangsamung und der Tradition. Er beschrieb die Straße als Theater der Flaneure, das Kaffeehaus als Ort der Erholung und des Schauens. Überhaupt gab er dem Gehen den Vorzug vor dem Fahren (obwohl er selbst ein Automobil besaß). In den Jahren um 1900 entstanden umfangreiche Fotoserien, die das ‚althergebrachte‘ atmosphärische Kolorit der Wiener Märkte einfingen. Daneben stellten fotografische Reportagen, etwa von Emil Mayer, dem turbulenten Chaos der Großstadt das vergnügliche (und überschaubare) Leben im Wiener Prater gegenüber. Aus diesen Bildern kondensierte Mayer nostalgisch angehauchte, in Bromöldruck hergestellte Postkarten unter dem Titel Wiener Typen und Straßenbilder (Abb. 4). Das angeblich ‚volkstümliche‘ Leben, das in diesen Nahaufnahmen eingefangen wird, steckt inmitten der sich rasant transformierenden Metropole eine Art archaische Insel ab. Es ist das ‚verständlichere‘, weil althergebrachte Gegenstück zum anonymen und potenziell verunsichernden Treiben der Großstadt.

POESIE DER STRASSE

5 Vgl. Eduard Pötzl: Großstadtbilder. ­Reportagen und Feuilletons. Wien um 1900, hg. und kommentiert von Peter Payer, Wien 2012, S. 12. 6 Der Kuckuck, 23. 11. 1930, S. 15.

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In den Jahren um 1930 trat die Wiener Straßenfotografie in eine neue Ära ein, de­ monstrativ wandte sie sich von den Vorbildern der Vergangenheit ab. In diesen Jahren übernahm eine neue Gruppe von FotografInnen die Zügel in der Wiener Fotoszene: AmateurfotografInnen, aber auch neugierige FotoreporterInnen brachten neue Themen, Stile und Sujets in die Straßenfotografie ein und dockten – zumindest für kurze Zeit – an die internationalen Trends der einsetzenden Street Photography an. Der dokumentarische Anspruch, der bisher die Wiener Straßenfotografie geprägt hatte, wurde zurückgedrängt. An seine Stelle trat ein zum Teil spielerischer, zum Teil experimenteller Zugang, der die Straße als metaphorischen, poetischen Raum öffnete (Abb. 5). „Heute weiß man, dass man jedem Motiv, jeder Sache Schönheit abzuge­ winnen vermag. Es kommt nur darauf an, wie man das Ding betrachtet. Die Zeit, in der man feststellte, dass die Peripherie einer Großstadt nicht ‚schön‘ sei, ist endgültig vorbei.“ 6 Worte wie diese, die 1930 unter dem Titel Die neue Sachlich­keit der Photographie in der in Wien erscheinenden sozialdemokratischen Illustrierten Der Kuckuck zu lesen waren, wären noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen. Sogar die bürgerlich orientierte und in fotografischen Fragen der Tra­dition


Abb. 5 Rudolf Spiegel: Straßenszene, 1931, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung

Abb. 6 Otto Skall: Straßenszene, 1930er Jahre, Privatbesitz

7 Wiener Bilder, 9. 3. 1930, S. 15. 8 Ebd.

IRONIE UND NOSTALGIE

verpflichtete Illustrierte Wiener Bilder plädierte im selben Jahr für eine neue, unkonventionelle Sicht auf die Stadt. „Der moderne Lichtbildner macht keine Ansichtskartenaufnahmen mehr. Er gestaltet durch Wahl des Ausschnitts, der Drunter- oder Draufsicht das wohlbekannte Bild der alten Stadt neu, indem er mit der konven­ tionellen Ansicht vollkommen bricht und selbständig die Stadt beobachtet.“ 7 Die zeitgenössische Fotografie interessiere sich, so heißt es in diesem Text weiter, für den „Betrieb des Alltags“ und nicht für „die Dinge, die angezeichnet im B ­ aedeker stehen“, oder für das isolierte Bauwerk, „das wie ein Skelett einer längst vergan­ genen Epoche unter uns stehen geblieben ist“.8 Zu den innovativsten Wiener StraßenfotografInnen dieser Jahre (unter ihnen sind nun erstmals auch Frauen) zählen Rudolf Spiegel, Annie Schulz, Nikolaus Schwarz, Edith Suschitzky, Robert Haas, Willy Eggarter, Otto Skall, Felix Braun, Ferdinand Hodek, Franz Spreng, Hans Popper, Gerti Deutsch und Bill Brandt (der um 1930 einige Jahre in Wien verbrachte). Sie alle arbeiteten mit den neuen, lichtstarken Handkameras, die Mitte der 1920er Jahre auf den Markt gekommen waren, viele mit der Rolleiflex. Sie waren nicht mehr auf der Suche nach dem repräsentativen Stadt- und Straßenbild, sondern nach flüchtigen Augenblicken abseits der städtischen Sehenswürdigkeiten (Abb. 6). Grob gesprochen können wir zwei Stränge dieser neuen Straßenfotografie unterscheiden: den stärker sozialdokumentarischen Zugang auf der einen und den eher feuilletonistischen auf der anderen – Positionen, die sich mitunter auch mischten. Während die sozialdokumentarisch arbeitenden FotografInnen, etwa Edith ­Suschitzky, Mario Wiberal oder Hans Popper, sich einer ungeschminkten Schilderung von Not und Armut zuwandten oder die sozialen Kämpfe dieser Jahre in eindrucksvollen Bildern dokumentierten, näherte sich die zweite Gruppe von LichtbildnerInnen den Szenen des Alltags auf der Straße auf subjektiv-poetische Weise an. Sie spielten mit Licht und Schatten, Dämmerung und Gegenlicht, mit Formen und Schriften, mit Perspektive und Abstraktion, mit Aus- und Anschnitten, mit Zooms und Details. In der Fotografie um 1930 kam es zu einer folgenreichen Umschichtung der Motive und Themen: weg vom Außergewöhnlichen, hin zum Alltäglichen, weg von den Silhouetten des touristischen Wien, hin zur Anonymität der Vorstadt. Und auch die Nacht, die die Fotografie bisher gemieden hatte, wurde nun hin und wieder zur atmosphärischen Kulisse, die das neue, moderne Bild der ­Großstadt prägte. Der radikale Aufbruch der Fotografie um 1930 war freilich keineswegs frei von Ambivalenzen. Zwar hatte nach 1918 die Befreiung vom alten, versteinerten Habsburgerstaat Platz geschaffen für ein sozialpolitisches und kulturelles Labor der Moderne (Stichwort: „Rotes Wien“). Zugleich aber trug die Stadt schwer am Kollaps des ehemaligen Großreichs und an den Traumata des Kriegs. Gebremst wurde der Elan des Aufbruchs in diesen Jahren von der erbitterten politischen Gegnerschaft zwischen der Sozialdemokratie und den Christlichsozialen, die 1934 mit der gewaltsamen Entmachtung des „Roten Wien“ abrupt endete, aber auch durch die massive Wirtschaftskrise, die Anfang der 1930er Jahre einsetzte. Auch wenn in den Slogans des „Roten Wien“ lautstark die Abgrenzung von der Monarchie und überhaupt der Vergangenheit verkündet wurde: Bei genauerem Hinsehen war der Geist der Moderne immer wieder mit Rekursen auf das vergangene Wien durchsetzt. Die bereits diagnostizierte Verschränkung zwischen 41


Fortschrittsgeist und Rückzug auf vertraute Formeln der Tradition begegnet uns auch in der Zwischenkriegszeit, verstärkt in den 1930er Jahren. Zu dieser regressiven Dynamik trugen auch der zunehmende Antisemitismus und eine sich abzeichnende „völkische“ Radikalisierung bei. All dies schlug sich in der Darstellung des Straßenlebens nieder. Die experimentellen Aufbrüche, die die Wiener Fotoszene noch um 1930 gekennzeichnet haben, wichen in den Folgejahren einer rasch einsetzenden neokonservativen Wende, die die Einflüsse der Avantgarde, etwa des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit, in einer gemäßigt modernen Bildsprache neutralisierte.

TROSTLOSE STADT UND WIRTSCHAFTSWUNDER

Abb. 7 Ernst Haas: Warten auf die Kriegsheimkehrer, Zeitschrift Heute, 3. August 1949, S. 19

Abb. 8 Elfriede Mejchar: Aus der Serie Licht und Schatten, Ende 1950er Jahre, Wien Museum

9 Max Kozloff: New York – Capital of Photography, New Haven 2002, S. 47.

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Die ideologisch angehauchte, bewusst heitere Bildwelt, die die Wiener Fotografie Ende der 1930er Jahre geprägt hatte, verschwand nach der Zeit des Kriegs und des Nationalsozialismus für einige Jahre aus der Öffentlichkeit. Dafür machte sich in der Straßenfotografie der späten 1940er und 1950er Jahre eine düstere, albtraumhafte Bildsprache bemerkbar. Die gesamte ‚Gemeinschaft‘ wurde nun, nach dem zerstörerischen Krieg und den Erfahrungen des Nationalsozialismus, als deklassiert und zerstört imaginiert. In den dystopischen Bildern der Nachkriegszeit lag die Stadt als Ganze buchstäblich am Boden. In eindringlichen Schwarz-Weiß-Auf­ nahmen schilderten FotografInnen wie Erich Lessing, Ernst Haas, Franz H ­ ubmann, Barbara Pflaum, Heinrich Steinfest, Wolfgang Hamerschlag und andere das traumatisierte, erschöpfte Leben auf Wiens Straßen: die große Not, die Zerstörungen auf den Straßen, die körperlichen Versehrungen, die Rückkehr der Kriegsgefangenen (Abb. 7) und, inmitten des alltäglichen Dramas, immer wieder kleine Momente des Glücks. Diese Ästhetik der trostlosen Stadt knüpfte an neorealistische Vorbilder, aber auch die internationalen Trends der Street ­Photography an, die in den 1940er und 1950er Jahren den urbanen Raum, etwa New Yorks, als „theatre of sadness“ (Max Kozloff) gezeichnet hatten.9 In der Wiener Straßenfotografie kommt zu diesem allgemeinen Trend noch ein besonderer politisch-gesellschaftlicher Unterton hinzu. Die FotografInnen fingen einerseits ein, was sie auf Wiens Straßen sahen. Bewusst oder unbewusst fassten manche von ihnen aber auch ein entlastendes Dogma in Bilder, das im politischen Diskurs nach 1945 über die Parteigrenzen hinweg lange Zeit außer Streit stand: dass nämlich Österreich und seine Hauptstadt nicht zu den Tätern im Krieg und Nationalsozialismus gehört hatten, sondern zu den Opfern. Das in den Bildern darniederliegende Wien konnte sehr gut als griffiges Sinnbild für diese These verwendet werden. In den breiten Strom der resignativen Bilder des Wiener Alltags mischten sich nach und nach auch andere Aufnahmen: Übergangsszenen, die zwar das Grau der Stadt festhielten, es aber in suggestiven Licht-und-Schatten-Spielen zu ästhe­ tischen Kompositionen verdichteten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Fotoserie Licht und Schatten, die Elfriede Mejchar in den 1950er-Jahren aufnahm (Abb. 8). In den späten 1950er und in den 1960er Jahren wurden die trostlosen Bilder des Nachkriegswien allmählich durch heitere und zukunftsfrohe Gegenbilder ergänzt und schließlich abgelöst. Auch diese fortschrittsoptimistischen Szenen des einsetzenden Wirtschaftsbooms und des Massenkonsums reagierten subtil auf die


Abb. 9 Franz Hubmann: aus dem Bildband Wien. Vorstadt Europas, 1963, S. 44/45

traumatische jüngere Vergangenheit, freilich unter neuen politischen Vorzeichen. An die Stelle des ‚trostlosen Wien‘, das im Opfergestus verharrte, trat nun das unterhaltsame, vergnügliche Wien, das den Blick zurück demonstrativ mied und damit dem fröhlichen Vergessen frönte. Die Straße wurde zur Arena der plakatierten Versprechungen, zur Bühne kollektiver Sehnsüchte und vor allem: zur Kulisse des Massenkonsums. Die prickelnde Erotik, die um die Jahrhundertwende noch recht verschämt Eingang in die Straßenfotografie gefunden hatte, wurde nun offen ausgelebt. Die Fotografie der 1950er und 1960er Jahre kultivierte über weite Strecken den voyeu­ ristischen Blick und die spannungsreiche Inszenierung der Geschlechter. H ­ äufig freilich blieb es bei der Andeutung, die fotografierten Begegnungen zwischen Männern und Frauen blieben in vielen Fällen merkwürdig unsicher und schematisch. Die Welt von Erotik und Sex-Appeal, die etwa Franz Hubmann in seinen Bildern einfing, zeichnete kein selbstbewusstes, sondern ein tief verunsichertes Männerbild. An die Stelle realer Begegnungen traten oft klischeehaft zugespitzte Szenen des Begehrens. Als Beispiel mag eine Aufnahme Hubmanns aus dem Jahr 1955 dienen (siehe Abb. S. 212, 213). Sie zeigt Männer, aufgereiht vor einer Wand mit Filmplakaten, die mit den körperlichen Reizen von Frauen für einen 3D-Film werben. Die Szene der Erotik verharrt hier im Gestus des Zitats oder der rhetorischen Figur. Die angekündigte sexuelle Erfüllung findet nicht statt, oder sie wird von ironischer Distanzierung durchkreuzt. Ein anderes Beispiel ist eine Fotoserie von Leo Jahn-Dietrichstein, der in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Anregungen der internationalen Street Photography aufgriff und die Körper der Passantinnen in radikalen Aus- und Anschnitten zeigte. Es ist gewiss kein Zufall, dass nicht wenige seiner Straßenbilder elegante junge Frauen im Blick haben. Die scheinbar flüchtige Fokussierung zoomt den weiblichen Körper heran, der, zumindest in den Bildern, den Eindruck der erotischen Verfügbarkeit erweckt. Franz Hubmann hat wie kein anderer Fotograf die Wiener Street Photography der 1950er und 1960er Jahre geprägt. Ein wichtiges Merkmal seiner fotografischen Arbeit ist, neben der Kultivierung der feinen Ironie, eine subtile Verknüpfung von moderner Urbanität und tradierten Wien-Bildern. Damit knüpft er an die bereits mehrfach diagnostizierte regressive Moderne an, die die Wiener Straßenfotografie über weite Strecken prägte. Am augenscheinlichsten zeigt sich diese Bildsprache in ­Hubmanns frühen Wien-Bildbänden, in denen er die moderne Street Photography IRONIE UND NOSTALGIE

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Abb. 10 Peter Dressler: Brunnenmarkt, 1972, Wien Museum

mit gängigen, auch touristisch vermarktbaren Wien-Klischees anreicherte. In seinem ersten, 1963 erschienenen Fotobuch Wien. Vorstadt E ­ uropas arrangierte er die Bilder in geschickten Gegenüberstellungen zwischen gegenwärtigem Schnappschuss und anspielungsreichem Klischee (Abb. 9).10 Unterstützt und getragen wird diese bewusst zwischen Jetztzeit und historischer Anspielung changierende Bild­ sprache durch eingeschobene Texte bekannter Schriftsteller (­ Lernet-Holenia, ­Qualtinger, Torberg, Doderer u. a.). In den Bildfol­gen des Fotobandes lässt H ­ ubmann die Szenen der Vorstadt unmittelbar an die Schnappschüsse aus Kaffeehäusern, Heurigenlokalen, dem Prater und der Oper anschließen. Auf diese Weise wird ein Wien-Bild gezeichnet, das auf subtile Weise das Neue und Überraschende mit dem Vertrauten und Althergebrachten verbindet.

ERZÄHLEN IN SERIEN

10 Etwa Franz Hubmann: Wien. Vorstadt Europas, Zürich 1963. 11 Zur gleichnamigen Publikation siehe Michael Ponstingl: Wien im Bild. Fotobildbände des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 5), Wien 2008, S. 152f.

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Als der Fotograf Peter Dressler Anfang der 1970er Jahre am Wiener Brunnenmarkt fotografierte, schlug er einen ganz neuen Ton in der Stadtfotografie an. Die 1972 entstandene Fotoarbeit mit dem Titel Brunnenmarkt, Sonntag um ½ 12 zeigt eine von Menschen verlassene Marktstraße in Wien-Ottakring (Abb. 10). Nicht der dokumentarische Anspruch steht hier im Vordergrund, sondern ein spiele­rischkonzeptueller Umgang mit den Bildern. Dressler verdichtete die frontal auf­ ge­ nommenen Marktstände zu einem seriell angeordneten, konzeptuellen Tableau. In dieser Arbeit klingen bereits einige wichtige Grundzüge der neuen Wiener Straßenfotografie an: Die fotografische Erzählung geht in Form von Serien und Folgen über das einzelne Bild hinaus. Die FotografInnen wenden sich nun sukzessive von der Darstellung der Stadt als Ganzes ab und recherchieren stattdessen an kleinen, überschaubaren Orten und Gegenden, die sehr oft an der städtischen Peripherie gelegen sind. Als Beispiel für diese serielle Herangehensweise mag die 1973 entstandene Serie stadt: visuelle strukturen von VALIE EXPORT gelten.11 Die bildliche Recherche an einem


Abb. 11 Leo Kandl: Aus dem Zyklus Weinhaus, 1979–1984, Wien Museum

Abb. 12 Matthias Cremer: Am Donaukanal, 1986, Wien Museum

12 Vgl. Interview von Astrid Mahler mit Leo Kandl, in: Walter Moser (Hg.): Österreich – Fotografie 1970–2000 (Ausstellungskatalog Albertina Wien), Köln 2017, S. 149f. Kandl war mit der zeitgenössischen amerikanischen Fotografie über die Bibliothek des Amerikahauses in Wien und den Besuch von Ausstellungen in Kontakt gekommen. Gespräch am 27. 3. 2020. 13 Vgl. Das Wiental, Text: Karlheinz Roschitz, Foto: Peter Dressler, Bild: Franz Zadrazil, Wien 1983; Donaukanal. Linien einer Stadtlandschaft. Vierzig Photographien von Matthias Cremer mit einem Essay von Karlheinz Roschitz, Wien 1986. 14 Vgl. Bodo Hell: Stadtschrift, Linz 1983.

IRONIE UND NOSTALGIE

eng umgrenzten, peripheren Ort erprobte zwischen 1977 und 1984 auch Leo Kandl in seiner Serie Weinhaus, die in einem Weinlokal am Gürtel und teilweise auch auf der Straße entstand. Sie zeigt in ungeschminkten, sehr direkten Nahaufnahmen die proletarische und kleinbürgerliche Alltagswelt der Großstadt Wien. Der Fotograf setzt sich mit seiner direkten und für manche ZeitgenossInnen grell anmutenden sozialdokumentarischen Studie entschieden von der gefällig-nostalgischen Fotografie der 1950er und 1960er Jahre ab. Als Orientierungspunkt diente ihm nicht die österreichische, sondern die amerikanische Fotografie, etwa Bruce Davidsons NewYork-Serie über East Harlem, die ihn stark beeindruckt hatte (Abb. 11).12 In den 1980er Jahren veränderte sich der Blick auf die Stadt (und damit die Straße) zunehmend. Nicht nur im Umkreis einer sich herausbildenden Alternativkultur entwickelte sich ein neues Verständnis von öffentlichem Raum. Politische Initiativen wurden gegründet, um vernachlässigte Jahrhundertwendeviertel vor dem Abriss und modernen Neubauprojekten zu retten. Entlegene Fabrikareale wurden zu Kultur- und Jugendzentren umgestaltet, vergessene Stadtbrachen, wie der Donaukanal, aber auch das Wiental, die in den 1980er Jahren in Fotobänden vorgestellt wurden, gerieten in den Fokus der künstlerischen Aufmerksamkeit.13 Am Beispiel des Fotobands Donaukanal (1986) lässt sich dieser neue Blick auf die Stadt illustrieren. Als der Wiener Fotograf Matthias Cremer in den 1980er Jahren den Alltag und die Architektur entlang des Wiener Donaukanals zu fotografieren begann, war dieser eine Art vernachlässigter Brachraum, eine wenig beachtete, vergessene Gegend in der Stadt. Obwohl dieser umfassend verbaute Donauarm die Innenstadt nahezu berührte, galt er lange Zeit als eine Art Nicht-Ort, eine schlecht beleumundete ‚Gstätten‘. Cremers Recherchereise entlang des Kanals führt zu einer in Bildern fortschreitenden Erzählung, einer ‚Linie‘, die auch im Titel des Fotobands angesprochen ist: Donaukanal. Linien einer Stadtlandschaft (1986). Seine fotografischen Studien sind zwischen nüchterner Stadtdokumentation, Reise in die Vergangenheit (architektonische Details aus der k. u. k. Zeit) und ethnologischer Recherche angesiedelt, die den Alltag der Menschen am Wasser erforscht. Wenn er Menschen abbildet, porträtiert er sie in kleinen, oft in sich abgeschlossenen Szenen (Abb. 12). Er beobachtet Männer, Frauen und Kinder, die sich die betonierte Welt des „Kanals“ für ihre Zwecke zu eigen gemacht haben: SonnenanbeterInnen und Angler, Rastende und sich Ertüchtigende, Große und Kleine – mit und ohne Hunde. Die Sehenswürdigkeiten, die die Wiener Straßenfotografie so oft begleitet haben, sind hier fast vollkommen ausgeblendet. Der aufmerksame, beobachtende Blick des Fotografen hält die Balance zwischen Anteilnahme und leiser Ironie. Letzteres, die Ironie, ist – neben dem bereits diagnostizierten nostalgischen Grundton vieler Wiener Straßenfotos – ein weiteres Kennzeichen der Street Photography dieser Jahre. Die Mehrdeutigkeit vieler Bilder schafft einen Raum für das ‚Groteske‘ oder, häufiger noch, für die Ironie. Ein zentrales Transportmittel für die Spielarten der Ironie, die die Wiener Stadtfotografie bis heute prägt, ist das bildliche Spiel mit Schrift und mit Worten. Keiner hat das mehrdeutige, mit viel Ironie durchsetzte Jonglieren mit Typologie und Schrift weiter getrieben als der Schriftsteller und Fotograf Bodo Hell. In seinem 1983 erstmals publizierten Band Stadtschrift hat er die Stadt und das in ihr vorgefundene Zeichensystem an Mauern, Fassaden und Wänden im Fahrwasser der literarischen Avantgarde regelrecht durchund ausbuchstabiert (siehe Abb. S. 216, 217).14 45


Abb. 13 Barbara Pflaum: Marktfrau am Naschmarkt, 1970, Imagno

Wenn wir das ausufernde und überbordende Sprachspiel dieser „visuellen ‚Bildgedichte‘“ 15 genauer in Augenschein nehmen, fällt eines auf: Im Kern ist ­dieses Vorhaben, Schriften zu sammeln und neue Sinnzusammenhänge auszuprobieren, auch ein fröhliches Abschiednehmen vom Vergangenen. Bodo Hells Sammelstücke der Stadtschrift sind über weite Strecken Relikte einer untergehenden Zeit. Der einst florierende Einzelhandel bekam in diesen Jahren Konkurrenz von Supermärkten. Die euphorisch begrüßte Konsumkultur der 1950er und 1960er Jahre, die die Fassaden mit fortschrittsoptimistischen Zeichen überzogen hatte, ist in den 1980er Jahren brüchig geworden. Indem Bodo Hell diese Schriften mit der Kamera einsammelt und zu Tableaus und neuen Textfolgen arrangiert und montiert, löst er den ursprünglichen Sinnzusammenhang auf subtile Weise auf. An die Stelle einstiger Eindeutigkeit tritt die Mehrdeutigkeit, der Bildwitz, die ironi­sche Brechung. In diesem der (u. a. literarischen) Avantgarde verpflichteten FotoText-Projekt hat sich der Spagat zwischen moderner Straßenfotografie und ihrer touristischen Verwertbarkeit, der bisher zahlreiche Wien-Bildbände gekennzeichnet hat, gänzlich aufgelöst. Das einheitliche Wien-Bild, das in experimentellen Versuchsreihen wie diesen zerbricht, wird auch im 21. Jahrhundert nicht mehr gekittet.

DIE DICKE MARKTFRAU

15 Ponstingl, Wien im Bild, S. 148. 16 Vgl. Georg Riha, György Sebstyén: Der Wiener Naschmarkt, Wien 1974.

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Die experimentellen Aufbrüche der 1980er Jahre haben den in der Wiener Fotografie fest verankerten Rekurs auf das Vergangene nur punktuell hinterfragt, aber nicht aufgelöst. Jenseits der avantgardistischen Bild- und Sprachspiele der 1970er und 1980er Jahre setzte sich der in der Nachkriegszeit etablierte Mainstream der Straßenfotografie unbeirrt fort – im Grunde bis heute. Nehmen wir als Beispiel die Straßenfotografie, die die Wiener Märkte zum Thema hat, deren prototypische ­Figuren sich schon an der Wende zum 20. Jahrhundert (etwa bei Moriz Nähr oder Anton Carl Schuster) herausgebildet hatten: unter anderem in Gestalt der dicken Marktfrau, die an ihrem Marktstand steht oder sitzt. Diese klischeehaft gezeichnete Marktfrau steht stellvertretend für das imaginierte soziale Biotop des Markts. Und dieser wurde, wie wir gesehen haben, immer wieder als eine Art rettende archaische Insel dargestellt, die bevölkert ist mit volkstümlichen, vertrauenerweckenden Figuren. In dieser holzschnittartigen Zuspitzung verwandelte sich der Markt, insbesondere der Naschmarkt, zu einer kollektiven Projektionsfläche, zum Gegenbild einer sich rasant verändernden Metropole. Die dicke Marktfrau, die Franz Hubmann, Wolfgang Hamerschlag und viele andere in den 1950er und 1960er Jahren in nostalgischer Zuspitzung gezeichnet hatten, tauchte in den folgenden Jahren immer wieder in ähnlicher Darstellung auf: in den 1970er Jahren etwa bei Barbara Pflaum (Abb. 13) oder bei Georg Riha, der sie, im Geist der Zeit, in einen sozialkritischen Kontext setzte.16 Und auch ein zweiter atmosphärischer Topos der Wiener Straßenfotografie, die Tristesse der Großstadt, hat sich als überaus haltbar erwiesen. Die Bilder des „trostlosen Wien“ wurden immer wieder aufgegriffen, etwa von Hubmann, Steinfest, Pflaum, Lessing und anderen. Diese Bildsprache wurde Jahre später, unter anderen Vorzeichen, erneut aufgenommen, etwa in einer Fotoserie von Gerhard T ­ rumler aus den späten 1970er Jahren (siehe Abb. S. 67).


Abb. 14 Andreas Baumann: Aus der Serie Wiener Autofahrer unterwegs, 1998–2003, Wien Museum

IRONIE UND NOSTALGIE

Der Kollaps der kommunistischen Nachbarstaaten und die Grenzöffnungen des Jahres 1989 haben zwar die Position Wiens deutlich verändert. Die Stadt ist innerhalb weniger Jahre vom österreichischen Eckplatz und vom äußersten Rand des Westens ins mitteleuropäische Zentrum gerückt und wirtschaftlich enorm aufgeblüht. Diese tiefgreifende Transformation hat sich in der Stadtfotografie auf seltsam widersprüchliche Weise niedergeschlagen. Während etwa die Fotografin Annelies Oberdanner in ihrem künstlerischen Fotoband Wien (2001) unter anderem den (oft gewaltsamen) Zusammenstoß von entfesseltem Neubau und alten Straßenzügen festhält, dokumentiert Reinhard Mandl in einer umfangreichen Fotoserie die Veränderungen der Stadt um das Jahr 2000 mit ganz anderen ästhetischen Mitteln. An der Schwelle zur digitalen (und farbigen) Fotografie entschied er sich bewusst für ein poetisch angehauchtes Schwarz-Weiß, das stilistisch in der Tradition der Wiener Nachkriegsfotografie steht. Seine Bilder, die oft regnerische Grau-in-Grau-Stimmungen einfangen, halten atmosphärisch die Waage zwischen dem Neuen und dem eben Vergangenen, zwischen der Neugier auf das, was ist, und der Trauer darüber, was war (siehe Abb. S. 85). Wie nahe Dokumentation, Nostalgie und Ironie beieinanderliegen, zeigt eine ganz andere Fotoarbeit, die etwa zeitgleich in den Jahren 1998 bis 2003 entstand. Unter dem Titel Wiener Autofahrer unterwegs lichtete der Fotograf Andreas Baumann durch das Autofenster die Fahrzeuginsassen in Nahaufnahme ab (Abb. 14). Im Titel seiner Arbeit, die ebenfalls in Schwarz-Weiß gehalten ist, spielte er kokett mit populärkulturellen Signets. Die österreichische Radiosendung Autofahrer unterwegs war eine nationale Institution, die seit den späten 1950er Jahren ausgestrahlt wurde. 1999, kurz nachdem Baumann mit seiner Fotoserie begonnen hatte, wurde die Sendung eingestellt. Die Bilder stellen also auch eine Art Nachruf dar. Der Fotograf rückt ganz nah an die Gesichter heran. Die „Autofahrer“ reagieren auf diese „Störung“ erstaunt abweisend, selten freundlich. In der seriellen Anordnung schlägt die auf den ersten Blick nüchterne Dokumentation ins Ironisch-Groteske um, jenen Zug der Wiener Fotografie, der die direkte Aussage so oft subversiv durchkreuzt. Pointierter kann man die Doppelgesichtigkeit der Wiener Fotografie, die immer wieder zwischen Ironie und Nostalgie changiert, nicht kennzeichnen. Diese beiden Pole haben ein gutes Jahrhundert lang die Bildsprache der Straßenfotografie beeinflusst. Und sie finden sich auch in der Straßenfotografie des beginnenden 21. Jahrhunderts wieder. Aber das wäre noch genauer zu überprüfen.

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AUGENBLICK!


UNTERWEGS IN DER GROSSSTADT

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KOLUMNENTITEL

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UNTERWEGS IN DER GROSSSTADT

Hasten, schreiten, gehen, flanieren. Die Großstadt kennt eine Vielzahl von Tempos, sich zu Fuß durch die Straßen zu bewegen. Wien gilt – verglichen mit anderen Metropolen – als ,langsame‘ Stadt. Und dennoch haben die Schübe der technischen Modernisierung und der Beschleunigung deutliche Spuren in den Stadtbildern hinterlassen. In manchen Fotos liegen urbane Hektik und gemütliche Fortbewegung ganz nahe beieinander. Während die Stadtfotografie bis nach der Wende zum 20. Jahrhundert gerne den ­großen Überblick suchte und die Straße als Bühne sah, auf der sich PassantInnen und Fahrzeuge tummelten, wandten sich die FotografInnen im 20. Jahrhundert kleineren Szenen zu. Sie zerlegten das Leben auf der Straße in Aus- und ­Anschnitte oder fingen Momentaufnahmen ein, die ihnen der Zufall diktierte.

▶  Franz Holluber: Auf der Kärntner Straße, 1931

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KOLUMNENTITEL

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▲  Martin Gerlach sen.: Auf dem Schottenring, um 1908 ▶  Martin Gerlach sen.: Auf der Mariahilfer Straße, 1908

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▼  Reinhard Mandl: Am Franz-Josefs-Kai, 2000 ▶  Reinhard Mandl: Straßenbahn am Schwarzenbergplatz, 2000

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▲  August Stauda: Judengasse 6–10, vor 1910 ▶  Unbekannt: Stock im Eisen und Grabengasse während der Demolierung, 1860er Jahre

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▲  und ▶  Unbekannt: An der Ferdinandsbrücke, um 1911

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▲  Reinhard Mandl: In der Prater Hauptallee, 2000 ◀  Leo Jahn-Dietrichstein: Auf der Kärntner Straße, Ende 1950er Jahre

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▲  Elfriede Mejchar: Aus der Serie Simmeringer Haide, Erdberger Mais, 1967–1976 ▶  Franz Holluber: Auf der Schottengasse, 1931

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▲  Martin Gerlach sen.: Am Schlagbrückenufer, um 1900 ▶  Gerhard Trumler: In der Neustiftgasse, 1979

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▲  Albert Hilscher: Schottenkreuzung, 1964 ▶ Unbekannt: Schottenkreuzung, um 1878

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▲  Erich Lessing: Wiener Dienstmann, aus der Serie Nachkriegs-Wien, 1953 ▶  Leo Jahn-Dietrichstein: Straßenszene, Ende 1950er Jahre

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▲  Anton Carl Schuster: Am alten Naschmarkt, um 1914 ◀  Michael Frankenstein & Company: Währinger Straße, 1880er Jahre

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MICHAEL PONSTINGL

WIEN IMAGINAIRE STRASSENFOTOGRAFIE IM 19. JAHRHUNDERT

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Die Stereoskopie brachte Ende der 1850er Jahre Bewegung ins fotografische Ab­bild der Stadt.1 In davor noch nicht gesehenem Maß wurde möglich, bewegte Objekte lichtbildnerisch einzufangen. Stereokameras genügten des kleinen Negativformats wegen kurzbrennweitige Objektive, die über eine großzügige Schärfentiefe verfügten. Die nun erreichbaren vergleichsweise kurzen Belichtungszeiten eröffneten die Option, die Stadt nicht wie bisher allein über ihre steinernen Zeugen, sondern ebenso über das urbane Treiben in den Straßen und auf den Plätzen darzustellen. Zwar beschieden sich die LichtbildnerInnen oft genug mit der medientechnischen Neuigkeit des räumlichen Eindrucks und wiederholten die überlieferten Motive, in denen Menschen – außer wenn sie ruhten oder stillstanden – bloß als verhuschte Schatten, Geister, als Bewegungsunschärfeknäuel ins Bild rückten. Einige jedoch gingen daran, die Gestaltungsmöglichkeiten ausgedehnter zu erkunden. Eine neue Ästhetik reifte, sie hörte auf den Namen „Momentfotografie“ oder auch „Sekunden-“ und „Augenblicksbild“. Heute heißt das „Schnappschuss“. Ein genuin neues Bildkompositionsprinzip war entstanden, welches das Flüchtige, das Zufällige, das Fragmenthafte in sich vereinte und von dem sich die MalerInnen des städtischen Lebens inspirieren ließen. Industrialisierung, Urbanisierung, kapitalistische Umtriebigkeit, gesellschaftliche Umbrüche – kurz: die Modernität der Metropolen erfuhr in diesen Aufnahmen ihr visuelles Pendant. Den zeitgenössischen BetrachterInnen boten sich überraschende, unverbrauchte Seherfahrungen, wofür es allerdings einen Stereobetrachter benötigte, der sich zwischen Auge und Fotografie schob.

EINTRÄGLICHE GESCHÄFTE MIT DER MOMENTFOTOGRAFISCHEN STEREOSKOPIE

1 Zur Straßenfotografie Wiens vgl. Michael Ponstingl: Straßenleben in Wien. Fotografien von 1861 bis 1913 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 2), Wien 2005, 2., durchges. Aufl. 2008.

Die fotografische Zunft wusste das Verfahren zu kommerzialisieren und ging systematisch daran, die großen Städte (moment)stereoskopisch zu bebildern und diese Attraktivität namentlich herauszustreichen. Den Anfang machte das New Yorker Unternehmen E. & H. T. Anthony, seine 1859 begonnene Sammelbildserie betitelte es Anthony’s Instantaneous Views. Viele taten es ihm gleich – in Wien der interessanteste: Wilhelm Burger. In den 1860er und 1870er Jahren brachte dieser im Selbstverlag Wien-bezogene Serien heraus, darunter Wien momentan / Vienne instantanée. Die zweisprachige Adressierung wies über den lokalen Markt hinaus: Für TouristInnen hierorts als Souvenir gedacht, ließen sich Wiener Ansichten 75


indes auch im Ausland absetzen. Solche Sammelbilder befeuerten Ende der 1850er Jahre einen rasant wachsenden Markt fotografischer Waren. Die eminent ange­ spannte Konkurrenzsituation nötigte die AtelierfotografInnen mehr und mehr, die größtenteils betriebene Auftragsproduktion (zumeist privat georderte Por­ träts) um eine Marktproduktion zu ergänzen. Sie mussten sich nach neuen Bildsujets umschauen und diese auf neue Weise (als Sammelbilder, Mappenwerke, Alben oder Bücher) vermarkten. Es galt, auf eigenes Risiko Motive aufzunehmen (und nicht zu warten, bis jemand ins Atelier spazierte und verlangte, porträtiert zu werden), sie in Verlag zu geben oder als SelbstverlegerIn aufzutreten sowie sich um Vertrieb, Kommissionen und Auslieferung zu kümmern. So entstand eine Fotopublizistik an Porträts Prominenter aller Fächer, an Typen- und Trachtenbildern, Kunstreproduktionen, Architekturen, Landschaften – und eben Städtebildern, die um die Aufmerksamkeit einer kaufwilligen Kundschaft buhlten. Anhand des momentfotografischen Schaffens Burgers lässt sich das Kenn­ zeich­­­ nende der Bilder demonstrieren. Damit stereografische Aufnahmen eine effekt­­ volle körperhafte Anschaulichkeit aufweisen, bedarf es einer ausgeprägt tiefen­räumlichen Komposition, zu erzielen durch markante Objekte in den unterschiedlichen ‚Tiefen‘ des Raums. Zumeist verwendete man als Negativmaterial nasse Kollodiumplatten. Ihre relative Lichtunempfindlichkeit erlaubte noch keine so knappen Belichtungszeiten, als dass sich Bewegungsabläufe aus allernächster Nähe scharf gezeichnet festhalten ließen. Um ein Zuviel an Bewegungsunschärfen zu vermeiden, bevorzugten FotografInnen deshalb erhöhte Standpunkte, etwa eine Kutsche oder ein Fenster in einem der oberen Stockwerke eines Hauses. Porträthaftes Aufnehmen war sohin aussichtslos – kleinfigurige Ensembles das Ergebnis. Die technischen Kon­ditionen erlaubten kein spontanes Zücken der Kamera, sie zwangen zum Stativeinsatz. Noch dazu musste beim nassen Kollodiumverfahren die Platte unmittelbar vor der Belichtung präpariert und danach ungesäumt entwickelt werden. In der Praxis führte das zur Aufsplittung der Bildkomposition in zwei entgegengesetzte Gestaltungsbestandteile: zum einen die statischen Architekturen, die durch die Möglichkeit, sich vorzubereiten, eine sorgsam gesetzte, meistenteils bildparallele Kadrierung erfuhren, zum anderen die einmalige Situation in der frequentierten Straße, in der das Momenthafte sich inkarnierte.2

DAS STADTBILD ALS RESULTAT VON INTERESSEN

2 Vgl. Marlene Schnelle-Schneyder: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19. Jahrhundert, Marburg 1990, S. 56–62.

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Trotz des dokumentarischen Gestus, der ihr eignet, wirft die Fotografie keinen objektiven Blick auf die Stadt, sondern modelliert – zusammen mit anderen Bildern und Texten – ein städtisches imaginaire. Dieses ist als ideologischer Block zu begreifen, geformt von denjenigen, die Lichtbilder herstellen, in Umlauf bringen, aus­ stellen, kaufen, betrachten und sammeln. Die Teilhabe an der fotografischen Ko­mmunikation, sowohl was den Besitz einer Kamera als auch den Besuch im professionellen Atelier und den Bildererwerb im Kunsthandel anlangte, blieb das ganze 19. Jahrhundert hindurch aus ökonomischen und soziokulturellen Gründen dominant dem Adel und dem Bürgertum vorbehalten. Die FotografInnen teilten überwiegend das kulturelle Selbstverständnis ihrer Kernklientel. Dementsprechend drücken sich in der Wahl (und eben auch in der Nicht-Wahl), der Inszenierung und Präsentation der Sujets ihre klassen- und geschlechterspezifischen Werte, Haltungen und


Abb. 1 Wilhelm Burger (Fotografie und Verlag): „Rue des Écossais“ (Schottengasse, einmündend in die Währinger Straße), Blatt 21 aus der Sammelbildserie Wien momentan / Vienne instantanée, 1872, Sammlung Mila Palm, Wien

Vorstellungen von der Stadt aus. In dieser Hinsicht ähnelt die sich so faszinierend anders artikulierende momentfotografische Ästhetik dem überlieferten Bilderschatz (Panoramen, Veduten, Straßenzüge und einzelne Häuser, aber auch Brücken, Parks oder Denkmäler). So konzentriert sich Burgers Wien-Bild zuvorderst auf die innere Stadt, das Machtzentrum der alten Kräfte Kirche, Kaiser, Adel und des aufstrebenden Bürgertums. Seine Aufnahmen ‚spielen‘ vor den neu errichteten Palais an der Ringstraße, dem Prachtboulevard und Renommierfeld des zu Reichtum ge­­langten liberalen Wirtschaftsbürgertums. Als Kulissen dienen ihm Ikonen des Fortschritts wie Bahnhöfe und eben erst errichtete Brücken. Gewerbefleiß versinnbildlicht sich im Gewurle auf Marktplätzen und auf den großen Radialstraßen, den Lebensadern, die das Zentrum speisen (Abb. 1). Die auf den Straßen Fotografierenden entpuppen sich sohin weniger als interesselos-neugierige Flaneure und flâneuses – mit dieser Sozialfigur werden jene gelegentlich (verklärend) verglichen –, sondern sind konkret nach Klasse, Geschlecht und ethnisch-kultureller Herkunft situiert.

DIE CHANCE DER TROCKENPLATTE NÜTZEN Eine einschneidende Neuerung in der momentfotografischen Ästhetik brachte die Silbergelatine-Trockenplatte, die sich um 1880 durchsetzte. Der ideologische Kern des Stadt-Bilds änderte sich dadurch zwar nicht, wohl aber seine Anmutung. Das neue Aufnahmemedium, entschieden lichtempfindlicher als die Kollodiumnassplatte, verhieß beträchtlich herabgedrückte Belichtungszeiten. Außerdem vereinfachte sich die Manipulation erheblich. Das Plattensensibilisieren direkt vor der Aufnah­ ­me entfiel ebenso wie das unumgängliche sofortige Entwickeln, denn der Handel bot verwendungsfertige Platten an, das Entwickeln konnte noch Monate später passieren. Die Trockenplatte im Verein mit Handkameras, lichtstarken Objektiven, mechanischen Schnellverschlüssen und hochsensiblen Ent­­ wicklerchemikalien katapultierte die FotografInnen in eine beispiellose Bewegungsfreiheit. Nun ließen sich Aufnahmen auf Straßenniveau nehmen, von Hand ‚geschossen‘, teils ohne Kontrollblick durch den Sucher. Man vermochte nun näher an die lichtbildnerisch begehrten Subjekte heranzurücken, ohne dass diese es registrierten (oder es erst bemerkten, nachdem sie schon verewigt worden waren). Die Aus- und Anschnitte wurden wagemutiger, rauer. Der Candid Shot, wie ihn die Street Photography im 20. Jahrhundert exerzierte, hat hier seinen Ausgang. WIEN-IMAGINAIRE

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Abb. 2 Victor Angerer (Fotografie und Verlag): ZuschauerInnen eines unbekannten Ereignisses in der Vorstadt, 2. Hälfte der 1880er Jahre, Photoinstitut Bonartes, Wien

Abb. 3 Firma R. Lechner (Wilh. Müller) (Fotografie und Verlag): Beim Pferderennen in der Freudenau, um 1898, Albertina

Von den Wiener gewerblichen FotografInnen legten etwa Josef Löwy, Victor Angerer, Anton Carl Schuster, Moriz Nähr, Martin Gerlach und die Firma R. ­Lechner (Wilh. Müller) erwähnenswerte Serien auf. Oft verblieb die ins Bild gesetzte ur­ bane Betriebsamkeit in entzifferbaren Architekturen, womit man die ‚Stadt‘ synek­ dochisch immer mitkommunizierte – ein Atout, um touristisches Sightseeing anzustacheln. Einige ErzeugerInnen bemühten sich aber auch um zusätzliche Kundenkreise. So versuchte Victor Angerer, neben Reisenden die Künstlerschaft als Abnehmergruppe für seine Boudoirformat-großen „Handkameraaufnahmen“ (12,5 × 19,5 cm) zu interessieren. In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre edierte er im Eigenverlag über 300 davon und bewarb sie als „Moment-Aufnahmen von Landschaften, Wiener Strassenleben, Militär-Genre, zu Studien für Maler etc. geeignet“ (Abb. 2).3 Um das kaufmännische Risiko weiter zu schmälern, setzte Angerer zudem auf vertikale Integration in Produktion und Vertrieb. Das heißt, er machte sich über das Fotografieren hinaus weitere Positionen in der Wertschöpfungskette zu eigen. Er unterhielt einen Fotoverlag, eine einschlägige Kunsthandlung, und seine Momentfotografien figurierten als Ausweis für die Qualität der Erzeugnisse seiner Trockenplattenfabrik, die er damals zusammen mit seinem Fachgenossen Josef Székely unterhielt. Dieselbe Strategie verfolgte R. Lechner (Wilh. Müller). Das Großunternehmen handelte mit fotografischen Bedarfsartikeln und Büchern, fertigte Kameras und publizierte ab 1889 seine „Wiener Actualitäten“. Die namenlos gebliebenen HausfotografInnen reportierten lokale Tagesereignisse zumeist der herrschenden Kräfte, beispielsweise Auftritte des Kaisers, Fronleichnamsprozessionen, Festumzüge, militärische Paraden und Aufmärsche, Pferderennen in der Freudenau und Katastrophen. Man belieferte die Presse, obendrein konnten die Fotografien in der Geschäftsauslage am Graben bewundert und auch erworben werden. Die Verlagskartons versah man mit der eigenwerbenden Aufschrift „Mit Lechner’s WERNER-CAMERA aufgenommen“ (Abb. 3).

MOMENTFOTOGRAFISCHES PORTRÄTIEREN 3 Oesterreichische Bibliographie, in: Oesterreichisch-ungarische Buchhändler-Correspondenz 31 (1890) 48, S. 546–549, hier S. 548 (Kunstartikel – Victor Angerer in Wien).

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FotografInnen wie Anton Carl Schuster und Moriz Nähr rückten den Menschen so stark zu Leibe, bis diese porträthafte Züge annahmen. Als Motivrevier wählten sie gerne den Naschmarkt. Märkte als traditionsreiche vormoderne Foren städtischer Öffentlichkeit boten im Gegensatz zum anonymen Kaufhaus noch


einen Warentausch von Angesicht zu Angesicht. Die Bilder veranschaulichen die geschlechtliche Kodierung der städtischen Sphäre. Der Marktplatz diente überproportional vielen unterprivilegierten Frauen wie Marktstandlerinnen und Blumenverkäuferinnen als Arbeitsstätte. Zudem bot er als einer der wenigen öffentlichen Orte den Anblick bürgerlicher Frauen ohne Begleitung und Schutz von Männern. Dort erledigten sie (mit oder ohne Dienstmädchen oder Haushälterin) eine ihrer wenigen Pflichten außer Haus, die ihnen die geschlechterspezifische Arbeitsteilung auferlegte (siehe Abb. S. 148, 149). Die Einführung der Trockenplatte beflügelte ebenso die Amateurfotografenbewegung. Getragen von Adeligen und (Groß-)Bürgerlichen, erlebte sie Ende der 1880er Jahre einen enormen Aufschwung. Zur Momentfotografie verhielt man sich ambivalent. Die Konservativen vermissten klassische Kompositionsprinzipien und wollten in der Stadt kein nennenswertes Motiv erkennen. Doch einige von ihnen wagten sich doch ans momentfotografische Porträtieren auf den Straßen heran. Am einlässlichsten betrieb es Rechtsanwalt Emil Mayer. Zwischen 1905 und 1912 nahm er das Menschentreiben in der inneren Stadt und im Wurstelprater ins Visier. Er tat es oft unbemerkt. Um sich zu tarnen und PassantInnen zu täuschen, se­tzte er einen Objektivaufsatz ein, der die Aufnahmerichtung um 90 Grad verschwenkte. Eine seiner Aufnahmen offenbart – vermutlich ungewollt – seine Herangehensweise: In der Glasscheibe eines Kaffeehauses spiegelt sich nicht nur das gegenüberliegende Kunsthistorische Museum, sondern auch Mayer samt seiner Foto­grafier­ technik (siehe Abb. S. 9). Mit diesem heimlichen Bilderhaschen verband sich die noch heute gern geglaubte Vorstellung, den Abgelichteten ein unverstelltes, ein im Gegensatz zur Pose ‚authentisches‘ Bild abzuringen. Mayer fasste seine Lichtbilder als „Genreaufnahmen“, festzuhalten beabsichtigte er „eine Reihe von charakteristischen Typen“, die er bereits als vom Verschwinden bedroht identifizierte. 4 Er interessierte sich nicht für sie als Individuen und ihre realen Lebensumstände, sondern suchte die Anerkennung als Fotokünstler, indem er ein nostalgisches Programm der Inventarisierung von (ständischen Berufs-)Typen verfolgte. Das Zelebrieren von Alt-Wiener Typen suchte ein vorindustrielles Idyll zu beschwören und über die kolossalen Zumutungen der Moderne hinwegzutrösten. Eine davon verkörperten die Heerscharen an ProletarierInnen und Elendiglichen, die freilich in den äußeren Bezirken hausten. Diese ins Bild zu bannen, man denke an Mai-Aufmärsche oder Teuerungsdemonstrationen, blieb jedoch den Polizeifotografen vorbehalten. Mayers stereotypisierender Blick auf eine andere Klasse macht ihn selbst zu einem Typen – einem bürgerlichen Typen.

4 W[ilhelm]. J. Burger, J[osef]. M[aria]. Eder: K. k. Photographische Gesellschaft in Wien. Protokoll der Plenar-Versammlung vom 7. März 1911 […], in: Photographische Korrespondenz 48 (1911) 607, S. 279–283, hier S. 282f. (Vortrag Emil Mayers), Zitate S. 282.

WIEN-IMAGINAIRE

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▲  Martin Gerlach sen.: Nußdorfer Straße mit Blick auf das Etablissement „Colosseum“, um 1900 ▶  Unbekannt: In der Kirchstetterngasse, um 1880

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◀  S. 82/83 Gerhard Trumler: Neustiftgasse, „Gasthaus Sinkowitz“, 1979 ▼  Carl von Zamboni: Blick auf den Franz-Josefs-Kai, 1880–1900 ▶  Reinhard Mandl: Südbahnhof bei Schneefall, 2000

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▲  und ▶ Unbekannt: Taxistreik, 1933

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Andreas Baumann: Aus der Serie Wiener Autofahrer unterwegs, 1998–2003

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Unbekannt: Stock-im-Eisen-Platz und Stephansplatz, um 1875

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▲  Elfriede Mejchar: Aus der Serie Gaswerk Simmering und Umgebung, 1975 ▶  Emil Mayer: Verkehrspolizist, 1905–1911

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▲  Emil Mayer: Unterwegs mit der Straßenbahn, 1905–1911 ▶  Emil Mayer: Vor der Lotterie, 1905–1911

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▲  Emil Mayer: Frauen im Gespräch, 1905–1911 ◀  Emil Mayer: Vor einem Schaufenster, 1905–1911

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Hermann Heid: Kärntner Ring mit Blick gegen den Opernring, um 1870

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▲  Unbekannt: Straßenbahnfahrer am offenen Führerstand der Linie 49 oder 50, 1925–1930 ▶  Harry Weber: Im Auto, aus der Serie Das Wien-Projekt, 2003–2007

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▲  Friedrich Strauß: Schwendermarkt auf der Mariahilfer Straße, 1894 ▶ Rudolf Ullrich: In der Rotenturmstraße, 1909

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▲  Lothar Rübelt: Unterwegs auf dem ­Michaelerplatz, 1932 ◀  Barbara Pflaum: Auf dem Heldenplatz, um 1960

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▲  Gustav Jägermayer: Blick vom Stephansplatz gegen die Goldschmiedgasse, 1865 ▶  August Stauda: Königsklostergasse, „Bettlerstiege“, um 1904

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