Wien Museum Ausstellungskatalog „Der Ring. Pionierjahre einer Prachtstrasse“

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schöpften, die Anwendung und Verschränkung unterschiedlicher Motive jedoch konstruktiv und eben nicht historisch begründeten. Nicht ein bestimmter Stil wird zitiert, sondern die für die jeweilige konstruktive oder dekorative Aufgabe am besten geeignete Lösung analysiert und verarbeitet; das Ornament wird nicht kopiert, sondern mit größtmöglicher individueller Freiheit weiterentwickelt (Abb. 4). Dieses Vorgehen musste den Widerspruch all jener provozieren, die davon überzeugt waren, dass eine moderne Architektur nur auf dem Weg der strengen Nachahmung eines historischen Stilideals – jenem der italienischen Renaissance – möglich sei. Gestärkt durch entsprechende, von Theophil Hansen (Antike) und Friedrich Schmidt (Mittelalter) geleitete „Specialschulen“ an der Akademie der bildenden Künste, sollten die Vertreter des „strengen Historismus“ in den beiden Jahrzehnten nach 1865 mit den großen öffentlichen Bauten in verschiedenen historischen Stilen und Hunderten Wohnbauten das Gesicht der Ringstraße entscheidend prägen. Mit der Wiener Stadterweiterung erhielt der europäische Historismus sein mit Abstand größtes zusammenhängendes Experimentierfeld. Entlang dieser „Hauptstraße des 19. Jahrhunderts“ wurde die geballte kreative Auseinandersetzung mit den historischen Stilen zur Reife gebracht – zeigte allerdings am Ende auch schwere Ermüdungs­erscheinungen. So ist es kein Zufall, dass sich schlussendlich gerade in Wien – früher als andernorts – eine neue architektonische Kultur abzuzeichnen begann. Mit der Ringstraße hatte sich die Epoche des Historismus selbst ein Denkmal gesetzt, dessen Sockel brüchig geworden war. Wie aber ließen sich die konstruktiven, technischen und wissenschaftlichen Innovationen in der Architektur des 19. Jahrhunderts für ein neues Bauen retten? Wie konnte die Tradition bewahrt werden, ohne unmittelbar über das Ornament – wie noch im Historismus – die Form zu bestimmen? Otto Wagner, seinerseits ein Schüler van der Nülls und Sicardburgs, wandte sich bereits 1889 gegen die „Experimente mit den verschiedenen Stilrichtungen“ und war der Überzeugung, „[…] daß eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit größtmöglichster Berücksichtigung unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungenschaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein Richtige sei“.43 Das „Fort- und Umbilden, sowie das Benützen aller Motive und Materialien“ müsse zu einem neuen „Zukunftsstil“ drängen, dem „Nutzstil“. Nun wird eingelöst, was van der Nüll schon 1845 gefordert hatte: Beim Bau der Postsparkasse kurz nach 1900 konnte Wagner den „Nutzstil“ an der Ringstraße zur Anwendung bringen (Abb. 5).

Sie war einer der letzten „Monumentalbauten“ des 19. Jahrhunderts – zugleich aber auch Manifest einer konsequent aus der Tradition des europäischen Bauens abgeleiteten neuen, „funktionalen“ Architektur des 20. Jahrhunderts. Die historischen Vorbilder haben ausgedient, der Dekor wird nicht mehr aus der Geschichte, sondern beinahe plakativ aus logischfunktionalen Zusammenhängen abgeleitet; das „Ornament“ setzt sich aus metallisch blinkenden Bolzenköpfen zusammen. Vom Bau der Hofoper, deren Architekten sich in den Pionierjahren der Ringstraße gegen den Historismus stemmten, bis zur Postsparkasse, bei der Wagner vollständig auf historische Stilzitate verzichtete, spannt sich damit ein Bogen, der einmal mehr die Scharnier- und Schlüsselfunktion der Ringstraße und des Historismus innerhalb der Moderne deutlich macht. 44

21 35 Karl Weiss: Die Aufgaben der modernen Architektur, in: Recensionen und Mittheilungen über bildende Kunst 1 (1862), S. 3-7, hier S. 7.

40 Van der Nüll 1845, S. 32.

36 Rudolf von Eitelberger: Der Heinrichshof, in: Österreichische Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben, Bd. 1, 1863, S. 24-26, hier S. 25.

43 Otto Wagner: Einige Scizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke, Wien 1889, zit. n. Graf 1985, S. 72. Danach auch die folgenden Zitate.

37 Eitelberger/Ferstel 1860, S. 13. 38 Wiener Zeitung, 18. Oktober 1862, S. 1422. 39 Doderer 1870, S. 337.

41 Ebd., S. 34. 42 Vgl. Hoffmann 1972, S. 16.

44 Vgl. den Beitrag von Christian Demand in diesem Katalog.


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