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sollten das Engagement im Stadterweiterungsgebiet erleichtern. Träger des mit neoabsolutistischer Geste begonnenen Großprojekts – darüber waren sich alle Verantwortlichen von Anfang an im Klaren – sollte das Bürgertum werden. Der entscheidende Motor dafür war die im Februar 1860 verlautbarte „Realbesitzfähigkeit der Israeliten“. Bis dahin vom Grundbesitz ausgeschlossen, sollten jüdische Bauherren nun eine entscheidende Rolle in „Neu-Wien“ spielen (gS. 163). Unabhängig von der Konfession ihrer Mitglieder formierte sich auf und mit der Ringstraße jene liberale Gesellschaft, die den letzten Jahrzehnten der Monarchie ihren kulturellen Stempel aufdrücken sollte. Hermann Bahr schrieb 1923: „Mit der Ringstraße war der Spielplatz der neuen Gesellschaft improvisiert. Es galt nun über Nacht auch diese selbst beizustellen; der Ringstraße war rasch noch erst das dazu passende Wien zu liefern.“23 Sie war aber nicht nur fröhlicher Spielplatz, sondern nach Carl E. Schorske auch „contested space“,24 in dem die unterschiedlichen Machtinteressen von Kaiserhaus, Militär und Bürgertum mit städtebaulichen, architektonischen und künstlerischen, im zeitgenössischen Sinn „monumentalen“ Mitteln verhandelt und zugleich ästhetisch sublimiert wurden. So wurde die Ringstraße tatsächlich zu einem äußerst vielgestaltigen und vielschichtigen ,Denkmal‘ für die Epoche Kaiser Franz Josephs, dessen Regierungszeit (1848–1916), vom ersten Jahrzehnt abgesehen, mit der Wiener Stadterweiterung zusammenfiel. Das bürgerliche Wohnhaus und die guten Sitten Wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner von „Neu-Wien“ häuslich einrichten würden, war vor allem in den Anfangsjahren Gegenstand intensiver und für die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit aufschlussreicher Debatten. Sie reichten von der Frage nach der angemessenen Gestaltung der Fassaden eines bürgerlichen Wohnhauses bis zu detaillierten Analysen über den Einfluss der Bautypologie auf die sittlichen Zustände der bürgerlichen Familie. Als 1860 die ersten Bauparzellen am Kärntner und Opernring sowie am Franz-Josefs-Kai verkauft wurden, traten Rudolf von Eitelberger und Heinrich Ferstel mit einer Streitschrift an die Öffentlichkeit, die das gesamte private Bauwesen Wiens infrage stellte: Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus. Ein Vorschlag aus Anlaß der Erweiterung der innern Stadt Wien’s (gS. 168). Die Autoren argumentieren darin, dass die Verdrängung des Familienwohnhauses durch das Zinshaus den sittlichen und moralischen Verfall der bürgerlichen Gesellschaft bewirkt habe. Die historische Parallele sehen die beiden in den mehr geschoßigen „insulae“ des antiken Rom – „traurige
Abb. 2: Unbekannter Fotograf, Palais Wickenburg (Gonzagagasse 1), um 1870, Wien Museum
Statisten“ des Endes eines Weltreichs, in denen „die verschiedenen Familien der Freigelassenen, der Fremden, der herabgekommenen Bürger, der Geschäftsleute und Speculanten, der Grisetten und Comödianten“25 gehaust hätten. Um den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft abzuwenden, so lautet der Umkehrschluss, ist die Rückkehr zum bürgerlichen Wohnhaus unabdingbar. Denn nur im Familienwohnhaus sei die „Abgeschlossenheit der Privatwohnung“, die räumliche Trennung der Geschlechter und eine Scheidung des Gesindes von den Familienmitgliedern möglich; nur hier könne man „die Töchter des Hauses“ davon abhalten, „mehr auf die Straße, als in das Haus und seine Gemächer zu schauen“.26 Wohnen und Arbeiten sollen räumlich verbunden werden, „damit die Söhne des Hauses von Jugend auf sich gewöhnen, des Handwerks ihres Vaters sich zu freuen und nicht zu schämen“.27 Vom Erfolg ihres Projekts machen die Autoren nichts weniger als die Zukunft von Staat und Gesellschaft abhängig, denn „die Festigkeit des Staates und die Garantie seiner Existenz liegen in den Händen der besitzenden Klasse. Die Elemente der Bewegung und der Unruhe sind zu allen Zeiten am stärksten in der besitzlosen Klasse vertreten gewesen. […] Die stärksten Motive patriotischen Handelns, die größte Aufforderung zu ruhiger und leidenschaftsloser Erwägung der Staatsverhältnisse liegen in dem Besitze von