
3 minute read
Babuschkas im Schnee
Über Nacht ist Schnee gefallen – das erste Mal in diesem Winter. In der Stadt Zürich sind es zwar nur wenige Zentimeter, und Bäume und Sträucher haben sich ihres Wintermantels längst wieder entledigt, aber immerhin. Gerade wurde bekannt, dass 2015 das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen war. Gefolgt vom Jahr 2014. Was für ein trauriger Rekord.
Bei der Tramhaltestelle Triemli wartet Theres, eine Freundin, die mich bei meinem heutigen Spaziergang über den Üetliberg begleitet, wetterfest verpackt. Seit vielen Jahren mache ich diesen Gang regelmässig bei Wind und Wetter, mal bei Regen, mal bei Sonne, und doch entdecke ich jedes Mal etwas Neues und staune darüber, wie selektiv meine Wahrnehmung ist. Heute liegt mein Fokus auf den Knospen von Bäumen und Sträuchern, denn ich bereite eine Exkursion zu diesem Thema vor.
Knospen sind Wundertüten. Wer im Winter einen Haselzweig schneidet und mit nach Hause nimmt, kann beim Austrieb beobachten, was alles in einer einzigen Knospe steckt: männliche Blüten, weibliche Blüten und Triebe mit weiteren Knospen, die sich zu Blättern entfalten. Wie in einer Babuschka sind Knospen in Knospen verpackt.
Anders als der Hasel besitzen manche Gehölze wie Ulme und Kornelkirsche zwei verschiedene Typen von Knospen: aus den kugeligen werden Blüten, aus den länglichen Blätter. Beide Arten kommen am Üetliberg vor.
Ich strecke meinen Arm aus und reibe mit den Fingern über eine Bergahornknospe. Die schuppenförmigen Blätter, mit denen der Bergahorn seine Knospen umhüllt, sind von einer Wachsschicht überzogen; ich spüre sie gut. Schuppenblätter wie Wachsschicht schützen die Anlagen und reduzieren die Verdunstung auf ein Minimum.
Es gibt auch Arten, die ohne Schuppenblätter auskommen und ihre Anlagen mit behaarten Blättchen in Miniaturform schützen. Dann spricht man von «nackten» Knospen. Der Rote Hartriegel und der Wollige Schneeball, die Theres und ich beide am Üetliberg finden, sind Beispiele dafür.
Jetzt, im Januar, halten die meisten Knospen Winterschlaf. Sie haben ihren Stoffwechsel und wegen der Frostgefahr auch ihren Wassergehalt minimiert. Vollgepackt mit Energie, die sie im Laufe des letzten Sommers eingelagert haben, harren sie in der Kälte aus. Nur Hasel und Erle blühen bereits. Wenn – im März oder April – die Temperaturen steigen, werden auch die Knospen der übrigen Gehölze aus ihrem Schlaf erwachen. Dann werden sie ihre Zellen bis zum Anschlag mit Wasser füllen, sich strecken und recken, bis sie ihr Volumen vervielfacht haben, und schliesslich mit Hilfe der eingelagerten Energie austreiben.
Der Wind, der über den Berg fegt, heult. Es sind Böen bis zu sieben Beaufort vorausgesagt, das sind rechte Schüttler. Auf der Krete angelangt, hole ich meine schwarze Goretexjacke aus dem Rucksack hervor und ziehe sie über die blaue Daunenjacke. Irgendwann habe ich zufällig entdeckt, dass das geht, meine Daunenjacke ist sehr eng geschnitten, meine Goretexjacke weit, eine ideale Kombination bei Schnee und Kälte. Hier oben liegt viel mehr Schnee als unten in der Stadt, sicher zwanzig Zentimeter. Es läuft sich wunderbar, vor uns war noch niemand unterwegs.
Der Wind wird immer stärker. Er reisst regelrecht an den Bäumen, biegt ihre Äste, schleudert uns Schnee entgegen – die beissende Kälte im Gesicht setzt uns zu. Wir beschleunigen unseren Schritt. Schliesslich versinken wir tief im weichen Schnee und wundern uns darüber. Ein paar Meter weiter wird uns klar, warum: Der Wind hat hier den Schnee wortwörtlich von der Wiese gefegt und weiter hinten, dort, wo wir gelaufen sind, zu kunstvollen Dünen aufgetürmt. Die sanft geschwungenen weissen Wellen sind ästhetisch perfekt.
Auf dem Weg bergab nach Uitikon-Waldegg macht sich mein linker Fuss bemerkbar, es scheint sich eine Blase zu bilden, und
so beenden Theres und ich unsere Tour bei der Haltestelle der Üetlibergbahn, die uns zurück nach Zürich und in die Wärme bringt.
Freitag, 15. Januar 2016