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Borkenkunst unter dem Zirkumhorizontalbogen

Das Tauwetter hat am Hang einige Brocken gelöst und auf den Weg geworfen, weshalb ich ab und zu prüfend nach oben blicke, um sicherzugehen, dass mich nicht gleich ein Fels zerschmettern wird. Seit meinem letzten Üetliberggang sind zwei Wochen verstrichen. Der Schnee ist zu kümmerlichen gräulichen Resten zusammengeschmolzen, beim Gehen knirscht nicht Schnee, sondern Kies unter meinen Sohlen. Abgesehen von Hasel und Erle, die in voller Blüte stehen, ist der Wald noch immer winterkahl. Silbern, grau, braun und schwarz schimmern seine Stämme.

Ganz junge Gehölztriebe werden von einer Haut aus lebenden Zellen bedeckt. Bereits im ersten Jahr aber entsteht eine Schutzschicht – die Rinde. Sie setzt sich aus toten Korkzellen zusammen und dichtet den Baum oder Strauch nach aussen hin ab. Damit dieser trotzdem atmen kann und nicht erstickt, bildet er sogenannte Lentizellen aus. In Lentizellen sind die Korkzellen nicht wie sonst üblich dicht an dicht, sondern locker gepackt. Für das menschliche Auge sind sie als helle oder dunkle, rundliche oder längliche Poren erkennbar, die von der Oberfläche abstehen.

Wenn die Bäume und Sträucher im fortgeschrittenen Alter an Umfang zulegen, reisst die Rinde meist auf, je nach Art längs oder quer zum Stamm oder in rechteckigen Schuppen – eine Borke entsteht. Nur Rot- und Hainbuche bewahren sich ihre glatte Rinde bis ins hohe Alter. Entsprechend sind ausgewachsene Rotbuchen an ihren grauen, glatten Stämmen, die von feinen Runzeln überzogen sind, zu erkennen. Und Hainbuchen sind wegen des weissen Netzmusters, das sich an ihren glatten, wulstigen Stämmen hochzieht und wie aufgemalt wirkt, bereits in ihrer Jugend einfach zu bestimmen.

Andere Arten sind weniger bescheiden und protzen mit ihrer Borke. Feldahorn und Feldulme etwa bilden entlang ihrer Äste

und Zweige beeindruckende Korkleisten aus. Und die Eiche zählt mit ihrer tiefrissigen Borke zu den Borken-Königinnen. Mein Lieblingsborkenbaum aber ist der Bergahorn. Seine Borke blättert in rechteckigen Schuppen ab, was am Stamm vielfarbige Puzzleteile entstehen lässt und entfernt an eine Platane erinnert. Für mich stellt jeder Bergahorn ein einzigartiges Kunstwerk dar. Hier am Üetliberg reiht sich Kunstwerk an Kunstwerk. Behutsam lasse ich meine Finger über die Puzzleteile gleiten.

Noch immer ist das Seil da, das die Förster im November entlang der Falllinie durch den Üetliberghang zogen, um im steilen Gelände gefällte Bäume abtransportieren zu können. Warum, weiss ich nicht. Seit Wochen habe ich keine Förster mehr gesehen und die Motorsägen blieben stumm.

Weiter oben lassen Bagger ihre Arme müde gegen den Boden hängen, verlassen stehen sie da, Überbleibsel der neuen Bergbachverbauung. Mit riesigen Steinquadern und querliegenden Baumstämmen soll der Bach gezähmt und in sein Bett gezwungen werden. Ich bin gespannt, ob er sich dem Willen der Bachverbauer beugen wird.

Im Unterholz fallen mir Sträucher mit feinen Zweigen auf, die ihrer gräulichen Farbe wegen unansehnlich und wie abgestorben wirken. Aus der Nähe entpuppen sie sich mit ihren spitzen, grauen Knospen als Rote Heckenkirsche. Ihr lateinischer Name Lonicera xylosteum passt zu ihrem «toten» Aussehen, denn xylosteum bedeutet «Holz wie Knochen».

Die Aussicht vom Üetliberg ist heute ungewöhnlich. Der Himmel ist mit linienförmigen Schleierwolken überzogen, aber ausgefranst, als wäre der Himmelscoiffeur mit einem grobzinkigen Kamm einmal quer über das Gewölbe gefahren. Plötzlich ist mir, als hätte ich einen kräftigen Farbtupfer mitten im Blau entdeckt. Eine Art Regenbogen zeichnet sich in einer Schleierwolke ab, die Farben sind deutlich auszumachen. Von einem Regenbogen ohne Regen habe ich allerdings noch nie gehört, wie das wohl möglich ist? Zu Hause lese ich nach, dass es sich bei meiner «Regenbogenwolke» um einen Zirkumhorizontalbogen gehandelt haben

muss. Ein solcher entsteht, wenn sich das Licht der Sonne an den winzigen Eisplättchen einer Wolke bricht – was für ein Wunder der Natur.

Freitag, 29. Januar 2016

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