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DÜFTE DER GEBORGEN HEIT SAMMELN

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BUNTE VIELFALT

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DÜFTE DER GEBORGENHEIT SAMMELN

Marcus G. Lindner erhebt den Knödel zur Kunst und seine Vorstellungskraft sitzt im Gaumen: wie der Gourmetkoch das neue Designresort in Grindelwald mit Gerüchen erfüllt, die man eifrig sammeln möchte.

TEXT Daniela Dambach FOTO Anja Zurbrügg

Irgendwo in Wien. Irgendwann vor fünfzig Jahren. Aus der Küche klappert es rhythmisch, sodass nur noch ein Refrain fehlt, um daraus ein Kinderlied abzuleiten. Kurz darauf stellt die betopfhandschuhte Mutter den Schmaus auf den Mittagstisch, an dessen Kante sich hungrige Mägen drücken. Die herzhaften Düfte von Schmorbraten und Käsespätzle entweichen schon während des Schöpfens von der Holzkelle und steigen dem Sohn in die gewunderige Nase; als würden sie ihm in den Kopf setzen wollen: «Werde Koch!». Die frühste kulinarische Erinnerung von Marcus G. Lindner – und nicht zuletzt der Auslöser, den Beruf des Kochs zu erlernen – ist die traditionelle, österreichische Küche seiner Mutter – der frottierende Duft von Daheimsein.

«Schon damals warnte man mich vor, der Kochberuf sei kein Zuckerschlecken, gerade deshalb erschien mir dieser umso reizvoller», erinnert sich der 59-Jährige, der seit diesem Sommer schmorend, grillierend oder dämpfend Düfte in die gebirgige Gegend entlässt: Er ist der Küchenchef im neuen Designresort «Bergwelt», das eröffnete, als sich im Juni die weissen Pixel des Digitalkalenders zu einer «11» formierten. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass der Rebell aus ihm emporstach wie die Flamme am Gasbrenner bei noch so flüchtigem Kontakt mit dem lodernden Streichholz. Früher noch mehr als heute, da oftmals marketingkomponierte synthetische Duftflotten die Nasenflügel am olfaktorischen Höhenflug hindern, hatte jeder Ort seinen eigenen Geruch. Denn nimmt die Nase einen Duft auf, analysiert der Riechkolben im Gehirn diesen, um die Information sowohl in das Gedächtnis wie auch das Emotionszentrum weiterzuleiten. Diese verknüpfen sich miteinander, weshalb jeder Duft ein bestimmte Emotion auslöst: Geruch und Gefühl liegen nahe beieinander.

Manchmal, da tritt ein Geruch so unverhofft in einen Raum herein wie ein alter Kumpan, bei dem man sich längst melden wollte, bis man seine Nummer im Gleichgang mit älter gewordenen Gedächtniszellen vergessen hat. In einem flüchtigen Nu tänzeln dann die unscharfen Szenerien von damals vor dem geistigen Auge. Es ist ein Gefühl von Vertrautheit, selbst wenn das Vergangene weit zurückliegt, übertüncht von der Intensität des Hier und Jetzt. In etwa dieses Gefühl, einen Bekannten wiederzusehen inmitten des Unbekannten, überkommt einen, wenn man die designte, aber keineswegs durchgestylte «Bergwelt Grindelwald» betritt. Allein der Eingangsbereich ist eine Entdeckung für sich: Schieben sich die Glastüren auf, findet man sich in einem Atrium aus Backsteinen wieder, in dem einem ein saurolithartiger, tranchierter Grindelwaldner Marmorfindling zu Füssen liegt. Dem Unbekannten nicht genug, ziehen sogleich geruchlose Nebenschwaden auf, sodass dessen Maserung mystisch verschwimmt. Man kann sich leicht vorstellen, dass inmitten des Schauspiels ein Hubschrauber auftaucht, von dem ein geheimer Agent in noch geheimerer Mission abspringt. Doch der Novembernebel zur Sommerzeit verzieht sich binnen Minuten und gibt die Sicht auf die Felsmassive frei. «Diese Höhe – das sind noch Berge!», kommentiert Marcus G. Lindner im Vorbeihuschen.

GASTRONOMISCHE «GESETZE» BRECHEN

Nahbar ist die Kulinarik an diesem urban-alpinen Inspirationsort: Denn mit seinen 18 GaultMillau-Punkten und zwei Michelin-Sternen pflegt Marcus G. Lindner zwar eine gehobene, aber keine abgehobene Küche. «Damit die Gerichte zugänglich sind, stelle ich mich auf den Gast ein, den es in den Ferien auch mal nach

Seinen mediterran-rebellischen Stil verfeinerte Marcus G. Lindner an namhaften gastronomischen Adressen wie dem «Mesa» in Zürich, dem «Hotel Victoria Jungfrau» in Interlaken oder dem «The Alpina» in Gstaad.

einem saftig-krossen Backhendl oder einem Wiener Schnitzel gelüstet», beschreibt der gebürtige Vorarlberger. Speisen wie diese müsse er nicht neu erfinden, aber gut zubereiten: «Typisch traditionelle Gerichte repräsentieren Kultur und Heimat, wieso sollte man diese verändern?» Ansonsten scheut Marcus G. Lindner Veränderungen keineswegs – oder man nenne es absichtliches Abweichen von den ungeschriebenen Gesetzen der Gastronomie. Als erster Spitzenkoch der Schweiz wagte er es, Fleisch und Fisch zu kombinieren, indem er beispielsweise einen Steinbutt auf eine geröstete Kalbshaxe bettete. «Das verstärkt wechselseitig den natürlichen Geschmack», erklärt Marcus G. Lindner, dessen Eigenwilligkeit sich schon während der Lehre in Vorarlberg abzeichnete. Für seinen väterlich strengen Lehrmeister galt er als Rebell: «Ich versuchte stets, nicht genau das zu tun, was er verlangte.»

KUNSTVOLL, OBWOHL OPTIK AN DRITTER STELLE STEHT

Sein Lehrmeister war seiner Zeit voraus und nahm den wirbligen Jungspund mit an Ausstellungen, die ihm den künstlerischen Zugang zur Kulinarik eröffneten; doch verstehe er sich heute als Handwerker. Wer dies augenschmausend in Anbetracht seiner porzellangerahmten Gemälde nicht nachvollziehen kann, der schaue ihm in der Showküche zu, wie er mit konzentriert versteinerter Miene mit Trüffel und Reibe hantiert und glasierte Jungkarotten aufschichtet. Marcus G. Lindner kreiert seine Rezepturen aus vertrauten Zutaten mit gustatorischer Vorstellungskraft, indem er sich diese im Kopf ausmalt und förmlich im Gaumen schmeckt. Je länger, je mehr ist ihm die Serviertemperatur der Speisen sogar wichtiger als deren Optik und Geschmack: «Ein zu heisses oder zu laues Gericht macht sowohl den ästhetischen wie auch den geschmacklichen Eindruck zunichte.» Eine antauende Eiskugel? Ein lauwarmes Gulasch? Marcus G. Lindner verwirft die Hände vor dem Kopf. Er bringt jungen Teamkollegen bei, dass ein Teller, auf den sie mit der peinlich präzisen Pinzette Türmchen um Türmchen hinkünsteln – in einer Dichte, die an die Bauweise von Hongkonger Stadtvierteln erinnert –, niemals in wohltuendem Wärmegrad beim Gast ankommen könne. Auch gibt er sein visionäres Verständnis von vegetarisch-veganer Küche weiter, mit dem er bereits vor mehr als einer Dekade Normen umstiess.

«DIE VEGANE KÜCHE WIRD SICH ALS NEUE NORMALITÄT DURCHSETZEN.»

Marcus G. Lindner, Gourmetkoch

PIONIER DER VEGETARISCHVEGANEN KÜCHE

Im Gstaader «The Alpina» – nur eine der namhaften gastronomischen Adressen, an denen er seine kulinarische Kunstfertigkeit verfeinerte – stellte er die Vegetarier in den Vordergrund, indem er Fisch oder Fleisch zur Beilage erklärte. «Ersatz ist der falsche Ansatz; es reicht nicht, etwas Existierendes vegan zu machen, man muss etwas Veganes neu kreieren», so der Spitzenkoch, der selbst selten Fleisch isst und seine Energie aus Hülsenfrüchten oder Rösti zum Frühstück zieht. «Die vegane Küche wird sich etablieren», ist er überzeugt. Für konsequent hielte er es, folglich Bereiche des Herdes oder des Kühlschranks explizit für die vegetarischveganen Speisen zu reservieren. «Wenn man dem veganen Gast, der dereinst nicht mehr wegzudenken ist, gerecht werden will, ist ein solcher Systemwechsel zwangsläufig», sagt einer, der wohl die Zukunft zu wittern vermag.

Seine eigene Zukunft als Gastgeber beginnt gerade in der «Bergwelt», deren Eröffnung er gelassen entgegenblickte. Durch die Erfahrung habe er eine gewisse innere Ruhe erlangt, sodass sein Nervenkostüm nicht so schnell knittert. «Aber ganz tief in mir rebelliert es schon noch», lacht er, «sehr sogar.» Noch durchströmt ein Neugeruch das Nobelresort, was sich bald ändern wird, wie Luzius Kuchen umschreibt: «Ich freue mich darauf, wenn das Hotel riecht wie ein Hotel: nach Holzkohlegrill, nach Kerzen, nach Zigarren und nach verschiedenen Kulturen.» Irgendwo. Irgendwann. Die Gerüche von Badewasser, Bergluft und Backhendl wecken Erinnerungen. Schliesslich hat man diese nicht nur im Gedächtnis abgespeichert, sondern auch im Emotionszentrum. Und zwar in der Abteilung: sich geborgen fühlen.

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