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Zu Gast

Gery Nievergelt über seine Zeit als Chefredaktor der HTR Hotel Revue

Wie ich in den neun Jahren die Hoteliers erlebte

«Die Branche behält auch in der Krise ihre charakteristische Heterogenität. Und das macht es so schwierig, Bilanz zu ziehen.»

Als ich im Februar 2012 die Chefredaktion der HTR Hotel Revue übernahm, blickte der Schweizer Tourismus auf ein durchzogenes Vorjahr zurück. Man beklagte den Rückgang an europäischen Gästen, tröstete sich jedoch mit der wachsenden Zahl an Gästen aus den BRIC-Staaten, allen voran aus China. Alles in allem herrschte Zufriedenheit und Courant normal. Dann, anfangs 2015, sorgte die Nationalbank mit der Aufhebung des Mindestkurses für ein mittleres Erdbeben, das vor allem der Ferienhotellerie schwer zu schaffen machte. Doch die Krise wurde insgesamt gut gemeistert, es ging wieder aufwärts. Der Tourismus boomte weltweit, schon wurde Overtourism auch bei uns zum Thema – und jetzt das! Ein hochansteckendes Virus hält die Gesellschaften im Würgegriff, treibt die Entscheidungsträger vor sich her und zwingt den Tourismus weltweit in die Knie.

Ja, zurzeit steht es schlimm um unsere Branche.

Schaut man genauer hin, sind die Auswirkungen jedoch nicht überall derart drastisch. Es reagieren auch nicht alle Hoteliers gleich auf die immensen neuen Herausforderungen. Am einen Ende der Befindlichkeitsskala herrschen Ohnmacht und Resignation vor. Am anderen Ende dominieren (noch) Eigeninitiative, Innovation und der Wille zu Kooperationen. Wie es in jeder Ausnahmesituation geschieht, lernen wir unsere Mitmenschen jetzt besser kennen. Paradoxerweise fallen die Masken in einer Zeit, in der wir uns Masken aufsetzen müssen.

«Das Wertvollste waren für mich jeweils die Begegnungen mit den Menschen im Hotel. Erst dort habe ich verstehen gelernt, was gelebte Gastfreundschaft wirklich bedeutet.»

GERY NIEVERGELT Die Branche behält also auch in der Krise ihre charakteristische Heterogenität. Und das macht es so schwierig, Bilanz zu ziehen. In fast neun Jahren als Chefredaktor von HTR und htr.ch sowie als Verantwortlicher für den Innovationspreis Milestone habe ich die schweizerische Hotellerie (und den Tourismus) recht gut kennengelernt. Aber wenn ich nun anlässlich meines altersbedingten Rücktritts gefragt werde, wie diese Branche denn so sei, gerate ich ins Trudeln. Wie ist sie denn so im Allgemeinen, die Schweizer Hotellerie? Gute Frage. Kämpferisch, fällt mir ein. Pragmatisch. Bemerkenswert zäh. Irgendwie bauernschlau, aber nicht so schlau organisiert wie die Bauern. Nicht so selbstbewusst, wie sie es sein könnte. Nicht so attraktiv für Berufseinsteiger, wie sie es sein müsste. Und noch immer ungenügend vernetzt. Typisch schweizerisch halt. Aber die Schweizer Hotellerie ist eben auch reich an Persönlichkeiten, originellen Köpfen, beeindruckenden Konzepten und cleveren Geschäftsmodellen. Das wird jeweils besonders deutlich, wenn wir uns in der Jury zur Wahl eines Hoteliers oder einer Hotelière des Jahres zusammensetzen.

So ist meine Erinnerung an diese neun intensiven Jahre aufgesplittert in unzählige Einzelerlebnisse. Ich habe zwar nicht ständig in Hotels logiert, wie mein privates Umfeld gerne vermutet. Aber ich durfte schon in vielen sehr schönen, sehr stilvollen Hotelzimmern aller Sterne-Kategorien übernachten. Wobei ich gestehen muss, in dieser Hinsicht etwas konventionell zu sein: Am Ende des Tages sind mir vor allem ein gutes Bett, eine grosszügige Nasszelle und Sauberkeit wichtig. Nur gerade dreimal musste ich diesbezüglich um ein anderes Zimmer bitten, was mir jeweils anstandslos gewährt wurde. Die Schwei-

zer Hotellerie kann sich insgesamt sehen lassen.

Aber das Wertvollste waren für mich jeweils die Begegnungen mit den Menschen im Hotel. Erst dort habe ich verstehen gelernt, was gelebte Gastfreundschaft wirklich bedeutet. Erfuhr, wie befreiend es ist, wenn man sein Leben für einen kurzen Moment vertrauensvoll in die Hände anderer legen kann. Staunte über Gastgeberinnen und Gastgeber, die über ein unwahrscheinlich feines Sensorium für die Befindlichkeiten und Bedürfnisse ihrer Gäste verfügen. Und schliesslich verstand ich sogar, dass Dienen keine Pflicht sein muss, sondern tatsächlich eine hohe und beglückende Kunst sein kann.

Ich möchte hier keine Namen nennen. Da gab es den Hotelier in Bern, der erriet, dass man mir eine kindliche Wahnsinnsfreude bereiten kann, wenn man mich mit einem Dessert in den Farben und dem Logo meines Lieblingsfussballclubs überrascht. Da war eine Hotelière in Lausanne, die mir vor Augen führte, wie sich mit lebenskluger Führung ein absolut fantastisches Team aufbauen lässt. Da war ein ehemaliger Zermatter Hotelier, der mir mit seiner Empathie in einer schwierigen Situation entscheidend weiterhalf. Diese drei und einige andere werde ich nie vergessen – und hoffentlich auch weiterhin dann und wann wiedersehen.

Doch, einen Namen nenne ich noch, weil die Episode mit Namen zu tun hat. Ich war an einem gesellschaftlichen Anlass im Hotel Alpina in Tschiertschen, das leider jetzt auch geschlossen ist. Dort, im touristischen Niemandsland, leistete die bayrische Kraftwurzel Michael Gehring mit seiner Frau eine tolle Aufbauarbeit. Der Abend verlief angenehm, nur spielte mir leider wieder einmal mein notorisch schlechtes Namensgedächtnis einen Streich. Ich sprach meinen Gastgeber konsequent mit falschem Vornamen an. Irgendwann realisierte ich den Fauxpas und sagte zu ihm: «Oh Gott, ist mir das peinlich. Ich nannte dich den ganzen Abend Matthias.» Und er antwortete liebenswürdig: «Und ich habe den ganzen Abend immer nur Michael verstanden.»

Damit hat er mich feinfühlig und mit wunderbarer Leichtigkeit aus meiner Verlegenheit befreit. Ich behaupte: Sowas schafft nur ein Hotelier. Ich wünsche ihm und Ihnen allen, liebe Hotelièren und Hoteliers, in dieser so schwierigen Zeit viel Zuversicht, Kraft und gute Gesundheit! Es kommt nicht wieder so, wie es einmal war. Aber es kommt gut.

Gery Nievergelt 

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