Demokratie mit Zukunft
Thomas Lötscher

Die Erschaffung der modernen Schweiz

Die Erschaffung der modernen Schweiz
Die Erschaffung der modernen Schweiz
Impressum
Für die grosszügige Unterstützung geht unser Dank an die Bonny Stiftung für die Freiheit und an den Kanton Zug.
Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt
2. Auflage 2023
Text: Thomas Lötscher
Weber Verlag AG
Gestaltung Titelbild Sonja Berger
Gestaltung Inhalt Shana Hirschi
Lektorat Alain Diezig
Korrektorat David Heinen
www.weberverlag.ch
ISBN 978-3-03818-401-0
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Dieses Buch widme ich meiner wunderbaren Frau Esther, die mich mit viel Geduld und Liebe in allem unterstützt, was ich anpacke; unseren Kindern Simon und Tamara in der Hoffnung, dass sie ihr Leben auch in Frieden und Freiheit gestalten dürfen; und nicht zuletzt meinen Eltern Simon und Marie-Theres, die mir viel auf den Weg gaben. Ein herzliches Dankeschön geht auch an all jene Menschen, die mich inspirierten, unterstützten und mir neue Ansichten und Welten eröffneten.
Der Sonderbundskrieg von 1847 war der letzte Krieg auf Schweizer Boden. Kurz nach diesem Bürgerkrieg erarbeitete eine 23-köpfige Kommission in weniger als zwei Monaten eine Verfassung, die die Schweiz nicht nur unter Wahrung der Eigenheiten und Unterschiede der verschiedenen Regionen und Kantone grundlegend neu aufbaute. Sie brachte der neu geschaffenen Nation Freiheit und Wohlstand. In ihren Grundelementen hat diese Verfassung bis heute Bestand. Vom Ende des Sonderbundskriegs über die Erarbeitung der Verfassung, ihre Ratifizierung in allen Kantonen bis zur Einsetzung des Parlaments, der Wahl des Bundesrats und dessen erster Sitzung verstrich nicht einmal ein Jahr.
Diese zeitliche und organisatorische Gewaltsleistung – notabene ohne Handy und Computer und mit Pferden als schnellstem Transportmittel zu Lande – ist so heute kaum mehr vorstellbar. Kommt hinzu, dass die Schweiz unter grossem Druck der sie umgebenden europäischen Grossmächte stand. Dies waren allesamt absolutistische Monarchien, denen Freiheit und Demokratie ein Dorn im Auge waren und die auf eigenem Territorium entsprechende Bestrebungen brutal niederschlugen. Die Schweiz, die Flüchtlinge aus diesen Ländern willkommen hiess, sah sich denn auch mehrfach mit mehr oder weniger offenen militärischen Interventionsdrohungen konfrontiert. Aber auch unter den Kantonen herrschte nicht Einigkeit. Dass es trotzdem gelang, auf friedliche Weise und unter Respektierung und Wahrung der unterschiedlichen Kulturen aus dem losen Staatenbund einen vereinten liberalen und demokratischen Rechtsstaat zu formen, der bis zum heutigen Tag Bestand hat, ist eine grossartige Leistung der damaligen Visionäre. Es war nur möglich, weil sich die Beteiligten echt bemühten, konstruktive Lösungen zu finden, und bereit waren, auch mal einen Kompromiss einzugehen für das grosse Ganze.
Dieser Wille, gemeinsam tragfähige Lösungen zu erarbeiten, ist ein Lehrstück für die Politiker und Menschen von heute. Zu oft ist die heutige Politik geprägt vom sturen Beharren auf eigenen Positionen und von einem Zusammenschustern eines Flickwerks, das bestenfalls dazu führt, in einer Abstimmung eine knappe Mehrheit zu erringen. Getrieben von der Tagesaktualität scheitern diese Konstrukte oder zerfallen nach kurzer Zeit, weil ihnen Weitblick und eine ganzheitliche Sicht fehlen.
Schweizerinnen und Schweizer sollten die Zusammenhänge rund um die Entstehung ihres Bundesstaats und seine Funktionsweise kennen, um ihr Land und dessen System zu verstehen. In dieser Form ist die Schweiz einzigartig. Dieses Wissen ist aber auch interessant für Ausländer als Vergleichsbasis zum eigenen Land. Und es fördert vielleicht das Verständnis dafür, weshalb die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union werden will, aber gern mit ihr zusammenarbeitet.
Dieses Buch bringt die Geschichte der modernen Schweiz und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse in kurzer und verständlicher Form auf den Punkt. Somit ist es geeignet für einen schnellen Einstieg für jene, die keine Wälzer durcharbeiten mögen, aber auch für Menschen, die sich vertiefter interessieren – als Ausgangspunkt mit Verweisen zu weiterführender Literatur.
«Wer eine Niederlage im Kampf für das Richtige erleidet, steht wieder auf. Wer sich anpasst und nachgibt, ist für immer erledigt.»
Winston Churchill, britischer Premierminister 1940–1945 und 1951–1955
1788 ratifizierten die dreizehn Gründerstaaten ihre Verfassung und gründeten damit die Vereinigten Staaten von Amerika. Sechzig Jahre später gaben sich im Herzen Europas 23 Kantone eine Verfassung und erhoben damit den eidgenössischen Staatenbund zum schweizerischen Bundesstaat. Ist also die Schweiz nichts anderes als eine kleine Kopie der USA? Wenn dem so wäre, hielten Sie anstelle dieses Buchs lediglich eine kleine Notiz in den Händen.
Die moderne Schweiz ist nicht einfach so «passiert». Ihre Entstehung ist eine spannende Geschichte! Sie ist Ausdruck von visionären Leistungen und Weitblick, aber auch von Machtpoker, Kräftemessen, Zufällen und nicht zuletzt von sehr viel Glück. Diese spannende Geschichte ist selbst vielen Schweizerinnen und Schweizern nicht bekannt und steht völlig zu Unrecht im Schatten von Rütlischwur und Wilhelm Tell. Die Gründung der Urschweiz, vom Deutschen Friedrich Schiller literarisch meisterhaft inszeniert, vom Italiener Gioachino Rossini zu einer Oper komponiert und von unzähligen Malern auf Leinwand festgehalten, bietet wohl Stoff für dramatische Unterhaltung und ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber die Gründung des Bundesstaats, die Erarbeitung der ersten Schweizer Verfassung in weniger als zwei Monaten, beinhaltet ebenfalls viel Dramatik und könnte schweizerischer nicht sein. Sie ist eine Geschichte von Gegensätzen, vom Suchen und Finden von Konsens, vom Vor- und Nachge-
ben. Und ganz besonders ist sie nicht die Geschichte eines einzigen Übervaters, sondern in ihr werden Schicksale von Menschen verwoben, die sowohl wichtige Beiträge leisteten und dabei von der Gemeinschaft getragen wurden, gleichwohl aber auch irrten, worauf andere den entscheidenden Impuls für die weitere Entwicklung lieferten. Und alles in einem Land, das umzingelt und bedroht von europäischen Monarchien war, die gar nichts von Demokratie und individuellen Freiheitsrechten hielten und dies die Protagonisten unserer Geschichte auch immer wieder mit unverhohlenem Muskelspiel und Säbelrasseln spüren liessen.
Der Weg zur Bundesverfassung war also kein gradliniger: Modelle wurden erwogen, verworfen, adaptiert und kombiniert. Die Entstehung der Schweiz gleicht einem politischen Stafettenlauf: Hervorragende Leistungen einzelner Personen reihten sich aneinander, aber erst in der Summe brachten sie den Erfolg. Dabei beeinflusste das Modell der Vereinigten Staaten die Organisation des schweizerischen Staats durchaus. Interessant ist allerdings, dass sich die amerikanischen Gründerväter zur Legitimation ihrer Unabhängigkeit und der Staatsgründung auf das Naturrecht1 bezogen und dabei explizit auf den Genfer Jean-Jacques Burlamaqui und den Neuenburger Emer de Vattel. So haben also Schweizer die Gründung der Vereinigten Staaten beeinflusst und das Modell der USA die Gründung der modernen Schweiz.
Ist die direkte Demokratie der Schweiz noch zeitgemäss? Ist sie angesichts unserer schnelllebigen, global vernetzten Welt noch tauglich, den heutigen Herausforderungen zu begegnen? Diese Fragen werden immer wieder aufgeworfen. Für mich ist klar, dass das Modell Schweiz noch immer funktioniert. Um es zu verstehen und die neuen Herausforderungen damit bewältigen zu können, muss man aber seine Entstehung, seine Geschichte und die damit verbundenen Konflikte und Fragestellungen kennen.
Dieses Buch will gerade diese Zusammenhänge aufzeigen, Verständnis schaffen für das Wesen und den Wert der schweizerischen direkten Demokratie. Die Schaffung des Bundesstaats ist ein Teil unserer Geschichte, über den wir uns ungeniert freuen dürfen. Damit haben unsere Vorfahren etwas Einzigartiges geschaffen. Es lohnt sich, dazu Sorge zu tragen und mit dem Erbe verantwortungsvoll umzugehen. Freiheit, Stabilität und Wohlfahrt unserer Nation sind weder selbstverständlich noch unzerstörbar.
Darüber hinaus ist dies nicht «nur» ein weiteres Geschichtsbuch. Vergleicht man die Entstehung des schweizerischen Bundesstaats mit der aktuellen politischen Lage der Schweiz, treten verblüffende Parallelen und Ähnlichkeiten zutage, nicht nur, aber vor allem auch im Verhältnis der Schweiz zur europäischen Nachbarschaft. Insofern bietet uns die Geschichte Anschauungsmaterial zum Umgang mit Herausforderungen: Wo soll man sich flexibel den Veränderungen anpassen, wo standhaft an Bewährtem festhalten?
Welche Allianzen sind Erfolg versprechend und wo bleibt der Starke am mächtigsten allein? Dieser Zielkonflikt, von Friedrich Schiller mit Werner Stauffacher und Wilhelm Tell personifiziert, begleitete die Schweiz durch ihre jahrhundertealte Geschichte und ist heute noch immer aktuell.
So ist dieses Buch auch ein Plädoyer für Selbstbewusstsein, nationale Eigenständigkeit und den Mut, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Bewahren wir die Errungenschaften unserer humanen Demokratie, entwickeln wir sie weiter und gehen wir verantwortungsvoll mit unserer Freiheit um; denn wir wollen getreu nach Friedrich Schiller weiterhin «frei sein, wie die Väter waren». Das bedeutet allerdings nicht eine Abschottung gegen aussen, sondern schliesst eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit anderen Nationen und Staatengemeinschaften ein.
Für den Grossteil der Weltbevölkerung ist eine Staatsform wie jene der Schweiz auch heute noch reine Utopie. Sie erscheint unerreichbar, ganz der Definition von Duden online für «Utopie» und «utopisch» entsprechend, wonach es sich bei einer Utopie um einen «undurchführbar erscheinenden Plan», eine «Idee ohne reale Grundlage» handelt. Utopisch ist etwas dann, wenn es «nur in der Vorstellung, Fantasie möglich; mit der Wirklichkeit nicht vereinbar» ist.2
Staatsutopien sind allerdings nichts Neues. So beschrieb der englische Staatsmann und Humanist Thomas Morus schon 1516 in seinem Roman «Utopia» eine ihm ideal erscheinende Gesellschaft, und der italienische Philosoph, Dominikaner, Politiker und Dichter Tommaso Campanella tat es ihm 1602 mit dem «Sonnenstaat» gleich. Eine Utopie beschreibt im zeitgenössischen Vergleich einen besseren Zustand als Hoffnung für die Zukunft. Insofern sind beide Werke echte Utopien; denn sie beschreiben im Vergleich zu damals eine bessere Gesellschaft. Allerdings sahen sie das Ideal in einem fertig entwickelten stabilen Endzustand. Daran scheiterten sie. Das lässt sie aus heutiger Sicht – verglichen mit der Schweiz – zu Dystopien werden, weil sie eine aus heutiger Optik nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung beschreiben. Nicht wünschenswert deshalb, weil sie in der Entwicklung zum Besseren auf halbem Weg stehenblieben und diesen Stand einfroren, ohne Raum zu bieten für weitere gesellschaftliche Entwicklungen.
Wesentliche Freiheitsrechte bleiben den Bürgern von Utopia und dem Sonnenstaat verwehrt.3 Daraus lässt sich ableiten, dass die ideale Staatsform Raum lässt für die Weiterentwicklung der Gesellschaft und ihrer Individuen. Sie muss dem Einzelnen das «Streben nach Glück» ermöglichen unter Wahrung eines Rahmens, der die Stabilität des Staates und die Freiheit all seiner Bürger möglichst gewährt. Für die Eidgenossen ist Realität geworden, was vielerorts leider immer noch Utopie ist.
Über Jahrhunderte legitimierten die Monarchen und Aristokraten ihren Machtanspruch durch die «göttliche Ordnung». Es sei der Wille Gottes, dass ein von ihm mandatierter Monarch an seiner Stelle über das Volk herrsche, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Aus der Unfehlbarkeit Gottes leiteten sie den absoluten Anspruch seiner Stellvertreter auf Erden ab – mit dem Segen der katholischen Kirche, die ebenfalls monarchisch aufgebaut war und es tendenziell heute noch ist. Sie sahen es als Gottes Willen, dass einige im Prunk schwelgten und viele in Armut darbten.
Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748), Genfer Jurist, Philosoph und Schriftsteller, war ein bedeutender Vertreter des Naturrechts. Auch er berief sich auf Gott, kam aber zu einem komplett anderen Fazit: Gott schenkt den Menschen das Leben als freie und gleiche Wesen. Die logische Ableitung daraus ist, dass sie verpflichtet und berechtigt sind, dieses Leben und ihre Freiheit zu verteidigen, zu nutzen und gleichermassen die Freiheit der anderen zu respektieren. Die Fähigkeiten, die Gott den Menschen mitgibt, sollen für Gutes genutzt werden. Burlamaqui versteht darunter das, was der Selbsterhaltung dient, den Menschen weiterbringt, seine Lebensumstände verbessert und ihm Vergnügen bereitet.
Kurz gesagt: Der Mensch soll und darf nach wahrem und dauerhaftem Glück streben. Das ist der Ursprung und die Basis der unveräusserlichen Menschenrechte. Diese Rechte liegen somit in der Natur des Menschen.4
Die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika beriefen sich auch auf Burlamaqui. James Wilson, philosophischer und juristischer Kopf der amerikanischen Revolution, kam 1774 zu folgendem Schluss: «Das Naturrecht ist bei den Pflichten jedem anderen Recht übergeordnet.»5 Zwei Jahre später liegt die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vor und hält fest: «Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.»6
In einer Grussbotschaft an die Schweiz zum 720. Geburtstag der Eidgenossenschaft hielt Hillary Clinton im Namen Präsident Obamas und des amerikanischen Volkes fest: «Amerikas Gründer wurden inspiriert durch die Ideen und Werte früher Schweizer Philosophen wie Jean-Jacques Burlamaqui und Emer de Vattel, und die Schweizer Verfassung von 1848 wurde durch unsere eigene Verfassung beeinflusst. Das Schweizer Bekenntnis zur Demokratie ist ein
4 Holenstein, S. 348 f.
5 Holenstein, S. 349.
6 Erste deutsche Übersetzung: Pennsylvanischer Staatsbote, Philadelphia, 9. Juli 1776.
Beispiel für alle Nationen und Völker, die sich nach Freiheit und Menschenrechten sehnen.»7
Der Auftrag zur Erarbeitung einer neuen Staatsorganisation und einer Bundesverfassung als Ersatz für den bisherigen Staatenbund und den Bundesvertrag wurde von der eidgenössischen Tagsatzung (Bundesversammlung) einer eigens eingesetzten Bundesrevisionskommission übertragen. In dieser Kommission ist jeder Kanton mit einer Stimme vertreten, meist derjenigen des Regierungspräsidenten, der vielerorts den Titel Landammann trägt. Es sind die hellsten Köpfe der Kantone, gebildet, politisch und meist auch wirtschaftlich erfahren. Sie vertreten die Interessen ihrer Kantone. Aufgrund ihrer beruflichen Herkunft und Vernetzung tragen sie das Wissen um lokale Wirtschaftsstrukturen und deren Bedürfnisse in die nationale Politik. Die Kommission vereint somit eine Vielfalt an Pragmatikern, die ihrerseits die Vielfalt der damaligen Schweiz in die Beratungen einbringen. Eine Sonderstellung nehmen die katholischen Kantone der Innerschweiz und ihre zugewandten Orte Freiburg und Wallis ein. Als Verlierer des noch kein Jahr zurückliegenden Sonderbundskriegs stehen sie noch unter Aufsicht der siegreichen Besatzungstruppen. Sie sind durch liberale Katholiken vertreten, die in ihren Kantonen allerdings in der Minderheit sind.8 Das ist Fluch und Segen zugleich, wie sich noch zeigen wird.
7 https://2009-2017.state.gov/secretary/20092013clinton/rm/2011/07/169371.htm (Aussenministerium der Vereinigten Staaten, 29. Juli 2011, abgerufen am 5. Juni 2021 (englisch, Archivversion des U.S. Department of State)).
8 Holenstein, S. 47 f.
Der Sonderbundskrieg war ein Bürgerkrieg. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Sieger doch recht pfleglich mit den Verlierern umgingen und bemüht waren, den nationalen Zusammenhalt wieder herzustellen. Trotz verständlichen Ressentiments beiderseits gelang dies recht gut, wenn auch nicht ohne Zwischentöne und Opfer, wie das Beispiel des Schwyzer Vertreters Melchior Diethelm zeigt, der seinen politischen Absturz in der Heimat in einen Durchbruch für den Bund umwandelte, nicht zuletzt dank tatkräftiger Unterstützung der anderen katholischen Vertreter und gegen den Widerstand des Zürcher Vertreters und nachmaligen ersten Schweizer Bundespräsidenten Jonas Furrer. Dies zeigt deutlich, dass nicht eine kleine Machtelite ihre Positionen rücksichtslos durchdrückte, sondern dass um Positionen und Konsens gerungen wurde. Die Vertreter der Kommission wussten sehr wohl, dass nicht sie die letzte Entscheidung treffen würden, sondern die Bevölkerung der Kantone. Deshalb war ein mehrheitsfähiger Konsens äusserst wichtig. Die katholisch-konservativen Vertreter, die am Staatenbund von 1815 festhielten, waren ebenso ausgeschaltet wie die Ultraradikalen, die die Kantone auflösen und einen Einheitsstaat errichten wollten. Letztlich setzte sich der Kompromiss der politischen Mitte durch, wie noch so oft in der nachfolgenden schweizerischen Geschichte.9
Der nachfolgende kurze geschichtliche Abriss erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dient lediglich dazu, die Entstehung des schweizerischen Bundesstaats in einen groben historischen Kontext zu stellen, um die nachfolgenden Entwicklungen besser verständlich zu machen.
9 Holenstein, S. 48.
Gemeinhin wird der Rütlischwur von 1291 als Beginn der Eidgenossenschaft betrachtet und damit einer über 700-jährigen Geschichte von Freiheit und Unabhängigkeit. Literarisch hat dies Friedrich Schiller 1804 in seinem Drama «Wilhelm Tell» mit folgendem gemeinsamen Bekenntnis der alten Eidgenossen auf den Punkt gebracht:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Dieses Bekenntnis trägt wohl den aufklärerischen Strömungen von Schillers Zeit Rechnung, dem Streben nach individueller Freiheit und Gleichheit. Diese Ideale der Französischen Revolution von 1789 flossen denn auch in die Bundesverfassung von 1848 ein.
Allerdings ging der Bund der alten Eidgenossen nicht so weit. Vielmehr handelte es sich in der Realität um eine gemeinsame Organisation des Zusammenlebens der drei Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden inklusive Verteidigungsbündnis, die sich zwar eigene Richter ausbedang, im Übrigen aber die bestehenden Herrschaftsverhältnisse unangetastet liess. So hält die deutsche Zusammenfassung des lateinischen Textes unter Punkt drei explizit fest: «Jeder soll aber gemäss seinem Stand weiterhin seinem Herrn dienen.»10
Über die Jahrhunderte wuchs die Eidgenossenschaft stetig, und je mehr Mitglieder sie umfasste, umso mehr Staatsformen gehörten ihr an. Während die Landbevölkerung der Urkantone weitge-
10 https://www.admin.ch/gov/de/start/bundesrat/geschichte-des-bundesrats/ bundesbrief-von-1291.html?lang=de.
hende Freiheitsrechte genoss, galt dies für die ländlichen Gebiete vieler städtischer Kantone nicht. Sie waren beispielsweise in den Kantonen Zürich, Bern und Luzern Untertanengebiete der Städte. Dazu kamen heutige Kantone, die als Vogteien Untertanengebiete einzelner oder mehrerer Kantone waren. Beispiele dafür sind Aargau, Thurgau und Waadt. Mit dem preussischen Fürstentum Neuenburg gehörte sogar eine Monarchie dem eidgenössischen Bund an.11 Hinzu kommt, dass im 18. und 19. Jahrhundert vor allem in den Städteorten eine Entwicklung von relativ demokratischen Strukturen hin zu einer Aristokratisierung stattfand, indem eingesessene Patrizierfamilien die Macht unter sich aufteilten.12
1516, dem Jahr nach der empfindlichen Niederlage bei Marignano, schlossen die Dreizehn Orte einen «Ewigen Frieden» mit Frankreich und verzichteten fortan auf Expansionskriege.13 Die Verbindung mit Frankreich gewann an Stärke und der westliche Nachbar verfügte über das grösste Kontingent an Schweizer Soldaten. Diese brachten nicht nur Geld, Titel und Bildung nach Hause, sondern auch Kenntnisse der «internationalen» Sprache und damit eine gewisse Weltgewandtheit. Der Dreissigjährige Krieg hätte wahrscheinlich das Ende der Eidgenossenschaft bedeutet ohne ihr Bekenntnis zur Neutralität und die französischen Interessen im Hintergrund. Der Westfälische Friede brachte den Kantonen die völlige Unabhängigkeit vom Deutschen Reich. Somit begann 1648 die Souveränität der Schweiz.14
Frankreich half der alten Eidgenossenschaft auch, sich nach Westen auszudehnen. So wurde die Waadt 1803 in den Bund aufgenommen, Neuenburg, Genf und Wallis kamen 1805 dazu. Die enge Beziehung zu Frankreich öffnete den Schweizer Raum für das Gedankengut der französischen Aufklärung.15 So wurden bereits im
11 Andrey, S. 287.
12 Kölz, S. 14 ff.
13 Kuntz, S. 30.
14 Kuntz, S. 46 f.
15 Kuntz, S. 54 f.
18. Jahrhundert Ideen und Theorien ausgefeilt, die als Basis moderner Demokratien dienten und teilweise heute noch Bestand haben. Rousseau und andere traten für den Gesellschaftsvertrag16, die Gewaltenteilung und den Parlamentarismus ein.17 Zeitgenössische Biografien zeigen, dass die damaligen Gebildeten sehr mobil waren über Sprach- und Landesgrenzen hinaus. Die Verflechtung zwischen Deutschland, Österreich, Frankreich, Grossbritannien, Schweden und den Vereinigten Staaten war sehr eng. Die Ideen und Einflüsse breiteten sich über Staatsgrenzen hinaus aus. Auch die Schweizer waren sehr gut in dieses Beziehungsnetz eingebunden. In einzelnen Gebieten der Schweiz entwickelten sich bereits Individualrechte.18 Die entstehenden Wirtschaftstheorien führten zu wirtschaftlichen Freiheitsrechten und brachten den Wirtschaftsliberalismus hervor.19
Als 1798 die französischen Truppen von Napoleon Bonaparte einmarschierten, bedeutete dies die faktische Auflösung der alten Eidgenossenschaft. Die Franzosen plünderten die Staatskassen und gründeten die Helvetische Republik, einen Tochterstaat nach französischem Muster. Obwohl sie nur fünf Jahre Bestand hatte, führte die von aussen aufgezwungene und dadurch instabile Staatsform zu Machtkämpfen und einer bewegten Geschichte. Die Eidgenossen vermochten sich mit der ausgeprägten Zentralisierung nicht anzufreunden. Trotzdem beinhaltete die Helvetische Republik einige Elemente, die später wieder aufgegriffen wurden. So wurden die Untertanenverhältnisse aufgehoben und ein Zweikammersystem eingeführt. Die Schaffung der Einwohnergemeinden parallel zu den Bürgergemeinden und die Einfüh-
16 Die Macht geht von der Gesellschaft aus (Volkssouveränität).
Das Individuum ordnet seine Interessen jenen der Gemeinschaft unter.
17 Kölz, S. 34 ff.
18 Kölz, S. 42 ff.
19 Kölz, S. 45 ff.
Thomas Lötscher (*1968) ist seit jungen Jahren fasziniert von der liberalen Idee eines Lebens in Freiheit, geprägt von Selbstverantwortung und Sinn für die Gemeinschaft. Vierzehn Jahre im Zuger Kantonsrat und die Arbeit als Generalsekretär der Finanzdirektion des Kantons Zug gewährten ihm einen vertieften Einblick in die Mechanismen von Politik und Verwaltung. Er lebt im Kanton Zug, wo er auch aufgewachsen ist.
Thomas Lötscher Die Erschaffung der modernen Schweiz
Wilde Zeiten: Inmitten autoritärer Monarchien gründeten 25 Kantone mit dem Drang nach Freiheit 1848 einen demokratischen Staat. Aus der alten Eidgenossenschaft liessen sie die moderne Schweiz erwachsen und schufen die Basis für einen wirtschaftlichen Aufschwung sondergleichen. Thomas Lötscher zeigt auf, was es braucht, um eine liberale rechtsstaatliche Demokratie aufzubauen. Er weist aber auch darauf hin, dass die freiheitliche Gesellschaft nicht selbstverständlich und kein Selbstläufer ist. Sie wird beseelt von Menschen, die sie mit persönlichem Einsatz lebendig erhalten. Während etliche Demokratien untergingen, taugt die Schweiz als Bauanleitung für beständige freiheitliche Gesellschaften.
ISBN 978-3-03818-401-0
Weber Verlag AG
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